Heike Raab: Inklusive Gender?: Gender, Inklusion und Disability Studies

Abstract: Inklusion gilt gleichermaßen als Leitkategorie der Disability Studies wie auch der Inklusionspädagogik, gleichwohl ohne dass in beiden Fällen auf aktuelle Debatten um Heterogenität, Differenz und Intersektionalität in den Gender Studies rekurriert wird. Aus diesem Grund soll in diesem Beitrag zunächst ein geschlechterkritischer Blick auf die theoretischen Grundlagen von Inklusion geworfen und diesbezüglich Mehrfachzugehörigkeit und Mehrfachdiskriminierung diskutiert werden. In diesem Zusammenhang ist die These zentral, dass das kulturelle Modell von Behinderung in den Disability Studies neue Einsichten in die theoretische Verfasstheit von Inklusion verspricht. Von Interesse ist hierbei besonders das mit dem Inklusionsbegriff verbundene Modell einer inklusiven Gesellschaft. Ausgehend davon wird das Verhältnis zwischen den Gender und Disability Studies diskutiert. Inklusive Gender bedeutet in diesem Zusammenhang die wechselseitigen Zusammenhänge der Gender und Disability Studies zu reflektieren. Dabei sollen Perspektiven für die feministischen Disability Studies entwickelt werden.

Stichworte:

Ausgabe: 1/2011

Inhaltsverzeichnis
  1. Behinderung und Geschlecht: erste Annäherungen
  2. Heterogene Differenz oder differente Heterogenität?
  3. Aspekte feministischer Disability Studies
  4. Literatur

