Ilka Hoffmann: Inklusion – auch für "böse" Jungs?

Abstract: Das Konzept der Inklusion geht davon aus, dass alle Menschen, die in einer Bildungseinrichtung lernen und arbeiten, in ihrer Individualität akzeptiert werden. Es wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die kulturelle, soziale und individuelle Vielfalt aller zur Schulgemeinschaft gehörenden Personen eine Bereicherung darstelle. Aber wie ist dies mit männlichen Kindern und Jugendlichen mit ausagierenden und aggressiven Verhaltensweisen? Sie sind in besonderem Maße – mehr als weibliche Kinder und Jugendliche – von Schulausschlüssen betroffen. In dem Artikel soll diskutiert werden, inwieweit es sinnvoll und notwendig ist, das Konzept der inklusiven Pädagogik für diese Kinder und Jugendlichen und ihre spezifischen Problemlagen zu öffnen.

Stichworte: Inklusion, Jungenpädagogik, Verhaltensauffälligkeit, Gewalt, Benachteiligung, Gender, männliche Sozialisation, Schulkultur, Männlichkeit

Ausgabe: 1/2011

Inhaltsverzeichnis
  1. Inklusion und bereichernde Vielfalt
  2. Jungenpädagogik als inklusive Pädagogik
  3. „Andersartigkeit“, die nicht bereichert
  4. Der Index für Inklusion als Ansatzpunkt für den Umgang mit devianten Verhaltensweisen männlicher Schüler
  5. Ausblick

1. Inklusion und bereichernde Vielfalt

Inklusion ist mittlerweile (fast) in aller Munde. Zwar gibt es weiterhin eine Vielzahl von Definitionen[1], doch hat sich mittlerweile eine Quintessenz herausgeschält, der sich alle InklusionspädagogInnen verpflichtet fühlen. Demnach beinhaltet der Begriff in jedem Fall Folgendes:

 

Das Neue an inklusiver Pädagogik ist also, dass es nicht mehr darum geht, Kinder und Jugendliche mit dem passenden Etikett und der dazu passenden, meist separierenden  Bildung und Förderung zu versehen, sondern dass alle individuell nach ihren Möglichkeiten, am besten an einem gemeinsamen Gegenstand,  lernen. Dieser gemeinsame Unterricht wird als Vorteil für alle gesehen. Die Schüler/innen müssen sich nicht „verbiegen“. Sie werden in ihrer Individualität gesehen und wertgeschätzt. Alle profitieren davon, nicht in einer gesellschaftlichen Monokultur lernen und leben zu müssen, sondern vielfältige soziale Erfahrungen machen zu dürfen.
Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, was inklusive Pädagogik konkret für männliche, verhaltensauffällige Schüler bedeutet. Welche Ansätze für den Umgang mit diesen Schülern lassen sich aus der inklusiven Pädagogik ableiten? Inwiefern kann mit deren Hilfe die Bildungsbenachteiligung der entsprechenden Gruppe von Schülern abgebaut werden?

2. Jungenpädagogik als inklusive Pädagogik

In den letzten Jahren ist die Literatur über männliche Bildungsverlierer und über Jungenpädagogik nahezu unüberschaubar geworden. Während noch vor einigen Jahren biologistische Erklärungsmuster vorherrschten, die darauf abhoben, dass durch die Feminisierung des Bildungssystems die Leistungspotentiale von Jungen in der Schule unterdrückt werden, ist die Diskussion mittlerweile vielfältiger und differenzierter geworden.  Die Fokussierung der Debatte auf den Feminisierungsaspekt kann als beendet betrachtet werden. Zuletzt stellte Marcel Helbig nach Sichtung einschlägiger empirischer Untersuchungen fest:

„Die empirischen Ergebnisse zeigen, dass es nicht zum Ziel führt, für einen erfolgreichen Bildungsweg der Jungen mehr männliche Lehrer zu fordern. Die große Mehrheit der Forscher sieht keinen Zusammenhang zwischen dem Geschlecht der Lehrkraft und dem Bildungserfolg der Jungen.“[2]

