Helga Gschwandtner & Astrid Jakob: Gender Mainstreaming als wesentlicher Aspekt einer inklusiven Pädagogik

aktualisierte Zweitveröffentlichung aus
bm:ukk (Hrsg.): Sonderpädagogik aus inklusiver Sicht. Studientexte. Wien: Jugend & Volk 2009, 54–61

Abstract: Die Entwicklung und die Grundsätze von Gender Mainstreaming als politischer Strategieansatz zur Erreichung von Chancengleichheit und Gleichstellung der Geschlechter werden  kurz dargestellt. Es wird herausgearbeitet, warum das  Konzept von Gender Mainstreaming erweitert und differenziert werden sollte, um tatsächlich Gleichstellung von Frauen und Männern zu erreichen. Frauen und Männer sind keine homogenen Gruppen.
Diversity Ansätze zum Beispiel schlagen vor, die Kategorie Geschlecht um weitere Dimensionen einer Persönlichkeit wie Alter, Hautfarbe, sexuelle Orientierung, ethnische Herkunft und physische und psychische Fähigkeiten zu erweitern. In Auseinandersetzung mit den  theoretischen Ansätzen der Pädagoginnen Faulstich-Wieland und Annedore Prengel wird diskutiert wie es im pädagogischen Alltag gelingen kann, Differenzen zu berücksichtigen und Vielfalt gleichberechtigt möglich zu machen.

Stichworte: Gender Mainstreaming, Doing Gender, Pädagogik der Vielfalt, Inklusion

Ausgabe: 1/2011

Inhaltsverzeichnis
  1. Begriffsklärung
  2. Ziele von Gender Mainstreaming
  3. Geschichte von Gender Mainstreaming
  4. Gender Mainstreaming und Schule
  5. Kritik am Gender Mainstreamingkonzept
  6. Verschiedene Ansätze und Entwicklungen in der Genderforschung
  7. Die Konstruktion von Behinderung
  8. Geschlechtergerechte und Inklusive Pädagogik
  9. Literatur

1. Begriffsklärung

Gender Mainstreaming ist ein europäischer politischer Strategieansatz zur Erreichung von Chancengleichheit und Gleichberechtigung von Frauen und Männern.
Gender kommt aus dem Englischen und bezeichnet die gesellschaftlich, sozial und kulturell geprägten Geschlechterrollen von Frauen und Männern. Diese sind – anders als das biologische Geschlecht – erlernt, kulturell geprägt und damit auch veränderbar.
Mainstreamingheißt, dass ein bestimmtes Denken und Handeln in den „Mainstream“ – in den Hauptstrom – in Politik und Verwaltung, Programme und Maßnahmen – übernommen und zu einem selbstverständlichen Handlungsmuster wird; dass ein Sonderthema zu einem Hauptthema wird. (Vgl. Bergmann, Pimminger 2004, 20)
Gender Mainstreaming soll demnach die Geschlechterperspektive in alle gesellschaftlichen Planungs- und Entscheidungsprozesse konsequent und systematisch einbinden, da es keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit gibt. Soziale Ungleichheiten sind wahrzunehmen und zu berücksichtigen. Die Definition von Gender Mainstreaming in der deutschen Übersetzung der Publikation der Europäische Kommission des Jahres 1998 lautet: „Gender Mainstreaming besteht in der Reorganisation, Verbesserung, Entwicklung und Evaluation von Entscheidungsprozessen in allen Politikbereichen und Arbeitsbereichen einer Organisation. Das Ziel von Gender Mainstreaming ist es, in alle Entscheidungsprozesse die Perspektive des Geschlechterverhältnisses einzubeziehen und alle Entscheidungsprozesse für die Gleichstellung der Geschlechter nutzbar zu machen.“ http://www.genderkompetenz.info/genderkompetenz-2003-2010/gendermainstreaming/Grundlagen/geschichten/international/index.html

 

2. Ziele von Gender Mainstreaming

Gender Mainstreaming ist als eine umfassende Strategie zu verstehen mit dem Ziel die Verteilungsgerechtigkeit voranzutreiben, geschlechtsspezifische Rollenzuschreibungen zu überwinden, strukturelle Ungleichheiten abzubauen und die Gleichstellung von Frauen und Männern zu fördern.
Gender Mainstreaming (kurz GeM) wurde als Top Down Strategie entworfen, um eine Verankerung und Implementierung von Geschlechtergerechtigkeit in Organisationen und Entscheidungsprozessen zu gewährleisten. Gleichzeit erfordert die Strategie jedoch die Beteiligung aller Personen - Männer wie Frauen - in Institutionen und Organisationen.