1. Behinderung und Geschlecht: erste Annäherungen

Wenn man sich mit der Frage nach der Verhältnisbestimmung von Behinderung und Geschlecht als zwei maßgebliche gesellschaftliche Differenzkategorien auseinandersetzt, so stellt sich zunächst die Frage nach der disziplinären Verortung. Soll man innerhalb der Gender Studies zu Behinderung forschen oder innerhalb der Disability Studies zum Thema Geschlecht? Ist also die Perspektive der Behinderung relevanter als die des Geschlechts, oder umgekehrt. Bedarf es überhaupt dieser beiden Zugänge? Allein dieses Beispiel lässt von der Schwierigkeit des Unterfangens ahnen. Nicht zuletzt aus diesem Grund gilt es zunächst nach den Gemeinsamkeiten und gegenseitigen Ausblendungen in den Disability und Gender Studies zu fragen.
So sind die Disability Studies (Waldschmidt 2009, 125-133) ein transdisziplinärer, behinderungsübergreifender Wissenschaftsansatz und fokussieren auf die Bedeutung von Behinderung als ein kulturelles oder soziales Phänomen. Hingegen erforschen die Gender Studies aus einer feministischen Perspektive gesellschaftliche Geschlechterverhältnisse. Gleichwohl sind beide politische, transdisziplinäre Studien zu den jeweiligem soziokulturellen Phänomenen. Gemeinsam sind diesen Forschungsausrichtungen ihre Herkunft aus und ihre enge Verflochtenheit mit den jeweiligen sozialen Bewegungen. Die Gender Studies (Becker-Schmidt/Knapp, 2000; Raab 2005, S. 240 - 253; Becker/Kortendiek 2010) haben sich aus der modernen Frauenbewegung heraus entwickelt, analog sind auch die Disability Studies im Kontext einer emanzipatorisch ausgerichteten sozialen Bewegung (die Behindertenbewegung) entstanden und haben einen gesellschaftskritischen Anspruch. Auch das Erklärungs- und Analyseinstrumentarium verweist auf gegenseitige Anschlussmöglichkeiten. So fechten beispielsweise die Disability Studies die Klassifikation von behindert/nicht-behindert an. Während die Gender Studies die binär-hierarchische Organisation von Geschlecht erforschen. Gemeinsame Basis von beiden Forschungsausrichtungen ist eine de/konstruktivistische Forschungsperspektive und die Fokussierung auf soziokulturelle Unterscheidungsweisen von Differenz, deren historisch-kontingente Vergesellschaftungsformen, mit dem Ziel die normative Ordnung des Soziokulturellen zu hinterfragen.
Vor diesem Hintergrund möchte ich das Spannungsverhältnis aber auch das Zusammenspiel von Behinderung und Geschlecht als maßgebliche Achsen der Differenz und der Ungleichheit auszuloten. Inklusive Gender bedeutet in diesem Zusammenhang Perspektiven von Cripping Gender und Gendering Disability für zukünftige Forschungsfelder der feministischen Disability Studies zu entwickeln. Inklusion wird hierbei zentral, da dieser Begriff auf der theoretischen Ebene Heterogenität und Vielfalt erklären will und politisch auf eine emanzipatorisch ausgerichtete inklusive Gesellschaft zielt. Kritisch gilt indes anzumerken, dass bislang kein geschlechtersensibler Begriff von Inklusion entwickelt wurde - weder innerhalb der Disability Studies noch in der Inklusionspädagogik und auch nicht in den Gender Studies.
Von daher gilt es zunächst den Inklusionsgedanken aus feministischer Sicht zu durchleuchten. Dieses Vorgehen ist von drei Grundannahmen geprägt: Zum einen ist davon auszugehen das es nicht ausreicht dem Konzept der Inklusion additiv das Thema Geschlecht hinzuzufügen. Zum anderen stellt sich die Frage inwieweit Inklusion Dimensionen von Mehrfachzugehörigkeit und Mehrfachdiskriminierung, wie z.B. die Gleichzeitigkeit von Frau-Sein und Behindert-Sein, theoretisch zu erfassen vermag. Schlussendlich wird die These vertreten, dass das kulturelle Modell von Behinderung in den Disability Studies neue Einsichten in die Debatte über Heterogenität, Pluralität und Vielfalt verspricht. Denn im Zuge der zunehmenden Wahrnehmung kulturwissenschaftlicher Ansätze in den Disability Studies kommt es zu einer Verschiebung vom Integrationsparadigma (Bruner, 2005, 35-36) zum Differenzparadigma. Aus differenztheoretischer Perspektive wird auch hier Pluralität und Heterogenität diskutiert, gleichwohl mit dem Fokus auf die Differenz der Differenz. D.h. es geht um theoretische, wie politische und pädagogische Zugänge, die Heterogenität, Pluralität und Vielfalt jenseits binärer Zuordnungen wie Mann/Frau, behindert/nicht-behindert konzipieren wollen. In dieser Hinsicht stehen die Disability Studies in der Tradition differenztheoretischer Ansätze in den Erziehungswissenschaften (Fritzsche 2001; Lutz /Wenning 2001; Mecheril/Plößer 2009; Tervooren 2003 und 2006) und kulturwissenschaftlicher Diskussionen zu Behinderung in der Behindertenpädagogik (Dederich 2009 a und b).

 

