Kirsten Puhr und Anne Bayha: ‚Jedes Kind ist wichtig – Entwicklungschancen verbessern!’

Abstract: Das ‚Europäische Jahr 2010 gegen Armut und soziale Ausgrenzung‘ und die aktuellen Diskussionen um die Kürzung von Sozialleistungen bilden die widerstreitenden Anlässe für unsere Betrachtungen zum Thema Kinderarmut. Wir fragen zunächst unter welchen Prämissen, mit welchen Maßnahmen die deutsche Sozialpolitik im Europäischen Jahr ‚gegen Armut und soziale Ausgrenzung‘ agiert. Anschließend skizzieren wir Konsequenzen dieser politischen Entscheidungen für Kinder in Armutslagen und mögliche sozialpolitische Alternativen. Vor diesem Hintergrund diskutieren wir die Problematik des Zusammenhangs von familiärer Herkunft und Bildungsbenachteiligung mit Blick auf primäre und sekundäre Herkunftseffekte. Aus dieser Perspektive wird die Struktur von Förderschulen als kontraproduktive Infrastruktur für die Bekämpfung von familiärer Armut und Bildungsbenachteiligung charakterisiert.

Stichworte: (Kinder)Armut, soziale Ausgrenzung, wohlfahrtsstaatliche Sozial- und Familienpolitik, ‚gerechte‘ Sozialpolitik, primäre und sekundäre Herkunftseffekte, Bildungsbenachteiligung, Förderschulen als kontraproduktive Infrastruktur

Inhaltsverzeichnis
  1. Das ‚Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung’
  2. Schutz und Gewährleistung ‚gleicher Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben und auf gerechte Teilhabe’ im modernen Sozialstaat Deutschland?
  3. Kinderarmut als Bildungsbenachteiligung
  4. Literatur

 

‚Jedes Kind ist wichtig – Entwicklungschancen verbessern!’

„Jedes Kind ist wichtig – Entwicklungschancen verbessern!“ (BM für Arbeit und Soziales 2009, 8), so überschreibt die Bundesregierung eines der Themenfelder „gegen Armut und soziale Ausgrenzung“ in ihrer „Nationalen Strategie für Deutschland zur Umsetzung des Europäischen Jahres 2010“ (ebd. 1). Es geht darum „Kinder vor Armutsrisiken zu schützen, ihre soziale Integration zu sichern und die soziale ‚Vererbung‘ (ebd. 8) zu durchbrechen.
Wir befragen diese Zielsetzung mit Blick auf die 12jährige Daniela, die 13jährige Michaela, die 14jährige Nele, die 15jährige Jessica, den 11jährigen Dario, den 11jährigen Niklas und den 10jährigen Mirko [Die Namen wurden anonymisiert]. Sie alle gelten als Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich Lernen. Anne Bayha hat sie zum Leben und Lernen in ihrer Schule befragt.
Jedes Kind ist wichtig!
Jessica ist Schülerin der 9. Klasse: „Ich war mal im Fußball drin [...] nicht lange, vielleicht zwei Wochen oder so. [...] Das war dann irgendwie blöd. Die haben mich gehänselt und so. Die sagen immer zu mir: ‚Ohhh, SONDERschülerin!’ [...] Ja, das passiert öfters, [...] wenn man so im Bus sitzt [...] der fährt ja ans Gymnasium [...] und an die Realschule. [...] Und dann steigen die halt alle ein und dann geht es schon los: ‚Ohh Jessica hallo, hallo [...] bist Du immer noch auf der Sonderschule?’ [...] Die sind von meiner alten Schule, wo ich noch in der Grundschule war. [...] Zuerst war ich in der Grundschule in der ersten Klasse. [...] Und in der zweiten Klasse [...] hab ich es nicht weiter geschafft. Ich hab mich dann geweigert alles mitzumachen. Ich hab kein Sport mehr mitgemacht, habe mein Sportzeug einfach versteckt und so. Und habe gar nichts mehr geredet und so. Kein Mathe mehr gemacht. Gar nichts mehr. Bin einfach nur so da gesessen. [...] Ich wünschte, man könnte die Zeit zurück drehen, von Anfang an. Dann würde ich alles anders machen. Versuchen, dass ich hier nicht herkomme, sondern ins Gymnasium oder so“. Jessica lebt mit ihrer sechsjährigen Schwester und ihren Eltern zusammen. Ihr Vater hat schon sehr lange keine Erwerbsarbeit mehr.
Daniela ist Schülerin der Klasse 4/5: „Ich war früher, erste und zweite auf der Grundschule. [...] Und danach bin ich in der zweiten Klasse sitzen geblieben, nur einmal [...] und danach war ich in einer anderen Klasse. [...] Und dann musste ich hierher, leider – es geht eigentlich. Wenn ich gut bin, komm ich vielleicht raus, [...] ich bestimm das nicht. [...] Da muss man halt besser sein. Eigentlich ist die Schule auch normal, sagen die, ist auch wie eine Grundschule“. Danielas Familie stammt aus der Türkei. Daniela lebt gemeinsam mit ihren Eltern, ihren beiden Brüdern (17 und 19 Jahre alt) und ihrer Schwester (14 Jahre alt). Danielas Vater arbeitet in Wechselschichten.
Michaela ist Schülerin der Klasse 6/7: „Die Schule gefällt mir besser als die Grundschule. [...] Die Lehrerin hat nur denen geholfen, die Einsen geschrieben haben und dann bin ich halt schlechter geworden. Dann hat sie mir nur Sechser gegeben. Und dann hab ich auch nichts gewusst. [...] Dann bin ich hier hergekommen“. Michaelas Eltern sind geschieden. Sie lebt mit ihrer allein erziehenden Mutter und ihren beiden Geschwistern zusammen. Ihr Bruder ist 18 Jahre und ihre Schwester 17 Monate alt. Michaelas Mutter ist gelernte Altenpflegerin und hat in diesem Beruf bis zu Michaelas Geburt gearbeitet.
Mirko ist Schüler der Klasse 3/4: „Na manchmal, wenn die Frau D. so viel redet und so, dann werd ich ein bisschen müde, dann guck ich nur zu. [...] Wenn wir was Englisches zu lesen bekommen, das mag ich nicht so gerne. Da weiß ich nicht, was da steht. [...] Ich hab ein bisschen lesen geübt. [...] Als erstes nach der Schule mach ich die Hausaufgaben und dann geh ich immer raus, spiel Fußball oder Fangen oder so was [...] am Spielplatz. [...] Wir sind vier Jungs und ein Mädchen. Mein großer Bruder ist elf, ich bin zehn, meine zwei anderen Brüder sind sechs und drei und meine Schwester ist zwei “.
Dario ist Schüler der Klasse 4/5 und Mirkos Bruder: „Ich bin der Älteste. Jeder hat vor mir Respekt. [...] Wenn meine Schwester weint, muss ich ihre Flasche nehmen und Milch rein machen oder Tee. Die will nur bei mir schlafen. [...] Wir haben keine Zeit zum Frühstücken. Ich wollte was zu Hause essen, aber ich habe es vergessen und wir sind einfach losgegangen. Und dann habe ich nichts gegessen, bis die Schule zu Ende war. [...] Und dann war mir schwindlig und ich bin hingeflogen. [...] Wenn wir jetzt Ferien haben, sechs Wochen, dann habe ich irgendwie keine Lust mehr auf Schule. Da vergess ich alles“. Der Vater von Dario und Mirko ist berufstätig und viel unterwegs.
Nele ist Schülerin der 8. Klasse: „Meine Schwester ist zur Zeit voll gestresst [...] wegen ihrem Mann und dem Hund [...], weil der Vermieter will die rausschmeißen [...] und denn gehen die wahrscheinlich wieder zu uns“. Hausaufgaben macht Nele „auf meinem Bett, aber zur Zeit auf der Couch. In der Küche ist so ne Couch und da mach ich sie dann“. Nele hat einen Schreibtisch, aber der ist belegt. Da ist n Laptop drauf und dann is so n PC drauf“. Und Nele hat sich, nachdem sie in der Schule Einrad fahren gelernt hat, ein Einrad gekauft, „für 160 Euro [...] von meinem Geld. Ich arbeite doch manchmal auf m Markt“. Neles Familie stammt aus Italien. Sie lebt gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem 18jährigen Bruder in einer Wohnung. Ihre 21jährige Schwester hat bereits eine eigene Familie und ist mit Baby, Mann und Hund für eine Übergangszeit in die Wohnung der Mutter zurückgekehrt.
Niklas ist Schüler der Klasse 4/5: „Ich habe einen Bruder. Wir sind Zwillinge. Aber wir sind nicht ähnlich.“ Niklas geht „nicht so gerne“ in die Schule, er macht lieber anderes: „Wir gehen in den Zoo oder in die Experimenta oder so. [...] Oder ich geh ins Training. Kämpfen. Selbstverteidigung“. Niklas stammt aus einer fünfköpfigen Familie. Außer seinem Zwillingsbruder hat er einen jüngeren Bruder. Sein Vater ist berufstätig, aber er nimmt sich Zeit für familiäre Aktivitäten.
Wir behaupten, dass die Beeinträchtigungen des Lernens dieser Kinder und Jugendlichen Behinderungen darstellen, die in einem engen Zusammenhang von familiärer Armut und Bildungsbenachteiligung zu sehen sind. Ihre Entwicklungsbedingungen im familiären und im Bildungssystem sind schlechter als die der meisten anderen Schülerinnen und Schüler in der Bundesrepublik Deutschland. Wir wollen danach fragen, wie sich ihre Entwicklungsbedingungen verbessern können und wer dazu beitragen kann.

1. Das ‚Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung’

Die Europäische Union hat das Jahr 2010 zum „Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung“ erklärt (EU 2008). Die Begründungen für diese Entscheidung wurden in 31 Punkten zusammengefasst, in denen es unter anderem heißt: „In dem gemeinsamen Bericht über Sozialschutz und soziale Eingliederung 2008 wird darauf hingewiesen, dass 78 Millionen Menschen in der Europäischen Union von Armut bedroht sind, darunter 19 Millionen Kinder“ (ebd. 3). Grundsätzliches Leitprinzip des Europäischen Jahres zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung ist die „Anerkennung des Grundrechts der von Armut und sozialer Ausgrenzung Betroffenen auf ein Leben in Würde und auf umfassende Teilhabe an der Gesellschaft“ (ebd. 11).
In Betonung einer gemeinsamen Verantwortung werden in den damit verbundenen Zielstellungen einerseits die Sozialpolitik und andererseits das soziale Engagement aufgerufen. Als sozialpolitische Ziele wurden die „Förderung des effektiven Zugangs [...] zu sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechten sowie zu ausreichenden Ressourcen und hochwertigen Dienstleistungen“ (ebd.) vereinbart. Für deren Umsetzung steht die Forderung nach ‚bereichsübergreifenden’ politischen Maßnahmen, „die ein gewisses Gleichgewicht zwischen wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen wahren. Es geht um gezielte Strategien für Gruppen und Personen in besonders schwierigen Lagen“ (ebd. 4), durch deren Einsatz Ursachen von Armut und sozialer Benachteiligung direkt und effektiv zu bekämpfen wären.
Die Förderung sozialen Engagements verbindet sich mit Zielen wie der ‚Schärfung des öffentlichen Bewusstseins’ für die Lage von Menschen, die von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen und bedroht sind, der ‚Bekämpfung von Stereotypen und Stigmatisierung’ sowie der ‚Förderung und Unterstützung ehrenamtlicher Tätigkeit’ (vgl. ebd. 11). Insofern könnte das Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung Hoffnung auf „gleiche Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben und auf gerechte Teilhabe“ wecken (vgl. BM für Arbeit und Soziales 2009), auch für 2,5 Millionen Kinder – die in Deutschland in Einkommensarmut leben und die damit von sozialer Ausgrenzung bedroht sind (vgl. Deutscher Kinderschutzbund e.V. 2010). Allerdings bestimmen die benannten Zielstellungen die Präambeln sozialpolitischer Entwürfe und Entscheidungen seit vielen Jahren und dennoch hat sich das Ausmaß der Kinderarmut in Deutschland „in den vergangenen fünf Jahren nahezu verdoppelt“ (ebd.). Zudem steht den 1,25 Millionen Euro Fördergeldern der EU zur ‚Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung’ in Deutschland ein vom Bundestag beschlossenes Haushaltsbegleitgesetz 2011 (vgl. Bundesfinanzministerium 2010) gegenüber, das – unter Ausblendung der Thematik ‚Armut und soziale Benachteiligung’ – Kürzungen der Sozialleistungen für Menschen ohne eigenes bzw. mit niedrigem Erwerbseinkommen sowie deren Familien beschlossen hat. Von diesen Kürzungen verspricht man sich Einsparungen zwischen 3,37 und 4,87 Milliarden Euro (vgl. Spiegel online Politik 2011).
So bilden das Europäische Jahr und die aktuellen Diskussionen um Sozialleistungen widerstreitende Anlässe für die nachfolgenden Betrachtungen zum Thema Kinderarmut.