 

3. Geschichte von Gender Mainstreaming

Gender Mainstreaming hat seine Wurzeln in der Entwicklungszusammenarbeit.
1985 wurde der Begriff Gender erstmals auf der Weltfrauenkonferenz im Zusammenhang mit entwicklungspolitischen Zielsetzungen diskutiert.
1995 - auf der Weltfrauenkonferenz von Peking - erhielt die neue Strategie den Namen Gender Mainstreaming. Sie sollte eine weitere Möglichkeit eröffnen, Chancengleichheit für Frauen und Männer zu erzielen.
1996 wurde im Amsterdamer Vertrag das Prinzip Gender Mainstreaming auf europäischer Ebene verankert:

1999 - mit der Ratifikation des Amsterdamer Vertrages - wurden alle Mitgliedstaaten der EU verpflichtet, die Chancengleichheit der Geschlechter als Ziel in sämtlichen Bereichen der Politik und Gesellschaft zu verankern.

Österreich hat sich mit der Unterzeichnung des Vertrages von Amsterdam rechtlich verpflichtet, die Strategie Gender Mainstreaming umzusetzen und somit die Gleichstellung der Geschlechter aktiv voranzutreiben. Die nationalen Grundlagen der Umsetzung von Gender Mainstreaming sind der Artikel 7 Abs. 2 des Bundesverfassungsgesetzes (B-VG) sowie mittlerweile 3 Ministerratsbeschlüsse der Bundesregierung (GEM Handbuch 2004, 16).
Auch in den einzelnen österreichischen Bundesländern wurden durch Landtags- und Regierungsbeschlüsse Rechtsgrundlagen zur Umsetzung von Gender Mainstreaming geschaffen. Im Jahr 2000 wurde eine interministerielle Arbeitsgruppe Gender Mainstreaming eingerichtet, um die geschlechterbezogene Sichtweise in alle politischen Konzepte und auf allen politischen Ebenen einzubeziehen.
http://www.imag-gendermainstreaming.at

 

4. Gender Mainstreaming und Schule

Im Bereich der österreichischen Schul- und Bildungspolitik wurden Maßnahmen zur Verankerung des Gleichstellungsansatzes auf unterschiedlichsten schul- und bildungspolitischen Ebenen gesetzt.
Im Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur wurde eine Arbeitsgruppe Gender Mainstreaming eingerichtet, zudem gibt es eine Abteilung für geschlechtssensible Bildungsfragen.
1994 (Grundsatzerlass 1995) findet das Unterrichtsprinzip „Erziehung zur Gleichstellung“ erstmals Eingang in die Lehrpläne von Schulen, das die Forderung nach Gleichstellung zum Grundprinzip erhebt.
Im Jahr 2000 ist im „Lehrplan 99“ für die Hauptschulen und allgemein bildenden höheren Schulen erstmals ein didaktischer Grundsatz „Bewusste Koedukation“ enthalten.
Der Aktionsplan 2000 mit „99 Maßnahmen zur Förderung der Gleichstellung im Bereich Schule und Erwachsenenbildung“ sowie der Aktionsplan 2003 zu „Gender Mainstreaming und geschlechtssensible Bildung“ forcieren ebenfalls umfassende Maßnahmen in Richtung Gleichstellung (vgl. auch Bergmann 2006, 54ff).

