Ausgabe: 4/2010
Die Stärke unserer Gesellschaft misst sich am Wohl der Schwachen.
Das Europäische Parlament und der Europäische Rat haben das Jahr 2010 zum Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung ausgerufen. Damit wird die von der EU und anderen im Vertrag von Lissabon eingegangene Verpflichtung bekräftigt, die Beseitigung der Armut bis 2010 entscheidend voranzubringen. 17 Millionen Euro sind zur Förderung eingesetzt. Die Nationale Armutskonferenz und das Europäische Armutsnetzwerk haben sich über Jahre dafür engagiert und unterstützen nun die Umsetzung.
Die Nationale Armutskonferenz (nak) ist ein Zusammenschluss der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege, bundesweit tätiger Fachverbände und Selbsthilfeorganisationen und des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Die Konferenz gründete sich im Herbst 1991 als deutsche Sektion des Europäischen Armutsnetzwerkes „European Anti Poverty Network“ (EAPN).
Aus der Sicht des Sprechers der nak sind folgende Themen und Aspekte dabei von besonderer Bedeutung:
These 1: Armut und Reichtum sind ein öffentliches Thema geworden. Aus dem Fahrstuhleffekt ist ein Paternostereffekt geworden: Während es für die einen nach oben geht, geht es für die anderen immer weiter nach unten.
Der dritte Armuts- und Reichtums-Bericht der Bundesregierung beschreibt wachsende Armut auf dem Höhepunkt der Reichtumsentwicklung.
Das Bild der Aufzugsgesellschaft, in der es allen besser geht, die Reichen zwar reicher wurden, es den Ärmeren aber auch besser geht, wird der Wirklichkeit längst nicht mehr gerecht. Selbst die ehedem sichere Mittelschicht fühlt sich und ist von Abstieg bedroht. Junge Menschen mit guter Ausbildung bekommen keine Jobs, hangeln sich von einem Praktikum zum nächsten, von einem Zeitvertrag zum nächsten. Der Armuts- und Reichtums-Bericht zeigt auf, dass von Armut vor allem betroffen sind: Familien mit Kindern, Alleinerziehende und Familien mit Migrationshintergrund. Auf dieses Grundproblem muss eine sozialpolitische Antwort gegeben werden.
Es geht in diesem Zusammenhang zunächst um die sozialen Grundrechte und um die Frage des sozialen Ausgleichs der Gesellschaft. Es geht um Beteiligung der Betroffenen, um Sozialität und Solidarität und es geht auch um den Anspruch auf sozialstaatliches Handeln. Wo Ungleichheiten entstehen, werden auch Teilhabe und Beteiligung gefährdet.
Wer heute von sozialen Grundrechten spricht, muss anknüpfen an die Entwicklungsdebatte der 70er und 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Als im Jahre 1966 in der Ökumenischen Diskussion des Weltkirchenrates der Begriff „Verantwortliche Weltgesellschaft“ geprägt wurde, betonte zeitgleich der „Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte“ in Artikel 11 „das Recht eines jeden auf einen angemessenen Lebensstandard für sich und seine Familie“. Erich Fromm spricht in diesem Zusammenhang von einem angeborenen Recht – unabhängig davon, ob der Betreffende „für die Gesellschaft von Nutzen ist“. Insofern ist die Frage nach sozialem Ausgleich bei uns zugleich eine Frage nach internationalen Verhaltens- und Sozialrechtsstandards, wie sie die Vereinten Nationen im Jahre 1995 eingefordert haben.
Insgesamt kommt es darauf an, dass wir die Hoffnung auf den von Gott geliebten Menschen und die Menschlichkeit des Menschen nicht verlieren, dass wir uns also mit Gleichgültigkeit, Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit nicht abfinden. Und dass wir im Gedächtnis behalten: Auch unser Staat lebt von Voraussetzungen, die er sich selbst nicht geben kann, er lebt von Werten, die zu Menschenwürde, sozialer Gerechtigkeit und Solidarität beitragen.
These 2: Wachsende Armut auf dem Höhepunkt der Reichtumsentwicklung ist ein Skandal. Sie schränkt auf Dauer die Entfaltungsmöglichkeiten vieler Familien mit ihren Kindern ein.
Der dritte Armuts- und Reichtums-Bericht der Bundesregierung zeigt: Die Schere zwischen arm und reich hat sich weiter geöffnet. Jeder vierte Bundesbürger ist arm oder von Armut bedroht. 13 Prozent der Bevölkerung leben in Armut, weitere 13 Prozent erhalten staatliche Sozialtransfers, damit sie nicht in Armut geraten.
