Schwohl, Joachim & Sturm, Tanja (Hg.): Inklusion als Herausforderung schulischer Entwicklung. transcript. Bielefeld 2010. 359 Seiten. ISBN 978-3-8376-1490-9
„Die >inklusive< Schule könnte eine Bedingung der Möglichkeit sein, die bei uns vorherrschenden Bilder von Schule, Unterricht und Kindern international anschlussfähig so zu verändern, dass wir bereit und in der Lage sind, allen Kindern im gesamten Heterogenitätsspektrum differenzierende Bedingungen für nächste, erfolgreiche Lernschritte auf dem Weg in eine erfolgreiche Bildungskarriere zu schaffen“ (Schuck 2007:9)
Dieses Buch, herausgegeben von Joachim Schwohl und Tanja Sturm, ist dem Wirken von Karl Dieter Schuck gewidmet. Der sich, bereits lange Zeit bevor Inklusion zu dem neuen Begriff in der Bildungsdiskussion wurde, für eine allgemeine Schule einsetzte, die allen SchülerInnen ein ihnen entsprechendes Angebot unterbreiten sollte. Die HerausgeberInnen haben das baldige Ausscheiden von Karl Dieter Schuck als Anlass genommen, AutorInnen zu versammeln, die in ihren Beiträgen die aktuelle Situation der Inklusion diskutieren und kritisch reflektieren.
Der vorliegende Sammelband besteht aus fünf Teilen. Der erste Teil „Inklusion als Erziehungs- und Bildungswissenschaftliches Thema“ wird durch einen Beitrag von Birgit Herz eröffnet, indem sie die Herauslösung der Inklusion aus ihrem gesellschaftspolitischen Kontext problematisiert. Sie sieht eine Gefahr darin, Inklusion auf ein rein methodisches bzw. auf ein schulorganisatorisches Problem wie Hinz mit dem „Index der Inklusion“ zu reduzieren. Denn er negiert Bildung als herrschafts- und interessenbesetztes Feld, wie auch das immer noch in der Schule präsente Leistungsprinzip, mit dem Schule gesellschaftliche Exklusion vollzieht. Der Beitrag von Herz ist ein Plädoyer für Inklusion, die auch gesellschaftliche Rahmenbedingungen im Auge hat. An ihren Beitrag knüpft Helmut Richter an, der sich ebenfalls für die Notwendigkeit einer Gesellschaft für alle im Kontext der Forderung nach einer Schule für alle ausspricht. Denn den Widerstand gegen eine Schule für alle, verbunden mit u.a. den drei zentralen Schlagworten Homogenität, Begabung und Selektion, sieht er bereits in gesellschaftlichen Prozessen verankert. Im dritten Beitrag des ersten Teils des Buches wird durch Iris Beck und Sven Degenhardt eine Verortung des Begriffs „Inklusion“ vorgenommen. Hierfür arbeiten die AutorInnen globale und nationale Vereinbarungen auf, die die Diskussion um Inklusion im Kontext von Bildung und Erziehung bestimmen (UN-Konventionen etc.). Im Anschluss daran diskutieren sie Inklusion im Kontext von sozialer Ungleichheit unter Bezugnahme auf die sozialwissenschaftliche Perspektive und damit auch den theoretischen Wurzeln der Inklusion. Sie zeigen Probleme des Inklusions-, wie aber auch des Partizipations- und Teilhabebegriffs und dessen synonyme Verwendung auf. In Folge der Begriffsproblematisierung wird einmal mehr auch in diesem Beitrag deutlich, dass Inklusion nicht ohne Gesellschaftsperspektive möglich ist.