In der Erklärung zum Aktionsplan 2003 wird noch einmal bekräftigt: Gender Mainstreaming zielt auf Chancengleichheit und Gleichstellung der Geschlechter und erfordert die Berücksichtigung von Gender Aspekten auch im Bereich der Schul- und Bildungspolitik. Gender Mainstreaming in der Schule bedeutet, die Gender Perspektive in allen Bereichen des Lernens und Lehrens, in der Organisation Schule und im Handeln aller Beteiligten zu verankern, um geschlechtergerechtes Lernen zu ermöglichen.
Geschlechtssensibler Unterricht und geschlechtssensible Berufsorientierung sind ebenso wie spezifische Fördermaßnahmen für das eine oder das andere Geschlecht Mittel zur Erreichung des Ziels. http://www.bmukk.gv.at/schulen/unterricht/ba/aktionsplan2003.xml

Geschlechtssensible Schulentwicklung im Rahmen von Gender Mainstreaming konzentriert sich einerseits auf die Organisationsstruktur und Organisationskultur der institutionellen Ebene sowie auf  Interaktions- und Kommunikationsprozesse auf der individuellen Ebene – auf die Doing Gender Prozesse.
Claudia Schneider weist in ihrer Analyse zu Gender Mainstreaming und Schulentwicklung darauf hin, „dass sich schulische Doing Gender Prozesse nicht nur an koedukationskritischen Befunden ablesen lassen, die die Unterrichtsinhalte, die Interaktionen, die zahlenmäßige Verteilung von Mädchen und Burschen, von Frauen und Männern im Schulsystem betreffen; geschlechtsspezifische Ungleichbehandlungen, Hierarchien und Machtungleichheiten sind vor allem in der Organisationsstruktur von Schule (wie auch in anderen Institutionen) institutionell abgesichert.
(..) Gender ist in die institutionellen schulischen Gesetzmäßigkeiten eingebunden, die zu ihrem Funktionieren beitragen: Arbeitsteilung, Autoritätsmuster, etc.“ (Schneider 2004, 475).
Aus Sicht von Schneider brauchen Gender Mainstreaming Prozesse daher klare Strukturen, Rahmenbedingungen und einen klaren Auftrag mit dem Ziel Geschlechtergleichstellung, ein Gender Controlling, Gender Expertise bei allen Beteiligten und personelle und finanzielle Ressourcen (vgl. Schneider 2004, 479).

 

5. Kritik am Gender Mainstreamingkonzept

In den letzten Jahren wird zunehmend Kritik an dem zu wenig differenziert konzipierten Ansatz der Gleichstellungspolitik laut. Die Erkenntnisse von Diversity Ansätzen und Queer Studies sind bislang im Gender Mainstreaming Konzept und in der praktischen Umsetzung zu wenig berücksichtigt worden. Ein Kritikpunkt der Queer Forschung setzt am System der Zweigeschlechtlichkeit unserer Gesellschaft an. Demnach gibt es nicht nur die Geschlechter Frau und Mann, sondern es existiert eine Vielzahl von Geschlechtern (Transgender, Intersexualität, ...).
Diversity Ansätze kritisieren, dass die Kategorie Gender zu vereinfachend, verdeckend und andere Machtdimensionen ausblendend verwendet wird. Frauen und Männer sind mit unterschiedlichen Rollenerwartungen, Eigenschaftszuschreibungen und unterschiedlichen Chancen und Rahmenbedingungen konfrontiert. Frauen und Männer sind jedoch keine homogenen Gruppen. Erst weitere Differenzierungen ermöglichen eine genaue Analyse der Situation, der Bedürfnisse und Interessen von Frauen und Männern und ermöglichen erst dann grundsätzliche Änderungen in Richtung Gleichstellung.
Diversity Ansätze schlagen vor, die Kategorie Geschlecht um weitere Dimensionen einer Persönlichkeit wie Alter, Hautfarbe, sexuelle Orientierung, ethnische Herkunft und physische und psychische Fähigkeiten zu erweitern.

 

6. Verschiedene Ansätze und Entwicklungen in der Genderforschung

Mit der Umsetzung von Gender Mainstreaming soll erreicht werden, dass Frauen und Männer in allen Bereichen des Lebens gleiche Chancen eingeräumt werden. In der Frauen- und Geschlechterforschung hat sich dieses Konzept kontinuierlich entwickelt. Von der Frage ausgehend wie das soziale Geschlecht und bestehende Geschlechterverhältnisse entstehen bzw. entstanden sind und sich manifestiert haben, wurde versucht Konzepte und Strategien zu entwickeln, die bestehenden Geschlechterverhältnisse und –zuschreibungen zu verändern.
In den letzten 30 Jahren sind verschiedene Geschlechtertheorien entstanden und es haben sich unterschiedliche Ansätze für die Herstellung von Gleichberechtigung ausgeprägt. Verschiedene Diskurse stehen in der Geschlechterforschung nebeneinander, manche haben einander  sozusagen abgelöst. In den zentralen Geschlechtertheorien können durchaus Parallelen zur Entwicklung unterschiedlicher Sichtweisen von Behinderung gezogen werden.

