Christoph Butterwegge: Kinderarmut und sozialer Ausschluss

Abstract: Nachdem die Armut in Deutschland lange Zeit ignoriert worden war, erregt das Problem der wachsenden sozialen Ungleichheit neuerdings große öffentliche Aufmerksamkeit. Mittlerweile ist ein Viertel der Kinder von relativer Einkommensarmut betroffen, die nicht verharmlost werden darf, zumal vor allem junge Menschen in einer Konsumgesellschaft massivem Druck von Seiten der Werbeindustrie wie auch ihrer Peergroup ausgeliefert sind. Macht man den als „Globalisierung“ bezeichneten Prozess einer Umstrukturierung fast aller Gesellschaftsbereiche nach Markterfordernissen für soziale Polarisierungs- und Prekarisierungstendenzen verantwortlich, liegen die Wurzeln des vermehrten Auftretens von (Kinder-)Armut auf drei Ebenen: Produktion (Aushöhlung des „Normalarbeitsverhältnisses“), Reproduktion (Auflösung der „Normalfamilie“) und Sozialstaat (Abbau von Sicherungselementen). Interventions- und Präventionsmaßnahmen erfordern das Zusammenwirken von Schule und Jugendhilfe. Nur wenn sich (Sozial-)Pädagogik und (Regierungs-)Politik ergänzen, lässt sich die Armut von Kindern erfolgreich bekämpfen.

Ausgabe: 4/2010

Inhaltsverzeichnis

  1. Umfang, Erscheinungsformen und Folgen der Kinderarmut
  2. Ursachen der (Kinder-)Armut: Globalisierung, soziale Polarisierung und Pauperisierung
  3. Interventions- und Präventionsmaßnahmen als gemeinsame Aufgabe von Schule und Jugendhilfe
  4. Quellen und Literaturverzeichnis

 

2010 hat die EU-Kommission zum „Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung“ erklärt. Damit verband sie erklärtermaßen die Hoffnung, das öffentliche Bewusstsein für Armutsrisiken stärken sowie die Wahrnehmung ihrer Ursachen und Auswirkungen schärfen zu können. Vorurteilen und möglichen Diskriminierungen davon betroffener Menschen sollte entgegengewirkt und die Entwicklung von Ansätzen zu ihrer Überwindung gefördert werden. Dies wäre dringend nötig, denn in Deutschland trifft die Armut primär Kinder und Jugendliche, deren ganzes Leben sie teilweise prägt. In der (Medien-)Öffentlichkeit wurde ihr allerdings lange wenig Aufmerksamkeit geschenkt, weil unser Armutsbild von absoluter Not und Elend in der sog. Dritten Welt bestimmt ist, was viele Bürger/innen daran hindert, vergleichbare Erscheinungen „vor der eigenen Haustür“ zu erkennen bzw. als gesellschaftliches Problem anzuerkennen (vgl. hierzu: Butterwegge 2009). Dabei kann Armut hierzulande sogar beschämender, bedrückender und bedrängender sein, weil vor allem Jugendliche in einer Konsumgesellschaft massivem Druck von Seiten der Werbeindustrie wie auch ihrer Peergroup ausgeliefert sind, durch das Tragen teurer Markenkleidung oder den Besitz immer neuer, möglichst hochwertiger Konsumgüter „mitzuhalten“.