Unter dem Schlagwort ‚Mit neuem Mut’ hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ‚Nationale Strategien zur Umsetzung des Europäischen Jahres 2010 gegen Armut und soziale Ausgrenzung’ vorgelegt (vgl. BM für Arbeit und Soziales 2009). In dem Strategiekonzept lassen sich zwei Argumentationslinien lesen, die den Hintergrund für die hier zur Diskussion gestellte Auseinandersetzung mit dem Thema Kinderarmut bildet. Zum einen wird davon ausgegangen, dass „der moderne Sozialstaat in Deutschland gleiche Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben und auf gerechte Teilhabe schützt und in weiten Teilen gewährleistet“ (ebd. 2).
Im zweiten Teil dieses Artikels hinterfragen wir Schutz und Gewährleistung. Zum anderen werden „der Abbau von Arbeitslosigkeit und bessere Bildungschancen [...] unabhängig von der sozialen und ethnischen Herkunft“ (ebd. 4) als ‚zentrale gesellschaftspolitische Herausforderungen’ angegeben, wobei auf einen engen Zusammenhang beider Themen auf der Personenebene abgehoben wird, wenn es heißt: „Bildungsarmut geht langfristig im Lebenslauf mit einem erhöhten Risiko von Langzeitarbeitslosigkeit einher“ (ebd.). Der dritte Teil dieses Artikels widmet sich unter dem Blickwinkel der Bildungspolitik der Frage nach konkreten Antworten auf diese Herausforderung. Zuvor sollen die beiden Argumentationslinien der Strategie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales ‚gegen Armut und soziale Ausgrenzung’ (die Verantwortung der Sozialpolitik und das Handlungskonzept für das soziale Umfeld) kurz nachgezeichnet und daraus die konkreten Fragen für die folgende Diskussion abgeleitet werden.

Strategiekonzept gegen Armut und soziale Ausgrenzung
Die Darstellung der Ausgangslage und der Strategien der Armutsbekämpfung in Deutschland thematisiert die Verantwortung der Sozialpolitik. „In der gegenwärtigen Finanzmarkt- und Konjunkturkrise sind besonders sozial schwache und benachteiligte Gruppen gefährdet, so dass die Fähigkeit des Sozialstaates zur sozialen Bewältigung und Gestaltung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Umbrüche besonders gefragt ist“ (ebd. 3). Dieser Verantwortung der Sozialpolitik wollen wir uns im zweiten Teil unseres Beitrages widmen, und zwar mit den Fragen: Unter welchen Prämissen, mit welchen Maßnahmen begegnet der Sozialstaat der ‚gegenwärtigen Finanzmarkt- und Konjunkturkrise’? Mit welchen Konsequenzen sind diese politischen Entscheidungen für ‚besonders sozial schwache und benachteiligte Gruppen’ verbunden?
Als besondere Leistungen einer verantwortlichen Sozialpolitik der Bundesregierung werden im Strategiepapier unter anderem die nachfolgenden vier hervorgehoben:
Erstens: „Das umfangreiche System der Mindestsicherung zur Bekämpfung von Armut und Ausgrenzung wurde in den letzten Jahren mehrfach an aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen angepasst“ (ebd.).
Zweitens: „Vorgelagerte Sicherungssysteme (z.B. Reform des Kinderzuschlags 2008, Wohngeldreform 2009) sind eingeführt bzw. ausgebaut worden, um die Abhängigkeit von SGB-II bzw. SGB-XII-Leistungen abzuwenden oder zu überwinden“ (ebd.).
Drittens: „Der Ausbau der Kinderbetreuung und gezielte finanzielle Transfers zur Sicherung der wirtschaftlichen Stabilität von Familien im Lebenslauf [zielen] darauf ab, Chancengleichheit vor allem für Kinder, die in Familien im Niedrigeinkommensbereich leben, herzustellen“ (ebd.).
Viertens: „Die Armuts- und Reichtumsberichterstattung der Bundesregierung sowie die Sozialberichterstattung vieler Länder und Kommunen tragen seit vielen Jahren dazu bei, die soziale Lage in Deutschland zu analysieren und Wege aus Armut und sozialer Ausgrenzung durch zielgenaue Maßnahmen aufzuzeigen“ (ebd.).
Alle vier Argumente liefern Stoff für kritische Nachfragen.
Das Handlungskonzept des Strategieentwurfs ‚gegen Armut und soziale Ausgrenzung’, mit dem der ‚Abbau von Arbeitslosigkeit’ und ‚bessere Bildungschancen’ erreicht werden sollen, gliedert sich in drei Themenfelder: „(1) Jedes Kind ist wichtig – Entwicklungschancen verbessern! (2) Wo ist der Einstieg? – Mit Arbeit Hilfebedürftigkeit überwinden! (3) Integration statt Ausgrenzung – Selbstbestimmte Teilhabe für alle Menschen!“ (ebd. 8.). Ausrichtungen zur Bekämpfung von ‚Kinderarmut’ finden sich in allen drei Themenfeldern. So wird in (2) unter anderem die „Erleichterung der Übergänge innerhalb der Schulsysteme und in die Ausbildung [... sowie die] Stärkung der Vereinbarkeit von Erziehung/ Pflegetätigkeiten und Berufstätigkeit“ (ebd. 9f) angesprochen. In (3) heißt es mit Blick auf soziale Integration außerhalb des Arbeitsmarktes: „Insbesondere geht es darum ausschließende Strukturen zu vermeiden, niederschwellige Hilfsangebote zu stärken und die Menschen besser über ihre sozialen Rechte zu informieren“ (ebd. 10). Damit wäre auch ein bedeutsamer Aspekt der selbstbestimmten Teilhabe von Kindern – die von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen bzw. bedroht sind – angesprochen. Als Zielgruppe sind sie lediglich im Fokus des Themenfeldes (1). Das aufgeführte „Spektrum möglicher Aktivitäten“ (ebd. 8) setzt „vor allem im sozialen Umfeld und bei der Infrastruktur“ (ebd.) an. So heißt es:
„Aktionen sind in folgenden Bereichen denkbar: Eltern- und Beratungsangebote vor Ort, soziale Verantwortung der Nachbarschaft, frühkindlicher Sprach- und Bildungserwerb durch qualitativ hochwertige Kindertagesbetreuung, Ganztagsschulangebote mit Essensversorgung, integrative Beschulung behinderter Schüler, Schulsozialarbeit, integrative Angebote von Jugendverbänden, Sportvereinen, Wohlfahrtsverbänden, Kulturorganisationen etc., Information und direkte Ansprache von Eltern sowie frei zugängliche und niederschwellige Angebote zur Stärkung ihrer Erziehungs- und Bildungskompetenz sowie Haushaltsführung und Finanzkompetenzen, kinderfreundliches und gesundes Wohnen in gemischten Sozialstrukturen, sozialraumorientierte Gesundheitsförderung. Eltern mit Migrationshintergrund und solche mit niedrigem Bildungsniveau sollen gewonnen werden, unterstützende Angebote, wie z.B. Kinderbetreuung in Anspruch zu nehmen und Angebote zur Zusammenarbeit mit Kinderbetreuungsangeboten und Schulen anzunehmen“ (ebd. 8f).
Grundlegende sozialrechtliche Entscheidungen, wie im vorhergehenden Absatz als besondere Leistungen thematisiert, sucht man unter den vorgeschlagenen Aktionen im ‚Europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung’ vergebens.
Den Autorinnen des vorliegenden Beitrags drängen sich bei der Lektüre dieses Aktionskataloges vor allen anderen zwei Fragen auf. Wie lässt sich das Fehlen konkreter sozialrechtlicher Maßnahmen im Handlungskonzept des Ministeriums für Arbeit und Soziales ‚zur Umsetzung des Europäischen Jahres 2010 gegen Armut und soziale Ausgrenzung’ erklären? Welche Einflüsse auf erklärte Ziele und vorgeschlagene Maßnahmen könnten sich mit dieser Lücke verbinden? Diesen Fragen gehen wir im Folgenden nach.

2. Schutz und Gewährleistung ‚gleicher Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben und auf gerechte Teilhabe’ im modernen Sozialstaat Deutschland?

Die Lebenssituation von Kindern wird von vielen Bedingungen beeinflusst. Diese fassen Beate Hock, Gerda Holz und Werner Wüstendörfer in ihrer Studie ‚Folgen familiärer Armut im frühen Kindesalter’ in vier Einflussebenen zusammen: „die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die Lebenssituation in der Familie (das Zusammenspiel materieller und nichtmaterieller Probleme und Ressourcen), das private Umfeld und die institutionellen Rahmenbedingungen/ professionelle Unterstützung“ (vgl. Hock/ Holz/ Wüstendörfer 2000, 133). Als eine wesentliche gesellschaftliche Rahmenbedingung für „unzureichende materielle Existenzsicherung“ und Schwierigkeiten der Familien „für sich und ihre Kinder eine positive Zukunftsperspektive zu entwickeln“ wird die „Lage auf dem Arbeitsmarkt“ (ebd.) gekennzeichnet.