Eine zentrale Geschlechtertheorie stellt der Gleichheits- bzw. Benachteiligungsdiskurs dar. Ausgehend von der Benachteiligung von Mädchen und Frauen wurde entsprechende Unterstützung und politische Aktivierung verlangt, um eine Gleichberechtigung derselben zu erreichen. Ähnliche Diskussionen gab es im Behindertenbereich, ausgehend von der Sichtweise der Benachteiligung und Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung wurden Konzepte der Integrativen Pädagogik entwickelt. Bei einer kritischen Betrachtungsweise bleibt die Frage zustellen, wer die Norm darstellt, mit wem soll eine Gleichberechtigung erreicht werden, in welche Gruppe soll integriert werden.
In der Geschlechterforschung bzw. im feministischen Diskurs wurde die Gleichstellungspolitik zunehmend kritisiert, da sie sich an der männlichen Lebenswelt als Norm orientiert. In der Integrationspädagogik stellt die Gruppe der nicht-behinderten Menschen die Norm dar, in die integriert werden soll. Beide Ansätze implizieren eine Defizit auf der Seite jener die gleichberechtigt bzw. integriert werden sollen.

Der Differenzansatz in der Geschlechterforschung geht auf die Ideen des italienischen Feminismus (Liberia delle Donne di Milano 1988) zurück. Er basiert auf dem Verständnis von Differenz als egalitärer Differenz. D.h. Differenzen werden nicht dualistisch jeweils als besser oder schlechter bewertet, sondern grundsätzlich als gleichwertig anerkannt. Gleichzeitig bedeutet die Feststellung von Geschlechterdifferenz in diesem Sinne nicht die inhaltliche Festschreibung dessen, was Unterscheide zwischen Frauen und Männern ausmachen, sondern sie ist an die Unbestimmbarkeit von Weiblichkeit und Männlichkeit gebunden. In der feministischen Diskussion führte dies zur politischen Forderung nach Differenz und Gleichheit (Selbstbestimmung und gleiche Rechte) für Frauen (vgl. Kunert-Zier 2006, 16).
Ziel der Genderarbeit auf dem Hintergrund des Differenz-Diskurses besteht in einer Analyse der Geschlechterhierarchie zum einen und der Wahrnehmung und Benennung von Dualismen zum anderen, damit Weiblichkeit und Männlichkeit künftig offene und gleichwertige Prinzipien werden können.

Autonomie und Integration sind die Ziele für die Arbeit mit ausdifferenzierten Zielgruppen. Hier wird innerhalb einer Geschlechtergruppe das Prinzip der Differenz angewandt. Das bedeutet beispielsweise Frauen mit Behinderungen innerhalb der Frauengruppe das Recht auf Differenz und Gleichheit einzuräumen. Im Differenz-Diskurs werden Unterschiedlichkeiten zwischen Frauen und das sich aufeinender beziehen aufgrund von Verschiedenheit thematisiert. Hier werden die unterschiedlichen Bedingungen für Frauen und Männer innerhalb ihrer Geschlechtergruppe aufgegriffen. Die Orientierung am Individuum zeigt, dass die Annahme Frauen, Männer oder auch behinderte Menschen bilden aufgrund einer einheitlichen Interessenslage per-se eine Wir-Gruppe, eine bloße Fiktion ist.

Die momentan in der Geschlechterforschung am stärksten diskutierte Theorie ist die des Konstruktivismus. Ausgehend vom Denkprozess, in dem wir ständig die Wirklichkeit konstruieren und immer wieder durch neue Konstrukte ersetzen (Dekonstruieren) (vgl. Butler 1991) ist auch die Kategorie „Geschlecht“ als Konstrukt zu betrachten. Dabei wird vor allem die Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit und deren Manifestierung, welche wiederum zu einer Hierarchisierung führte, in Frage gestellt. 