1. Umfang, Erscheinungsformen und Folgen der Kinderarmut

Mittlerweile ist Kinderarmut fast zu einem Modethema avanciert, das vor allem dann Schlagzeilen macht und in Talkshows behandelt wird, wenn Fälle des Missbrauchs und der Verwahrlosung bekannt werden. Spätestens seit dem 2. Armuts- und Reichtumsbericht, den die rot-grüne Bundesregierung im Frühjahr 2005 vorlegte, ist einem Großteil der Öffentlichkeit bewusst, dass Armut nicht nur in der sog. Dritten Welt, sondern auch hierzulande ein Problem darstellt. Dies gilt zumindest dann, wenn man darunter nicht nur absolutes Elend, vielmehr auch ein relatives (Über-)Maß an sozialer Ungleichheit versteht, das die Betroffenen daran hindert, sich ihrer persönlichen Fähigkeiten gemäß zu entfalten und selbstbestimmt am wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Leben teilzunehmen. „Armut“ ist ein politisch-normativer Begriff, der sich bloß äußerst schwer und nicht ein für alle Mal definieren lässt, weil kein Grundkonsens aller Gesellschaftsmitglieder darüber existiert, was man hierunter subsumieren kann, je nach sozialer Stellung, Weltanschauung und Religion vielmehr unterschiedliche, ja gegensätzliche Auffassungen dazu existieren. Gleichzeitig ist „Armut“ auch ein relationaler Begriff, der nur im Verhältnis zu jener Gesellschaft einen Sinn ergibt, in der ein davon Betroffener lebt. Hier und heute bedeutet Armut für davon betroffene Kinder bzw. Jugendliche etwa, dass sie niedrige Schulabschlüsse erreichen und im Umgang mit Sprache und Lesestoff weniger geübt sind als Gleichaltrige, die im Wohlstand leben, während sie mehr Scheu vor dem Theater oder dem Museum haben (vgl. Gillen 2004, S. 145).

Begreift man den Sozialhilfe-/Sozialgeldbezug als Armutsindikator, erreichte die Kinderarmut ihren traurigen Rekordstand im März 2007, d.h. auf dem Höhepunkt des letzten Konjunkturaufschwungs. Nie zuvor und nie danach lebten ähnlich viele, nämlich fast 1,93 Millionen von 11,44 Millionen Kindern unter 15 Jahren, die es damals insgesamt gab, nach Daten der Bundesagentur für Arbeit in SGB-II-Bedarfsgemeinschaften, landläufig „Hartz-IV-Haushalte“ genannt. Rechnet man die übrigen Betroffenen (Kinder in Sozialhilfehaushalten, in Flüchtlingsfamilien, die nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ca. ein Drittel weniger als die Sozialhilfe erhalten, und von sog. Illegalen, die keine Transferleistungen beantragen können) hinzu und berücksichtigt zudem die sog. Dunkelziffer (d.h. die Zahl jener eigentlich Anspruchsberechtigter, die aus Unwissenheit, Scham, falschem Stolz oder anderen Gründen keinen Antrag auf Sozialhilfe bzw. Arbeitslosengeld II stellen), lebten etwa 2,8 bis 3,0 Millionen Kinder, d.h. jedes vierte Kind dieses Alters, auf oder unter dem Sozialhilfeniveau.

Folgt man der Armutsdefinition, wie sie die Organisation für ökonomische Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), die Europäische Union (EU) und die Bundesregierung verwenden, wonach das Einkommensarmutsrisiko bei 60 Prozent des Nettoäquivalenzeinkommens beginnt, und legt Daten des regelmäßig vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) erhobenen Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) zugrunde, waren im Jahr 2005 ca. 26 Prozent der Kinder bis 15 Jahre sowie 28 Prozent der Jugendlichen bzw. Heranwachsenden und jungen Erwachsenen von 16 bis 24 Jahre betroffen (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2008, S. 306).

(Kinder-)Armut ist zweifellos mehr, als wenig Geld zu haben, denn sie bedeutet für davon Betroffene auch, persönlicher Entfaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten beraubt, sozial benachteiligt und (etwa im Hinblick auf Bildung und Kultur, Wohlergehen und Gesundheit, Wohnen und Wohnumfeld, Freizeit und Konsum) unterversorgt zu sein. Wenn man im Sinne des sog. Lebenslagenansatzes qualitative und nichtmonetäre Kriterien für das Armsein anlegt, steigt die Zahl armer Kinder sogar auf 3 bis 3,3 Millionen. Kinder sind in aller Regel arm, weil ihre Eltern arm oder verstorben sind. Alleinerziehende, Mehrkinder- und Migrantenfamilien (vgl. dazu: Butterwegge 2010) leiden besonders stark unter der sozialen Unsicherheit, Existenzangst und materieller Not.