Armutsgefährdung unter der Prämisse einer stabilen Haushalts- und Finanzpolitik
Christoph Butterwege, Michael Klundt und Matthias Zeng differenzieren diese Diagnose, indem sie unter anderem den ‚Strukturwandel des Arbeitsmarktes’ in einen Zusammenhang mit dem sich aktuell in Deutschland vollziehenden ‚Umbruch des Wohlfahrtsstaates’ stellen (vgl. Butterwege/ Klundt/ Zeng 2005, 11). Dieser ist seit der Einführung des so genannten ‚Hartz IV’ Gesetzes im Zweiten Sozialgesetzbuch nicht nur mit einer zunehmenden „Betroffenheit der Kinder von Arbeitslosigkeit und Sozialhilfebezug“ (ebd. 12) verbunden. Die Autoren gehen davon aus, dass ‚Strukturen und Folgen von Kinderarmut’ abhängig sind von „landesspezifischen familien- und sozialpolitischen Traditionen, Leitbildern und Wohlfahrtsmodellen. Sie attestieren Deutschland (im Anschluss an Franz Xaver Kaufmann) eine ‚explizite’ (konkret an die Familie gebundene) aber ineffektive ‚symbolische Familienpolitik’ mit einer ‚Zentralität der Arbeitsfrage’ (ebd. 126). Dieser Bescheinigung und den damit verbundenen Argumentationen folgen die Autorinnen dieses Beitrages.
In dem bereits zitierten Strategieentwurf des Bundesministerium für Arbeit und Soziales zur Umsetzung des Europäischen Jahres 2010 gegen Armut und soziale Ausgrenzung wird dem ‚Sozialstaat’ in der gegenwärtigen ‚Finanzmarkt- und Konjunkturkrise’ eine explizite Verantwortung für die soziale Bewältigung und Gestaltung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Umbrüche zugeschrieben und zwar ausdrücklich im Verweis auf besonders sozial schwache und benachteiligte Gruppen (vgl. BM für Arbeit und Soziales 2009, 3). Die Prämissen, mit denen der ‚neoliberale Sozialstaat’ der ‚Krise’ begegnet, bilden jedoch entgegen dieser Erklärung seit Jahren das Finanz- und Wirtschaftssystem, aktuell mit der Rechtfertigung einer stabilen Haushalts- und Finanzpolitik.
„Nach der schwersten Finanz- und Wirtschaftskrise der Nachkriegsgeschichte stellt die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte ein Gebot der deutschen wie der europäischen Politik dar. Der Ausstieg aus den zur Bewältigung der Krise ergriffenen umfangreichen die Konjunktur stützenden Maßnahmen ist alternativlos und muss nun vollzogen werden, um die Handlungsfähigkeit des Staates zu sichern und – mittel- und langfristig – solide und generationengerechte Staatsfinanzen zu erreichen“ (vgl. Bundesfinanzministerium 2010, 33).
Das Thema ‚Geld’ spielt laut Christoph Deutschmann bei der Erklärung von Armut und sozialer Ausgrenzung eine Schlüsselrolle (vgl. Deutschmann 2009, 225) und zwar in zwei Blickrichtungen. Christoph Deutschmann vertritt die These, dass „dauerhafte Armut bereits ein Zustand umfassender sozialer Exklusion“ ist (ebd. 226). Armut wäre hier als das Fehlen ‚lebenswichtiger’ Güter zu verstehen, die für die im sozialen Umfeld üblichen ‚Entfaltungsmöglichkeiten’ als notwendig gelten. „Dazu gehört auch, als akzeptiertes Mitglied einer Gemeinschaft [...] auftreten zu können [...], über Neuigkeiten informiert zu sein, mit entfernten Freunden und Bekannten im Bedarfsfall in Kontakt zu treten [...], als soziales Wesen vollwertig [...] funktionieren zu können“ (Krämer 2000, 55). Sind Menschen vom ökonomischen Wohlstand der Gesellschaft ausgeschlossen, sind sie aufgrund der „Kommerzialisierung fast aller Lebensbereiche“ (Butterwege/ Klundt/ Zeng 2005, 59) auch von ‚sozialer, kultureller und sozialräumlicher Exklusion’ (vgl. ebd., 58) bedroht. Dieser Argumentation folgt auch die Europäische Kommission für Beschäftigung, soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit mit Blick auf die individuelle Bedeutung von Armutsgefährdung. „Für die Betroffenen bedeutet dies eine Existenz in ständiger Unsicherheit und ein Leben ohne die Dinge, die für die große Mehrheit oft selbstverständlich sind. [...] Armutsgefährdete Menschen können sich nur einen sehr einfachen Lebensstil leisten, was zu ihrer sozialen Ausgrenzung führen kann“ (Europäische Kommission: Beschäftigung, soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit 2010, 1). Christoph Deutschmann diskutiert eine zweite Ebene, auf der Geld eine Schlüsselrolle für Armut einnimmt. Mit Blick auf das ‚Funktionieren moderner Gesellschaften’ verweist er darauf, dass Geld nicht nur als Tauschmittel und Symbol materiellen Wohlstands dient, sondern als „Basis moderner funktional differenzierter Gesellschaften“ (Deutschmann 2009, 228) angesehen werden kann. „Recht, Wissenschaft und Politik sind nicht möglich ohne Organisationen; Organisationen sind aber nicht möglich ohne Geld“ (ebd.). So ließen sich die zurückliegenden ‚Liberalisierungen der Finanzmärkte’ als ‚neoliberale Fehlentwicklungen’ (vgl. Butterwege/ Klundt/ Zeng 2005, 49) einer finanzabhängigen Politik erklären. Mit dem Ausstieg aus  Konjunktur stützenden Maßnahmen soll den liberalisierten Finanzmärkten nach umfangreichen steuerfinanzierten Sanierungen zukünftig mit einem ‚Restrukturierungsgesetz’ und der zum Januar 2012 angestrebten ‚Finanzmarkttransaktionssteuer’ das politische Krisenpotential genommen werden.
[Randbemerkung 1: Eine radikale Alternative zum ‚herrschenden Geld’ diskutiert Herrmann Benjes im Anschluss an Silvio Gesells Entwurf eines ‚Freigeldes’, das ständig an Wert verliert, wenn es „gehortet, oder etwa spekulativ zweckentfremdet und außer Landes gebracht“ würde (Benjes 2002, 41)].
‚Wirtschaftswachstum durch Subventionen’ scheint neben ‚Haushaltskonsolidierung’ das Zauberwort der bundesdeutschen Politik, auch wenn das Haushaltsbegleitgesetz 2011 vorsieht, Finanzhilfen und Steuervergünstigungen zu prüfen. Wurde doch erst im Dezember 2009 das ‚Wirtschaftswachstumsbeschleunigungsgesetz’ (vgl. BM der Finanzen 2010) vom Bundestag verabschiedet. Es soll „mit einem steuerlichen Entlastungsvolumen von 8,5 Milliarden Euro“ den „Weg aus der Krise ebnen“ (ebd. 2). In Folge der so genannten „gezielten Impulse für Wachstum und Beschäftigung“ (ebd.) verspricht dieses ‚steuerliche Sofortprogramm’ die Stützung von Kaufkraft und Innovationsbereitschaft. Mit Blick auf eine stabile Binnenkonjunktur wurden mit diesem Gesetz unter anderem das „Kindergeld für jedes zu berücksichtigende Kind um 20 Euro erhöht“ (ebd. 3) und die Kinderfreibeträge bei der Einkommenssteuer angehoben. Der Gesetzgeber geht von „Steuerentlastungen [...] mit einem Volumen von 4,6 Milliarden Euro pro Jahr“ (ebd. 3) für Familien mit Kindern aus, „was ihnen helfen wird, ihre – auch gesamtgesellschaftlich bedeutenden – Aufgaben zu erfüllen“ (ebd.) und gleichzeitig einen zusätzlichen Raum für mehr Konsum schafft (vgl. ebd.).
Die andere Seite des ‚Ausstiegs’ – die Reduzierung der „Lasten [des Staats] für soziale Sicherungssysteme“ (Butterwege/ Klundt/ Zeng 2005, 33) – nimmt Armut, insbesondere Kinderarmut, als „Soziales Abfallprodukt der Marktwirtschaft“ (ebd. 54) in Kauf, ohne diese Problem überhaupt zu thematisieren. Das ließe sich an vielen Beispielen der veränderten Sozialgesetzgebung zeigen, mit denen ‚das umfangreiche System der Mindestsicherung an aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen angepasst’ wurde, wie das Bundesministerium für Arbeit und Soziale hervorhebt (vgl. oben). Wir wollen uns auf das Hinterfragen der aufgeführten Leistungen des Strategieentwurfs ‚zur Umsetzung des Europäischen Jahres 2010 gegen Armut und soziale Ausgrenzung’ beschränken.

Das System der Mindestsicherung zur Bekämpfung von Armut und Ausgrenzung?
Als wesentlichste ‚Anpassungsleistung’ der Mindestsicherung müssen die so genannten Hartz-Gesetze der Agenda 2010 gelten, darunter das 2003 in Kraft getretene Zweite Sozialgesetzbuch. Unter der Maßgabe Eigenverantwortung zu fördern und Eigenleistungen zu fordern (vgl. BM für Justiz 2007, SGB II, § 2)werden einerseits Arbeitnehmerrechte beschnitten und der Druck auf Erwerbslose erhöht (vgl. ebd., § 10) und andererseits Sozialleistungen gekürzt (vgl. ebd., Abschnitt 2).
[Randbemerkung 2: Mit dieser Sozialpolitik setzt der ‚aktivierende Sozialstaat’ „auf die Förderung der Selbst-Integration [... und nimmt] als Kehrseite, wenn dies nicht erreicht wird, Exklusion als selbstverschuldete in Kauf“ Beisenherz 2002, 195). Damit verbindet sich eine mediale Stigmatisierung von Jugendlichen mit und ohne Hauptschulabschluss an den ‚Schwellen zum Arbeitsmarkt’ und von Menschen, die ohne anerkannte Erwerbsarbeit ihr Leben gestalten, als das neue „Prekariat“ (Müller-Hilmer 2006), als „die Überflüssigen“ (Bude/ Willisch 2008), als „die Ausgeschlossenen“ (Bude 2008) oder als „einfach abgehängt“ (Klinger/ König 2006). Beschäftigt man sich mit Problemen und Chancen der Lebensgestaltung, jenseits angemessen entlohnter und anerkannter Arbeit, in einer Gesellschaft die dem Ideal der Vollbeschäftigung nachhängt, kann man feststellen, dass diese Lesart nicht alternativlos ist. Mit Wolfgang Engler kann man sich die Frage stellen, wie Inklusion möglich ist, wenn nicht durch Organisation von Erwerbsarbeit (vgl. Engler 2005, 115f.). Menschen, deren Ausbildungs- und Arbeitsmarktchancen aus unterschiedlichen Gründen eingeschränkt sind, begegnen dieser Situation zum Teil sehr kreativ und produktiv (vgl. z.B. Meier/  Preuße/ Sunnus 2003; Chassé/ Zander/ Rasch 2005; Puhr 2009).]
Arbeitslosengeld II, Sozialgeld und Sozialhilfe schützen nicht vor Armut, auch wenn sie das Armutsrisiko erheblich reduzieren. Zwar haben laut drittem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung „sozial- und familienpolitische Transferleistungen wie Arbeitslosengeld II, Kindergeld, Kinderzuschlag, Wohngeld und das frühere Erziehungsgeld [...] das Risiko der Einkommensarmut im Jahr 2005 [...] bei Kindern von 34% auf 12% gesenkt (vgl. BM für Arbeit und Soziales 2008, 4). Das Armutsrisiko für Kinder in Haushalten ‚ohne Erwerbsbeteiligte’ lag jedoch bei 48% (vgl. ebd., 22). Die Leistungen des Zweiten Sozialgesetzbuches gewährleisten auch keine gleichen Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben und auf gerechte Teilhabe, wie das Strategiekonzept gegen Armut und soziale Ausgrenzung suggeriert (vgl. oben). Das hat das Bundesverfassungsgericht bestätigt.
„Der erste Senat des Bundesverfassungsgerichtes hat entschieden, dass die Vorschriften des SGB II, die die Regelleistung für Erwachsene und Kinder betreffen, nicht den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums [...] erfüllen. Der Gesetzgeber hat bei einer Neuregelung auch einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherstellung eines unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarfs für die [...] Leistungsberechtigten vorzusehen, der bisher nicht [...] erfasst wird, zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums jedoch zwingend zu decken ist“ (Bundesverfassungsgericht 2010, 2).
Das „Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums [...] sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind“ (ebd.). Dieses Grundrecht ist laut Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bereits deswegen nicht erfüllt, weil „der festgesetzte regelsatz- und damit auch regelleistungsrelevante Verbrauch [...] nicht auf einer tragfähigen Auswertung der Einkommens- und Verbraucherstichprobe“ beruht (ebd. 4). Einer darüber hinaus gehenden deutlichen Kritik mit dem Verweis auf drohenden Ausschluss von ‚Lebenschancen’ (vgl. ebd., 5) wird das Sozialgeld für Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres unterzogen.
„Der Gesetzgeber hat jegliche Ermittlungen zum spezifischen Bedarf eines Kindes, der sich im Unterschied zum Bedarf eines Erwachsenen an kindlichen Entwicklungsphasen und einer kindgerechten Persönlichkeitsentfaltung auszurichten hat, unterlassen. [...] Insbesondere bleiben die notwendigen Aufwendungen für Schulbücher, Schulhefte, Taschenrechner etc. unberücksichtigt, die zum existenziellen Mehrbedarf eines Kindes gehören. Denn ohne Deckung dieser Kosten droht hilfebedürftigen Kindern der Ausschluss von Lebenschancen. Auch fehlt eine differenzierte Untersuchung des Bedarfs von kleineren und größeren Kindern“ (ebd.).
Eine Änderung im ‚Hartz IV – Gesetz’ von 2007 sieht inzwischen eine einmalige Zahlung von 100 Euro pro Schuljahr für anspruchsberechtigte Schülerinnen und Schüler an allgemein- und berufsbildenden Schulen vor (vgl. BM für Justiz 2007, SGB II, § 24a), ein Betrag der nach Einschätzung der Bundesverfassungsrichter „offensichtlich freihändig geschätzt“ (Bundesverfassungsgericht 2010, 5) wurde. Für 2011 wurden Neuregelungen der als verfassungswidrig eingeschätzten Normen verfügt, auf der Basis einer tragfähigen Berechung und unter Erfassung bisher nicht berücksichtigter Leistungen, jedoch ohne Verpflichtung höhere Regelleistungen festzulegen (vgl. ebd., 6).  Diese Neuberechnungen sind inzwischen erfolgt. In ihrer Folge wird eine Erhöhung der Regelleistungen um fünf Euro für Erwachsene und eine Summe von 250 € jährlich für die Bildungsförderung von Kindern diskutiert!