Die Differenzierung der Diskussion über die Bildungsbenachteiligung von Jungen öffnet die Debatte auch für die Inklusionspädagogik. Inklusion geht vom Diversity-Ansatz aus, der auch ein Anliegen kritischer Männerforschung ist. Diese geht davon aus, dass es nicht eine allgemein gültige Form von Männlichkeit gibt, sondern eine Vielzahl von Männlichkeiten, die ihre spezifischen Ausprägungen in Abhängigkeit von den historischen, kulturellen, sozialen und familiären Rahmenbedingungen erhalten.
Der Gedanke einer Diversität männlicher Lebensentwürfe wird auch durch Ergebnisse empirischer Untersuchungen über das Selbstverständnis von Männern in den alten Bundesländern untermauert.[3] Diese zeigen, dass weniger als ein Fünftel der Männer sich explizit am traditionellen Männerbild orientiert. Die offensiven Vertreter einer traditionalistischen Haltung finden sich dabei vor allem am untersten und am obersten Gesellschaftsrand, konkret bei ungelernten Arbeitslosen und Arbeitern sowie bei selbständigen Unternehmern und Managern. In der Mittelschicht überwiegen dagegen „pragmatische“, „partnerschaftliche“ und „verunsicherte“ Einstelllungen.[4]
Für die Jungenpädagogik bedeutet dies, dass sie sich – wenn sie inklusiv sein will – der Vielfalt männlicher Lebensentwürfe stellen muss. Sie kann sich nicht auf stereotype Auffassungen darüber stützen, was männlich ist und was nicht. Stattdessen muss sie von der Existenz einer Vielzahl möglicher Männlichkeiten ausgehen und dies auch in der konkreten pädagogischen Arbeit entsprechend berücksichtigen.
Dabei darf die Jungenpädagogik allerdings auch nicht den Blick vor der Tatsache verschließen, dass die Sozialisation und psychosoziale Entwicklung von Jungen sich grundlegend von der von Mädchen unterscheidet. Dies liegt sicher teilweise an den anders gearteten Rollenstereotypien, die den heranwachsenden Männern über Peergroups und Medien vermittelt werden. Auch verschiedene psychoanalytische Forschungsansätze legen jedoch eine Andersartigkeit der psychosozialen Entwicklung von Jungen und Mädchen nahe. Von besonderer Bedeutung sind dabei vor allem die Identifikation mit der primären Bezugsperson (in der Regel der Mutter) und die Ablösung von dieser.[5]
Zentral für die inklusive Jungenpädagogik ist es vor diesem Hintergrund, die Individualität jedes einzelnen Jungen anzuerkennen und wertzuschätzen und ihn auf dem Weg seiner individuellen männlichen Identitätsentwicklung zu begleiten. Inklusion beinhaltet demnach in diesem Fall die radikale Abkehr von Geschlechterstereotypien. Dies ist auch deshalb wichtig, weil gerade die Orientierung an dem traditionalistischen Männlichkeitsentwurf für bestimmte Gruppen von Jugendlichen eine erfolgreiche Bildungsentwicklung erheblich erschwert.

3. „Andersartigkeit“, die nicht bereichert

Wenn von einer allgemeinen Bildungsbenachteiligung von männlichen Kindern und Jugendlichen ausgegangen wird, so wird dabei die Tatsache unterschlagen, dass es ganz bestimmte männliche Schüler sind, die an den Anforderungen des Bildungssystems scheitern. Es handelt sich hierbei vor allem um Schüler, die aus soziokulturell benachteiligten Familien stammen. Für sie präsentiert sich die Schule als fremdes, weil mittelschichtorientiertes Milieu.[6] Aufgrund regelmäßiger Misserfolgserlebnisse nehmen sie weitaus häufiger als andere männliche Jugendliche Zuflucht zu traditionellen Männlichkeitskonzepten. Die Leitlinien von Männlichkeit, die hierbei verhaltensstrukturierend wirken, sind gekennzeichnet durch Dominanz, Durchsetzungsvermögen sowie die Abwehr aller Gefühle, die Schwäche implizieren (Mitgefühl, Skrupel, Scham etc.).
Einem Mann in einer gesellschaftlich herausragenden Machtposition (oder ei­ner Frau in der gleichen Lage) kann eine entsprechend skrupellose, machtorien­tierte Haltung unter Umständen zu noch mehr Macht und Erfolg verhelfen – zumal das entsprechende Verhalten im Einklang mit den Normen des globalisierten Kapita­lismus steht. Schon dies kann man durchaus kritisch sehen, wenn man die Folgen für soziale Gerechtigkeit, Umwelt und die Entwicklung der Weltwirtschaft bedenkt. Vor allem aber sind in den meisten anderen Bereichen der Ge­sellschaft – nicht zuletzt dort, wo Arbeiten und Lernen in Gruppen stattfindet – andere Qualifikationen gefragt: Teamfähigkeit, Rücksichtnahme, Empathiefä­higkeit etc. Bringt also der 'Kampfgeist' einen Manager oder Politiker vielleicht be­ruflich voran, so stellt das traditionelle, auf Dominanz hin ausge­richtete Männ­lichkeitskonzept für sozial benachteiligte Jungen eine Falle dar. Hierzu bemerkt Waltraud Cornelißen:

„Es wäre denkbar, dass Leitbilder, die den Jungen heute über Medien und ihre peergroups vermittelt werden, einen Teil der Jungen viel stärker auf 'Coolness', 'Toughness’, Technikbe­herrschung, Dominanzgebaren und Selbstgewissheit hin orientieren, als dies für eine ange­messene Arbeitsdisziplin, ein breites fachliches Interesse und eine Bereitschaft, Lehrkräfte als Experten und Autoritäten anzuerkennen, von Vorteil ist.“ [7]

Dies gilt in besonderem Maße für sozial marginalisierte Jugendliche. Sie nehmen weitaus häufiger Zuflucht zu traditionellen Männlich­keitskonzepten als andere Jugendliche. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass ihnen häufig das Vorbild des verantwortungs­vollen Ernährers der Familie in der Regel fehlt. Die Väter sind hier häufig arbeitslos oder haben sich aus den Familien entfernt und den Unterhaltszahlungen entzogen. Dominanz und Ich-Stärke wird in solchen Familien – da der schulische und soziale Erfolg ausbleibt – nicht selten über die Abwertung von Frauen und Minderheiten er­reicht. In diesem Zusammenhang wäre nach Cornelißen "auch zu klären, ob speziell jene Jungen mit einem Frauen besonders stark abwertenden Weiblichkeitsbild verstärkt Schulprobleme haben, während Jungen mit einem eher egalitären Geschlechterrrollenverständnis von Lehrerinnen im Unterricht genauso profitie­ren können wie Mädchen".[8]
Hinzu kommt, dass Jugenddevianz selten aus einer Untererfüllung von Ge­schlechterrollenmustern, sondern gerade aus ihrer Übererfüllung resultiert. So spricht Brigitte Ziehlke in ih­rer Aufarbeitung deutschsprachiger Studien zur Jugenddevianz von "fehlgelei­tete(n) Machos" und "frühreifen Lolitas".[9] Unter­stützt wird diese Auffassung durch umfassende Langzeitstudien innerhalb der Resilienzforschung. Die so genannten resilienten Menschen, die sich trotz wid­riger Lebensumstände gut entwickelt haben, zeigten meist ein eher 'androgynes' Verhalten.[10]
Männliche Schüler, die das traditionelle Männlichkeitsideal in devianter, gewalttätiger Weise ausleben, stellen für die Schule ein großes Problem dar. Sie stören den Unterricht, gehen rücksichtslos und aggressiv mit Mitschüler/innen und Lehrer/innen um. Nicht selten werden sie aus dem allgemeinen Schulwesen ausgeschlossen und besuchen Sonderschulen für Erziehungshilfe oder Tageskliniken. Gleichzeitig werden diese Verhaltensweisen in unserem gegliederten Schulsystem, das auf Selektion und Konkurrenz gründet, verfestigt.
Die mit der selektiven Mehrgliedrigkeit verbundenen schulorganisatorischen Mik­ro­strukturen wirken sich auch negativ auf die Lern- und Leistungsbereitschaft  sowie das Selbstwertgefühl so­zial benach­tei­ligter Jungen aus. Aufgrund ihres auf Dominanz gegründeten Männlichkeitsideals fällt es ihnen schwer, mit schulischen Misserfolgen um­zugehen. Daher müssen sie andere Formen des Auslebens ihrer Männlichkeit finden. Dies geschieht häufig durch die Übernahme der Rolle des negativen Helden, der den Unterricht stört oder gar verunmöglicht. Hilfen anzu­nehmen, widerspricht diesem Identitätskonzept.
Hinzu kommt, dass psychosozial belastete Kinder eine deutlich geringere Frustrationstoleranz besitzen. Die auf den inter­individuellen Vergleich angelegten Zensuren, bei denen sich die individuelle Anstrengung benachteilig­ter Schüler kaum in besseren Noten niederschlägt, ist eine ständige Quelle de­motivierender Frustration. Die Aus- und Umschulungen, mit denen auf das mangelnde Funktionieren des betreffenden Schülers innerhalb der schulischen Vorgaben reagiert wird, reprodu­zieren darüber hinaus auch die in den zerrütteten Fa­milien erlittenen Trennungserfahrun­gen und Beziehungsab­brüche und führen so zu zusätzlichen emotionalen Belastungen.
Aber auch für eher integrierende Bildungssysteme ist die Andersartigkeit männlicher Schüler mit  dissozialen Verhaltensweisen keine Bereicherung. Ihre sozialen Verhaltensweisen stehen den Eckpfeilern inklusiver Kultur diametral entgegen, denn diese Jugendlichen beziehen ihr Selbstwertgefühl gerade aus der Abwertung von Minderheiten und vermeintlich Schwächeren. Angesichts tatsächlicher Gewalt gegen schwächere Mitschüler und einer offensiven Lernverweigerung würden Wertschätzung und wohlmeinende Euphemismen wie „Verhaltensoriginalität“ in diesem Fall geradezu zynisch wirken. Dennoch bietet m.E. gerade der Index für Inklusion eine Orientierung für den Umgang mit soziokulturell benachteiligten Jungen[11].

