Rebecca Maskos: Frauen mit Lernschwierigkeiten stärken. Zur Lebenssituation von Frauen in Werkstätten und Wohnheimen der Behindertenhilfe und zum inklusiven Projekt "Frauenbeauftragte in Einrichtungen"

Abstract: Frauen mit Lernschwierigkeiten sind stärker benachteiligt als Männer mit Lernschwierigkeiten. Zum Beispiel bestätigen Studien, dass Frauen mit Lernschwierigkeiten überdurchschnittlich häufig Opfer von sexualisierter Gewalt werden. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen für Frauen in Einrichtungen der Behindertenhilfe können diese Benachteiligungen verstärken. Ein Pilotprojekt der Vereine Weibernetz e.V. und Mensch zuerst e.V., gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, hat in den vergangenen zwei Jahren Frauen mit Lernschwierigkeiten aus bundesweit 16 Einrichtungen zu Frauenbeauftragten ausgebildet. In ihren Werkstätten und Wohnheimen sollen sie Ansprechpartnerin für Frauen sein, sie stärken und ihre Rechte vertreten. Das inklusive Projekt, bei der die engagierte Mitarbeit von Frauen mit Lernschwierigkeiten eine große Rolle spielt, will so aktive Gewaltprävention und Schutz vor Benachteiligung fördern. Der Beitrag untersucht die gesellschaftlichen und sozialisationsbedingten Gründe für die Benachteiligung von Frauen mit Lernschwierigkeiten, erläutert die vergangene Projektarbeit sowie die Implementierung von Frauenbeauftragten in Einrichtungen.

Stichworte: Frauen mit Lernschwierigkeiten, Geistige Behinderung, Werkstätten für behinderte Menschen, Wohneinrichtungen, Frauenbeauftragte, sexualisierte/sexuelle Gewalt, Sexualität, Empowerment, Peer Counseling, Inklusion

Ausgabe: 1/2011

Inhaltsverzeichnis
  1. Einleitung
  2. Hintergrund: Frauen mit Lernschwierigkeiten in Einrichtungen der Behindertenhilfe
  3. Ausbildung von Frauenbeauftragten mit Lernschwierigkeiten – Schulung und Begleitung
  4. Literatur
  5. Interview mit Anette Bourdon, Mensch zuerst, Netzwerk People First Deutschland e.V. Mitarbeiterin im Projekt „Frauen-Beauftragte in Einrichtungen“

1. Einleitung

Frauen mit Lernschwierigkeiten werden oft nur als Behinderte und erst in zweiter Linie als Frauen wahrgenommen. Die oft auch als „geistig behindert“[1] bezeichneten Frauen erleben jedoch genau wie Frauen ohne Behinderungen Ungleichbehandlung und Sexismus und das oft in verschärfter Form. Gerade die Ausblendung der Tatsache, dass Frauen und Männer mit Lernschwierigkeiten unterschiedliche Lebensbedingungen haben und die Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Körper als Frauenkörper und Männerkörper führt zu einer fundamentalen Benachteiligung besonders der Frauen mit Lernschwierigkeiten.
Ein aktuelles Beispiel dafür, wie regelmäßig sexualisierte Gewalt an Frauen mit Lernschwierigkeiten vergessen wird: Die Aufarbeitung der systematischen sexualisierten Gewalt in kirchlichen Einrichtungen, Schulen, Internaten und Erziehungsanstalten. Dass sie dort lange zum totgeschwiegenen Alltag gehörte, wird seit Anfang 2010 aufgedeckt und in verschiedenen politischen Gremien thematisiert. Dass es Übergriffe, Gewalt und sexualisierte Gewalt aber auch in Einrichtungen der Behindertenhilfe gab und gibt ist zwar ebenfalls seit langem bekannt, wurde jedoch in dieser Debatte weitgehend ausgeklammert. Erst seit kurzem werden ExpertInnen gehört, die auf die hohe Zahl von Übergriffen auch auf Frauen mit Lernschwierigkeiten verweisen sowie Prävention und feste Leitlinien zum Umgang mit sexualisierter Gewalt in Einrichtungen fordern. Nur durch Druck behinderter Frauen wurden ihre Vertreterinnen mit in die Gremien geholt, zum Beispiel Weibernetz e.V., das bundesweite Netzwerk behinderter Frauen, an eine Arbeitsgruppe des Runden Tischs Kindesmissbrauch der Bundesregierung.
Gerade aufgrund ihrer Verleugnung tritt sexualisierte Gewalt in Einrichtungen der Behindertenhilfe immer noch häufig auf. Studien aus den 90er-Jahren zufolge werden behinderte Frauen mit rund 60 Prozent deutlich öfter als Frauen ohne Behinderung (ca. 40 Prozent) ein- oder mehrmals in ihrem Leben Opfer von sexualisierter Gewalt (vgl. Zemp, Pircher 1996). Aktuellere Zahlen wird es nach Erscheinen einer weiteren Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) zur Lebenssituation von Frauen mit Behinderungen im Verlauf des Jahres 2011 geben. Frauen mit Lernschwierigkeiten, die in Wohnheimen oder Werkstätten für behinderte Menschen leben oder arbeiten, kennen das Thema gut – entweder sie kennen eine Frau, die „angefasst wurde, obwohl sie es nicht wollte“, oder es ist ihnen selbst schon passiert.