2. Heterogene Differenz oder differente Heterogenität?

Nichtsdestotrotz ist seit geraumer Zeit auch in den Sozial- und Kulturwissenschaften eine zunehmende Debatte über Heterogenität, Pluralität und Vielfalt zu verzeichnen, die im Zuge einer kritischen Gegenwartsdiagnostik über die allgemeine Pluralisierung und zunehmende Ausdifferenzierung spätkapitalistischer Gegenwartsgesellschaften entstanden ist. Hauptsächlich die an Foucault anknüpfenden Gouvernmentality Studies und die Postcolonial Studies verorten dieses Prozessgeschehen im Kontext einer neoliberalen Gouvernementalität oder, wie der Postcolonial Studies Theoretiker Kien Nghi Ha (Nghi Ha 2005) anmerkt, als Teil eines neuen neoliberalen Vergesellschaftungsmodus.
Denn, so Nghi Ha, der neoliberal motivierte Hype um Individualität und Pluralität ermöglicht auch eine fortschreitende Verdinglichung von Minoritäten und Alteritäten. Vielfalt und Pluralität werden zunehmend als wachstumsfördernder Konsumtiv- und Produktivfaktor industriell und politisch verwertet. So bestechen beispielsweise die gegenwärtigen Produktions- und Regulationsmodi in der Kulturökonomie durch neue Formen der Aneignung des Anderen. Von Vereinnahmungsversuchen dieser Art ist auch die Behindertenbewegung nicht gefeit. Im Kontext von Paralympics, Schönheitswettbewerben von behinderten Frauen und behinderten Filmstars boomt auch hier die Ästhetisierung des Anderen und es blüht ein letztlich exotisierender Spartenkonsum.
Insofern gilt mit der leider viel zu früh verstorbene Disability Studies Theoretikerin Claudia Franziska Bruner zu fragen, welche Ausschließungsprozesse gerade unter Bedingungen und Vorstellungen gesellschaftlich befürwortender Inklusionsprozesse in Gang gesetzt werden (Bruner 2005, 52). Noch pointierter formuliert, heißt dies darüber nachzudenken ob wir nicht schon längst im Zeitalter der Inklusion angekommen sind, in der Heterogenität, Vielfalt, Andersheit jedoch als neue Marktsegmente im neoliberalen Postfordismus verdinglicht werden. Kritisch-reflexiv sollte deswegen hinterfragt werden, ob das Modell der Inklusion nicht klammheimlich einem Bedeutungswandel unterliegt und nunmehr im neoliberalen Gewand eines allgemeinen Individualisierungsversprechens auftritt, bei dem Minoisierten die Aufgabe zukommt, zu demonstrieren, dass man es auch unter erschwerten Bedingungen schaffen kann.[1]
Ob also Inklusion, analog wie die so genannte Integrationsdebatte im Bereich der Migration, als gesellschaftliches Modell einen zwanghaften oder befreienden Moment entwickelt und tatsächlich für kulturelle, pädagogische und soziale Öffnungskulturen steht, hängt also wesentlich davon ab, welche soziokulturelle Position Minorisierte in einer Gesellschaftsstruktur einnehmen, deren Zugänge und Ausschließungen durch die Überschneidungen von Geschlecht, Ethnizität, Behinderung, sexuelle Orientierung permanent neu konstituiert werden (Nghi Ha, 2005, S. 97).
An diesem Punkt setzt die gegenwärtige feministische Intersektionalitätsdebatte an und erforscht die Vielfalt von Macht- und Herrschaftsverhältnissen als wechselseitige Hervorbringungsverhältnisse:
Historisch betrachtet, hat Intersektionalität ihre Wurzeln in der innerfeministischen Auseinandersetzung um das Verhältnis von Geschlecht und anderen Achsen von Differenz und Ungleichheit, wie etwa Rassismus. Ferner sind die Diskussionen um den Zusammenhang von Behinderung und Geschlecht zwischen der behinderten Frauenbewegung und der nicht-behinderten Frauenbewegung zu nennen. Als jüngster Beitrag zur Intersektionalitätsdebatte ist sicherlich die von der US-amerikanischen Gender-Theoretikerin Judith Butler (Butler 1991) ausgelöste feministische Gender Debatte zu nennen. Im Kern ging es in der Debatte darum inwiefern universale Analysekategorien wie "Frau" bzw. "Lesbe" oder "Geschlecht" nicht potentiell Pluralität und Vielfalt ausschließen und stattdessen eine essentialistische Definition von Frau-Sein beinhalteten die der Differenz unter Frauen nicht gerecht würde (Benhabib/ Butler/ Cornell/Fraser, 1993; Winker/Degele, 2009). So gäbe es behinderte Frauen, lesbische Frauen, weiße Frauen und Frauen mit Migrationshintergrund, so die Kritik von Butler, die alle von der feministischen Universalkategorie "Frau" repräsentiert werden soll(t)en, deren reale Unterschiede - z.B. aufgrund von Ethnizität oder sozialer Zugehörigkeit - aber in der Kategorie "Frau" weder erfasst noch repräsentiert werden könnten.