2. Ursachen der (Kinder-)Armut: Globalisierung, soziale Polarisierung und Pauperisierung

  1. Im Produktionsprozess löst sich das „Normalarbeitsverhältnis“ (Ulrich Mückenberger), von der Kapitalseite unter den Stichworten „Liberalisierung“, „Deregulierung“ und „Flexibilisierung“ vorangetrieben, tendenziell auf. Es wird zwar keineswegs ersetzt, aber durch eine steigende Zahl atypischer, prekärer, befristeter, Leih- und (Zwangs-)Teilzeitarbeitsverhältnisse, die den so oder überhaupt nicht (mehr) Beschäftigten wie ihren Familienangehörigen weder ein ausreichendes Einkommen noch den gerade im viel beschworenen „Zeitalter der Globalisierung“ erforderlichen arbeits- und sozialrechtlichen Schutz bieten, in seiner Bedeutung stark relativiert.
  2. Im Reproduktionsbereich büßt die „Normalfamilie“, d.h. die z.B. durch das Ehegattensplitting im Einkommensteuerrecht staatlicherseits subventionierte traditionelle Hausfrauenehe mit ein, zwei oder drei Kindern, in vergleichbarer Weise an gesellschaftlicher Relevanz ein. Neben sie treten Lebens- und Liebesformen, die tendenziell weniger materielle Sicherheit für Kinder gewährleisten (sog. Ein-Elternteil-Familien, „Patchwork-Familien“, hetero- und homosexuelle Partnerschaften usw.).
  3. Hinsichtlich der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates bedingt der forcierte Wettbewerb zwischen „Wirtschaftsstandorten“ einen Abbau von Sicherungselementen für „weniger Leistungsfähige“, zu denen allemal Erwachsene gehören, die (mehrere) Kinder haben. Kinder und Jugendliche sind nicht zuletzt deshalb stark von Arbeitslosigkeit und/oder Armut betroffen, weil das neoliberale Projekt eines „Umbaus“ des Wohlfahrtsstaates auf Kosten vieler Eltern geht, die weniger soziale Sicherheit als vorherige Generationen genießen.

Aufgrund jener Dualisierung der Armut, welche Familien und Kinder besonders hart trifft (vgl. dazu: Butterwegge u.a. 2004, S. 98 ff.), kann sich keine „Einheitsfront aller Überflüssigen“ herausbilden, die noch am ehesten in der Lage wäre, kollektive Gegenwehr zu organisieren und der sozialen Exklusion erfolgreich Widerstand zu leisten. Die klassische Devise „Teile und herrsche!“ bewährt sich vielmehr erneut, weil sie Betroffene hilflos einer Entwicklung ausliefert, die Martin Kronauer (2002, S. 231) im Auge hat, wenn er schreibt: „Die Gesellschaft entwickelt sich in Richtung einer Demokratie der Eliten, gestützt auf Repression gegen Minderheiten.“

Kinderarmut, die Lern- und Lebenschancen davon Betroffener schon im Grundschulalter zerstören kann, ist ein Armutszeugnis für die deutsche Überflussgesellschaft sowie ihren Wohlfahrtsstaat, der aufgrund fragwürdiger Strukturreformen immer weniger fähig zu sein scheint, für ein Mindestmaß an sozialem Ausgleich, Existenzsicherheit aller Bürger/innen und Gerechtigkeit zu sorgen. Bei den sog. Hartz-Gesetzen, der Agenda 2010, der letzten Gesundheitsreform und den erst teilweise (z.B. im RV-Nachhaltigkeitsgesetz) legislativ umgesetzten Vorschlägen der sog. Rürup-Kommission handelt es sich um Maßnahmen zum „Um-“ bzw. Abbau des Sozialstaates, die seine ganze Architektur, Struktur und Konstruktionslogik grundlegend verändern. Es geht längst nicht mehr nur um Leistungskürzungen im sozialen Sicherungssystem, sondern um einen Systemwechsel, anders ausgedrückt: um eine zentrale gesellschaftliche Richtungsentscheidung, welche das Gesicht der Bundesrepublik auf absehbare Zeit prägen dürfte.