4. Der Index für Inklusion als Ansatzpunkt für den Umgang mit devianten Verhaltensweisen männlicher Schüler

Der Index für Inklusion ist zunächst einmal ein Selbstevaluationsinstrument für Schulen, die inklusive Strukturen, Kulturen und Praktiken entwickeln möchten. Anhand von Fragebögen, die sich jeweils an die verschiedenen Gruppen der Schulgemeinde (pädagogisches Personal, Schülerschaft, Eltern) richten, kann geklärt werden, wo in Bezug auf das Ideal der Inklusion noch Probleme bestehen und was bislang erreicht worden ist. Zentral ist, dass alle in das pädagogische Feld involvierten Akteure – gerade auch Schüler/innen und Eltern – in demokratischer Weise an den Inklusionsprozess beteiligt werden. Eine Schule, die den Diversity-Ansatz vertritt, muss die verschiedenen ethnischen und sozialen Milieus ihrer Schulgemeinschaft an einen Tisch bringen. Dies ist nicht konfliktfrei, aber gerade im Hinblick auf den Umgang mit benachteiligten männlichen Kindern und Jugendlichen eine große Chance.
Bei der Diskussion inklusiver Pädagogik in Bezug  auf den Umgang mit benachteiligten Jungen sollen im Folgenden drei Ebenen voneinander unterschieden werden: die systemisch-strukturelle Ebene, die Subjektebene und die Unterrichtsebene.