Besonders Kinder sind von Armut betroffen, dabei vor allem Kinder in Haushalten von Alleinerziehenden und Familien mit Migrationshintergrund. Die Zahl der Kinder in Familien mit Einkommen in Höhe des Existenzminimums hat sich in den letzten vier Jahren seit Einführung von Hartz IV auf 2,2 Millionen verdoppelt. Insgesamt leben sogar 3 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren in Armut, von insgesamt 14,5 Millionen in dieser Altersgruppe. Sie erfahren unmittelbar, dass Armut Ausgrenzung heißt und dass sie nicht mithalten können – von der Schule über die Freizeitgestaltung bis zum Kindergeburtstag. Wir beobachten zudem, dass Kinder bei schlechter Ernährung auch häufiger krank werden.
Der Bericht zeigt auch, dass der Niedriglohnsektor Armut verursacht. Viele sind trotz Arbeit arm, Tendenz steigend. Der Niedriglohnsektor wächst in Deutschland wie in keinem anderen westeuropäischen Land. Das Problem der „Working poor“ nimmt zu. Im Übrigen müssen 1,3 Millionen Erwerbstätige ihr äußerst niedriges „Gehalt“ durch Hartz-IV aufstocken. Auch Langzeitarbeitslose kommen trotz Hartz IV nicht aus der Armutsfalle. Für viele Menschen, die seit langem arbeitslos sind, hat sich die Hoffnung auf einen Arbeitsplatz nicht erfüllt. Sie werden aller Voraussicht nach auch in den nächsten Jahren auf dem regulären Arbeitsmarkt keine Erwerbstätigkeit finden, die ihre Existenz sichert. Häufig gibt es Vermittlungshemmnisse, die auch mit fehlenden Bildungsabschlüssen und fehlenden Qualifikationen zu tun haben.
Der Bericht zeigt schließlich: Durch die wachsende Armut wird auf Dauer die Altersarmut vorangetrieben – und die gesetzliche Rentenversicherung noch mehr geschwächt. Eine Friseurin braucht heute schon 45 Jahre Lebensarbeitszeit, um auf eine Rente über dem Existenzminimum zu kommen.
Fazit ist: Armut ist und wird immer mehr ein dominantes Problem vieler Familien. Dies wird besonders deutlich in den sozialen Brennpunkten der Großstädte. Aber die Armutserfahrungen reichen auch längst in die Mittelschicht hinein. Immer mehr Menschen aus der Mittelschicht geraten in prekäre Lebensbedingungen und rutschen in Armut. Die Einkünfte der „Reichen“ dagegen sind gewachsen und wachsen stetig weiter.
These 3: Die Bekämpfung der Kinderarmut hat höchste Priorität. Hier muss das „Europäische Jahr“ stark bewusstseinsbildend wirken! Wir wollen nicht, dass aus Kindern armer Eltern wieder arme Eltern werden. Deswegen muss der Hartz-IV-Regelsatz für Kinder und Jugendliche die kind- und jugendspezifischen Bedarfe berücksichtigen.
Besonderer Handlungsbedarf ergibt sich unserer Meinung nach daraus, dass sich die Kinderarmut seit der Einführung von Hartz-IV verdoppelt hat – auf etwa 3 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren!
Der 9. Februar 2010 war in dieser Hinsicht ein Triumph für das Recht der Schwachen. Dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zufolge müssen die Regelleistungen sowohl des ALG II als auch des Sozialgeldes für Kinder neu bestimmt werden. Präsident Hans-Jürgen Papier sprach in diesem Zusammenhang von dem „Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“ sowie von der Notwendigkeit, alle existenznotwendigen Aufwendungen in einem transparenten Verfahren realitätsgerecht, also nach dem tatsächlichen Bedarf zu bemessen. Damit wurde auch gesagt: Der tatsächliche Bedarf von Kindern wurde bisher völlig unzureichend berücksichtigt. Es wurde zugleich bestätigt: Kinder sind keine kleinen Erwachsenen, für die gerade noch die Krümel übrig sind. Kinder sind eigenständige Persönlichkeiten mit spezifischem Bedarf. Sie verdienen im Blick auf den erhöhten Betreuungs- und Erziehungsbedarf besondere und eben eigenständige Aufmerksamkeit. Im pauschalierten Regelsatz fehlt bisher die angemessene Berücksichtigung des Betreuungs-, Schul-, Kultur- und Freizeitbedarfes. Im übrigen: Lernmittelfreiheit und freies Mittagessen müssten eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein – zumindest für Kinder, die in Armut leben.