Dem Grunde nach ging es in allen drei feministischen Debattensträngen darum Differenzverhältnisse innerhalb von Geschlecht zu thematisieren und um die Problematik von Mehrfachzugehörigkeit als auch um Erfahrungen von Mehrfachdiskriminierung.
Im Rahmen dieses innerfeministischen Diskussionsprozesses um die Vielfalt und Unterschiedlichkeit von Frauen entstand der Terminus Intersektionalität, der inzwischen auch Eingang in die Disability Studies (Raab 2007, 127-151; Köbsell/Jacob/Wollrad 20010) und in die Inklusionspädagogik gefunden hat (Hinz 2008).
Zentral für das Modell von Intersektionalität als Analyseinstrument ist der Fokus auf die komplexe Vielschichtigkeit gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse, d.h. es wird nicht von einem einzigen dominanten Vergesellschaftungsmodus ausgegangen - wie etwa "dem" Kapitalismus. Viel eher werden multiple Dimensionen der Macht und Herrschaft analysiert. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass sich unterschiedliche Achsen der Differenz und Ungleichheit wechselseitig überkreuzen und wechselseitig hervorbringen.
So betrachtet lässt sich beispielsweise Behinderung nicht auf eine einzige Macht- und Herrschaftsdimension, etwa wie Behindertenfeindlichkeit, reduzieren. Behinderung wird stattdessen als mit anderen Macht- und Herrschaftsverhältnissen verknüpft betrachtet. Aus einer intersektionalen Sicht kann Behindertenfeindlichkeit deshalb als interdependent und verwoben mit Homophobie, Sexismus, Rassismus und sozialer Zugehörigkeit verstanden werden. Bezogen auf die Disability Studies wird es auf diese Weise möglich die Differenz- und Analysekategorie Behinderung als eine relationale Kategorie zu entwerfen, d.h. als abhängig und sich überkreuzend mit anderen maßgeblichen gesellschaftlichen Vektoren von Macht und Herrschaft. Gleichzeitig verweist die Relationalität von Behinderung als eine von verschiedenen machtvollen Achsen der Differenz und der Ungleichheit auf Fragen nach Mehrfachzugehörigkeit und Mehrfachdiskriminierung, wie sie in den feministischen und queeren Disability Studies angesprochen werden. D.h. es wird auf diese Weise möglich die spezifische Problematik von behinderten Frauen oder von Lesben und Schwulen mit Behinderung sowie von Menschen mit Behinderung und einem Migrationshintergrund zu erforschen und zu thematisieren.
Sofern Intersektionalität auf die Analyse sich vielfach durchkreuzender Differenzen und Hierarchien rekurriert, knüpft dieser Ansatz zudem unmittelbar an dekonstruktivistische Perspektiven aus dem kulturellen Modell von Behinderung in den Disability Studies an. Unter Verwendung dekonstruktivistisch-poststrukturalistischer Theorien wird damit eine grundlegende Kritik an den Denktraditionen der Aufklärung geübt. Kennzeichen westlicher Denktraditionen seit der Aufklärung ist ein Denken in hierarchischen Kategorien wie Mann/Frau, Homo/Heterosexualität, Gesundheit/Krankheit etc. das mit totalisierenden wesenhaften Vorstellungen von Identitäten einhergeht. Hingegen zielt das kulturelle Modell in den Disability Studies auf die Dekonstruktion jener Binarismen und Identitäten wie sie seit der Aufklärung entwickelt wurden. Stattdessen liegt die Betonung auf der Mehrdimensionalität von Differenz im Kontext vielfältiger und widersprüchlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Dies bedeutet, dass gemäß dem poststrukturalistischen