Das nach dem früheren VW-Manager Peter Hartz benannte Gesetzespaket markiert für die Entwicklung von (Kinder-)Armut eine historische Zäsur. Besonders mit Hartz IV waren Änderungen im Arbeits- und Sozialrecht verbunden, die das politische Klima der Bundesrepublik vermutlich auf Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte verschlechtern (vgl. dazu: Agenturschluss 2006; Rudolph/Niekant 2007; Gern/Segbers 2009). Mittels des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt wurde die Arbeitslosenhilfe durch das Arbeitslosengeld (Alg) II ersetzt, welches nicht mehr den früheren Lebensstandard zum Maßstab der Leistungsgewährung macht. Dies führte zur Schlechterstellung von Millionen Menschen sowie zur Aufspaltung der bisherigen Sozialhilfeempfänger/innen in erwerbsfähige, die Alg II beziehen, einerseits und nichterwerbsfähige, die Sozialgeld bzw. -hilfe erhalten, andererseits.

Seit dem Inkrafttreten von Hartz IV am 1. Januar 2005 müssen Langzeitarbeitslose und sog. Aufstocker/innen jede Stelle annehmen, auch wenn die Bezahlung weder tarifgerecht ist noch dem ortsüblichen Lohn entspricht. Eingerichtet wurde damit eine Rutsche in die Armut: Nach der von maximal 32 auf höchstens 18 Monate verkürzten Bezugszeit des Alg (I) bekamen Erwerbslose ein Arbeitslosengeld II, das den Charakter einer reinen Fürsorgeleistung hat. Mit seinem Grundbetrag von 345 EUR monatlich für den Haushaltsvorstand (plus Erstattung der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung, sofern sie „angemessen“ sind) war das Alg II genauso hoch wie der Sozialhilfe-Regelsatz. Kinder bis 14 Jahre erhielten ein Sozialgeld in Höhe von 207 EUR (60 Prozent des Erwachsenenregelsatzes), Jugendliche von 15 bis 18 Jahren 276 EUR (80 Prozent des Erwachsenenregelsatzes).

Wenn es ihr neuhochdeutsch „Fallmanager“ genannter Betreuer verfügt, müssen Alg-II-Bezieher/innen gegen eine minimale „Mehraufwandsentschädigung“ von einem 1 oder 2 EUR pro Stunde im öffentlichen Interesse liegende und zusätzliche Arbeit leisten, wollen sie ihren Anspruch auf Unterstützung nicht zu 30 Prozent (und später ganz) einbüßen. Für die Arbeitslosen unter 25 Jahren entfällt der Leistungsanspruch im Ablehnungsfall sofort. Damit unterliegen Jugendliche, Heranwachsende und junge Erwachsene, die sich den oft an Willkür grenzenden Kontrollmaßnahmen verweigern, einem übersteigerten Armutsrisiko, das als politisches Druckmittel und soziale Drohkulisse dient, um sie gefügig zu machen.