Zugleich geht es um die Verbesserung der Infrastruktur in der Kinderbetreuung, in Schulen und Bildungseinrichtungen.
These 4: Bildung und Ausbildung sind der Weg zu gesellschaftlicher Teilhabe. Besonders brauchen wir ein Sonderprogramm für zusätzliche außerbetriebliche Ausbildung für junge Menschen, die es im betrieblichen Rahmen nicht schaffen.
Es ist ein trauriger Rekord: 1,5 Millionen junge Menschen unter 29 Jahren sind in unserem Land ohne Berufsabschluss. Diese Zahl ist seit Jahren in etwa konstant geblieben und liegt zwischen 14 und 16 Prozent der genannten Altersgruppe.
Es wird dieses Jahr voraussichtlich 566.000 neue Ausbildungsverträge geben. Das ist nicht nur viel zu wenig: Damit sinkt sogar die Zahl der Ausbildungsplätze gegenüber dem letzten Ausbildungsjahr um etwa 50.000, also um fast zehn Prozent. Etwa 780.000 Jugendliche wollen in diesem Jahr eine Ausbildung beginnen und bringen dazu auch gute Voraussetzungen mit.
Diakonie nimmt sich im Rahmen der Jugendberufshilfe gerade der jungen Menschen an, deren Grundsituation von jahrelangen Misserfolgs-Erlebnissen in Schule, Beruf und Gesellschaft geprägt ist. Dafür stehen auch unsere Einrichtungen, an denen sich beispielhaft zeigen lässt, dass durch professionelle, sozialpädagogische und berufsbezogene Hilfen zur Integration und Eigenverantwortung Erfolge erreicht werden können, die zuvor niemand für möglich gehalten hat. Bereits im Jahr 2003 hatte die Evangelische Kirche in Deutschland in ihrer Stellungnahme zu den Perspektiven Jugendlicher mit schlechten Startchancen festgestellt: Es genügt nicht, die Jugendlichen lediglich unterzubringen, vielmehr gilt es, die gesellschaftlichen Kräfte zu bündeln, um Jugendlichen in Ausbildung und Beruf wirksam zu helfen. Ausbildung ist kein Almosen, sondern eine wertvolle Zukunftsinvestition, die wir unseren Kindern und Jugendlichen nicht verweigern dürfen. Bildung und Ausbildung sind Grundvoraussetzungen für gesellschaftliche Teilhabe und zugleich der beste Schutz gegen Langzeitarbeitslosigkeit.
These 5: Ein Arbeitsplatz bedeutet nicht automatisch die Überwindung von Armut. Der Niedriglohnsektor wächst in Deutschland wie in keinem anderen westeuropäischen Land.
Auch wenn die Zahl der registrierten Arbeitslosen in den beiden letzten Jahren gesunken ist, so liegt die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten unter der im Jahr 2000. Das heißt: Die Struktur der Beschäftigung hat sich verschlechtert. Niedriglöhne sind eine Massenerscheinung. Der Niedriglohnsektor steigt in Deutschland wie in keinem anderen Land Westeuropas. Viele Niedriglöhner verfügen über eine abgeschlossene Berufsausbildung oder sogar einen akademischen Abschluss. Der Anteil der geringqualifizierten Niedriglöhner ist seit 1995 von 33,5 Prozent auf 26,4 Prozent zurückgegangen. Die Eigenschaft einer qualifizierten „Reservearmee“ macht die hohe Flexibilität des Niedriglohnsektors aus, der auch durch eine Bildungsoffensive nicht geändert, sondern eher ausgebaut wird.
Die 5,6 Millionen Niedriglohnbeschäftigten verdienen in Westdeutschland im Durchschnitt 6,89 Euro pro Stunde. Seit 2004 ist das Durchschnittseinkommen im Niedriglohnsektor sogar noch gesunken – im Westen um 4 Prozent. Wer einmal im Niedriglohn arbeitet, der sitzt fest. Arbeit schützt in diesem Land nicht mehr vor Armut. Dabei zeigt sich, dass in keinem west-, nord- oder südosteuropäischen Land das Lohngefüge vergleichbar nach unten ausfranst, da in Deutschland ein gesetzlicher Mindestlohn fehlt, der dies verhindern könnte.