Paradigma der Heterogenität, Vielfalt und Pluralität wissenschaftlichen Denksysteme und deren binäre, dichotome Vorstellung und Unterscheidungsweisen wie behindert/nicht-behindert oder normal/anormal im kulturellen Modell von Behinderung hinterfragt bzw. dekonstruiert werden. Insofern werden Vorstellungen von Behinderung als Naturtatsache kritisiert und die Naturalisierungsstrategien von Behinderung analysiert. Das Differenzparadigma des Intersektionalitätmodells als auch der kulturwissenschaftlich inspirierten Disability Studies stellt hingegen eher die Ebene der kulturellen Repräsentation in den Vordergrund. Ziel ist eine theoretische und politische Intervention in die kulturellen Deutungsmuster einer Gesellschaft.
Ferner rückt die Vielfalt von Behinderung in den Mittelpunkt des Interesses, anstelle einer homogenisierenden essentialisierenden Einteilung von Menschen und Gruppen auf der Grundlage kohärent gedachter binärer Gegensätze, wie etwa behindert/nichtbehindert, als Ausgangspunkt von wissenschaftlicher Forschung, Pädagogik und Politik. In diesem Sinne betonen die hier vorgestellten Ansätze, wie der Intersektionalitätsgedanke als auch das kulturelle Modell von Behinderung in den Disability Studies, dass Differenzen nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb einer Kategorie bedeutsam sind.
Diesbezüglich bietet die feministische Intersektionalitätsdebatte und das kulturelle Modell von Behinderung in den Disability Studies eine Ergänzung für eine Pädagogik der Vielfalt (Prengel 1993) und die daran anknüpfende Inklusionspädagogik, da es mit diesem Verfahren möglich wird ein differenzierteres Verständnis von Heterogenität, Pluralität und Vielfalt mithin von Andersheit, nämlich aus der Perspektive poststrukturalistischer, neomarxistischer und differenztheoretischer Ansätze, zu entwickeln. Gleichzeitig wird damit aber auch die bislang in den Disability Studies geschlechterkritisch und differenztheoretisch wenig reflektierte Kategorie der Inklusion begrifflich klarer konturiert und positioniert. Vielfalt in der hier vorgestellten Lesart bedeutet somit ein Denken der Differenz, dass Konzepte von Pluralität, Vielfalt und Heterogenität, welche von Verschiedenheit ausgehen aber dennoch in sich homogene Gruppen und Individuen konzipieren, kritisch erweitert. Zudem werden Heterogenitätsansätze die auf kategorialen Binaritäten, wie die Behinderten, die Migranten, die Frauen, die Homosexuellen, die Alten, die Männer beruhen, unterlaufen.
Hingegen favorisiert sowohl das kulturelle Modell von Behinderung in den Disability Studies als auch das hier vorgestellte Modell der Intersektionalität eine wissenschaftliche Denkweise die Vielfalt jenseits von Dualitäten zum Ausgangspunkt nimmt. D.h. es wird zum Beispiel auf Differenzverhältnisse innerhalb des Feldes von Behinderung fokussiert. Ein Vorgehen, welches es ermöglicht Erfahrungen von Mehrfachzugehörigkeit und Mehrfachdiskriminierung in den wissenschaftlichen Blick zu bekommen. Man könnte auch sagen, dass die feministische Intersektionalitätsdebatte und die Disability Studies dahingehend einen Paradigmenwechsel andeuten, als das sich die Perspektive in diesen Ansätzen von Fragen nach heterogener Differenz hin zu Fragen nach differenter Heterogenität verschiebt.
In diesem Sinne bedeutet das Ziel und das Konzept einer inklusiven Gesellschaft mithin einer inklusiven Pädagogik zukünftig Überlegungen zu Pluralität, Heterogenität und Vielfalt innerhalb von Behinderung zu vertiefen - etwa um stärker auf die Belange von Frauen und/oder Homosexuellen mit Behinderung oder jene von Behinderten mit Migrationshintergrund eingehen zu können. Ansonsten besteht die Gefahr, dass das an sich emanzipatorische Modell einer inklusiven Gesellschaft im Deutungshorizont einer anthrozentristisch und ethnozentristisch fundierten Aufklärung verweilt und unbeabsichtigter Weise neuerliche Ausschlüsse produziert.