Gewalt und sexualisierte Übergriffe sind indes nur ein Teil der Benachteiligungen, die Frauen mit Lernschwierigkeiten in Werkstätten und Wohnheimen erleben;  Ungerechtigkeiten gibt es auch im Bereich der Arbeitsorganisation und des Entgelts sowie der Pflege im Wohnbereich. Die Fähigkeiten der Frauen werden vielfach unterschätzt. Weibliche Ansprechpersonen sind selten, denn in Werkstätten für behinderte Menschen sind die Gruppenleiter oft männlich. In einer männlich dominierten Arbeitskultur hören die Frauen zuweilen sexistische oder abschätzige Sprüche. Die Sozialpädagoginnen haben oft wenig Zeit, darauf einzugehen. In Wohnheimen arbeiten zwar viele Frauen, aber dort können die Bewohnerinnen wegen fester Dienstpläne kaum selbst bestimmen, ob ihnen eine Frau oder ein Mann zum Beispiel beim Waschen und Anziehen hilft – solch eine Wahlmöglichkeit sehen viele Heime nicht vor. Auch in den bestehenden Selbstvertretungsgremien wie den Werkstatträten und Heimbeiräten fühlen sich Frauen mit ihren Anliegen oft nicht aufgehoben.

Behinderte Frauen weisen schon seit den 80er-Jahren auf ihre starke Benachteiligung hin und protestieren gegen fremdbestimmte Lebensbedingungen in Heimen und Werkstätten und das Absprechen ihrer Sexualität. Organisationen und Netzwerke wie Weibernetz e.V. machen immer wieder darauf aufmerksam, wie viele behinderte Frauen Opfer von sexualisierter Gewalt werden und dass BetreuerInnen, Familien und Gerichte ihre Aussagen oft nicht ernst nehmen. 
Die Organisation Mensch zuerst – Netzwerk People First Deutschland e.V., allen voran Petra Groß, fordert seit 2003 die Einführung von Frauenbeauftragten in Einrichtungen bundesweit. Mit einer Unterschriftenkampagne machten sie den PolitikerInnen Druck. Ihre Forderungen waren viel weit reichender als bloß der Schutz vor Übergriffen: Beispielsweise sollten Frauen in Werkstätten den gleichen Lohn bekommen wie die Männer, es sollte die Möglichkeit von flexiblen Arbeitszeiten und Kinderbetreuung geben und in Wohnheimen sollten pflegebedürftige Frauen selbst bestimmen können, ob sie von einer Frau oder einem Mann gewaschen und angezogen werden möchten. In Wohneinrichtungen soll es Wohn- und Unterstützungsangebote für Mütter mit Lernschwierigkeiten geben.
Ein besonders wichtiges Anliegen der Mensch-zuerst-Frauen: Die Frauenbeauftragten sollten selbst Frauen mit Lernschwierigkeiten sein. Nur sie können auf Augenhöhe die Rechte ihrer Kolleginnen oder Mitbewohnerinnen in der Einrichtung vertreten.