Armut wird billigend in Kauf genommen, um Niedriglöhne durchzusetzen. Niedriglöhne sind Programm, um die Lohnkosten zu senken und dadurch die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft zu stärken. Die Arbeitnehmer haben einen immer geringeren Anteil am Reichtum dieses Landes, weil die Gewinn- und Kapitaleinkommen immer weiter ansteigen. Die sinkende Lohnquote ist Ausdruck dieser Entwicklung. Die Lohnquote, der Anteil, den Arbeitnehmer vom gesamtgesellschaftlich erwirtschafteten Reichtum haben, ist von 72 Prozent (2000) auf 64,6 Prozent (2007) gesunken.
Wir leben in einer Arbeitsgesellschaft. Dies bedeutet: Arbeit ist mehr als Geldverdienen. Arbeit vermittelt in einer Arbeitsgesellschaft darüber hinaus auch Lebenssinn und Integration in die Gesellschaft. Erwerbsarbeit ist der bei weitem wichtigste Zugang zu selbstverantwortlicher Lebensvorsorge und zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Durch Erwerbsarbeit entfalten wir uns und tragen zur eigenen Sinnfindung bei. Auch soziale Beziehungen werden in unserer Gesellschaft im Wesentlichen durch Erwerbsarbeit geknüpft und gepflegt. Daher sprechen die Kirchen im Wirtschafts- und Sozialwort von 1997 vom Menschenrecht auf Arbeit, um den Zusammenhang zwischen Selbstverantwortung und Sinnfindung, zwischen Lebensvorsorge und gesellschaftlicher Teilhabe hervorzuheben.
Zugleich ist es unabdingbar, dass wir neue Wege finden müssen, Arbeit zu teilen und Langzeitarbeitslosen die gesicherte Möglichkeit des Zuverdienstes einzuräumen. In diesem Zusammenhang erinnern wir an das Wort der Diakonischen Konferenz von 2004 („Gerechtigkeit erhöht ein Volk“): „Die Politik muss sicherstellen, dass die wirtschaftliche Leistungskraft und das Sozialprodukt dem Gemeinwesen dienlich sind. Die Aussage, dass die Wirtschaft lebensdienlich sein soll und dem Menschen dienen muss und nicht umgekehrt, darf keine bloße Leerformel bleiben“.
These 6: Wer Armut überwinden will, muss zum sozialen Ausgleich beitragen. Das ist möglich, denn Deutschland war noch nie so reich wie heute. Aber offensichtlich ist der Reichtum ungleich verteilt.
Demokratie und soziale Balance gehören zusammen. Das Prinzip der Subsidiarität hat dabei geholfen: Hilfe zur Eigenständigkeit, dem Schwachen aufhelfen. Wo eigenverantwortliches Handeln an seine Grenzen stößt, hilft, korrigiert und balanciert die Gemeinschaft. Das heißt: Reichtum darf nicht bei sich selbst bleiben, sondern muss in einen Segenskreislauf einmünden, von dem die Gesamtgemeinschaft – und in ihr besonders die Schwächsten – profitiert. Mitmenschliche Solidarität und ökonomische Rationalität sind aufeinander angewiesen. Sonst bricht die Gesellschaft auseinander.
Der frühere Bundesrichter Helmut Simon, der große Rechtsexperte des Sozialstaats, hat nach der Vereinigung im Jahre 1991 dafür plädiert, aus dem Entwurf für eine neue Schweizer Verfassung den Satz „Die Stärke eines Volkes misst sich am Wohl der Schwachen“ ins Grundgesetz zu übernehmen. Simon hatte diesen Vorschlag gemacht, den quasi übriggebliebenen marktwirtschaftlichen Teil Deutschlands und Europas zu mehr sozialer Gerechtigkeit zu verpflichten, um damit deutlich zu machen: Der Sozialstaat ist nicht ein Anhängsel der Marktwirtschaft, sondern eine kulturelle Errungenschaft. Und gerade die Schwächeren sollen spüren können, dass Politik angewandte Liebe zum Leben ist und durch mit-leidenschaftliches Handeln füreinander geprägt ist. Unsere Demokratie wird auf Dauer nur lebensfähig sein, wenn sie soziale Gerechtigkeit praktiziert und wenn soziale Gerechtigkeit dauerhaft in unserer Rechtsordnung verankert ist.