Chancengleichheit für Kinder in Familien im ‚Niedrigeinkommensbereich’?
Dem Rechtsanspruch von ‚bedürftigen’ Kindern auf ‚individuelle Bildungsförderung’ ab Januar 2011 will die Bundesregierung mit einer ‚Bildungs-Chipkarte’ entsprechen, mit der „mehr Chancen für Bildung, soziale Integration und positive Entwicklungschancen geschaffen werden“ sollen (Regierung Online 2010). Eine Erprobung soll in 40 Pilotprojekten ab Sommer 2011 erfolgen!
Des Weiteren plant die Bundesregierung ab 2013 die Einführung von ‚Betreuungsgeldern’  oder ‚Betreuungsgutscheinen’ für Kinder unter drei Jahren. Durch diese zuweilen als ‚Herdprämie’ kritisierte Sozialleistung von 150 Euro monatlich soll „die Kinderbetreuung, die durch die Eltern, also Mutter oder Vater, selbst erfolgt honoriert werden“ (Verein für soziales Leben e.V. 2010).
Nicht erst für 2013, sondern ab 01.01.2011 wird dagegen das ‚Elterngeld’ für ‚Hartz IV Empfänger’ und der ‚Kinderzuschlag’ gestrichen (vgl. Bundesfinanzministerium 2010, 27). Das Bundesfinanzministerium legitimiert diese und andere Leistungskürzungen für Familien – ohne oder mit niedrigem eigenen Erwerbseinkommen – mit der ‚Haushaltskonsolidierung’, einer ‚familienpolitischen’ Vertretbarkeit und einer Aussetzung der ‚Zumutbarkeit’ von Erwerbsarbeit für – Arbeitslosengeld II empfangende – Mütter und Väter von Kindern bis zu einem Jahr.
„Im Rahmen der Bemühungen der Haushaltskonsolidierung kann der Bereich der Familienleistungen nicht ausgespart werden. Bei der Auswahl der Bereiche, in denen die erforderlichen Beiträge zur Einsparung vorgenommen werden, wurde sichergestellt, dass Einsparungen nur dort erfolgen, wo die notwendigen Beschränkungen des Leistungsumfanges familienpolitisch vertretbar sind. Vor diesem Hintergrund bleiben die geplanten Investitionen in der frühkindlichen Bildung, das Kindergeld und der Unterhaltsvorschuss für Alleinerziehende unangetastet. [...]
Die Aufhebung der Anrechnungsfreiheit des Elterngeldes beim Bezug von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzgebung – SGB II (Arbeitslosengeld II), nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch – SGB XII – und nach §6a des Bundeskindergeldgesetzes – BKGG – (Kinderzuschlag) trägt dem Umstand Rechnung, dass der Bedarf des betreuenden Elternteils und der des Kindes im System der Grundsicherung durch die Regelsätze und die Zusatzleistungen, gegebenenfalls einschließlich des Mehrbedarfszuschlags für Alleinerziehende, umfassend gesichert ist und dem betreuenden Elternteil eine Erwerbstätigkeit nicht zugemutet wird. Die vollständige Berücksichtigung des Elterngeldes im System der Grundsicherung [...] führt damit auch zu einer stärkeren Konturierung des differenzierten Anreiz- und Unterstützungssystems in der Grundsicherung“ (ebd. 67f).
Aus dieser Argumentation kann man eine explizite aber ineffektive Familienpolitik mit einer Zentralität der Arbeitsfrage lesen (vgl. oben). Eine mögliche Begründung für diese Interpretation findet sich bereits im siebten Familienbericht (vgl. BM für Familien, Senioren, Frauen und Kinder 2006).
„Um das gleiche Niveau monetärer Ressourcen kinderloser Ehepaare zu erreichen müssten Eltern und ihre Kinder pro Kopf und Monat bis zu 600 Euro oder 50% mehr zur Verfügung stehen. “ (BM für Familien, Senioren, Frauen und Kinder 2006, 166). [...] die jüngsten arbeitsmarkt- und familienpolitischen Reformen [folgen] keinem eindeutig erkennbaren bzw. einheitlichen Familienleitbild und sind nur in geringem Umfang koordiniert. [...] Für die Arbeitsmarktpolitik ist [...] anzunehmen, dass eine Förderung der Erwerbsbeteiligung von Müttern auch weiterhin als konkurrierendes Ziel zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit gesehen wird. Das würde erklären, warum Reformen lediglich punktuell sind und einmal Erreichtes sogar wieder zurück genommen wird“ (ebd. 162).
Liest man die beschlossenen Einsparungen nicht aus den Perspektiven der Haushaltskonsolidierung und der Arbeitsverpflichtung, sondern aus einer der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung, wird man mit Blick auf die ‚unangetasteten’ familienpolitischen Leistungen schwerlich Schutz und Gewährleistungen gleicher Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben und auf gerechte Teilhabe finden. Man wird vielleicht bedenken: Alleinerziehende erhalten für ihre Kinder gegebenenfalls einen Unterhaltsvorschuss vom Jugendamt, aber „längstens für 72 Monate bis zur Vollendung des zwölften Lebensjahres des Kindes, der der Regelbetragsverordnung abzüglich der Hälfte des Erstkindergeldes entspricht“ (BM für Finanzen 2005, 50), im Gegensatz zu Kindern unterhaltspflichtiger Elternteile, für die bis zum Ende einer Erstausbildung Anspruch auf Unterhalt besteht. Dabei wird man eventuell daran erinnert, dass Kinder allein erziehender Eltern – ebenso wie Kinder mit mehreren Geschwistern und Kinder mit Migrationshintergrund – in Deutschland mit einem erhöhten Armutsrisiko leben. Folgt man den vergleichenden Analysen von Hans Bertram und Steffen Kohl lebten 2007 in Deutschland ca. 10% aller Kinder in relativer Armut (vgl. Bertram/ Kohl 2010, 43). Von den unter 3-jährigen Kindern allein erziehender Mütter fielen 28% unter die relative Armutsgrenze und bei den Kindern, die mit mehr als zwei Geschwistern bei einer allein erziehenden Mutter lebten, betraf das 24% (vgl. ebd., 45). Man kann vermuten, dass diese ungleichen Armutsrisiken durch die ‚Unterhaltsvorschuss’-Begrenzung auf höchstens sechs Jahre eher verstärkt werden. Vielleicht wird man auch daran erinnert, dass Kindergeld als Sozialleistung als „Einkommen im Rahmen der Berechung des ALG II“ (Ronicke 2010/1) angerechnet wird. Das heißt für Kinder, die einen Anspruch auf Sozialgeld haben, war die Kindergelderhöhung um 20 Euro in diesem Jahr ebenso wenig relevant, wie es eine Kürzung wäre. Und man könnte sich auch fragen, warum die ‚Entlastung von Erwerbstätigkeit’ bei der Geburt eines Kindes bei Erwerbstätigen als einkommensabhängige ‚Lohnersatzleistung’ erfolgt, wenn doch der Bedarf des betreuenden Elternteils und des Kindes mit den feststehenden Beträgen der Grundsicherung ‚umfassend gesichert’ wäre.
Die Streichung des ‚Elterngeldes’ für ‚Hartz IV Empfänger’ stellt nicht nur einen erheblichen finanziellen Einschnitt für die betroffenen Familien, sondern auch einen zweiten großen familienpolitischen Rückschritt dar. Mit der ‚Erziehungsgeldreform 1985’ wurde in der Familienpolitik ein Schritt hin zur Vergleichbarkeit von Erziehungs- und Erwerbsarbeit vollzogen. Das von 1986 bis 2006 gewährte ‚Erziehungsgeld’ hatte keine Entgeldersatzfunktion. Es stand vielmehr „einkommensabhängig gemindert“ (BM für Finanzen 2005, 49) mit einem „Regelbetrag von 300 Euro monatlich bis zum Ende des zweiten Lebensjahres des Kindes oder Budget-Angebot von 450 Euro monatlich bis zum Ende des ersten Lebensjahres des Kindes“ (ebd.) allen Eltern zu, „die ihr Kind selbst betreuen und nicht mehr als 30 Wochenstunden arbeiten“ (ebd.). Das änderte sich grundlegend mit der Einführung des ‚Elterngeldes’, „eine Lohnersatzleistung, deren Höhe sich am bisherigen Einkommen des betreuenden Elternteils orientiert“ (Ronicke 2010/2) für 12 bzw. 14 Monate (2 Partnermonate). Mit dem ‚Elterngeld’ erhalten erwerbstätige Eltern eine erheblich höhere Förderung als mit dem ‚Erziehungsgeld’. Für betreuende Mütter und Väter ohne eigenes Einkommen – Arbeitslosengeld II und Sozialhilfe-Empfänger, Studierende (die für die Dauer der Elternzeit den selben Status haben) und Eltern ohne anerkannte Erwerbsarbeit ohne Leistungsanspruch – wird das ‚Elterngeld’ bis Dezember 2010 nur noch maximal 12 Monate in der Mindesthöhe von 300 Euro ohne Anrechung auf andere Sozialleistungen gezahlt (vgl. ebd.). Damit halbierten sich die Leistungen des Elterngeldes gegenüber dem Erziehungsgeld für Eltern ohne eigenes Einkommen. Ab Januar 2011 fallen sie mit der Streichung des anrechnungsfreien ‚Elterngeldes’ ganz weg. Es bleibt abzuwarten, in welcher Weise sich das Armutsrisiko von Kindern in den vielen Familien verändert, die ohnehin am Existenzminimum leben.

Sicherungssysteme gegen die Abhängigkeit von Arbeitslosengeld II, Sozialgeld und Sozialhilfe
Auch den ‚Kinderzuschlag’ – ein wesentliches Element der „vorgelagerten Sicherungssysteme, um die Abhängigkeit von SGB-II bzw. SGB-XII-Leistungen abzuwenden oder zu überwinden“ (oben) – wird es nach dem Willen der Bundesregierung ab 2011 nicht mehr in seiner jetzigen Form geben.
Anspruch auf ‚Kinderzuschlag’ – in Höhe von 140 Euro pro Kind und einem jährlich einmaligem Zuschlag für die Schule von 100 Euro – haben derzeit noch gering verdienende „Alleinerziehende oder Elternpaare [...] für ihre unverheirateten, unter 25 Jahre alten Kinder, die in ihrem Haushalt leben“ (Bundesagentur für Arbeit 2010). Bedingungen sind der Bezug von Kindergeld; das Erreichen der Mindesteinkommensgrenze, für Ehepaare 900 Euro, für Alleinerziehende 600 Euro; das zu berücksichtigendes Einkommen und Vermögen, das die Höchsteinkommensgrenze nicht übersteigt und die Deckung des Bedarfs der Familie durch den ‚Kinderzuschlag’ (vgl. ebd.). Damit sollte der ‚Kinderzuschlag’ der Chancengleichheit für Kinder, die in Familien im Niedrigeinkommensbereich leben dienen (vgl. oben).
Dieser Zusammenhang wird im Entwurf zum ‚Haushaltsbegleitgesetz 2011’ nicht thematisiert. Das gilt ebenso für die Kürzung des ‚Wohngeldes’, das als ‚Mietzuschuss’ für alle ‚einkommensschwachen Bürgerinnen und Bürger’ gezahlt wird (vgl. BM für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung 2008). Da das ‚Wohngeld’ abhängig von der Anzahl der zu berücksichtigenden Haushaltsmitglieder gezahlt wird, kommt es direkt auch den Kindern der Anspruchsberechtigten zugute. Hier sind ab 2009 wesentliche Leistungsverbesserungen in Kraft getreten (vgl. ebd.) Unter anderem wurden „vor dem Hintergrund gestiegener Energiepreise [...] erstmals die Heizungskosten in das Wohngeld einbezogen“ (ebd.). Diese Leistungsverbesserung wird 2011 wieder aufgehoben (vgl. Bundesfinanzministerium 2010, 32) und zwar mit folgender Begründung: „Diese Heizkostenkomponente hat dazu beigetragen, einkommensschwächere Haushalte angesichts der bis Mitte 2008 stark gestiegenen Heizenergiekosten [um 22%] zu entlasten. [...] Die Energiepreise sind seitdem wieder um 14% gesunken. Daher ist insoweit die Rückführung auf das früher geltende Recht zur Haushaltskonsolidierung angemessen“ (ebd. 75)!