Erst Debatten um die fortdauernde Gewalt gegen Frauen und der „Aktionsplan II der Bundesregierung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen“ (BMFSFJ 2007) gab den Forderungen der behinderten Frauen Rückenwind. Weibernetz e.V. setzte sich von Anfang an für das Projekt ein, beriet mit ExpertInnen und ForscherInnen und begleitete eine Studie zum Thema Lebenssituation von Frauen in der Rehabilitation der GSF e.V. (Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Frauen- und Genderforschung, Sellach, B. u.a. 2006). 2008 erarbeitete Weibernetz ein Konzept für Schulung und Begleitung von Frauenbeauftragten in Einrichtungen als Grundlage für das Projekt Frauenbeauftragte in Einrichtungen. Ende 2008 wurde die Maßnahme mit Weibernetz als Trägerverein bewilligt und wird seitdem vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) gefördert. Kooperationspartner von Weibernetz ist Mensch zuerst e.V., deren Mitarbeiterinnen mit Lernschwierigkeiten als Referentinnen selbst am Projekt mitwirken. Hauptziel des Projekts ist die Befähigung von Frauen mit Lernschwierigkeiten aus Werkstätten und Wohnheimen, als Frauenbeauftragte für ihre Kolleginnen und Mitbewohnerinnen zu fungieren. Die Grundgedanken bewegen sich dabei im Rahmen von „Peer Counseling“ (vgl. Miles-Paul 1992) – also der Beratung Betroffener durch Betroffene - und „Empowerment“ (vgl. Rappaport 1984) – der Stärkung marginalisierter Personen und der Befähigung zur Selbsthilfe.

 