4.1. Die systemisch-strukturelle Ebene

Wie bereits weiter oben ausgeführt, verstärken die Strukturen unseres selektiven Schulsystems die Verhaltensauffälligkeiten und Lernprobleme benachteiligter Kinder und Jugendlicher.[12] Die Makrostrukturen bedingen mit ihrer hierarchischen Gliederung verschiedener Schularten bestimmte, das Lernen behindernde Mikrostrukturen. Zu nennen sind hier insbesondere der interindividuelle Leistungsvergleich durch Ziffernnoten, das Sitzenbleiben und die Abschiebung von Schülern in gesellschaftlich weniger geachtete Schulformen.
Die typischen Routinen des Schulsystems widersprechen einer Kultur der individuellen Wertschätzung. Für bestimmte gesellschaftliche Gruppen wirken sie darüber hinaus unmittelbar stigmatisierend und diskriminierend.[13] So ist unser Bildungssystem in höchstem Maße ein Bildungssystem der Mittelschicht, das über den Ausschluss von Kindern und Jugendlichen funktioniert, die sich nicht genügend an den vorherrschenden Habitus[14] anzupassen vermögen. Elternkontakte laufen im Wesentlichen in ritualisierter Form über Elternabende oder Elternsprechtage ab. Dabei sind die Mittelschichteltern meist unter sich. MigrantInnen und Eltern aus marginalisierten Schichten zeigen mehr oder weniger starke Berührungsängste mit der Institution Schule. Gespräche mit den so genannten bildungsfernen Familien finden in den seltensten Fällen auf Augenhöhe statt. Die Asymmetrie der „Beratungsgespräche“ verstärkt den Eindruck dieser Familien, dass es sich bei der Schule um eine feindliche, diskriminierende Institution handelt. Sie fühlen sich in der Schule nicht wohl und nicht ernst genommen. Auf diese Weise können sie kaum für die Zusammenarbeit mit den PädagogInnen im Erziehungsprozess gewonnen werden und geben diese negative Einstellung gegenüber der Institution Schule an ihre Kinder weiter.
Der Index für Inklusion kann in diesem Zusammenhang insofern hilfreich sein, als er auch die Frage nach dem diskriminierungsfreien Umgang mit den Eltern thematisiert. Für den Fall, dass es hier Schwierigkeiten geben sollte, legt er eine aufsuchende Elternarbeit nahe. Die inklusive Schule muss ein Ort sein, an dem sich alle Eltern willkommen und wertgeschätzt fühlen. Die Erreichung dieses Ziels kann über das Einüben diskriminierungsfreier Gesprächsführung und  die Bereitstellung von Begegnungsmöglichkeiten der Eltern untereinander (beispielsweise ein Elterncafe in der Schule)  unterstützt werden.
Gerade bei der Bildung und Erziehung von Jungen mit gewalttätigen, lernverweigernden Verhaltensweisen kommt der Elternarbeit eine zentrale Rolle zu, weil hierbei die positive und enge Zusammenarbeit aller am Lernprozess Beteiligten unerlässlich ist. Auch Angebote der Jugendhilfe werden nur dann von den Familien angenommen, wenn eine gute Vertrauensbasis besteht. Diese Vertrauensbasis herzustellen, ist keine einfache, aber eine lohnende Aufgabe.
Die schulrechtlichen Vorgaben in Deutschland unterstützen kaum das Entstehen einer inklusiven Kultur. Hierbei kommt erschwerend hinzu, dass die inklusiven Werte im diametralen Gegensatz zu den zentralen Normen des globalisierten Kapitalismus stehen. Deshalb sind der inklusiven Entwicklung staatlicher  Schulen von außen enge Grenzen gesetzt. Schulen, denen es ein Anliegen ist, alle Kinder und Jugendliche zu ihrem Bildungsrecht kommen zu lassen, müssen die Grenzen ihres Handelns ausdehnen und sich im kreativen Umgang mit administrativen Vorgaben üben.
Konkret bedeutet dies, dass Klassenwiederholungen, Um- und Abschulungen so weit wie irgend möglich vermieden werden sollten. Gerade für verhaltensauffällige Schüler wirkt sich die mit solchen Maßnahmen einhergehende Frustration im Sinne einer Verstärkung der gewaltorientierten Verhaltensmuster aus. Es sollten daher unbedingt alternative Vorgehensweisen geprüft werden, die eine solche Entwicklung verhindern helfen. Denkbar wären etwa zusätzliche Unterstützungsmaßnahmen im Rahmen von Einzelunterricht, eines Schülerpatensystems oder der oben angeführten aufsuchenden Elternarbeit.