Die Armuts- und Reichtumsberichterstattung der Bundesregierung
Als letzter Aspekt unserer kritischen Nachfragen sei die ‚Armuts- und Reichtumsberichterstattung der Bundesregierung’ aufgerufen. Sie trägt laut Strategieentwurf zur Bekämpfung von ‚Armut und sozialer Ausgrenzung’ dazu bei, ‚die soziale Lage in Deutschland zu analysieren und Wege aus Armut und sozialer Ausgrenzung durch zielgenaue Maßnahmen aufzuzeigen’ (vgl. oben).
„Der Bericht benennt und analysiert [...] nicht nur ungleiche Teilhabeergebnisse, [...] sondern fragt danach, inwiefern diese Unterschiede auf ungleiche Teilhabe- und Verwirklichungschancen zurückzuführen sind und welche Faktoren die unterschiedliche Wahrnehmung von eröffneten Chancen beeinflussen“ (BM für Arbeit und Soziales 2008, 1).
Insofern könnte die Armuts- und Reichtumsberichterstattung als „eine wesentliche Grundlage für die Ausgestaltung einer sozial gerechten Politik“ (Deutscher Bundestag 2010, 1) gelten. Dabei wären Tendenzen der sozialen Polarisierung von Armut und Reichtum zu berücksichtigen, die auch bei Kindern und Jugendlichen zu beobachten sind. Die „wachsende Minderheit von Kindern und Jugendlichen, die in Armutsverhältnissen aufwachsen“ (Butterwege/ Klundt/ Zeng 2005, 57) sieht sich einer Mehrheit relativ wohlhabender Kinder gegenüber. „Es gab noch nie vergleichbar viele Haushalte ohne materielle Sorgen“ (Butterwege 2007). Das spiegelt sich auch in den Sichtweisen, Stimmungen und Erwartungen von Jugendlichen wieder, wie die Ergebnisse der 16. Shell Jugendstudie ‚Jugend 2010’ zeigen (vgl. Wolber 2010). Mathias Albert, Klaus Hurrelmann, Gudrun Quenzel und das Team um Ulrich Schneekloth haben im Auftrag von Shell herausgefunden, dass bedeutend mehr Jugendliche aus ‚benachteiligten Familien’ bzw. ‚unterprivilegierten Verhältnissen’ ihre Zukunft nicht zuversichtlich sehen und mit ihrem Leben im Allgemeinen nicht zufrieden sind (vgl. Wolber 2010, 1), während sich insgesamt „der Anteil der optimistischen Jugendlichen erhöht hat“ (ebd.). Verwiesen wird auf die starke Herkunftsabhängigkeit von Schulabschlüssen, Freizeitverhalten, Politikinteresse und sozialem Engagement. „Je gebildeter und privilegierter die Jugendlichen sind, desto häufiger sind sie im Alltag aktiv für den guten Zweck“ (ebd. 3). Christoph Butterwege, Michael Klundt und Matthias Zeng beobachten bezüglich der Verteilung von Kinderarmut eine „tiefe soziale Spaltung“ (ebd. 120) und betonen, dass Kinder an der Polarisierung von Armut und Reichtum besonders leiden, weil ‚spezifische Anpassungs- und/oder Verdrängungsmechanismen’ noch nicht entwickelt sind (vgl. ebd., 58).
Die Fragesteller der ‚Kleinen Anfrage zu Vorbereitung und Stand des 4. Armuts- und Reichtumsberichtes’ verweisen zum einen darauf, dass die Berichte „auf der statistisch-empirischen Erfassung der gesellschaftlichen Realität in Deutschland mit ihren Gegenpolen Armut und Reichtum“ (ebd.) basieren und zum anderen darauf, dass „für die Verminderung von Armutsrisiken und die Überwindung von Ausgrenzung ein hohes Maß an Verteilungsgerechtigkeit entscheidend ist“ (ebd.). Sie kritisieren, dass im 3. Armuts- und Reichtumsbericht die Reichtumsberichterstattung über besonders hohe Einkommen und Vermögen nur sehr eingeschränkt erfolgte und erinnern an den Anspruch zudem ‚privilegierte Zugänge zu Bildung und zu beruflichen Spitzenpositionen sowie Aspekte wie Macht und Einfluss’ im Rahmen von Reichtumsanalysen zu erfassen (vgl. ebd. 2). Es erscheint notwendig, „den Reichtum [zu] nutzen, um Armut bekämpfen zu können, die Mittelschicht zu stärken um die Kosten der Krise gesellschaftlich ausgewogen und gerecht verteilen zu können“ (AG Verteilungsgerechtigkeit und soziale Integration der SPD-Bundestagsfraktion 2010). In der Antwort der Bundesregierung heißt es diesbezüglich: „Die Aufbereitung der Defizite in der Reichtumsforschung wird auch im kommenden Armuts- und Reichtumsbericht ein zentrales Thema bleiben“ (Deutscher Bundestag 2010, 3). Punkt 14 der genannten‚kleine Anfrage konkretisiert Aspekte von Teilhabe- und Verwirklichungschancen. Angefragt werden die Analyse der Verwendung des öffentlichen Reichtums, die Auswirkungen des Einsatzes öffentlicher Mittel auf die Reichtums- und Armutsentwicklung und eine Untersuchung der Partizipation am Einsatz öffentlicher Mittel von armen und reichen Gesellschaftsmitgliedern (vgl. ebd., 5). In der Antwort der Bundesregierung wird die Möglichkeit der Analyse der Effekte des Einsatzes öffentlicher Mittel – und damit auch der in diesem Abschnitt skizzierten finanz-, wirtschafts-, haushalts-, sozial- und familienpolitischen Maßnahmen – explizit verneint.
„Alle auf der Einnahmen- und Ausgabenseite der öffentlichen Haushalte getroffenen Maßnahmen haben direkte oder indirekte Wirkungen auf den Wirtschaftskreislauf und damit auch auf die Einkommens- und Vermögenslage der Bürger. Diese komplexen Zusammenhänge entziehen sich aber einer allumfassenden Beschreibung und Analyse, da sich einzelne Effekte einer getroffenen Entscheidung für den Einsatz öffentlicher Mittel und gegebenenfalls deshalb notwendige Einsparungen an anderer Stelle auf das Ausmaß an gesellschaftlicher Teilhabe nicht isolieren lassen“ (ebd. 6).
Das hieße, die Frage nach einer ‚gerechten Sozialpolitik’ würde unbeantwortet bleiben müssen und damit auch die Frage, wie der moderne Sozialstaat Deutschland gleiche Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben und auf gerechte Teilhabe schützen und gewährleisten könnte (vgl. oben).

Perspektiven der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung von Kindern
Verzichtet man auf die ‚Isolation einzelner Effekte und Entscheidungen’ und fragt mit den Referenzautoren dieses Artikels nach familien- und sozialpolitischen Traditionen, Leitbildern und Wohlfahrtsmodellen mit denen Strukturen und Folgen von Kinderarmut verbunden sind (vgl. oben), lassen sich idealtypisch drei Perspektiven der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung von Kindern unterscheiden: die Perspektive des ‚Wirtschaftsstandortes’, die ‚familienzentrierte Betroffenenperspektive’ und die Perspektive des ‚Kindesrechts’ (vgl. Butterwege/ Klundt / Zeng 2005, 292). Die hier skizzierten ‚erwerbsarbeitszentrierten’ Entscheidungen entsprechen der Sichtweise des ‚Wirtschaftsstandortes’. Mit Blick auf ‚Wirtschaftsförderung’ wird eine Sozialpolitik der ‚Förderung von Eigenverantwortung’ mit der ‚Forderung von Eigenleistungen’ sowie der Kürzung von ‚Sozialleistungen’ verbunden. Darüber hinaus wird eine Familienpolitik der ‚Geburtenförderung’ favorisiert, die Familien gegenüber Kinderlosen mittels ‚Familienlastenausgleich’ stärkt, zum Beispiel durch die Anhebung von ‚Kinderfreibeträgen bei der Einkommenssteuer’ und ein ‚einkommensunabhängiges Kindergeld’ (aber nur für Eltern, die für sich und ihre Kinder keine Leistungen zur Grundsicherung beanspruchen). ‚Wirtschaft- und Geburtenförderung’ verspricht die Umwandlung des ‚Erziehungsgeldes’ in ein ausschließlich Erwerbseinkommen ausgleichendes ‚Elterngeld’. Diese Entscheidungen benachteiligen sowohl Nichterwerbstätige als auch Erwerbstätige mit geringem Einkommen sowie deren Familien und ‚konterkarieren Bemühungen um Armutsbekämpfung’ (vgl. ebd. 95).
Eine sozial- und familienpolitische ‚Betroffenenperspektive’ müsste den ‚strukturellen Benachteiligungen’ – welche durch die ‚Lage auf dem Arbeitsmarkt’ bedingt sind – begegnen, indem sie ‚unzureichender materieller Existenzsicherung’ ebenso entgegenwirkt, wie den ‚Schwierigkeiten von Familien für sich und ihre Kinder eine positive Zukunftsperspektive zu entwickeln’ (vgl. oben). Die Ziele einer solchen Blickrichtung wären in einer ‚gerechten Verteilungspolitik’ zu suchen, einer Verbesserung der Lebensbedingungen von Kindern und einer ‚Gleichstellung’ aller Erwerbsfähigen bei der ‚Arbeitsmarktpartizipation’ (vgl. ebd., 295). Für eine ‚gerechte Verteilung’ bedürfte es anstelle von ‚arbeitsverpflichtenden und bedürftigkeitsabhängigen Sozialleistungen’ (vgl. oben) eines ‚nicht-diskriminierenden und nicht-stigmatisierenden Transfersystems’ (vgl. ebd., 297), etwa im Sinne eines ‚bedingungslosen Grundeinkommens’ (vgl. Werner/ Goehler 2010). Eine familienabhängige Verbesserung der Lebensbedingungen von Kindern ließe sich durch eine „Neuordnung des ‚Familienlastenausgleichs durch Orientierung von Transferleistungen und strukturellen Freistellungen am soziokulturellen Mindestbedarf der Kinder“ (vgl. Butterwege/ Klundt / Zeng 2005, 297) erreichen. Dem entspricht der Vorschlag einer ‚Kindergrundsicherung’, „die allen Kindern das sächliche Existenzminimum in Höhe von 322 Euro als unbürokratische Leistung garantiert [...] und einen weiteren Betrag von 180 Euro [...] für Betreuung, Erziehung und Ausbildung“ (Bündnis Kindersicherung 2009, 2). Anstelle der Geldleistungen an Familien favorisieren die Bündnispartner jedoch eine ‚gebührenfreie Absicherung sämtlicher Leistungen für Bildung, Betreuung und Erziehung’ durch den Staat (vgl. ebd.). Vor dem Hintergrund eines solchen Expertenvorschlages erscheinen die derzeit diskutierten Vorstellungen der Bundesregierung zur Bildungsförderung mit individuell zu beantragenden 250€ jährlich für eintägige Schulausflüge, Lernförderung, Mitgliedsbeiträge für Sportvereine, Musikunterricht und ähnliches der Problematik Kinderarmut unangemessen. Kritiker verweisen zudem auf die anhaltenden massiven Kürzungen der Budgets der Kinder- und Jugendhilfe und den damit verbundenen Rückgang qualifizierter kommunaler pädagogischer und sozialarbeiterischer Angebote. Quantitativ ausreichende und qualitativ hochwertige Betreuungs-, Erziehungs- und Bildungsangebote wären jedoch – neben hinreichend vorhandener, mindestlohnfinanzierter und zeitflexibler Erwerbsarbeit – Grundbedingungen sowohl für eine gleichgestellte Arbeitsmarktpartizipation wie für die Realisierung familienunabhängiger Kinderrechte. Die Idee eines familiengerechten Umbaus des Sozialstaates durch die Vergütung von Eltern- bzw. Erziehungsarbeit (vgl. Butterwege/ Klundt / Zeng 2005, 290) wird jedoch auch heftig kritisiert, zum Beispiel aus der Gender Perspektive, mit dem Argument einer möglichen dauerhaften Verdrängung des betreuenden Elternteils vom Arbeitsmarkt.
[Randbemerkung 3: Bei dieser Kritik bleibt die ‚Arbeitsmarktlage’ unberücksichtigt. Mit dem Vermerk, dass sich „hohe Erwerbsquoten und hohe Arbeitslosenquoten“ (Vogel 2008, 156) einander nicht ausschließen, verdeutlicht Berthold Vogel die Problematik dieser Perspektive: „Erwerbsarbeit hat – im Vergleich zu anderen Arbeiten und Tätigkeiten, die nicht entlohnt werden – ein nie gekanntes Prestige erlangt“ (ebd.). Nach Rolf G. Heinze und Claus Offe haben gerade die offenen Diskussionen über Begriffe von Arbeit „Anhaltspunkte dafür herausgearbeitet, dass die zentrale Stellung der förmlichen Erwerbsarbeit in der Lebensweise, der Sozialstruktur und der Konfliktdynamik fortgeschrittener Industriegesellschaften durchaus fragwürdig geworden sind“ (Heinze/ Offe 1990, 7). Sie schlagen deshalb vor, mit einem erweiterten Arbeitsbegriff zu operieren, der anzuwenden wäre: „wenn eine Tätigkeit durch ein vorbedachtes und nicht nur von dem Arbeitenden selbst, sondern auch von anderen als nützlich bewertetes Ziel geleitet wird, und wenn die Anstrengungen, die auf dieses Ziel gerichtet sind, zu diesem in einem vernünftigen Verhältnis der Effizienz bzw. der technischen Produktivität stehen“ (Offe/ Heinze 1990: 105). In diesem Zusammenhang charakterisieren sie ‚Haushaltsarbeit im Familienverband’ als eine der „Formen nicht-marktfähiger Arbeit“ (ebd. 107) bzw. Eigenarbeit mit zumindest teilweise „nicht-monetären Tauschsystemen“ (ebd. 109).]
Eine andere Kritik verbindet sich mit der Perspektive ‚Kinderechte’, aus welcher die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung wesentlich als strukturelle Prävention thematisiert wird. Dabei geht es um „Armutsverhinderung durch Gesellschaftsveränderung“ (Butterwege, Klundt, Zeng 2005), konkret um die Gestaltung sozialräumlicher Strukturen durch kommunale Sozialpolitik (vgl. ebd., 303), den Ausbau kommunaler Infrastrukturangebote für benachteiligte Kinder, Jugendliche und Familien als Regelleistung (ebd., 312), die Verbesserung der Rechtsposition von Kindern und deren institutionelle Verankerung (vgl. ebd., 301), unentgeltliche flächendeckende Angebote im Elementarbereich mit hoher pädagogischer Qualität (vgl. ebd., 309), Ganztags- als Regelschulen (vgl. ebd.), eine Bildungspolitik, die weniger auf Selektion ausgerichtet ist (vgl. ebd., 310) und nicht zuletzt um den Umgang von Medien und Öffentlichkeit mit dem Thema Kinderarmut (vgl. ebd. 314). Wir wollen uns an dieser Stelle den sozialräumlichen und rechtlichen Aspekten zuwenden. Fragen der Bildungspolitik widmen wir uns im letzten Kapitel.