Die im Frühjahr 2006 vorgenommenen „Korrekturen“ an Hartz IV, mit denen künftig mehrere Mrd. EUR jährlich eingespart werden sollen, kann man trotz Anhebung des Arbeitslosengeldes II für Ostdeutsche an seine Höhe im Westen als „Hartz V“ bezeichnen, stellen sie doch eine deutliche Fortsetzung und Verschärfung des Drucks auf (Langzeit-)Arbeitslose dar. Davon besonders betroffen waren Jugendliche unter 25 Jahren. Zugleich zeigen die meisten Kontroll-, Kürzungs- und Strafmaßnahmen im Zweiten SGB-II-Änderungsgesetz und im Hartz-IV-Fortentwicklungsgesetz, dass Hartz IV nicht das Ende der Reformen, sondern ggf. nur einen Zwischenschritt auf dem Weg vom Sozialversicherungsstaat zum Fürsorge-, Almosen- und Suppenküchenstaat darstellt (vgl. hierzu: Butterwegge 2007, S. 195 ff.).

3. Interventions- und Präventionsmaßnahmen als gemeinsame Aufgabe von Schule und Jugendhilfe

Nötig wäre ein Paradigmawechsel vom „schlanken“ zum interventionsfähigen und -bereiten Wohlfahrtsstaat (vgl. hierzu: Butterwegge 2006). Erforderlich ist ein Konzept, das unterschiedliche Politikfelder (Beschäftigungs-, Bildungs-, Familien- und Sozialpolitik) miteinander verzahnt und Maßnahmen zur Umverteilung von Arbeit, Einkommen und Vermögen einschließt. Dagegen sind durch separate und voneinander isolierte Schritte, wie etwa höhere Transferleistungen an (sämtliche) Eltern, die prekären Lebenslagen nur partiell zu verbessern, ihre tief sitzenden Ursachen aber schwerlich zu beseitigen. Ein integrales Konzept zur Verringerung und Vermeidung von Kinderarmut umfasst gesetzliche (Neu-)Regelungen sowie monetäre und Realtransfers (vgl. Mierendorff/Olk 2003, S. 419). Individuelle und erzieherische Hilfen, Fördermaßnahmen für Kinder und strukturelle Reformen sollten einander sinnvoll ergänzen und so verzahnt werden, dass möglichst wenig Reibungsverluste zwischen den verschiedenen Institutionen und Trägern entstehen (vgl. Lutz 2004, S. 57).

Bildungs-, Erziehungs- und Kultureinrichtungen sind für eine gedeihliche Entwicklung und freie Entfaltung der Persönlichkeit sozial benachteiligter Kinder unentbehrlich, weshalb sie nicht – dem neoliberalen Zeitgeist entsprechend – privatisiert, sondern weiterhin öffentlich finanziert und noch ausgebaut werden sollten. Karl August Chassé, Margherita Zander und Konstanze Rasch (2007, S. 342) fordern daher eine stärkere Zusammenarbeit bzw. Verzahnung von Schule und Jugendhilfe: „Öffnungen der Schule gegenüber dem Stadtteil bzw. dem Freizeitbereich könnten einerseits zu einer gemeinwesenorientierten Schule führen. Auf der anderen Seite müssten die Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe – sicherlich oft in Kooperation mit den Schulen, vor allem im Kontext von Ganztagsschulen – lebensweltnahe attraktive Freizeit-, Förder- und Bildungsangebote entwickeln, mit denen die Kinder erreicht werden können, die von herkömmlichen Vereinen und kommerziellen Angeboten keinen Gebrauch machen können.“

Eine bessere, die Schule weniger auf soziale Selektion ausrichtende Bildungspolitik wäre ein wichtiger Baustein zur Bekämpfung der Armut von Kindern und Jugendlichen. Man muss sich nicht zuletzt aufgrund schlechter Ergebnisse der Bundesrepublik bei internationalen Schulleistungsvergleichen (PISA) darum bemühen, kinderreiche Eltern finanziell zu entlasten und talentierte Kinder aus Unterschichten bzw. migrierten Familien durch ergänzende Programme zu unterstützen: „Eine wichtige Funktion könnte auch der außerschulischen Bildungsarbeit zukommen, indem sie Kindern und Jugendlichen Kompetenzen im Bereich der Kultur und der Kunst vermittelt, die zur Selbstwertsteigerung beitragen können.“ (Lange u.a. 2003, S. 170)