2. Hintergrund: Frauen mit Lernschwierigkeiten in Einrichtungen der Behindertenhilfe

Die Mehrheit aller Menschen mit Lernschwierigkeiten in Deutschland lebt und arbeitet in Einrichtungen der Behindertenhilfe. Mehr als 80 Prozent arbeiten in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen, und von diesen wohnen wiederum rund 42 Prozent in Wohneinrichtungen (Sellach u.a. 2006, S. 20 u. 60). Zwar besteht der Auftrag dieser Institutionen in der Ermöglichung von Teilhabe am allgemeinen gesellschaftlichen Leben, doch in der Realität verbringen viele Beschäftigte und BewohnerInnen ihren Alltag immer noch in Sonderbereichen, die mit der Lebenswelt Nichtbehinderter nur wenige Berührungspunkte haben.
In den Lebensbedingungen von Frauen und Männern mit Lernschwierigkeiten gibt es dabei deutliche Unterschiede. Dies wird zwar von Einrichtungen der Behindertenhilfe zunehmend reflektiert, doch in der Praxis vieler  Werkstätten und Wohnheime scheint das Thema Gender nur am Rande vorzukommen. Menschen mit Lernschwierigkeiten werden oft nicht als Frauen oder Männer wahrgenommen, soziale Unterschiede und Sexualität ordnen sich in der Wahrnehmung der Angestellten unter die Masterkategorie Behinderung unter. Das Übersehen der jeweiligen Besonderheit der Lebenssituationen führt oft zu einer Verstärkung der mit der Frauenrolle verbundenen Benachteiligungen.
Nur wenige Studien beleuchten die Lebenssituation von Frauen mit Lernschwierigkeiten. Die wenigen Daten, die es gibt, zeigen jedoch: Frauen mit Lernschwierigkeiten sind deutlicher benachteiligt, sowohl gegenüber Männern mit Lernschwierigkeiten als auch gegenüber nichtbehinderten Frauen.
Eine Studie der Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Frauen- und Genderforschung (GSF e.V., Sellach u.a. 2006) untersuchte dies anhand des Lebens und Arbeitens von Frauen in Werkstätten und Wohnheimen für behinderte Menschen sowie in Berufsförderungs- und Bildungswerken. Beispielsweise verdienen laut Sellach u.a. Frauen in Werkstätten im Schnitt weniger Geld als Männer (Sellach u.a. 2006). Die Lohnunterschiede ergaben sich z.B. aus einer geschlechtsspezifischen Strukturierung der Arbeitsplätze – während Frauen oft die „klassisch“ weiblichen Tätigkeiten wie Küchenarbeit oder Textil anvertraut werden, werden Männern eher die technischen Arbeitsfelder zugetraut. Diese gelten in vielen Werkstätten oft als die körperlich belastenderen Arbeiten, weshalb die männlichen Beschäftigten häufig Zulagen bekommen, wie z.B. die „Schmutzzulage“.
Die Arbeitskultur in Werkstätten ist oft männlich dominiert. Viele Gruppenleiter sind Männer, oft ehemalige Mitarbeiter von Handwerksbetrieben. Besonders in Abteilungen, in denen weibliche Beschäftigte in der Minderheit sind, berichten Frauen von Sprüchen und Witzen über Frauen, oder von Unverständnis über deren körperliche Beeinträchtigungen, z.B. Menstruationsbeschwerden. Oft wird Frauen die Mitarbeit in „klassisch männlichen“ Arbeitsfeldern wie z.B. Metall- und Holzverarbeitung wegen fehlender Damentoiletten nicht gestattet. Viele Frauen mit Lernschwierigkeiten trauen sich selbst nicht viel zu und können sich nur schwer gegen Vorverurteilungen oder Sprüche wehren. Schwer beeinträchtigte Frauen oder Frauen, die nicht verbal kommunizieren können, haben es unter Umständen schwer, erlebte Benachteiligungen oder Gewalt mitzuteilen.
Vor allem erwachsene und ältere Frauen und Männer mit Lernschwierigkeiten scheinen sehr oft eine Sozialisation zur Anpassung an traditionelle Rollen durchlaufen zu haben. Viele suchen sich diese Rollen auch selbst und überbetonen ihre maskulin-starke Seite bzw. die zurückhaltend-weibliche Seite, um wenigstens in bestimmten Bereichen des Lebens anerkannt zu werden (Sellach u.a. 2006, S. 16). Dadurch jedoch geraten besonders Frauen und Mädchen mit Lernschwierigkeiten in Konflikt mit den Teilen dieser Rollen, die von ihnen gerade nicht erwartet werden – zum Beispiel Kinder zu bekommen, eine Familie zu gründen. Trotz der liberaleren Haltung vieler Einrichtungen zum Thema Sexualität scheint die These von Joachim Walter weiterhin gültig: „Die Sexualität geistig behinderter Menschen ist weit mehr ein Problem für Eltern, Erzieherinnen und Betreuerinnen, als für die betroffenen behinderten Menschen selbst“ (Walter 1994, 1).
Das Erlauben von Sexualität gefährdet Frauen und Männer mit Behinderung – so die Befürchtung des nichtbehinderten Umfelds. Im Zentrum dieser Sorge stehen jedoch wohl eher die eigenen Ängste, die Folgen einer Schwangerschaft einer Frau mit Lernschwierigkeiten nicht bewältigen zu können. Deshalb raten oder drängen viele Eltern und BetreuerInnen zur Sterilisation oder zu einer vorsorglichen sogenannten „3-Monats-Spritze“ zur längerfristigen hormonellen Verhütung[2]. Obwohl es inzwischen einige erfolgreiche Modelle begleiteter Elternschaft von Menschen mit Lernschwierigkeiten gibt, werden vielen Frauen mit Lernschwierigkeiten ihre Kinder entzogen[3]. Elternschaft ist vor allem in Wohnheimen für behinderte Menschen immer noch eine Seltenheit, und auch Werkstätten sind zum Beispiel kaum auf Teilzeitarbeitsmöglichkeiten eingerichtet.