Sozialräumliche und rechtliche Aspekte der Bekämpfung von Kinderarmut
Grundlage für ‚sozialräumliche’ Aspekte aus der Perspektive ‚Kinderechte’ ist die Aufmerksamkeit für eine kindertypische ‚strukturelle Armut’, die relativ unabhängig von der ökonomischen Lage der Eltern zu beschreiben ist. Gerhard Beisenherz schlägt für Analysen der Lebenssituation von Kindern „unter den Bedingungen von Armut im Reichtum“ vor, neben soziodemographischen Daten und Dimensionen familiärer Lebenswelt folgende sozialstrukturelle Beschreibungskriterien zu untersuchen: den Versorgungsgrad mit Betreuungs- und Bildungseinrichtungen, Gruppengrößen in Einrichtungen, Platz, Freiflächen, Ausstattung; Präventions- und Interventionsangebote zur Verbesserung des Gesundheitszustandes, und der ernährungsphysiologischen Situation; schulische und kulturelle und Bildungsangebote im Quartier; Möglichkeiten der Nutzung von Verkehrsflächen für Kinder, öffentliche Sicherheit; die Erreichbarkeit, Größe und Qualität z.B. von Spiel- und Sportplätzen, Schwimmbädern;  die Kostenstruktur kinderspezifischer kultureller Angebote; die Nutzung von Bewegungs- und Kommunikationsmöglichkeiten und die Preisstruktur kindertypischer Gebrauchswaren (vgl. Beisenherz 2002,  342f). Auf solche Aspekte kindertypischer ‚struktureller’ Armut verweist auch bereits der Zehnte Kinder- und Jugendbericht.
„Kinderarmut kann auch relativ unabhängig von der ökonomischen Lage der Eltern entstehen, wenn die Einrichtungen, auf die eine zufrieden stellende und förderliche Kindheit unter den heutigen Lebensverhältnissen angewiesen ist, nicht vorhanden, aus sozialräumlichen oder finanziellen Gründen nicht erreichbar oder von geringer Qualität sind. [...] Zwar gibt es für derartige Beeinträchtigungen des Kinderlebens kein anerkanntes Armutsmaß. Dennoch sollte die Lebensqualität einer Umwelt aus der Sicht des Kindes als kindertypische ‚strukturelle Armut’ in die Diskussion einbezogen werden.“  (BM für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 1998,  88f)
In der Sozialpolitik wird das Thema der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung mit Blick auf ‚Kinderrechte’ selten kritisch thematisiert, wohl aber in der sozialpolitisch orientierten Forschung. Margaritha Zander z.B. fordert mit Verweis auf die UN-Kinderrechtskonvention die Umsetzung des bürgerlichen Rechtsstatus von Kindern. Sie kommt in ihrer Analyse von Kinderarmut und Existenzsicherung im Sozialstaat (vgl. Zander 2000, 89ff) zu einem Plädoyer für eine kindorientierte Sozialpolitik (vgl. ebd. 101) im Anschluss an Johanna Mierendorff und Thomas Olk.
„Zum einen soll Kindheit als strukturell eigenständige Lebensphase bei der sozialpolitischen Gestaltung von Leistungen Berücksichtigung finden und der Bürgerstatus von Kindern gestärkt werden. Zum anderen sollen neue Verteilungsrelationen zwischen der nachwachsenden, der mittleren und der älteren Generation gestärkt werden“ (ebd.).

Mit den aufgerufenen Forderungen der Stärkung der sozialstrukturellen und sozialpolitischen Position ließe sich Armut und soziale Ausgrenzung von Kindern von der engen Bindung an die Familie entkoppeln. Das gilt ebenso für die – nicht nur von den Bündnispartnern ‚Kindergrundsicherung’ – geforderte gebührenfreie Absicherung sämtlicher Leistungen für Bildung, Betreuung und Erziehung durch den Staat (vgl. oben). Damit ließe sich zugleich ein wesentlicher Beitrag gegen den engen Zusammenhang von familiärer Herkunft und Bildungsbenachteiligung leisten. Dass diese Verbindung in Deutschland – trotz aller Mahnungen und Bemühungen – sehr eng ist, wurde oft und umfänglich thematisiert.
Im folgenden Kapitel möchten wir uns der Problematik des Zusammenhangs von familiärer Herkunft und Bildungsbenachteiligung mit Blick auf primäre und sekundäre Herkunftseffekte zuwenden. In diesem Kontext diskutieren wir Lernbehinderungen als sekundäre Herkunftseffekte. Aus dieser Perspektive wird die Struktur von Förderschulen als kontraproduktive Infrastruktur für die Bekämpfung von familiärer Armut und Bildungsbenachteiligung charakterisiert.

3. Kinderarmut als Bildungsbenachteiligung

Ebenso wie die Lebenssituation der Kinder von vielen Bedingungen beeinflusst wird, hat sie ihrerseits vielfältige Auswirkungen auf Lebenschancen, Partizipationsmöglichkeiten, Wohlbefinden und Stigmatisierungen (vgl. Butterwege/ Klundt, Zeng 2005, 58). Wir wollen uns nachfolgend auf nur einen von vielen Aspekten der Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben und auf gerechte Teilhabe konzentrieren, auf die schulische Bildung. Formale Bildung kann als ein wesentlicher „sozialer Faktor mit Inklusions- und Exklusionspotentialen“ (Hillmert 2009, 85) angesehen werden. Ihr werden breite soziale Inklusionswirkungen zugeschrieben, in denen sich individuelle und soziale Konsequenzen verbinden (vgl. ebd.). Demnach erhöhen ‚Bildungsdefizite’ die ‚Exklusionsgefahr’ zunehmend, weil ein formalisierter Bildungsabschluss immer stärker „als eine notwendige Basis für eine erfolgreiche Lebensgestaltung“ (ebd. 86) gilt. Der siebte Familienbericht der Bundesregierung hebt die Bedeutung der Herkunftsfamilie für schulische Bildung hervor.
„Ein besonders großer und bedeutender Zusammenhang zwischen Generationenbeziehungen und sozialer Ungleichheit existiert bei Schulwahl und Schulerfolg der Kinder“  (BM für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2006, 163)
Herkunftsbedingte soziale Ungleichheiten beim Bildungszugang lassen sich mit ‚primären und sekundären Herkunftseffekten’ erklären (vgl. Hillmert 2009, 92). Letztere kennzeichnen eine aktive Rolle des Bildungssystems bei der ungleichen Verteilung von  Bildungschancen (vgl. unten). Wir wenden uns zunächst ‚primären Herkunftseffekten’ von Bildungsbenachteiligungen zu. Steffen Hillmert versteht darunter ungünstigere Förderumgebungen durch geringere familiäre Ressourcen und höhere relative Kosten der Bildungsteilnahme (vgl. ebd.). Familiebezogen ließen sich Bildungsbenachteiligungen durch den Zusammenhang von Einkommens- sowie Bildungsniveau der Eltern und den Bildungsabschlüssen der Kinder untersuchen (vgl. ebd., 91). Im siebten Familienbericht wurden beide Ressourcen in ihrer Bedeutung für den Zusammenhang von Generationenbeziehungen und sozialer Ungleichheit herausgestellt. Allerdings wurde die Ressource formale Bildung der Eltern weniger bedeutsam genannt, als die monetäre Ressource Einkommen (vgl. BM für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2006, 163). Dabei bildet ein doppelter Zusammenhang von Bildungsbenachteiligung und Armut die Grundlage der Diskussion. Zum einen „werden durch familiäre Armut die Möglichkeiten der Aneignung von kulturellem und sozialem Kapital vermindert“ Chassé/ Zander/ Rasch (2005, 320). Zum anderen lässt sich zeigen, „dass sich mit schulischer Bildung das Armutsrisiko verringert“ (Neumann 1999, 65). Udo Neumann hat empirisch belegt, dass „Personen ohne Schulabschluss (22,4%)“ (ebd. 64) das höchste Armutsrisiko und „Personen mit Mittlerer Reife oder höheren Abschlüssen [...] mit 5,95 und 7,2% die geringsten Armutsrisiken“ (ebd. 65) tragen.
Auch die so genannte ‚AWO-ISS-Studie – Lebenslagen und Lebenschancen von (armen) Kindern und Jugendlichen’ des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik im Auftrag des Bundesverbandes der Arbeiterwohlfahrt (vgl. Hock/ Holz/ Wüstendörfer 2000) ist „Fragen nach der Bedeutung und den Folgen von Armut bei Kindern und Jugendlichen nachgegangen“ (Holz 2007, 27). Auf der Basis einer „Klientendatenerhebung zu rund 900 sechsjährigen Kindern im Jahre 1999“ (ebd. 30) kennzeichneten Gerda Holz und ihr Team familiäre Armut – ein Einkommen der Familie des Kindes bei maximal 50 Prozent des deutschen Durchschnittseinkommens – als zentralen prägenden Faktor der kindlichen Lebenssituation. Zugleich verwiesen sie neben dem Einfluss eines möglichst frühzeitigen und kontinuierlichen Besuchs einer Kindertageseinrichtung (vgl. ebd., 33) verbandlicher Kinder- und Jugendhilfe (vgl. ebd. 34) und den „großen gesellschaftlichen Ursachen“ (ebd. 35) auf die Bedeutung der „sozialen und kulturellen Ressourcen der Eltern“ (ebd. 32).
 „Einen positiven Einfluss haben vor allem folgende Punkte: regelmäßige gemeinsame Aktivitäten in der Familie, gutes Familienklima (keine dauernden Streitigkeiten), Deutschkenntnisse mindestens eines Elternteils (bei Migrantenkindern), keine Überschuldung, keine beengten Wohnverhältnisse. Besonders die ersten beiden Punkte verweisen auf die Bedeutung der ‚Leistung’ derjenigen Eltern, denen es trotz schwieriger materieller Verhältnisse gelingt, die Entwicklung ihrer Kinder zu fördern“ (ebd.).
Diesen Befunden und den vielen praktischen Erfahrungen pädagogischer Arbeit mit dem Ziel der Teilhabe und sozialen Integration’(vgl. Boeckh/ Stallmann 2007) kann das Bundesministerium für Arbeit und Soziales in seinen Strategien zur Umsetzung des Europäischen Jahres 2010 gegen Armut und soziale Ausgrenzung folgen, wenn „der Abbau von Arbeitslosigkeit und bessere Bildungschancen [...] unabhängig von der sozialen und ethnischen Herkunft“ (BM für Arbeit und Soziales 2009, 4) als zentrale gesellschaftspolitische Herausforderungen auch für die Verbesserung der Entwicklungschancen (vgl. ebd., 8) angegeben werden.
„Um Kinder vor Armutsrisiken zu schützen, ihre soziale Integration zu sichern und die soziale ‚Vererbung’ von Armut zu durchbrechen, müssen niedrigschwellige und zugängliche Maßnahmen vor allem im sozialen Umfeld und bei der Infrastruktur ansetzen. Eltern muss Beratung und Unterstützung angeboten und Kinder müssen in qualitativ hochwertigen Bildungsangeboten so früh wie möglich individuell und altersentsprechend gefördert werden“ (ebd.).
Das explizit benannte Ziel ist es, „individuelle und gesellschaftliche Benachteiligungen aus[zu]gleichen“ (ebd.). Dafür sollen frühe Hilfen zur Unterstützung der elterlichen Erziehungskompetenzen bereitgehalten werden. „Schulergänzende Hilfen, bildungsbegleitende Sprachförderung, Gesundheitsförderung in Kindertagesstätten, Schulen, Jugendheimen und Stadtteilen“ (ebd.) sollen genauso angeboten werden wie niedrigschwellige Sport-, Kultur-, Freizeit- und Engagementangebote sowie „integrative Bildungs-, Erziehungs-, Betreuungsangebote sowie Freizeitangebote“ (ebd.) unter Berücksichtigung spezifischer Problemlagen der Kinder mit Migrationshintergrund (vgl. ebd.).
Wenn in der Analyse deutscher Sozialproblematik unsere Gesellschaft als eine ‚mit begrenzter Haftung’ charakterisiert wird (vgl. Schultheis/ Schulz 2005) und nach ‚Weichenstellungen’ gefragt wird, rücken die Themen Familie und Bildung in einem anderen Zusammenhang (vgl. ebd., 269). Auf der einen Seite lässt sich eine „unzureichende kulturelle Durchsetzung“ (ebd. 270) der rechtlichen Gleichstellung beobachten – von Frau und Mann auf dem Arbeitsmarkt wie in Familien, von nichtehelichen und gleichgeschlechtlichen Gemeinschaften, von ‚ehelichen’ und ‚nicht-ehelichen’ Kindern – mit Folgen für eine „strukturbildende Kraft der Herkunftsfamilien“ (ebd.). Auf der anderen Seite kann man verschenkte professionelle Erziehungsmöglichkeiten und Chancen der Integration (vgl. ebd.) wahrnehmen, weil sozial-, familien- und bildungspolitische Maßnahmen ‚punktuell und aktionistisch’ erscheinen können, wenn ‚wesentliche Elemente der Vergesellschaftung im Privaten’ bleiben (vgl. ebd.).