In diesem Zusammenhang darf das Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen mit seiner Forderung nach einem Armut- und Reichtums-Bericht nicht unerwähnt bleiben. Wir brauchen Armutsberichte nicht als Leistungsschau von Sozialministerien, sondern als Frage an die Gesellschaft, wie sie den gerechten Ausgleich herzustellen gedenkt.
Verteilungsgerechtigkeit ist also nicht nur eine Frage kurzfristiger politischer Entscheidungen, sondern eine entscheidende Frage der Kultur unseres Zusammenlebens. Alle Menschen haben ein Recht, am wirtschaftlichen und sozialen Leben einer Gesellschaft teilzunehmen – weil jeder Mensch sich nicht seiner Leistungen, sondern der Gnade Gottes verdankt. Daher bildet sich auch in den sozialen Menschenrechten und im Tun der Barmherzigkeit Gottes Gnade ab. Die sozialen Menschenrechte gewährleisten, dass Menschenwürde nicht nur unantastbar, sondern auch unteilbar bleibt.
Aus dieser unlöslichen Verbindung aber ergibt sich ein Kriterium für die Gerechtigkeit, dessen Schärfe nicht zu überbieten ist: Es ist die Lage der Schwächsten, an der sich entscheidet, ob von Gerechtigkeit die Rede sein kann. Gerechtigkeit ist nur verwirklicht, wenn den Schwächsten die gleiche Würde zuerkannt wird wie den Stärksten. Gerechtigkeit wird da zur Farce, wo sie einseitig zugunsten des Rechtes des Stärkeren ausgelegt wird. Dass Menschen ungleich sind, wird damit nicht geleugnet, denn darin besteht das Geheimnis der menschlichen Individualität. Doch geachtet wird diese Individualität nur, wenn sie jeder und jedem in gleichem Maße zuerkannt wird. Die gleiche Würde der Menschen ist Voraussetzung persönlicher Freiheit.
These 7: Wir brauchen heute zuerst Lösungen, die zur Überwindung der Kinderarmut, zur Verringerung des Niedriglohnsektors, zu Maßnahmen gegen soziale Ausgrenzung und zur Stärkung des Sozialstaates beitragen. Vier Punkte seien genannt:
Erstens: Gemeinsam mit der Bundesregierung halten wir es für richtig, die strukturelle Förderung für Kinder auszubauen. Inzwischen ist aber an vielen Orten auch das Bewusstsein dafür gewachsen, dass die finanzielle Förderung der Familien ebenfalls gestärkt werden muss. Insbesondere setzen wir uns dafür ein, das Kindergeld, den Kinderzuschlag und das Wohngeld zu erhöhen, damit Familien mit geringem Erwerbseinkommen über die Armutsschwelle gelangen. Dabei möchte ich betonen, dass mit den bisherigen Beschlüssen zur Wohngeld- und Kindergelderhöhung nicht einmal das reale Wertniveau dieser Leistungen vom Jahr 2002 erreicht wird. Außerdem kommen diese Verbesserungen gerade den ärmsten Familien nicht zu Gute. Denn der Bezug von SGB II-Leistungen schließt in der Regel Wohngeld und Kinderzuschlag aus. Und die Erhöhung des Kindergeldes wird komplett als Einkommen der SGB II-Berechtigten angerechnet, so dass sich für diese besonders armen Kinder und Jugendliche nichts verändert. Der Regelsatz für Kinder könnte sofort steigen, wenn die normativ gesetzten Grundlagen verändert würden. Denkbar wäre zum Beispieldie Anrechnung von Bildungsbedarf oder ein Zuschuss für den Beitrag im Sportverein oder für die Musikschule. Schließlich könnte aktuell, wie in der Zeit der ersten rot-grünen Bundesregierung, das Ziel verfolgt werden, die anstehende Kindergelderhöhung durch eine Freibetrags-Regelung auch den Kindern im SGB II- und im SGB XII-Bezug zu Gute kommen zu lassen.
Und wir brauchen Lösungen, die Familien mit Kindern helfen und die zur Überwindung der Kinderarmut beitragen. Der Kinderbetreuung und der Ganztagsschule muss bundesweit ein besonderes Augenmerk gelten. Die Lernmittelfreiheit muss schnell Standard werden – ebenso wie der Mittagstisch in der Schule. Das Existenzminimum beim Kinderregelsatz von Hartz IV muss neu definiert werden, wie es das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vorsieht.