4.2. Die Subjektebene

Jungen mit aggressiven und lernverweigernden Verhaltensweisen stören nicht nur das gemeinsame Lernen, sie sind auch in ihrer eigenen Subjektentwicklung beeinträchtigt. Deshalb ist Toleranz gegenüber destruktiven und dissozialen Verhaltensweisen auch im Interesse der betreffenden Individuen selbst nicht angebracht.
Die Schwierigkeit des Umgangs mit verhaltensauffälligen Schülern besteht darin, dass ihr störendes Verhalten zwar nicht hingenommen werden kann, sie aber dennoch auf Wertschätzung und eine positive Beziehung zu den Lehrpersonen angewiesen sind. Gerade die sinnvolle pädagogische Arbeit mit marginalisierten, männlichen Kindern und Jugendlichen ist deshalb ohne Beziehungsarbeit nicht denkbar.[15][]
Um sich sozial weiterzuentwickeln, müssen die betreffenden Kinder und Jugendlichen neue Formen des Auslebens ihrer Männlichkeit finden. Auf traditionellen Konzepten von Männlichkeit gründende Ansätze wirken dagegen wie ein ‚Mehr desselben’. Zwar wollen sie gewalttätigen Jugendlichen dabei helfen, ihre aggressiven Impulse durch Kampfsport und Boxunterricht zu regulieren, doch unterstützen sie eben hierdurch den Hang der Jugendlichen, Gewalt als  adäquates Konfliktlösungsmodell anzusehen.[16] Stattdessen müssen den betreffenden Jungen aber gerade neue, gewaltfreie Herangehensweisen an Konflikte vermittelt werden.
Vor diesem Hintergrund sind in den letzten Jahren verschiedene Projekte entwickelt worden, die das von der kritischen Männerforschung geforderte „andere Mannsein“[17] unterstützen. Eine Möglichkeit ist beispielsweise die kritische Auseinandersetzung mit dem von Film und Fernsehen vermittel­ten Männerbild. So wurden in einem Medienprojekt der Stadt Wuppertal mit männlichen Heranwachsenden zunächst aktuelle Filmproduktionen auf darin wirksame Männerphantasien hin analysiert. In einem zweiten Schritt produ­zierten die Jugendlichen dann eigene Videofilme, in denen sie sich kritisch mit dem herkömmlichen Männerbild auseinandersetzten.[18][]
Eine Hilfe kann auch die Aufbrechung starrer Geschlechterrollenklischees sein. Dieses Ziel wird u.a. mit der an der Laborschule Bielefeld entwickelten Idee des 'Haushaltspasses' verfolgt. Dabei werden Jungen auch in typischen Haushaltstätigkeiten (wie Bügeln, Putzen, Kochen etc.) unterwiesen, während den Mädchen auch handwerkliche Grundkenntnisse vermittelt werden. Der Unterricht erfolgt dabei koedukativ, so dass die typischen Geschlechterrollenbarrieren bereits im Lernprozess selbst durchbrochen werden.
An einigen brandenburgi­schen Schulen werden im Rahmen eines 'Modellversuchs Berufsorien­tierung für Mädchen und Jungen' männlichen Jugendlichen gezielt Praktika in typischen 'Frauendomänen' (Kindergarten, pflegerische Berufe etc.) ver­mittelt. Laut Boldt berichteten Lehrerinnen und Lehrer der betreffenden Schulen davon, dass

"die Praktika grundsätzlich auch von den Jungen positiv bewertet werden. Die von den Jungen formulierten, während der praktischen Arbeit von ihnen erlebten Rollenverunsi­cherungen werden von ihnen durchaus im Nachhinein positiv bewertet".[19]

Das Projekt „Bo(d)yzone“ des Vereins Pfunzkerle e.v. schließlich versucht die Sensibilität der Jungen für sich und andere über körperbezogene Zugänge zu stärken. Gerade für gewalttätige Jugendliche eröffnet dies die Möglichkeit, neue, nicht von Gewalt geprägte Körpererfahrungen zu machen. So wird beispielsweise die Dimension des Körpers als Ausdrucksmittel von Emotionen und allgemein als Mittel nonverbaler Kommunikation erschlossen. Das Projekt, das auch kreative und künstlerische Zugänge mit einschließt, steht ausdrücklich Jungen mit und ohne Beeinträchtigungen offen.[20]