Dabei macht der Alltag in Einrichtungen, vor allem Wohneinrichtungen, das Entstehen von Partnerschaften und Sexualität ohnehin schwer. Die Privatsphäre ist dort oft eingeschränkt – Zimmer sind vielfach nicht abschließbar oder Besuch darf nicht über Nacht bleiben, in einzelnen Wohneinrichtungen gibt es auch noch Mehrfachbelegung der Zimmer. Geschützte Frauenräume fehlen sowohl in vielen Wohneinrichtungen als auch in Werkstätten.
Zu sexualisierten Übergriffen scheint es in Werkstätten und Wohnheimen für Menschen mit Lernschwierigkeiten oft zu kommen. Viele EinrichtungsmitarbeiterInnen wissen von einer hohen Zahl von Vorfällen zu berichten (vgl. Becker 1995; Sellach u.a. 2006). Auch für die Teilnehmerinnen der Projekt-Schulungskurse war dies oft vertraut und „normal“: Oft war es das erste, das ihnen einfiel, wurden sie nach Problemen von Frauen in ihrer Einrichtung gefragt.
Die Übergriffe gehen von anderen Beschäftigten oder Bewohnern aus, aber auch aus dem Kreis des Personals, von Mitarbeitern und Fahrern, oder von Verwandten und Freunden der Frau, in der Regel von Männern. Auch von Frauen kann sexualisierte Gewalt ausgehen, das geschieht aber vergleichsweise selten (vgl. Becker 1995, S. 64ff)[4]. Oft stammen die Angaben darüber nur aus Berichten von Angestellten und „Insassinnen“, genaue Zahlen gibt es wenige. Neben der bereits erwähnten Studie von Zemp und Pircher (1996), nach der 64 Prozent der befragten Frauen mit Lernschwierigkeiten sexuelle Gewalt erlebt haben, fanden Klein und Wawrock heraus, dass ungefähr jede dritte bis vierte jugendliche Bewohnerin von Wohneinrichtungen für Menschen mit Lernschwierigkeiten bereits sexualisierte Gewalt erlebt hat (vgl. Klein / Wawrok 1998). Sie hatten LeiterInnen von Wohneinrichtungen nach ihrem Kenntnisstand befragt – die „Dunkelziffer“ kann also bei diesen Angaben auch höher liegen. Ebenfalls gaben in einer Studie von Noack und Schmidt die Hälfte der von ihnen befragten Einrichtungen an, dass ihnen Fälle von sexualisierter Gewalt bekannt seien (Noack / Schmidt 1994).
Ein Hauptgrund für die hohe Zahl von Übergriffen in Werkstätten und Wohnheimen scheint die Abhängigkeit zwischen Frauen mit Lernschwierigkeiten und ihren BetreuerInnen und GruppenleiterInnen sowie zu den anderen Beschäftigten und BewohnerInnen zu sein. Das Macht-/Ohnmachts-Gefälle begünstigt das Auftreten von sexualisierter Gewalt. Problematisch ist außerdem die Tabuisierung der Sexualität von Menschen mit Lernschwierigkeiten; viele Frauen und Männer mit Lernschwierigkeiten haben kaum die Möglichkeit, ihre Sexualität auszuleben und wissen nur wenig über sexuelle Vorgänge (vgl. Walter 1994). Weil keine „schlafenden Hunde geweckt“ werden sollen, werden Menschen mit Lernschwierigkeiten oft nicht ausreichend aufgeklärt, berichten viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Einrichtungen (Kaiser 2007, S. 4ff u. S. 20). Wer nicht richtig über Sexualität Bescheid weiß, hat Schwierigkeiten damit herauszufinden, welche Berührungen für sie oder ihn angenehm oder unangenehm sind, und wo die eigene Grenze des sexuellen Kontakts liegt. Umgekehrt haben diejenigen es schwer, die ihre Bedürfnisse äußern wollen, aber nicht wissen, wie sie das so tun können, dass die Grenzen des anderen respektiert werden. So führen viele Mitarbeiter von Einrichtungen sowohl das Sich-nicht-wehren gegen Übergriffe und Grenzüberschreitungen als auch die Grenzüberschreitungen selbst auf die Verleugnung der Sexualität von Menschen mit Lernschwierigkeiten zurück.
Die oft fehlende Privatsphäre in vielen Einrichtungen begünstigt sexualisierte Übergriffe: Toiletten, Duschen, Waschräume und Schlafzimmer sind oft nicht abschließbar. Besonders die Hilfe bei der Körperpflege in Wohnheimen scheint eine Situation zu sein, in der es immer wieder zu sexualisierter Gewalt kommt: Oft können sich pflegebedürftige Frauen in Wohnheimen nicht aussuchen, ob sie von einem Mann oder einer Frau gepflegt werden, und vielfach können sie nicht unterscheiden, welcher Handgriff ein Teil der Körperpflege ist und wann ein sexueller Übergriff beginnt. Im Kontext einer teilweise lebenslangen Fremdbestimmung in Familie und Einrichtungen sozialisiert, sind viele Frauen mit Lernschwierigkeiten es gewohnt, dass Dinge „über ihren Kopf hinweg“ mit ihnen gemacht werden.
Bei planvoll ausgeübter sexualisierter Gewalt fallen Ähnlichkeiten zu den Übergriffen in kirchlichen Institutionen, Schulen und Heimen auf: Die Täter nutzen ein Abhängigkeitsverhältnis aus zu Personen, die das Geschehen schwer einordnen oder nicht sprachlich fassen können. Viele Opfer vertrauen ihnen, manche Täter sind Autoritätsfiguren, deren Zuneigung sich ihre Opfer wünschen (vgl. Sobsey / Varnhagen 1988). Hinzu kommt, dass Frauen mit Lernschwierigkeiten oft nicht geglaubt wird, wenn sie sich Angestellten anvertrauen oder vor Gericht zur sexualisierten Gewalt aussagen (vgl. Ewinkel / Hermes / Degener 1985). Von Mädchen und Frauen mit Lernschwierigkeiten erwarten die Täter jedenfalls wenig Gegenwehr. 