Im zweiten Teil des Buches werden „Inklusion und sozialräumliche Differenzen“ thematisiert. Eingeleitet wird dieser Teil von Norbert Maritzen und Tanja Sturm, die am Beispiel der Schulentwicklung von Hamburg die Geschichte des Spannungsverhältnisses Homogenisierung-Heterogenisierung darstellen und dessen Wirksamkeit auf den unterschiedlichsten Systemebenen charakterisieren. Im Anschluss dieses Beitrages nimmt Wulf Rauer die inklusive Perspektive für SchülerInnen, die unter schlechten soziökonomischen Bedingungen aufwachsen in den Blick. Auf der Basis des Armutsberichts für Hamburg fragt Rauer nach den Konsequenzen für die Schule für alle, die auch sozio-ökonomische Differenzen berücksichtigt. Sie nicht homogenisiert, sondern ihnen gerecht wird. Den zweiten Teil des Buches schließt Joachim Schroeder, indem er kritische Rückfragen an den Hamburger Schulversuch „Integrative Grundschulen im sozialen Brennpunkt“ stellt. Er zeigt die Bedingungsfaktoren auf, die diesen Schulversuch nicht nur erfolgreich werden lassen haben. Indem er u.a. darauf verweist, dass z.B. Didaktik, wieder an Inhalten ausgerichtet, diskutiert werden muss, vor allem auch wenn es um eine lebenslagenorientierte Förderung von Kindern und Jugendlichen sich handelt. Aber auch Schulprofile müssen viel sorgfältiger auf das lokale soziale Milieu bezogen formuliert werden.
Den dritten Teil des Buches „Inklusion und Heterogenität“ eröffnet Tanja Sturm, indem sie nach Differenzkonstruktionen im Kontext unterrichtlicher Praktiken fragt und sich damit dem Unterricht als Feld der Inklusion widmet. Sie zeigt anhand empirischer Daten, dass LehrerInnen im Unterricht versuchen, Homogenität zu konstruieren. Hannelore Faulstich-Wieland und Barbara Scholand beschäftigen sich mit dem Konstrukt Geschlecht im Kontext von Inklusion. Die beiden Autorinnen reflektieren die in den letzten 40 Jahren zentralen Ansätze der Pädagogik hinsichtlich der Differenzierung und des Umgangs mit Geschlecht, um am Ende des Beitrages für einen „transklusiven Bildungsbegriff“ zu plädieren. Nur mit einem solchen Begriff, der die Koeduktion ablöst, ist es für die Autorinnen möglich, im Sinne von Inklusion zu agieren. Nach dem Konstrukt Geschlecht wird durch Wolfgang Praschak Behinderung spezifisch SchülerInnen, die unter schwersten Bedingungen leben, besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Er spricht sich in seinem Beitrag für sonderpädagogische Kompetenzzentren aus, sie sollen das „sonderpädgogische Know-how mit einer integrativen Pädagogik verbinden“ (189). Nach dem Konstrukt schwerste Behinderung wird sich der Religion-Ethnizität durch Wolfram Weise gewidmet. Der am Beispiel des Religionsunterrichts für alle in Hamburg zeigt, welche gesellschaftliche Integration im Sinne einer Wertschätzung gegenüber einem religiösen Pluralismus ein solcher Unterricht leisten kann. Ein solcher Unterricht sollte einen interreligösen Dialog anstreben, indem miteinander und nicht übereinander geredet wird. Durch Ingrid Gogolin wird ein weiteres Konstrukt Migration bzw. dessen Folge Mehrsprachigkeit thematisiert. Sie stellt die Möglichkeiten einer Sprachbildung für alle am Beispiel des Modellprogramms FörMig dar, welches als Ziel die Förderung der bildungssprachlichen Fähigkeiten hat. Dieser dritte Teil des Buches schließt mit dem Beitrag von Alfons Welling, der aus Sicht der Sprachbehindertenpädagogik spezifisch für den Bereich der Frühförderung eine Perspektive auf Inklusion versucht zu entwickeln.