Angesichts der durch Kinderarmut verstärkten Chancenungleichheit in der Gesellschaft bildet sie eine zentrale Herausforderung für die Schule. Da jene Infrastruktur weitgehend fehlt, die es auch Alleinerziehenden erlaubt, neben der Familien- noch Erwerbsarbeit zu leisten, liegt hier – neben der notwendigen Erhöhung monetärer Transfers zu Gunsten sozial benachteiligter Kinder – ein wichtiger Ansatzpunkt für Gegenmaßnahmen. Ganztagsschulen, die (gebührenfreie) Kindergarten-, Krippen- und Hortplätze ergänzen sollten, hätten einen pädagogisch-sozialen Doppeleffekt: Einerseits würden von Armut betroffene oder bedrohte Kinder umfassender betreut und systematischer gefördert als bisher, andererseits könnten ihre Mütter leichter als sonst einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen, was sie finanzielle Probleme besser meistern ließe. Ergänzend dazu müssten (größere) Unternehmen für Alleinerziehende günstige Arbeitszeitmodelle und/oder Betriebskindergärten anbieten. Durch die Ganztags- als Regelschule lassen sich soziale Handikaps insofern kompensieren, als eine bessere Versorgung der Kinder mit Nahrung (gemeinsame Einnahme des Mittagessens), eine gezielte Unterstützung vor allem leistungsschwächerer Schüler/innen bei der Erledigung von Hausaufgaben und eine sinnvollere Gestaltung der Freizeit möglich wären (vgl. dazu: Hammer 2010).

Nachdem die CDU/CSU/FDP-Koalition aufgrund ihrer Neigung, eher die „Leistungsträger“ als die Transferleistungsbezieher/innen zu unterstützen bzw. steuerlich zu entlasten, mit dem sog. Sparpaket, das sie am 6./7. Juni 2010 im Bundeskanzleramt beschlossen hat, Streichungen und Leistungskürzungen im Sozialbereich auf den Weg gebracht hat, kommt es ganz entscheidend darauf an, wie (Fach-)Öffentlichkeit und Medien mit dem Thema „Kinderarmut“ umgehen. Ohne mehr Sensibilität für gesellschaftliche Spaltungs- und massive Verarmungstendenzen im Gefolge der globalen Finanz- und Weltwirtschaftskrise wird es keine Solidarität mit den Armen geben. Hans Weiß (2005, S. 183) warnt vor einer „Pädagogisierung“ und „Therapeutisierung“ der Problematik, die im öffentlichen bzw. Mediendiskurs über eine „neue Unterschicht“ angelegt ist: „Darin werden Armut und Unterschichtszugehörigkeit und ihre Auswirkungen auf Kinder, abstrahiert von den sozioökonomischen Bedingungen, z.B. vom Zusammenhang mit Dauerarbeitslosigkeit, primär als Folge der Verhaltensweisen der betroffenen Menschen, ihrer ‚Unterschichtskultur‘ betrachtet und damit letztlich ihnen die ‚Schuld‘ für ihre Situation zugeordnet.“

Helgard Andrä (2000, S. 281) stellt zu Recht fest, „dass die Schule stärker für die sich ausweitende Armut bzw. deren Folgeerscheinungen sensibilisiert werden muss.“ Darauf sind Lehrer/innen, die meist der Mittelschicht entstammen und nicht in „sozialen Brennpunkten“, vielmehr bürgerlichen Stadtvierteln wohnen, nicht oder nur unzureichend vorbereitet. Folglich muss das Thema „Kinderarmut“ im Rahmen der Lehrerausbildung stärker berücksichtigt werden. Wer dort mit dem Problem, seinen Hintergründen und Auswirkungen nie befasst war, kann als Pädagoge keinen ihm adäquaten Unterricht geben. „Probleme wären leichter zu bewältigen, wenn in der Schule offen über Armut, deren Ursachen und mögliche Folgen gesprochen und damit gegenseitiges Verständnis geweckt und für Unterstützung gesorgt würde.“ (Andrä 2000, S. 282 f.) Das Thema „(Kinder-)Armut“ müsste deshalb stärker als bisher Teil der Curricula werden, und zwar nicht mehr nur bezogen auf Not und Elend der sog. Dritten Welt.