7. Die Konstruktion von Behinderung

„...In den vergangenen 30 Jahren zeigte die internationale „Independent Living“ -Bewegung auf, dass die wirklichen Probleme behinderter Menschen nicht in ihrer individuellen Beeinträchtigung sondern in den ausgrenzenden gesellschaftlichen Bedingungen, dem eingeschränkten Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe und den massiven Vorurteilen gegenüber Behinderung bestehen“ (Hermes 2008, o.S.).

Aus den Theorien geht hervor, dass sowohl Geschlecht als auch Behinderung als gesellschaftliches Konstrukt betrachtet werden können, die sich in einem dualen System befinden, weiblich/männlich auf Seiten der Geschlechterkonstruktion, nicht-behindert / behindert auf Seiten der Konstruktion von Behinderung. Um Einschränkungen aber nicht zu konstruieren, sondern die Offenheit gegenüber der Vielfalt von Lebensweisen und Lebenswelten zu ermöglichen, müssen auch die theoretischen Konstrukte überdacht werden. Um die Vielfalt fassbar zu machen und Diskriminierung bzw. Benachteiligung sichtbar zu machen wurden im „Diversity Konzept“ vier Dimensionen (bzw. Ebenen) von Diversivität eingeführt. Zu den so genannten Kerndimensionen, die nicht veränderlich sind zählen: Alter, Geschlecht, Körperliche Merkmale, Ethnische Herkunft, Physische Befähigung, Sexuelle Orientierung (vgl. Bruchhagen 2008).

So stellen das Geschlecht und die physischen Befähigungen bzw. auch geistigen Fähigkeiten Dimensionen von Diversity dar. Dies kann aber auch bedeuten, dass Menschen die in mehreren Dimensionen der gängigen Gesellschaftlichen Norm nicht entsprechen, Diskriminierung bzw. „Behinderung“ in ihrer Lebensführung ausgesetzt sind. Es ist nicht egal, ob wir ein Mann oder eine Frau sind, es wirkt sich auf unsere Lebensweisen und Möglichkeiten aus, vor allem auch dann, wenn eine Beeinträchtigung vorliegt.

„Frauen die unter den Bedingungen einer Behinderung aufwachsen sind einer doppelten Diskriminierung ausgesetzt“ (Warzecha 1997, II).
Wenn weibliche Sozialisation sich an gängigen Normen von Schönheit und Erotik, Erfolg in der Erwerbsarbeit und dem Ideal der Mutterschaft orientiert, wird Frauen mit Beeinträchtigungen die Teilhabe an einem „erfüllten Frauenleben“ unmöglich gemacht. Das gleiche gilt natürlich für gängige Normen in der männlichen Sozialisation. „Ich find’s komisch wenn eine Frau mich Mann nennt. Ich kann’s nicht glauben ein Mann zu sein, weil sich Männlichkeit durch Stärke und sexuelle Potenz definiert. – Ich bedarf der Hilfe anderer Menschen, und Männer sind nicht bedürftig“ (Exner 1997, 67).

 

8. Geschlechtergerechte und Inklusive Pädagogik

Gender und Behinderungen haben also einiges gemeinsam. In den Konzepten von Gender Mainstreaming, sowie auch in der Geschlechterforschung spielen Menschen mit Beeinträchtigungen allerdings kaum eine Rolle. Dabei ist die Frage wie Geschlechtszugehörigkeit sich auf Menschen mit Beeinträchtigungen auswirkt, eine besonders zentrale.
Wie geht es Mädchen in der Pubertät, die aufgrund einer beispielsweise körperlichen Behinderung  Schwierigkeiten haben, dem gängigen eng gefassten Schönheitsideal zu entsprechen oder einfach nur Kleidung zu finden, die als modisch gilt und dennoch besonderen Bedürfnissen genügt.
Wie geht es behinderten Jungen, mit gängigen Zuschreibungen zu Männlichkeit, wie Durchsetzungskraft, Unabhängigkeit und Stärke? In der Sonderpädagogik bzw. den neuen Konzepten der inklusiven Pädagogik muss die „Genderfrage“ daher eine Rolle spielen.
Im Rahmen der Geschlechterforschung in der Pädagogik sind Theorien und Konzepte für eine geschlechtssensible, geschlechtergerechte oder geschlechtsbezogenen Pädagogik entstanden.
Ausgehend von der Theorie des Konstruktivismus geht die geschlechtergerechte Pädagogik davon aus, dass vieles, was wir im Laufe unseres Lebens an geschlechtstypischen Merkmalen herausbilden durch unsere Umwelt beeinflusst entstand.
Das bedeutet, dass eine gezielte geschlechtersensible bzw. geschlechtergerechte Pädagogik auf sozialisierte Unterschiede Rücksicht nimmt und aktiv dazu beitragen will, Geschlechterverhältnisse zu verändern. Es bedeutet aber auch, Mädchen und Buben als Individuen zu sehen, zu versuchen ihre Anlagen Fähigkeiten und Neigungen wahrzunehmen, ohne diese durch Geschlechterrollenzuschreibungen und -stereotypen einzuschränken. Geschlechterunterschiede sollen nicht manifestiert oder dramatisiert werden, sondern kritisch in Frage gestellt werden.