3. Ausbildung von Frauenbeauftragten mit Lernschwierigkeiten – Schulung und Begleitung

In den vergangenen Jahren gab es bereits in einigen Werkstätten für behinderte Menschen erste Frauenbeauftragte. Oft waren dies einzelne Frauen aus Werkstatträten. Diese Frauen waren oft überfordert mit ihrer Aufgabe: Was eine Frauenbeauftragte genau ist, was besondere Problemlagen von Frauen in Einrichtungen sind und wie man am besten darauf reagieren kann – all dies sind komplexe Fragen, mit denen die „Pionierinnen“ oft allein waren. Die Forderung von Mensch zuerst e.V. bestand daher zum einen in der Schulung und Ausbildung von Frauenbeauftragten in Einrichtungen. Zum anderen sollte jede Frauenbeauftragte eine Unterstützerin zur Seite gestellt bekommen – eine Mitarbeiterin aus der Einrichtung oder eine externe Honorarkraft, die der Frauenbeauftragten mit schweren Texten hilft, bei problematischen Gesprächen zur Seite steht oder sie auch ermutigt und Vorschläge macht.
Um beide Seiten geht es im Projekt „Frauenbeauftragte in Einrichtungen“: Regelmäßige, aufeinander aufbauende Schulungen sollen den Frauenbeauftragten das nötige Handwerkszeug für die Vertretung der Rechte und Beratung ihrer Kolleginnen und Mitbewohnerinnen geben. Zum anderen beraten die Mitarbeiterinnen des Projekts die teilnehmenden Einrichtungen und ihre Unterstützerinnen. Ob es sich bei ihnen um Angestellte der Einrichtung handelt oder um externe Honorarkräfte prägt teilweise die Arbeit der Frauenbeauftragten, jedoch lässt sich noch nicht eindeutig sagen, ob eine Form der Unterstützung besser als die andere ist. Fest steht, dass bisher keine Unterstützerin (wie zunächst befürchtet) die Arbeit der Frauenbeauftragten „übernommen“ hat, sondern sie in den meisten Fällen sehr partnerschaftlich verläuft. Allerdings lässt das Arbeitspensum einiger angestellter Unterstützerinnen ihnen oft wenig Zeit für die Unterstützung der Frauenbeauftragten. Kritisch ist auch das Verständnis der Einrichtungen vom Projekt: Wichtig ist, dass sie das Projekt nicht als neue Form pädagogischer Förderung auffassen, sondern als eine  selbstbestimmte Vertretung von Rechten.
Die Umsetzung des Projekts in den Einrichtungen und die Zusammenarbeit der Unterstützerinnen und Frauenbeauftragten wird von den Projektmitarbeiterinnen begleitet und ausgewertet – „best practice-Beispiele“ werden dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zurückgemeldet und in einem abschließenden Bericht im Frühjahr 2011 dokumentiert. Dabei wird das Projekt von Wissenschaftlerinnen der Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Frauen- und Genderforschung (GSF e.V.) unterstützt.