Zwar kann die (Sozial-)Pädagogik eine konsequente Politik gegen Armut nicht ersetzen, sie muss aber dafür sorgen, dass diese Problematik trotz emotionaler Barrieren und rationaler Bedenken auf die Agenda gesetzt wird: Die weitgehende Tabuisierung der Kinderarmut ist ein Armutszeugnis für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit (vgl. Esen 2003, S. 203). Fächerübergreifend hätte der Unterricht zu vermitteln, dass sich die Armut nicht auf Entwicklungsländer beschränkt, welche Ursachen sie hat und dass die Betroffenen in aller Regel keine persönliche Verantwortung dafür trifft, individuelle Schuldzuweisungen vielmehr nur von den gesellschaftlichen und politischen Hintergründen des Problems (z.B. Globalisierung, neoliberale Hegemonie, ungerechte Verteilung des Reichtums) ablenken.

Die deutschen Städte und Gemeinden sind aus finanziellen Gründen (sinkende Steuereinnahmen bei steigenden Sozialausgaben) immer weniger in der Lage, ihre Regelaufgaben im Kinder- und Jugendhilfebereich zu erfüllen, von freiwilligen Leistungen ganz zu schweigen. Wenn ihr mehr Mittel zur Verfügung stünden, könnte die Sozial- und Jugendarbeit ein Stützpfeiler im Kampf gegen die Armut sein. Die kommunale Sozialpolitik dürfte nicht zulassen, dass Betreuungsangebote aufgrund staatlicher Sparmaßnahmen und leerer öffentlicher Kassen verringert werden. Detlef Baum (2003, S. 182) sieht die zentrale Herausforderung und eine adäquate Strategie zur Bekämpfung der Armut und ihrer Folgen für junge Menschen darin, den Zusammenhang zwischen räumlicher und sozialer Ausgrenzung in den Städten zu durchbrechen: „Will der Staat die individuelle rechtliche und ökonomische Position von Personen verbessern, muss die kommunale Sozialpolitik die sozialräumlichen Strukturen zu gestalten suchen, unter denen Menschen leben bzw. aufwachsen, und die pädagogischen Beziehungen zu optimieren oder zu konstituieren suchen, die das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in einer Kommune gelingen lassen.“

Schule und Jugendhilfe sind gleichermaßen gefordert, im Rahmen ihrer beschränkten Möglichkeiten für alle jungen Menschen befriedigende Lebensverhältnisse und ein Höchstmaß an Chancengleichheit zwischen Jugendlichen unterschiedlicher sozialer wie ethnischer Herkunft zu schaffen. Roland Merten (2001, S. 312) konstatiert jedoch, dass noch keine Kinder- und Jugendhilfepolitik entwickelt und realisiert worden sei, die man als Politik für Kinder und Jugendliche klassifizieren könne. Aufgrund der „strukturellen Exklusion“ von Kindern und Jugendlichen, die Merten beklagt, geht es nicht nur um die materielle Unterstützung, sondern auch um die rechtliche Aufwertung und politische Emanzipation junger Menschen. (Sozial-)Politik für Kinder und Jugendliche muss auch Politik von und mit ihnen sein, sollen diese als heute am häufigsten und am meisten von Armut bzw. Unterversorgung in zentralen Lebenslagen betroffene Subjekte wirklich ernst genommen werden (vgl. Sünker 2001).

4. Quellen- und Literaturverzeichnis

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