 

3. Aspekte feministischer Disability Studies

Aus dem bisher Gesagten wurde deutlich, dass der Versuch einer Verhältnisbestimmung von Behinderung und Geschlecht eine Revision der  überwiegend normativen Grundannahmen des Modells von Inklusion notwendig erscheinen lässt. Denn Geschlecht mithin Geschlechterverhältnisse lassen sich nicht additiv dem Inklusionsbegriff hinzufügen. Analoges gilt für die Frage nach dem Verhältnis der Gender und Disability Studies. Ausgehend davon möchte ich deshalb zum Schluss Facetten einer Forschungsprogrammatik für die feministischen Disability Studies skizzieren.
Wie die feministische Disability Studies Theoretikerin Rosemarie Garland Thomson darlegt (Garland Thomson 2004, 73-107) erweitert eine Verhältnisbestimmung von Behinderung und Geschlecht, mithin eine Verbindung von Gender Studies und Disability Studies, den analytischen Rahmen zur Untersuchung multipler Achsen der Differenz und Ungleichheit. In der Erforschung moderner Macht- und Herrschaftsverhältnisse und der sie bedingenden multiplen Achsen der Differenz und Ungleichheit hat, für die Autorin, hierbei das Studium der soziokulturellen Konstruktion von Behinderung eine Prisma-Funktion da es ein vertieftes Verständnis von Mensch-Sein und der Verfasstheit von Gesellschaft ermöglicht.
Dementsprechend, schreibt Garland Thomson, dass die Integration von Behinderung in die Forschung weniger den kritischen Fokus auf Achsen der Differenz und Achsen der Ungleichheit von Klasse, Geschlecht, Race und Ethnizität vernachlässigt, sondern vielmehr das Verständnis dafür erweitert wie diese Systeme miteinander verknüpft sind. Denn sie geht davon aus, dass die Figur des Behinderten eine zentrale kulturelle Funktion als rhetorische Figur hat, für alles was in der Kultur als nichtnormativ bzw. nicht der Norm zugehörig angesehen wird.
Ausgehend von einem alles umfassenden Dis/Ability-System schlägt sie deshalb als konstituierendes Moment einer feministischen Disability Theorie die radikale Kritik und ein breites Verständnis von Behinderung als kulturelles System vor, welches verschiedene körperliche Variationen stigmatisiert. Folglich wird Behinderung als ein soziokulturelles Konstrukt verstanden, welches eine hohe Ähnlichkeit mit Ethnizität und Geschlecht aufweist. In diesem Sinne produziert das Dis/Ability-System hierarchische Differenzen und Ungleichheit über die Konstruktion markierter, devianter Körper (Rosemarie Garland Thomson, 2004: 77).
Entsprechend wird Behinderung als ein Ordnungssystem betrachtet, in dem erstens körperliche Variationen interpretiert und diszipliniert werden; in dem zweitens, der Körper als Ausdruck und Effekt der soziokulturellen Ordnung fungiert; in dem drittens, ein Set soziokultureller Praktiken gleichermaßen behinderte wie nichtbehinderte Körper produziert; und wodurch es viertens, möglich wird, Prozesse der Verkörperung als instabilen Prozess zu beschreiben, gerade weil von der Norm abweichende Körper permanent ausgeschlossen werden und diese gleichzeitig permanent bedrohen.
Es ist diese entnaturalisierende Sicht auf Behinderung bzw. auf deviante Körper die auf Anschlussstellen mit den Gender Studies verweist und zugleich feministische Theoriebildung mobilisiert. Insbesondere ist hier die bereits ausgebildete und ausgeprägte feministische Kritik an Geschlecht, Rasse, Klasse, Heteronormativität und Ethnizität zu nennen, die als eingebunden und Ausdruck von gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen aufgefasst wird.
Insbesondere feministische Disability Theorie kann hierbei auf einige Prämissen feministischer Theoriebildung in diesem Bereich zurückgreifen und diese zugleich weiterentwickeln: Dies gilt einmal für den Bereich der Repräsentationskritik, d.h. es wird davon ausgegangen das Repräsentationen eine realitätsgenerierende Wirkung haben. Eine weitere Prämisse ist, dass das minorisierte Andere, d.h. die Summe der Differenzen (Behinderte, Frauen, Homosexuelle, People of Colour usw. usf.), das Allgemeine definieren und nicht umgekehrt das Allgemeine das Andere. Ferner stehen Geschlecht wie auch Behinderung für einen analytischen Zugang, mit dem man Macht- und Herrschaftsverhältnisse beschreiben kann. Schlussendlich verweisen sowohl Geschlecht wie Behinderung auf einen ebenso multiplen wie instabilen Begriff von Identität, insofern knüpft feministische Disability Theorie an die feministische Identitätskritik an. Zugleich fühlt sich feministische Disability Theorie analog zu den Gender Studies einem emanzipatorischen und sich politisch verstehendem Projekt verpflichtet, insofern ist auch Bewegungsforschung als ein wichtiger Bestandteil einer feministischen Disability Theorie zu nennen.
Inklusion mutiert hier zur Trope einer voraussetzungslosen heterogenen Wissenschafts- und Hochschullandschaft in der die Gender Studies als auch die Disability Studies gleichberechtigt Forschung betreiben können und dabei jene Perspektiven, die sich aus den Erfahrungen von Mehrfachzugehörigkeit und von Mehrfachdiskriminierung ergeben genuiner Bestandteil der Forschungspraxis ist. Wie der Hochschulalltag und die vorherrschende Forschungspraxis zeigt, wird dieser Weg ohne die Partizipation von Betroffen nicht beschritten werden können.