Bundesweit sind sechzehn Einrichtungen verschiedener Trägerschaft (u.a. Lebenshilfe, Diakonie, staatliche und eine anthroposophische Einrichtung) an dem Projekt beteiligt. Der Großteil der Einrichtungen sind Werkstätten für behinderte Menschen. Jede Einrichtung schickt eine ihrer Beschäftigten oder Bewohnerinnen zu den Schulungskursen, die für jeweils acht Frauen in zwei verschiedenen Schulungsgruppen zwischen Mai 2009 und Februar 2011 stattfinden. Die Frauenbeauftragten wurden in den meisten Fällen durch die Einrichtungen ausgewählt, vielfach war daran der Werkstattrat oder der Heimbeirat beteiligt. Die Unterstützerinnen vor Ort sind vielfach selbst Mitarbeiterinnen der Einrichtungen, in einigen Fällen auch Honorarkräfte von außen. Auch sie werden – wenn auch in geringerem Umfang als die Kursteilnehmerinnen – von den Projektmitarbeiterinnen geschult. Telefonische Begleitung und Beratung erhalten sowohl die Frauenbeauftragten als auch deren Unterstützerinnen und EinrichtungsmitarbeiterInnen fortdauernd während der Projektlaufzeit.
In den Schulungen bekommen die Teilnehmerinnen Informationen in Leichter Sprache zur Situation und zu Rechten von Frauen in Werkstätten und Wohnheimen vermittelt, thematisch sortierte Arbeitsmaterialien dazu dienen als Nachschlagewerk. Die Frauen haben Gelegenheit zum Üben und Vorbereiten von Gesprächssituationen mit Angestellten, Vorgesetzten und ratsuchenden Frauen. Viele Übungen wie z.B. Rollenspiele dienen der Stärkung des selbstbewussten Auftretens. Sie bekommen Tipps zum Bekanntmachen der Frauenbeauftragten in der Einrichtung, Ideen für frauenspezifische Angebote und zur Vernetzung mit anderen Stellen wie Werkstattrat, Heimbeirat und Sozialer Dienst. Viele Aufgaben der Schulungen werden in Klein-Gruppen bearbeitet, die Frauen werden dabei zum Aufschreiben ihrer Anliegen und zum Planen in Stichpunkten ermutigt. Inhalte werden in Gruppengesprächen, mit einfachen Power-Point-Präsentationen und mit Tafelanschreiben in Leichter Sprache und mit symbolhaften Bildern vermittelt. Bei den meisten Schulungen sind Fachfrauen als Gäste geladen, die in Leichter Sprache zum Beispiel über Rechte von Frauen in Einrichtungen und sexualisierte Gewalt informierten und Techniken der Selbstbehauptung vermittelten.
Einen großen Raum nimmt der Umgang mit den Schwierigkeiten der ratsuchenden Frauen ein – wie gehe ich im Gespräch auf sie ein, wie höre ich gut zu, was mache ich, wenn eine Frau in einer Notsituation ist. Zentral ist dabei der Hinweis, dass die Frauenbeauftragten nur die erste Ansprechperson sein können – sie sollen die Hilfe suchende Frau ernst nehmen und sie unterstützen, sie aber auch auf andere Stellen verweisen. Das Netzwerk, das die Frauen im Rahmen der Schulungen zu regionalen Frauenberatungsstellen, Notrufen und Angestellten der Einrichtung aufbauen sollen, spielt hier eine wichtige Rolle. Wichtig ist, dass die Frauenbeauftragte zum einen nicht in eine Therapeutinnenrolle reinrutscht, zum anderen aber auch eine andere Rolle als die der pädagogischen Angestellten ausfüllt. Sie soll eine Vertrauensperson für die Frauen sein, „eine von ihnen“, die ihnen auf Augenhöhe begegnet – eine Unterstützung im Sinne des „Peer Counseling“ (vgl. Miles-Paul 1992), ähnlich der Werkstatträte und Heimbeiräte.
Deshalb ist die Arbeit der Referentinnen von Mensch zuerst e.V. zuerst besonders wichtig: Sie haben Vorbildfunktion für die Teilnehmerinnen und zeigen, dass eine Frau mit Lernschwierigkeiten mit der richtigen Unterstützung selbstbestimmt arbeiten kann: Vorträge halten, Ratschläge und Tipps geben und eigene Ideen einbringen. Die Erfahrungen der Frauen von Mensch zuerst e.V. und der Austausch der Kursteilnehmerinnen untereinander ermutigen und „empowern“ die Frauen.
Bisher verläuft die Arbeit der Frauenbeauftragten in fast allen Einrichtungen sehr erfolgreich. Sie beraten Kolleginnen und Mitbewohnerinnen, schlichten Konflikte und begleiten ratsuchende Frauen zu anderen Stellen innerhalb und außerhalb der Einrichtung. Viele der Frauen, die zu den Frauenbeauftragten kommen sagen, sie hätten sich nicht getraut, zu einer Angestellten zu gehen – aber der Frauenbeauftragten könnten sie es sagen, ihr könnten sie vertrauen.
Wichtig für den Erfolg der Arbeit der Frauenbeauftragten sind neben ihrer eigenen Motivation das Engagement ihrer Unterstützerin und die zeitlichen Ressourcen, welche die Einrichtung der Unterstützerin und der Frauenbeauftragten für ihre Arbeit einräumt. Vor allem aber müssen die Frauenbeauftragten von den anderen EinrichtungsmitarbeiterInnen ernst genommen und in deren Arbeit mit einbezogen und informiert werden: Erst wenn die Einrichtungsleitung und die Angestellten die Frauenbeauftragte als Fachfrau anerkennen kann sie ihre Aufgabe voll ausfüllen und die Situation der Frauen in der Einrichtung dauerhaft verbessern.