Auch wenn Pädagog/innen heute der Ansicht sind, Mädchen und Buben ohnehin alle Möglichkeiten einzuräumen und sich zu entwickeln, so sind wir doch in unserem Handeln beeinflusst. Beeinflusst durch unsere eigene Sozialisation, unsere Geschlechterrolle, beeinflusst durch mediale Bilder und Zuschreibungen zur Geschlechterrolle und nicht zuletzt beeinflusst durch unser Gesellschaftssystem und das System Schule. Jeder Mensch, ob Lehrerin oder Lehrer, Schülerin oder Schüler stellt permanent Geschlechterverhältnisse her, indem sie oder er sich als Frau oder Mann verhält, ob bewusst oder unbewusst. In unserem vorherrschenden System der Zweigeschlechtlichkeit verhalten wir uns immer einem Geschlecht zugehörig. Der Prozess des so genannten „doing gender“ findet im Schulalltag also ständig statt (vgl. Faulstich-Wieland 2002, 111 ff). Wir finden den Prozess in der Lehrer/innen-Schüler/innen-Interaktion genauso, wie zwischen Gleichaltrigen. Es bedarf Sensibilität und einer hohen Reflexionsfähigkeit von Lehrkräften, um eine Erweiterung des Handlungsspielraumes aller zu ermöglichen, um das System der Zweigeschlechtlichkeit durch ein Konzept der Heterogenität, der Vielfalt zu ersetzten.

Die Inklusive Pädagogik und die geschlechtergerechte Pädagogik verfolgen hier letztendlich übereinstimmende Ziele. Es geht darum, vielfältige Verhaltensweisen möglich zumachen, die gängigen Normen aufzubrechen und durch Heterogenität zu ersetzten. Andererseits gilt es auch bestehende Verhältnisse zu analysieren, Diskriminierung aufzudecken und Gleichberechtigung herzustellen.

Für die Unterrichtspraxis bedeutet dies zum Beispiel nach Annedore Prengels Pädagogik der Vielfalt, dass Schülerinnen und Schüler individuell eine von Lehrkräften erzeugte Atmosphäre erfahren, in der sie die Chance haben, sich selbst achten zu lernen, ihre Bedürfnisse artikulieren zu können, ihre eigenen Leistungen wertzuschätzen und gut für sich zu sorgen. (vgl. Prengel 2002, o.S.).
Annedore Prengel geht in der „Pädagogik der Vielfalt“ vom Konzept eines demokratischen Differenzbegriffes aus, der besagt, dass unterschiedliche Lebensformen, gleiches Existenzrecht haben, gleiches Recht gesellschaftlich sichtbar, anerkannt und wirksam zu sein. Gleichheit bzw. Gleichberechtigung ist die Bedingung der Möglichkeit von Differenz (vgl. Prengel 2006, 183/184).