 

4. Literatur

Becker-Schmidt, Regina/Knapp, Gudrun-Alexi: Feministische Theorien - Zur Einführung, Hamburg 2000

Becker, Ruth/Kortendiek, Beate, Handbuch Frauen und Geschlechterforschung. Theorie, Methode, Empirie, Wiesbaden 2010.

Seyla Benhabib/Judith Butler/Drucilla Cornell/Nancy Fraser, Der Streit um Differenz, Frankfurt 1993; Gabriele Winker/Nina Degele, Intersektionalität. Zur Analyse gesellschaftlicher Ungleichheiten, Bielefeld 2009

Bruner, Claudia Franziska, Körper und Behinderung im Diskurs. Empirisch fundierte Anmerkungen zu einem kulturwissenschaftlichen Verständnis der Disability Studies, in: Psychologie und Gesellschaftskritik, 1/2005

Butler, Judith, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt 1991

Dannenberg, Clemens/Dorrance, Carmen, Inklusion als Perspektive (sozial)pädagogischen Handelns - eine Kritik der Entpolitisierung des Inklusionsgedankens, in: Zeitschrift für Inklusion 2/2009. Link: http://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion/article/view/24/33 (abgerufen am 9.1.2011)

Dederich, Markus, „Heilpädagogik als Kulturwissenschaft - Menschen zwischen Medizin und Ökonomie“, Gießen 2009a (zusammen mit Heinrich Greving, Christian Mürner und Peter Rödler)

Dederich, Markus, Disability Studies und Integration, 2009b. Siehe digitale Volltextbibliothek bidok: http://bidok.uibk.ac.at/library/beh3-4-07-dederich-disability.html  (abgerufen am 9.10.2011).