Der vierte Teil des Buches „Inklusion und Schulentwicklung“ beginnt mit einem Beitrag von Mechthild Gomolla, in dem es um Schuleffektivität, Pluralität und soziale Gerechtigkeit im Kontext von Inklusion gehen soll. An diesen Beitrag schließt Eva Arnold an. Sie muss auf der Basis empirischer Daten resümieren, dass Lernstandserhebungen nur unter bestimmten Bedingungen der Inklusion dienlich sein können, z.B. wenn die Ergebnisse dieser Erhebungen gewürdigt werden und Konsequenzen haben in dem Sinne, dass individuelle Lernvoraussetzungen erkundet werden und Unterrichtsformen und deren Wirksamkeit wirklich diskutiert und mit dem Ziel der Verbesserung der Lernumgebung verändert werden. Waldtraut Rath und Christine Pluhar beleuchten Schulentwicklung am Beispiel des Förderzentrums Sehen als einem Förderzentrum ohne SchülerInnen. Sie bestimmen dieses als Unterstützungssystem, welches für sie eine notwendige Ergänzung der inklusiven Schule darstellt, denn mit diesem sehen sie ein notwendiges, multiprofessionelles Team gewährleistet. Sie verknüpfen damit auch Veränderungen bei den Professionellen des Förderzentrums, denn diese sollten unbedingt eine Expertise entlang den Anforderungen der allgemeinen Schule entwickeln.
Der fünfte und abschließende Teil des Buches widmet sich der „Inklusion und dem Blick auf Entwicklung“ mit den Beiträgen von Gabriele Ricken und Andre Zimpel. Ricken fragt nach dem Verhältnis von Ansätzen einer (behinderten-)pädagogischen Diagnostik und einer inklusiven Schule. Ihr Fazit ist nicht überraschend. Es besteht momentan kaum eine wirkliche Diagnostik, die einer inklusiven Schule gerecht wird. D.h. eine Diagnostik, in der es nicht um die Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs gehen kann, sondern eine diagnostische Analyse die auf Angebots- und Entwicklungsprozesse ausgerichtet sein muss. Zimpel zeigt mit seinem Beitrag, der sich der Entwicklungsbewertung widmet, dass die Rückschlüsse aus Testverfahren wie z.B. dem Intelligenztest zur Bildung von homogenen Lerngruppen nicht der Realität der Abbildung der Normalverteilung entsprechen. Daraus abgeleitet, fragt er nach Möglichkeiten, die individuelle Entwicklung angemessen abbilden zu können und schlägt die Kompetenzraster vor.
Fazit
Die Vielzahl der Beiträge dieses Buches fordern den/ die LeserIn auf, kritisch über Inklusion zu reflektieren und vor allem in den Dialog über Inklusion einzutreten. Das Buch verdeutlich einmal mehr die Notwendigkeit die Perspektive einer speziellen Disziplin zu verlassen und Abstand davon zu nehmen, die Spezifik einer bestimmten sozialen Konstruktion im Besonderen hervorzuheben.
Inklusion kann nicht nur für Schule durchgesetzt werden, sondern hat eine gesellschaftspolitische Dimension und auch eine wissenschaftliche Dimension, was dieses Buch sehr explizit herausstellt. Inklusion ist mehr als Methode und braucht aber auch Methoden, die nicht auf einzelne Spezifika begrenzt sind, denn Inklusion ist mehr als nur die Perspektive auf Behinderung oder auf Migration etc.. Dies haben sich die HerausgeberInnen des Buches angenommen und bilden mithilfe der AutorInnen die verschiedensten Differenzlinien wie Behinderung, hier z.T. als allgemeines Konstrukt aber auch als spezifisches Konstrukt, sozioökonomischer Status, Geschlecht, Ethnizität – Religiosität, Migration und Sprache ab. Die AutorInnen argumentieren i.d.R. aus dem jeweilig spezifischen Feld heraus, jedoch nicht ohne auf Anknüpfungspunkte mit anderen Disziplinen zu verweisen, wie z.B. Gogolin, wenn sie die notwendige Zusammenarbeit von WissenschaftlerInnen der Behindertenpädagogik und den „Interkulturrellen“ aus den Ergebnissen von FörMig ableitet.