Bezogen auf die geschlechtergerechte Pädagogik innerhalb der inklusiven Pädagogik würde dies heißen, für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen Rahmenbedingungen zu schaffen, die es ihnen ermöglichen ihre Fähigkeiten und Anlagen zu erproben und ihre verschiedenen Bedürfnisse erkennen. Es sollte ein Lernumfeld geschaffen werden, das ihnen aber auch die Möglichkeit besonderer Förderung und Unterstützung gibt, um Neues zu entdecken und für sich erlernbar zu machen. Dabei muss die Art der Behinderung, genau so wie das Geschlecht und das Umfeld einer Schülerin oder eines Schülers berücksichtigt werden.
Lehrerinnen und Lehrer sind gefordert, Diskriminierungen zu erkennen und eine Atmosphäre zu schaffen, in der Vielfalt möglich ist und geschätzt wird. Die Reflexion eigener Erwartungen an Schülerinnen und Schüler, die Analyse von Normen und Werten in Bezug auf Geschlecht und Behinderung sind die notwendige Grundlage zur Umsetzung von Kriterien des Gender Mainstreaming innerhalb der inklusiven Pädagogik.

 

9. Literatur

Bergmann, Nadja / Pimminger, Irene (2004): PraxisHandbuch Gender Mainstreaming, Wien.
http://www1.uni-ak.ac.at/gender/wp-content/gem_praxishandbuch-1.pdf

Bergmann, Nadja (2006): Die Strategie Gender Mainstreaming. In: Geschlechtergeschichte – Geschlechterpolitik – Gender Mainstreaming, Informationen zur politischen Bildung Bd. 26, 49–57. Innsbruck: Studienverlag

Bruchhagen, Verena / Iris Koall, Iris (o.J.): Zur Strukturkategorie Geschlecht in Diversityprozessen. Universität Dortmund. (download: 29.1.2008)
http://www.gender-diversity.net/TCgi_Images/20051215120203_1.pdf

Bundesministerium für Unterricht und Kunst: (download: 30.1.2008)
http://www.bmukk.gv.at/schulen/bw/uebersicht/Geschichte_Zeittafel__Fr1742.xml
http://www.bmukk.gv.at/schulen/unterricht/ba/aktionsplan2003.xml

Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag

Exner, Karsten (1997): Deformierte Identität behinderter Männer und deren emanzipatorische Überwindung. In: Warzecha, Birgit: Geschlechterdifferenz in der Sonderpädagogik. Bd.2 Münster: Lit.Verlag

Faulstich-Wieland, Hannelore / Weber, Martina / Willems, Katharina (2004): Doing Gender im heutigen Schulalltag. Empirische Studien zur sozialen Konstruktion von Geschlecht in schulischen Interaktionen. Weinheim: Juventa Verlag

Faulstich-Wieland, Hannelore (2002): Sozialisation in Schule und Unterricht. Neuwied: Luchterhand Verlag

GeM – Infoletter Nr. 8.2004: Behinderung und Geschlecht

Gender Kompetenz Zentrum (Hrsg.) (o.J.): Die Geschichte von GM International und EU. (download: 12.9.2010)
http://www.genderkompetenz.info/genderkompetenz-2003-2010/gendermainstreaming/Grundlagen/geschichten/international/index.html

Hermes, Gisela (o.J.): Projektleiterin im Bildungs- und Forschungsinstitut zum selbstbestimmten Leben Behinderter – bifos - e.V. Disability Studies. (download: 29.1.2008)
http://www.disability-studies-deutschland.de

Interministerielle Arbeitsgruppe Gender Mainstreaming:
http://www.imag-gendermainstreaming.at

Kunert-Zier, Margitta (2006): Feministische Mädchenarbeit und Mädchenpolitik im Kontext aktueller Theorie- und Politikdiskurse. Bundesarbeitsgemeinschaft für Mädchenpolitik e.V. : bag info 6 Berlin

Prengel, Annedore (2002): Referat anlässlich der Tagung: Vielfalt, Schule Toleranz, Nürnberg. (download: 6.2.2008)
http://www.xenos-nuernberg.de/Veranstaltungen/Vielfalt_Schule_Toleranz/Tagungsdokumentation_08_Nov_02/Referat_von_Annedore_Prengel/referat_von_annedore_prengel.html

Prengel, Annedore (2006): Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften

Schneider, Claudia (2004): Gender Mainstreaming als Schulentwicklung. In: Erziehung und Unterricht. (5/6), 473–482

Warzecha, Birgit (1997): Geschlechterdifferenz in der Sonderpädagogik. Bd.2. Münster: Lit Verlag

 

Das Konzept der doppelten Diskriminierung wurde mittlerweile durch das Konzept der Intersektionalität erneuert. Dieses beschreibt die Überschneidung verschiedener Diskriminierungsformen.