4.3. Die Unterrichtsebene

Das Dominanzgebaren marginalisierter männlicher Jugendlicher ist nicht selten eine Fassade, hinter der sich ein zutiefst verletztes und gekränktes Selbst verbirgt. Die Frustrationstoleranz der betreffenden Kinder und Jugendlichen ist dementsprechend gering.
Die an deutschen Schulen vorherrschende Unterrichtsform des fragend entwickelnden Unterrichts funktioniert indessen nur dann, wenn die Lebenssituation der einzelnen SchülerInnen ausgeblendet wird. Diese Art von Unterricht richtet sich stets an die „Mittelköpfe“ einer Lerngruppe und bringt regelmäßig ein Drittel unterforderter und ein Drittel überforderter Lerner hervor. Benachteiligte Jungen finden sich hierbei regelmäßig im unteren Drittel wieder. Ihre Stellung als Versager wird nach jeder Klassenarbeit mit dem Notenspiegel dokumentiert. So dienen sie innerhalb eines solchen Unterrichtskonzepts nur der Selbstwertbestätigung der besseren Lerner. Dies ist eine soziale Rolle,  die weder für das Lernen motiviert noch dazu beiträgt, sich in der Schule wohl zu fühlen. Das vorherrschende Gefühl, das vermittelt wird, ist gekennzeichnet durch Herabsetzung und Beschämung – was wiederum zur Verstärkung der Aggressionen auf Seiten der betreffenden Jugendlichen führen kann.
Ein Ausweg kann es sein, durch (Selbst-)reflexion des pädagogischen Personals alle beschämenden schulischen Routinen zu identifizieren und abzubauen. Hierzu zählen nicht nur Notenspiegel unter den Klassenarbeiten, sondern auch  Diktate[21] – die für Schüler aus bildungsfernen Schichten besonders häufig frustrierend sind – und Wettbewerbsspiele mit schulischem Wissen (Rechenkönig). Eine Sensibilisierung der Lehrkräfte für diskriminierende, stigmatisierende und beschämende Routinen im Schulalltag muss Bestandteil jeder Lehreraus- und fortbildung sein. Eine Hilfe für die Reflexion können die Fragebögen im Index für Inklusion sein.
Dem Abbau von Frustrationen und der daraus folgenden erhöhten Gewaltbereitschaft kann es ferner dienen, den betreffenden Jugendlichen gezielt positive Lernerfahrungen zu vermitteln. So haben sie in einem projektorientierten Unterricht die Möglichkeit, eigene Interessen einzubringen und Kompetenzen zu entwickeln. Auch die Portfolioarbeit hat sich dabei bewährt, Kinder und Jugendliche zu Akteuren ihres eigenen Lernprozesses zu machen und sie für die Auseinandersetzung mit ihren jeweiligen Lernfortschritten und -problemen zu sensibilisieren.[22]

5. Ausblick

Tony Booth, der Mitverfasser des Index of Inclusion,  sagte vor einigen Jahren anlässlich eines Vortrags in Frankfurt, man könne nur dann etwas im Sinne der Inklusion verändern, wenn man die aktuelle Realität genau kenne und von dieser ausgehe. PädagogInnen, die das Ziel der inklusiven Bildung verfolgen, dürfen demnach nicht den Fehler machen, die Augen vor den konkreten gesellschaftlichen, schulorganisatorischen und pädagogischen Problemen zu verschließen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass die Diskrepanz zwischen ihren hohen Idealen und den aktuell bestehenden Möglichkeiten der Umsetzung zur Resignation und zum Rückfall in alte, ausgrenzende Routinen führt. 

Die Erziehung und Bildung von Jungen mit destruktiven und gewalttätigen Verhaltensweisen wird in der inklusionspädagogischen Literatur meiner Einschätzung nach noch zu wenig diskutiert. Diese Schülergruppe passt einfach nicht zu dem Bild bereichernder Vielfalt, das in der Inklusionsliteratur vorherrscht. Wer es aber ernst meint mit inklusiver Bildung, muss auch diese Kinder und Jugendlichen auf dem Weg zur inklusiven Bildung mitnehmen. Die Entwicklung eines umfassenden inklusionspädagogischen Konzepts der schulischen Arbeit mit dissozialen Jungen  steht  noch aus. An dieser Stelle konnten hierzu nur einige vorläufige Anregungen gegeben werden.

[1] Vgl. die Definitionssammlung auf www.definitiv-inklusiv.org.

[2] Helbig, Marcel: Lehrerinnen trifft keine Schuld an der Schulkrise der Jungen. In: WZ-Brief Bildung vom 11. Mai 2010, S. 5.

[3] Vgl. Zulehner, Paul / Volz, Rainer: Männer im Aufbruch. Wie Deutschlands Männer sich selbst und wie Frauen sie sehen. Ostfildern 1998.

[4] Brandes, Holger: Wie Männer sich selbst sehen. Männlichkeiten und soziale Milieus. In: Rosowski, Martin / Ruffing, Andreas (Hrsg.): Männerleben im Wandel. Würdigung und praktische Umsetzung einer Männerstudie, S. 89 – 109. Ostfil­dern 2000.

[5] Vgl. Chodorow, Nancy: Das Erbe der Mütter. Psychoanalyse und Soziologie der Geschlechter. München 1985; Corneau, Guy: Abwesende Väter – verlorene Söhne. Die Suche nach der männlichen Identität. Solothurn 1993.

[6] Vgl. Mand, Johannes: Lernbehinderung als soziale Benachteiligung. In: Eberwein, Hans (Hrsg.): Handbuch Lernen und Lern-Behinderungen. Aneignungsprobleme. Neues Verständnis von Lernen. Integrationspädagogische Lösungsansätze, S. 165 – 175. Weinheim und Basel 1996.