Zweitens: Zu viele sind trotz Arbeit arm. Der gesetzliche Mindestlohn muss Standard werden. Aber er allein schützt vor Armut nicht. Das erfahren besonders die Familien in der unteren Mittelschicht. Daher ist darauf zu achten, dass die Mittelschicht steuerlich entlastet und vor dem Armutsrisiko geschützt wird. Mehr berufliche Bildung und andere Arten der Qualifikation sind notwendig, damit Arbeitsmarktpolitik zu Arbeitsplätzen führt, die auch mit einem Mindestlohn weltweit konkurrieren können. Der Ausweitung des Niedriglohnsektors muss entgegengewirkt werden. Und für Menschen in Langzeitarbeitslosigkeit – und vor allem für solche mit Vermittlungshemmnissen – brauchen wir öffentlich geförderte Beschäftigung statt Ein-Euro-Jobs.
Drittens: Wir beobachten auch, dass die soziale Infrastruktur in sozialen Brennpunkten in den letzten Jahren immer mehr geschwächt wurde. Wir brauchen verstärkt Maßnahmen, die soziale Ausgrenzung überwinden helfen. Das Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“ ist dabei eine Möglichkeit. Zugleich sind flankierende Maßnahmen in der Kindertagesstätte, in der Jugendhilfeeinrichtung und in der Schule vonnöten, um durch bessere Ausstattung sozialer Ausgrenzung entgegenzuwirken – und um durch bessere Vernetzung aller Beteiligten am Ort zu mehr Solidarität beizutragen.
Viertens: Last but not least – Nur ein starker Steuerstaat kann ein starker Sozialstaat sein. Laut Artikel 14 und Artikel 20 des Grundgesetzes ist die Bundesrepublik ein sozialer Rechtsstaat, der auch durch die Sozialpflichtigkeit des Eigentums für sozialen Ausgleich sorgt. Daher muss die Diskussion über Steuerpolitik die Fragen von Erbschaftssteuer und Vermögenssteuer deutlich einbeziehen. Wo zehn Prozent der Bevölkerung über 40 Prozent des Geldvermögens in ihrer Hand haben – in Deutschland ist dies der Fall – da darf es in dieser Hinsicht keine Tabus geben. Wer jedoch über Reichtum nicht reden will, der soll auch über Armut schweigen.
Das bedeutet: Jede arme Frau, jeder arme Mann und jedes arme Kind sind genau ein armer Mensch zu viel. Die Bundesrepublik Deutschland muss deshalb die Chance nutzen und das Europäische Jahr 2010 zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung ambitioniert gestalten. „We can!“ Es hängt am politischen Willen – und es hängt an uns, denn wir sind die Zivilgesellschaft, die Partei nimmt für den sozialen Ausgleich. So will es das Grundgesetz – und so wollen wir es.
Cantus firmus des Sozialstaates: „Die anderen auch…!“
Was wir gegenwärtig erleben, ist nicht nur eine Finanzkrise, sondern eine Krise der geistigen und moralischen Orientierung. Die Politik nach dem Motto „weniger Staat und mehr Markt“ ist gescheitert. Jene Finanzakteure, die nur auf die selbstheilenden Kräfte der Märkte gesetzt haben, sind wesentlich für die jetzige weltweite Krise verantwortlich. Es ist skandalös, dass, nachdem jahrelang die Gewinne immer stärker individualisiert wurden, die Verluste nun sozialisiert werden müssen. Bei den bisher genannten Milliardensummen darf aus der Finanzkrise keine weitere Verschärfung der sozialen Krise werden, wenn die nötigen Mittel später im Bundeshaushalt irgendwo eingespart werden sollen. Wir brauchen Rettungspakete für die Stärkung des Sozialstaates, damit die Rettungshäuser für junge Menschen à la Johann Hinrich Wichern überflüssig werden.
Der Theologe Karl Barth wurde nach einem Gottesdienst von einem Gemeindemitglied gefragt: Werde ich meine Lieben im Himmel wiedersehen? Darauf antwortete er: Ja, aber die anderen auch! „Die anderen auch“ – das ist der cantus firmus des Sozialstaates. Gerechtigkeit entscheidet sich am Wohl des anderen – und an meinem Wohl. Und nur gemeinsam können wir leben.
Dr. Wolfgang Gern, Pfarrer, ist Vorstandsvorsitzender des Diakonischen Werkes in Hessen und Nassau und Sprecher der Nationalen Armutskonferenz (NAK).