Informationen auch unter www.weibernetz.de/frauenbeauftragte/

4. Literatur

Becker, Monika (1996): Sexuelle Gewalt gegen Mädchen mit geistiger Behinderung. Daten und Hintergründe. Heidelberg

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg) (2007): Aktionsplan II der Bundesregierung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, Berlin

Ewinkel, Karola / Hermes, Gisela / Degener, Theresia (1985): Geschlecht behindert, besonderes Merkmal Frau. München

Kaiser, Susanne / Wildwasser Würzburg e.V. (2007): Richtig wichtig – Stolz und stark. Didaktisches Begleitmaterial zum gleichnamigen FrauenBilderLeseBuch. Köln

Klein, Susanne, Wawrock, Silke (1998): Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen mit geistiger Behinderung als Thema in Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe. in: KIZ – Kind im Zentrum im Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerk: Wege aus dem Labyrinth, Erfahrungen mit familienorientierter Arbeit zu sexuellem Missbrauch. Berlin, S. 201-216

Miles-Paul, Ottmar (1992): Wir sind nicht mehr aufzuhalten‘: Behinderte auf dem Weg zur Selbstbestimmung - Beratung von Behinderten durch Behinderte. München,

Noack, Cornelia, Schmid, Hanna (1994). Sexuelle Gewalt gegen Menschen mit geistiger Behinderung. Eine verleugnete Realität. Ergebnisse und Fakten einer bundesweiten Befragung. Stuttgart: Verband evangelischer Einrichtungen für Menschen mit geistiger und seelischer Behinderung e.V.

Rappaport, Julian (1984): Studies in Empowerment: Steps Toward Understanding and Action”. New York, NY

Sellach, Brigitte / Bieritz-Harder, Renate / Haag, Tilla / Spangenberg, Ulrike (2006):: Machbarkeitsstudie zur Institutionalisierung von Frauen- oder Gleichstellungsbeauftragten in Rehabilitationseinrichtungen. Frankfurt/Main

Sobsey, Dick / Varnhagen, Connie (1988): Sexual Abuse and Exploitation of People With Disabilities: A Study of the Victims. Ottawa

Walter, Joachim (1994): Sexualität und Geistige Behinderung. Referat auf dem Tagesseminar “‘Sexualität und geistige Behinderung". Lehranstalt für heilpädagogische Berufe. Götzis

Zemp, Aiha / Pircher, Erika (1996): Weil das alles weh tut mit Gewalt. Sexuelle Ausbeutung von Mädchen und Frauen mit Behinderung. Bundesministerium für Frauen. Schriftenreihe des Frauenministeriums. Bd. 10, Wien

5. Interview mit Anette Bourdon,
Mensch zuerst, Netzwerk People First Deutschland e.V.
Mitarbeiterin im Projekt „Frauen-Beauftragte in Einrichtungen“

 

Frauen wollen oft nicht von Männern gepflegt werden.
Sie können zum Beispiel darüber mit den Frauen-Beauftragten reden.


Sie können sich oft nicht wehren.
Sie können zur Frauen-Beauftragten gehen und mit ihr darüber reden.

 



 


Da war ich nicht so dabei.
Die Petra Groß hat da den Anfang gemacht.


Nein, es gab keine.

Sie sind zum sozialen Dienst gegangen.

Ja, wir hätten eine gebraucht.



Was habt ihr erlebt?
Danach reden wir darüber:
Wie geht man damit um. Wie kann sie mit dem Problem fertig werden.



Wie redet man zum Beispiel mit dem Geschäftsführer.

 

[1] Statt des gängigen Begriffs „geistige Behinderung“ verwende ich die weniger stigmatisierende Formulierung „Menschen mit Lernschwierigkeiten“, wie sie von der Organisation Mensch zuerst – Netzwerk People First Deutschland e.V. vorgeschlagen wird.

[2] Obwohl die Sterilisation von Frauen mit Lernschwierigkeiten seit 1992 nur mit ihrer ausdrücklichen Einwilligung und erst nach dem 18. Lebensjahr erlaubt ist, sind de facto immer noch viele Frauen mit Lernschwierigkeiten sterilisiert, vermutlich auch oft in Unkenntnis darüber, was genau für eine Operation an ihnen vollzogen wurde.

[3] Vgl. http://www.elternassistenz.de/008.php (20.1.2011)

[4] Deswegen verwende ich in meinem Text der Einfachheit halber im Zusammenhang mit Personen, von denen die Übergriffe ausgehen, die männliche Form.