Fritzsche, Bettina et al. (Hrsg.), Dekonstruktive Pädagogik. Erziehungswissenschaftliche Debatten unter poststrukturalistischen Perspektiven, Opladen 2001

Hinz, Andreas, Inklusive Pädagogik und Disability Studies - Gemeinsamkeiten und Spannungsfelder, Vortrag gehalten am 6 Mai, 2008 in Hamburg am Zentrum für Disability Studies Hamburg (ZeDiS), Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft, siehe Link: http://www.zedis.uni-hamburg.de/wp-content/uploads/2008/05/hinz_thesen_inkled_disabstud.pdf (abgerufen am 10.10.2011)

Garland Thomson, Rosemarie, Integrating Disability, Transforming Feminist Theory, in: Bonnie G. Smith, Beth Hutchison, Gendering Disability, New Brunswick, New Jersey und London, 2004, Rutgers University Press, S. 73-107

Köbsell, Swantje, Jacob, Jutta, Wollrad, Eske, Gendering Disability. Intersektionale Perspektiven auf Behinderung und Geschlecht, Bielefeld, 2010

Lutz, Helma/Wenning, Norbert, Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft, Opladen 2001

Mecheril, Paul/Plößer, Melanie, Differenz, in: Handwörterbuch Erziehungswissenschaft, hrsg. von Sabine Andresen, Rita Casale, Thomas Gabriel, Rebekka Horlacher, Sabine Larcher-Klee, Weinheim, Basel, 2009, S. 194-209

Nghi Ha, Kein, Hype um Hybridität. Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus, Bielefeld 2005

Prengel, Annedore, Pädagogik der Vielfalt, Opladen 1993

Raab, Heike: Queer revisited - Neuere Aspekte zur Verhältnisbestimmung von Queer und Gender Studies. In: Marlen Bidwell-Steiner, Karin S. Wozonig (Hg.), Die Kategorie Geschlecht im Streit der Disziplinen, Innsbruck 2005, S. 240 - 253

Raab, Heike, Intersektionalität in den Disability Studies: Zur Interdependenz von Disability, Heteronormativität und Gender, in: Werner Schneider, Anne Waldschmidt (Hrsg.), "Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung: Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld", Bielefeld 2007, S.127-151

Tervooren, Anja, Pädagogik der Differenz oder differenzierte Pädagogik? Die Kategorie Behinderung als integraler Bestandteil von Bildung. Wiederabdruck in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft 1/2003, „Behindert sein oder behindert werden“, S. 26-36

Tervooren, Anja, Menschenbilder inklusive. Zum Verhältnis von Bild, Wahrnehmung und Imagination. In: Gemeinsam leben. Zeitschrift für integrative Erziehung, 2006

Waldschmidt, Anne, Disability Studies, in: Dederich, Markus/Jantzen, Wolfgang (Hrsg.). Behinderung und Anerkennung. Behinderung, Bildung, Partizipation. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik, Band 2. Stuttgart 2009, S. 125-133.


[1]Insofern ist hier Clemens Dannenberg und Carmen Dorrance zuzustimmen, wenn sie schreiben, dass mit der Festschreibung von Inklusion als praktisches und utopisches Ziel, potenziell die Gefahr besteht nicht mehr selbstkritisch und selbstreflexiv auf das eigene Handeln zu schauen und, so möchte ich hinzufügen, dass potenziell zudem die Gefahr besteht gesellschaftliche Transformationsprozesse nicht mehr mit Blick auf das eigene Ziel zu reflektieren. Siehe dazu: Clemens Dannenberg, Carmen Dorrance, Inklusion als Perspektive (sozial)pädagogischen Handelns - eine Kritik der Entpolitisierung des Inklusionsgedankens, in: Zeitschrift für Inklusion 2/2009. Link: http://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion/article/view/24/33 (abgerufen am 9.1.2011)