Zur Bedeutung von Familien bei der ungleichen Verteilung von Bildungschancen
In der Fokussierung der Bildungsbenachteiligung auf soziodemographische Daten und Dimensionen familiärer Lebenswelt mit Etiketten wie „unterprivilegiert“ oder „bildungsungewohnt“ und ohne die Berücksichtigung wesentlicher Dimensionen der Sozialstruktur werden strukturelle Ungleichheiten im Bildungssystem mit „Begabungs- und Leistungsideologien“ (ebd. 272) verschleiert. Dabei finden soziale Milieus mit differenten Lebensansichten, Lebensstilen und auch Bildungsbegriffen sehr unterschiedliche Anerkennung bzw. Ablehnung (vgl. ebd., 273). Franz Schultheis und Kristina Schulz fordern dagegen die Auseinandersetzung mit der „Verschiedenartigkeit im Bildungsverständnis, [...] Techniken und Bildungsstrategien“ (Schultheis/ Schulz 2005, 274), die unterschiedlichsten Milieus entgegenkommen.
Wir haben bereits eingangs darauf hingewiesen, dass man grundlegende sozialrechtliche Entscheidungen unter den vorgeschlagenen Aktionen gegen Armut und soziale Ausgrenzung im Europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung vergebens sucht (vgl. oben). Das erscheint insbesondere vor dem Hintergrund des aufgerufenen Zusammenhangs von familiärer Herkunft, Kinderarmut und Bildungsbenachteiligung problematisch und umso unverständlicher, als der siebte Familienbericht diesbezügliche Analysen und Anregungen enthält. Im Anschluss an eine qualitative Studie von Uta Meier, Heide Preuße und Eva-Maria Sunnus veröffentlicht unter dem Titel ‚Steckbriefe von Armut. Haushalte in prekären Lebenslagen’ wurden – differenziert nach einer so genannten ‚Haushaltsbezogenen Armutstypologie’ – Empfehlungen sowohl zur Infrastruktur im sozialen Umfeld als auch zu einer ‚gerechten Sozialpolitik’ ausgesprochen (vgl. Meier/ Preuße, Sunnus 2003; Meier-Gräwe 2006 und BM für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2006, 169ff). Eingegrenzt auf den Anspruch ‚Bildungsbenachteiligungen auszugleichen’ wollen wir diesen Analysen und Empfehlungen hier Raum geben. Ausgangspunkt der Studie und der sich anschließenden Empfehlungen ist die Wahrnehmung, dass Armut, auch unter dem Aspekt des Familienbezugs viele Gesichter hat.
Die Familien, die am ehesten ins Blickfeld rücken, wenn Kinderarmut medienpolitisch unter dem Stigma ‚Soziale Vererbung’ (vgl. BM für Arbeit und Soziales 2009, 8) skandalisiert wird, werden im siebten Familienbericht „die verwalteten Armen“ (BM für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2006, 169) genannt, mit vielfältigen und langjährigen Erfahrungen und Routinen „im Umgang mit Armut, aber auch mit den Behörden und Institutionen, die – verwaltungstechnisch gesehen – für diverse Probleme von verstetigter Armut zuständig sind“ (ebd.). Die Armut dieser Familien wird als ‚generationsübergreifende’ charakterisiert. Die in den Blick genommenen Eltern werden als Menschen mit ‚vergleichsweise niedrigen Alltagskompetenzen’, ‚eher geringer Erwerbsorientierung’ und ‚entgleitenden Zeitstrukturen’ vorgestellt.
Auf diesen ‚haushaltbezogenen Armutstyp’ könnte man bei den sieben Schülerinnen und Schülen, die wir hier konkret im Blick haben, nur aus Jessicas Erzählungen schließen: „Ich hab mit meiner Mama am Wochenende unseren Wochenendtag. Und da gucken wir abends immer zusammen Fernsehen und essen Chips und so. [...] Mein Vater hockt nämlich Tag und Nacht am Computer. Ballerspiel spielen [...] Und so geht es den ganzen Tag. [...] Er steht mittags auf, isst Mittag. Dann so zwei Stunden später setzt er sich dann an den Computer und bleibt bis morgens um fünf am Computer sitzen, die ganze Nacht durch. [...] Wenn ich bei meiner Tante schlafe, da gibt es morgens immer was zu essen. Das gibt es nicht, dass es dort nichts zu essen gibt, nur bei uns gibt es das“.
Bezogen auf die schulische Bildung der Kinder wird den so beschriebenen Familien der ‚gute Wille’ nicht abgesprochen, aber mit dem Verweis auf eigene problematische Schul- und Ausbildungskarrieren ‚Hilflosigkeit’ attestiert (vgl. ebd.). Auch darauf findet sich ein Hinweis in Jessicas Geschichte. Sie erzählt von ihren Schwierigkeiten mit den Hausaufgaben: „Dann geh ich rauf, entweder zu meinem Vater oder zu meiner Mutter und die versuchen mir halt zu helfen. Und wenn die es dann nicht können, dann lass ich die Hausaufgaben einfach weg“.  
An die oben skizzierte Diagnose schließen sich Empfehlungen für effektive Prävention von und Intervention bei Kindesvernachlässigungen, eine „sensible Kinder- und Jugendarbeit, „gezielte Frühförderung“ sowie „verlässliche Begleitung und Unterstützung [...] in der Schulzeit bis hin zu einem gelingenden Schulabschluss“ an (ebd.). Angemahnt wird ein „keineswegs gedeckter Handlungsbedarf im Bereich der systematischen Armutsprävention, um diese Kinder vor dauerhaften und massiven Benachteiligungen in den Bereichen Wohnen, Bildung und Gesundheit zu schützen“ (ebd.). Jessica scheint sich selbst jedoch weniger durch ihre Familie ausgegrenzt zu erleben, als vielmehr durch ihren Status als Förderschülerin (vgl. oben).
Die Kinder und Jugendlichen, die hier zu Wort kommen, wurden nicht nach familiärer Armut, sondern nach ihrem Leben und Lernen in der Schule befragt. Das was sie aus ihrem außerschulischen Leben erzählen, setzen sie in Bezug oder Kontrast dazu. Dario und Mirko, die noch drei kleine Geschwister haben, erzählen nicht viel über die Lebenssituation ihrer Familie, wohl aber von Selbstständigkeit, Zutrauen und Unterstützung. Mirko berichtet: „In meinem Zimmer muss ich immer aufräumen. [...] Manchmal brauche ich Hilfe, wenn die Hausaufgaben ein bisschen schwer sind. [Dann hilft] die Mama oder der Bruder“. Wenn Dario erzählt, kann man erfahren, wie wichtig ihm Kochen und Essen sind: „Wenn ich und Mirko zu Hause sind und einkaufen gehen, weil wir sind jetzt schon groß geworden, dann machen wir manchmal Makkaroni oder Eier. [...] Meine Mama hat nie Angst, weil ich immer gut kochen kann“. Dario hat morgens immer Hunger, wenn er in die Schule kommt.
Niklas erzählt zunächst, dass er jeden Tag bei seinem Nachbarn ist. Bei ihm lernt er das, was er gern möchte und was für ihn ganz selbstverständlich zu sein scheint: „Mein Nachbar, der ist ja schon älter, und der muss immer Holz aufsetzen und so. Der hat ein Bulldog. [...] Der zeigt mir, wie man Bulldog fährt. [...] Gestern haben wir eigentlich gar nichts gemacht, nur Rasen gemäht“. Und ebenso selbstredend zählt Niklas auf, was er mit seinen beiden Brüdern und den Eltern unternimmt (vgl. oben): „Wir gehen in den Zoo oder in die Experimenta oder so. Viele Sachen. [...] Ich geh auch ins Reitlager in den Sommerferien. [...] Bei meiner Oma sind wir auf Ponys geritten. [...] Fast jede Sommerferien gehen wir nach Ungarn“. Nur die Schule hat Niklas nicht so gern, da braucht er viel familiäre Unterstützung: „Wenn ich was nicht kann, dann hilft sie [die Mama] mir“.
Michaelas Eltern sind geschieden. Der Freund der Mutter wohnt in einer anderen Stadt, aber wenn die Mutter ihn besucht, ist Michaela nicht allein, „Wenn man bei uns die Tür rausgeht, geht da noch ein Weg rüber zu meiner Tante“. Und nicht nur das. „Oma und Opa [wohnen] unten drin [im Haus]“. Michaela ist darüber froh, aber sie erklärt auch, welche Probleme ihr die unterschiedlichen Lebensvorstellungen bereiten: „Bei denen muss es ganz akkurat sein. [...] Ach, die sagt immer, dass ich es falsch mache.“
Nele lebt räumlich und finanziell in ziemlich beengten Verhältnissen. „Meine Schwester schläft bei mir im Zimmer [...] weil wir müssen erst mein Bruder sein Zimmer ausräumen“. Sie macht ihr Hausaufgaben auf der Küchencouch (vgl. oben). Aber das eine scheint eine vorübergehende Situation, das andere müsste nicht sein, wenn Nele ihren Schreibtisch aufräumen würde. Und Nele weiß sich bezüglich ihrer finanziellen Spielräume zu helfen: „Ich arbeite doch manchmal auf dem Markt beim Eierfritzen, aber nur wenn ich Lust habe“.
Danielas Vater arbeitet viel: „Mein Vater der schläft immer, weil der schafft von sieben Uhr abends bis sieben Uhr morgens. [...] Und meine Mutter arbeitet auch, mittwochs und freitags“. So hat die Mutter Zeit für die Kinder, zum Beispiel fürs gemeinsame Kochen: „Teig mit Fleisch, also so türkisch. Ich hab’s auch mal mit in die Schule genommen [...] beim Fasching“. Und Daniela hat die Familie ihrer Mutter: „Zum Beispiel meine Mutter seinen kleinen Bruder. [...] Letztes Wochenende waren wir zum Beispiel angeln. Haben zwei Tage im Zelt geschlafen. Und abends saßen wir vor dem Feuer. Das macht schon Spaß. [...]  Meine Tante, mein Onkel, meine zwei kleinen Cousins, ich. Und von meiner Tante die Familie. Die nehmen mich überall mit. [...] Ich bin fast den ganzen Tag dort“. Für Daniela ist die Hilfe in der Familie selbstverständlich: „Und wenn ich auch kauf, teil ich auch immer mit meine Geschwister“.
Wir wissen nicht, welchem ‚haushaltbezogenen Armutstyp’ die Familien dieser Kinder und Jugendlichen zuzuordnen wären. Uta Meier, Heide Preuße und Eva-Maria Sunnus bezeichnen Eltern mit ‚überproportionalen Arbeitsbelastungen im Familien- und Berufsalltag“, aber ohne ein „Einkommen oberhalb des sozio-kulturellen Existenzminimums“ als „erschöpfte Einzelkämpferinnen und Einzelkämpfer“ (ebd. 170). Mit Blick auf diese Familien wird der siebte Familienbericht konkret. Gefordert wird zum einen ein gerechter Familienlastenausgleich bzw. eine ‚Kindergrundsicherung’ (vgl. ebd.) und zum anderen Informationsbedarf über und Zugänglichkeit zu ambulanten passgenauen institutionelle Hilfen „unter Einschluss verlässlicher und qualitativ hochwertiger Angebote zur Kinderbetreuung für alle Altersgruppen“ (ebd.).
Eher auf die eigenen Ressourcen und Handlungsoptionen wird bei den anderen beiden herausgearbeiteten Typen familiärer Armut gesetzt. Für Eltern, die ihre Kinder als „ambivalente Jongleurrinnen und Jongleure“ durch hohe Kredite und andere langfristige Entscheidungen in prekären Lebensverhältnissen gefährden, sollen Barrieren gegen Risiken erhöht werden (vgl. ebd. 171). Die „vernetzten Aktiven“ unter den Eltern unterscheiden sich laut Typcharakteristik von den ‚erschöpften Einzelkämpferinnen und Einzelkämpfern’ sowohl durch ihre „Fähigkeit institutionelle Hilfen selbstbewusst und aktiv in ihren Alltag zu integrieren“ (ebd. 171) als auch durch die Einbindung in ein „unterstützendes familiäres Netzwerk“ (ebd.). Die empfohlenen Hilfen zur Armutsbekämpfung gleichen sich für beide Typen, hier ergänzt um den Verweis auf einen Abgleich mit den Eigeninitiativen der Eltern.
Solche Potentiale und Eigeninitiativen finden sich – mit Ausnahme von Jessica – in allen Erzählungen der befragten Kinder und Jugendlichen. Michaela und Daniela betonen die Bedeutung der verwandtschaftlichen Netzwerke für ihren Lebensalltag. Wenn Niklas erzählt, sind seine Eltern und die Familie der Eltern nicht alltagspräsent, aber sie ermöglichen besondere Erlebnisse und Lernanregungen. Die besondere Qualität seiner Alltagserfahrungen verbindet Niklas mit der intensiven Beziehung zum Nachbarn. Karl August Chassé, Margaritha Zander und Konstanze Rasch haben in ihrer Studie ‚Meine Familie ist arm‘ „eine breite Palette von Hilfs- und Unterstützungsfunktionen“ (Chassé/ Zander/ Rasch 2005, 168) durch verwandtschaftliche und informelle Netzwerke beschrieben, „die den Kindern zumindest teilweise einen Ausgleich für Einschränkungen in der Familie“ (ebd.) bieten kann und sich zudem „gegenüber professionellen Hilfen und Dienstleistungen durch ihre Ganzheitlichkeit und Multifunktionalität“ (ebd.) auszeichnet.
Dario, Mirko und Nele erwecken den Eindruck, sie nutzen Handlungsspielräume ihrer Lebenssituation kreativ. Nele ‚reagiert aktiv auf ihre materielle Mangellage (vgl. ebd. 259), indem sie – wenn sie Lust hat – auf dem Markt arbeitet. So konnte sie sich das Geld für ein Einrad ersparen. Dario und Mirko erschließen sich – gestärkt durch das Zutrauen der Mutter – selbstständig und selbstbewusst die Ressourcen ihrer Lebenswelt. Auffällig ist, dass Gleichaltrigenkontakte in der Nachbarschaft zwar benannt, aber kaum ausgeführt werden. Es wäre nachzufragen, inwieweit die Institution Förderschule behindernden Einfluss auf die nachbarschaftlichen Freundschaften der Kinder und Jugendlichen hat und damit auch auf eine spezifische Ressource, „die ihnen bei der Bewältigung ihres Alltags und insbesondere angesichts der materiellen Einschränkungen ihrer Familien […] emotionale Unterstützung bieten und eine gewisse Unabhängigkeit von der Familie ermöglichen“ (ebd. 170) könnte.
In ihrer Expertise im Auftrag der Bertelsmannstiftung kennzeichnet Uta Meier-Gräwe herkunftsunabhängige Bildungsgerechtigkeit für alle Kinder als zukunftsweisende Aufgabe einer vorsorgenden Gesellschaftspolitik. Zusammenfassend plädiert sie für einen von Familien entkoppelten ‚Ausgleich’ von Bildungsbenachteiligungen.
 „Kinder, die unter Bedingungen von Armut oder prekärem Wohlstand aufwachsen, brauchen vielfältige Bildungsangebote und Anregungen jenseits ihrer Herkunftsfamilien. Sie benötigen Bildungsinstitutionen, die sie viel früher als bisher individuell und ganzheitlich fördern sowie Unterschiede beim Erwerb von Bildung abbauen. [...] Ein deutlich höherer Stellenwert muss vor allem die verstärkte individuelle Förderung und Begleitung in Primar- und Sekundarstufe erhalten. Gleichermaßen wichtig ist es, auf eine viel zu frühe Selektion in verschiedene Schulformen und auf das Wiederholen von Klassenstufen zu verzichten“ (Meier-Gräwe 2006, 22f).