[7]       Cornelißen, Waltraud: Einige Anmerkungen zur Debatte um die Benachteiligung von Jungen in der Schule. In: www.dji.de, Homepage Cornelißen, S. 20; gekürzte Fassung in: Zeitschrift für Frauenfor­schung & Ge­schlechterstudien 22 (2004), H. 1, S. 128 – 136.

[8]     Cornelißen, ebd., S. 7.

[9]     Ziehlke, Brigitte: "Fehlgeleitete Machos" und "frühreife Lolitas". Geschlechtsspezifische Unterschiede der Jugenddevianz. In: Tillmann, Klaus-Jürgen (Hg.): Jugend weiblich – Jugend männlich. Sozialisa­tion, Ge­schlecht, Identität, S. 28 – 40. Opladen 1992.

[10]    Vgl. Werner, Emmy: Protective factors and individual resilience. In: Meisel, Samuel J. / Shonkoff, Jack P. (Hg.): Handbook of Early Childhood Intervention, S. 97 – 116. Cambridge 1990.

[11] Vgl. Boban, Ines / Hinz, Andreas (Hrsg. und Übersetzer): Index für Inklusion für Schulen. Universität Halle-Wittenberg  2003  Quelle: http://www.eenet.org.uk/resources/docs/Index%20German.pdf.

[12] Vgl. Hoffmann, Ilka: „Gute“ Jungs kommen an die Macht, „böse“ in die Sonderschule.  Bedingungen der Entste­hung und Verstärkung von Lernproblemen und Verhaltensauffälligkeiten männlicher Kinder und Ju­gendlicher. Saarbrücken 2006.

[13] Vgl. Gomolla, Mechtild / Radtke, Frank-Olaf: Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Opladen 2002.

[14]11 Vgl. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (La distinction. Critique sociale du jugement, 1979). Frankfurt/M. 1982.

[15] Vgl. Vetter, Christiane: Der kleine Gauner. Pädagogischer Lebensweltbezug und psychoanalytisch fundiertes Verstehen eines dissozialen Jungen. Weinheim und München 2003.

[16]  Die Ansätze der Jungenpädagogik, die die pädagogische Wirkung von Kampfsport hervorheben, folgen in ihren theoretischen Überlegungen nicht selten fragwürdigen biologistischen und esoterischen Begründungsmustern. Vgl. Haindorff, Götz: Auf der Suche nach dem Feuervogel. Junge Männer zwischen Aggression, Eros und Autorität. In: Möller, Kurt (Hg.): Nur Macher und Macho? Geschlechtsreflektierende Jungen- und Männer­arbeit, S. 109 – 146. Weinheim und München 1997.

[17] Böhnisch Lothar / Winter, Reinhard: Männliche Sozialisation. Bewältigungs­probleme männlicher Geschlechts­identität im Lebenslauf, S. 9. Weinheim und München 1997.

[18]  Vgl. Hören, Andreas von: Der projizierte Held. Videoproduktion mit Jungen. In: Sturzenhe­cker/Winter (2002), S. 229 – 246.

[19]   Boldt, Uli: Jungen stärken: Zur Modernisierung der Lebensentwürfe von Jungen. Berlin 2000 (Werkstatt­hefte des Pädagogischen Landesinstituts Brandenburg, Nr. 51).

 

[20]  Vgl. Jerg, Jo / Neubauer, Gunter/ Sickinger, Harald: Projekt Bo(d)yzone: Jungensichten – Körperbilder. Basis­texte zur inklusionsorientierten Jungenpädagogik. www.pfunzkerle.de/bodyzone.htm

[21]  Generell sind Diktate nicht dafür geeignet, Rechtschreibstrategien zu entwickeln. Es handelt sich hierbei um eine lebensferne Situation, bei der nicht in erster Linie die Rechtschreibfähigkeit gemessen wird, sondern die auditive Wahrnehmung, die Konzentrationsfähigkeit und die Schreibgeschwindigkeit getestet werden (Vgl. Erichson, Chr. u.a.: Fördert das Rechtschreiblernen – schafft die Klassendiktate ab! In: Grundschulverband aktuell Nr. 61/1998, S. 4).

[22]    Vgl. Easley, Shirley-Dale / Mitchell, Kay: Arbeiten mit Portfolios. Schüler fordern, fördern und fair beurteilen. Bochum 2004.