Zur Bedeutung des Bildungssystems bei der Behinderung von Bildungschancen
Stattdessen lässt sich bei der Betrachtung der ungleichen Verteilung von  Bildungschancen eine aktive Rolle des Bildungssystems beobachten mit vielfältigen ‚sekundären Herkunftseffekten’ (vgl. Hillmert 2009, 92). Wenn Schulabschlüsse norm- und sozialorientiert Leistungen vergleichen und Zugänge zum Arbeitsmarkt limitieren, sind sie notwendig ungleich verteilt. Dabei wäre allerdings zwischen einer formalen Ungleichverteilung aufgrund von zugeschriebenen Leistungen sowie entsprechenden Zertifizierungen und praktischen Ungleichverteilungen zu unterscheiden. Letztere umfassen sowohl innersystemische Aspekte wie z.B. die Qualität des Unterrichts, Leistungserwartungen, die Schule als Sozialraum und deren Selektionspraxen als auch Aspekte sozialer Ungleichheit wie z.B. die bereits diskutierte familiäre Herkunft. Der sekundäre Zusammenhang von familiärer Herkunft und Bildungsbenachteiligung soll nachfolgend fokussiert auf der Thema ‚Behinderung’ diskutiert werden.
Behinderung ist ein bedeutsamer Gegenstand – vor allem sozialpolitischer und pädagogischer – Diskussionen um soziale Teilhabe und Ausgrenzung. Sozialpolitisch gelten Behinderungen als Exklusionsrisiken und Menschen mit Behinderungen als Bevölkerungsgruppe, die potentiell von gesellschaftlicher Ausgrenzung bedroht ist (vgl. Wansing 2005, 78). Gegenüber den großen Themen der sozialwissenschaftlichen Ungleichheitsforschung – Armut, Arbeitslosigkeit und Migration – lässt sich eine Besonderheit beobachten. Sozialpolitische Leistungen, Versorgungssysteme und Bildungsangebote für Menschen mit Behinderungen haben den Anspruch einen ‚Nachteilsausgleich für gesellschaftliche Teilhabe und Anerkennung’ zu bieten (vgl. Waldschmidt/ Schneider 2007, 9). Pädagogisch legitimierte Förderungen und Therapien sollen sich ebenso für soziale Inklusion und gesellschaftliche Anerkennung einsetzen wie Gefahren von Exklusion erkennen und diesen entgegenwirken (vgl. Dederich 2001, 10).
Die Problemlagen von Menschen – die in unserer Gesellschaft als behindert gelten – scheinen nicht gekennzeichnet durch einen ‚prinzipiellen Mangel an Inklusion’, sondern vielmehr durch ‚Exklusion im Zusammenhang mit bestimmten Formen von Inklusion’ (vgl. Freitag 2007, 261ff). Als eine solche exkludierende Form des Umgangs mit Ungleichheit können Sonderschulen, insbesondere Förderschulen gelten. Die – mit der Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs und die Überweisung in eine Sonderschule verbundene – Zuschreibung von Behinderung als Personenmerkmal, wird im Bildungssystem „mehrheitlich heterogenitätsintolerant behandelt“ (ebd. 75). Jan Weisser folgend kann man mit der Beobachtung, dass Behinderung in „Diskursen der Gesellschaft selten als allgemeines (Un-) Gleichheitsproblem“ (Weisser 2005, 11) zur Sprache kommt, eine Verhinderung der Problematisierung von Behinderungen in Systemen erkennen, die mit eben dieser Zuschreibung von Behinderung als Personenmerkmal einhergeht (vgl. ebd., 74). Um den Zusammenhang von Armut, Behinderung und Bildungsbenachteiligung zu diskutieren, sei hier auf Günther Cloerkes verwiesen.
„Das Risiko behindert zu werden, steigt mit sinkender Sozialschichtzugehörigkeit oder ‚Armut’ und zwar prinzipiell für alle Behinderungsarten.“ (Cloerkes 1997, 66)
Die Berücksichtigung der sozialen Bedingtheit von Behinderung wird verstärkt seit Anfang der 70iger Jahre eingefordert. So belegt Ernst Begemann, dass ein mittelstandsorientiertes Schulsystem, in dem die spezifischen Fähigkeiten und Lebenserfahrungen von ‚Unterschichtkindern’ keine Bedeutung haben, sozio-kulturelle Benachteiligungen und Lernbehinderungen mit verursacht (vgl. Begemann 1970). Verbindungen von Behinderung und sozialer Herkunft stellt Günther Cloerkes im Verweis auf verschiedene empirische Studien im Überblick dar (vgl. Cloerkes 1997, 67ff). Er vermerkt:
„Der Zusammenhang zwischen sozio-ökonomischen Bedingungen und Behinderung ist bei so genannten Lernbehinderten besonders eindrucksvoll nachweisbar“ (ebd, 68).
Für Schülerinnen und Schüler mit Lernbehinderungen benennt Günther Cloerkes die folgenden typischen sozialen Merkmale: Zum einen hält er fest, dass zwar nur 10% aller ‚Unterschichtkinder’ als lernbehindert gelten, aber 90% aller Schülerinnen und Schüler an Schulen für Lernbehinderte bzw. Förderschulen ‚aus unteren Sozialschichten’ stammen und der Anteil an ‚Ausländerkindern’ ständig steigt. Zum anderen legt er dar, dass für die Familien der Schülerinnen und Schüler mit Lernbehinderungen zum einen viele Kinder und zum anderen beengte Wohnverhältnisse in schlechten Wohngegenden typisch sind. Darüber hinaus charakterisiert er die familiäre Sozialisation von Kindern und Jugendlichen mit Lernbehinderungen als „gekennzeichnet durch Normenrigidität (starre Regeln ohne Begründung), mangelnde Zukunftsorientierung (sofortige Bedürfnisbefriedigung) und restringierten [eingeschränkt differenzierten] statt elaborierten [differenzierten] Sprachkode“ (ebd.).
Auf Kritik stoßen solche Analysen des erhöhten Risikos für Beeinträchtigungen und Benachteiligungen durch Zugehörigkeit zu ‚unteren sozialen Schichten’, weil sie einem „diffamierenden Katalog von Negativattributen“ (Eberwein 1996, 51) gleichkommen und weniger von einem Bemühen um ein Verständnis sozialer Benachteiligungen als vielmehr von einer „massive[n] Etikettierung und Stigmatisierung, [...] Arroganz bei der Bewertung subkultureller Lebenswelten und individueller wie sozialer Benachteiligungen“ (ebd.) zeugen.
[Randbemerkung 4: „Als fester Bestandteil in Alltagstheorien über soziale Ungleichheit verbindet sich mit der Kategorisierung von ‚Unterschichtkindern‘ eine niedrige Qualifikation, ein geringes Einkommen und ein niedriges Berufsprestige der Väter. Das damit verbundene Unbehagen ist der normativen Verknüpfung von Sozialstatus und zugeschriebenem Verhalten geschuldet. Die medienpolitische Diskussion um eine ‚Neue Unterschicht‘ wurde im Anschluss an die Studie ‚Gesellschaft im Reformprozess‘ intensiviert, die nicht sozialstrukturanalytisch, vielmehr ‚lager analytisch fundiert war. Die Erhebung der Infratest Sozialforschung Berlin im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, im Februar/März 2006 stellte eine Untersuchung der grundsätzlichen Einstellungen der Bundesdeutschen zu gesellschaftlichen Veränderungsprozessen dar. Erfasst wurden die Wertepräferenzen in der Bevölkerung: Soziale Gerechtigkeit, Solidarität, Eigenverantwortung, Leistungsorientierung. Um zu klaren Aussagen wurden ‚politische Typen‘ nach ihren politischen Wertevorstellungen und Einstellungen zusammengestellt. Mit Blick auf drei bipolare Dimensionen – Libertarismus/Autoritarismus Soziale Gerechtigkeit/Marktfreiheit, religiös/säkulär – wurden folgende ‚politische Typen‘ unterschieden: ‚Leistungsindividualisten, Etablierte Leistungsträger, Kritische Bildungseliten, Engagiertes Bürgertum, Zufriedene Aufsteiger, Bedrohte Arbeitnehmermitte, Selbstgenügsame Traditionalisten, Autoritätsorientierte Geringqualifizierten, Abgehängtes Prekariat‘ (vgl. Müller-Hilmer 2006, 4). Medienpolitisch wurde daraus eine ‚neue Unterschicht‘, wie gehabt mit diffamierenden normativen Verknüpfungen. So berichtete zum Beispiel die Mitteldeutschen Zeitung von einer: „Studie, wonach schon acht Prozent der Gesellschaft zu einer neuen Unterschicht zu rechnen seinen [...]. Dazu zählen der ‚harte Kern’ der Langzeit-Arbeitslosen sowie jene Bevölkerungsgruppen, die als Kleinverdiener jede Hoffnung auf Aufstieg und ein gefestigtes Arbeitsverhältnis verloren hätten. Typisches Kennzeichen der ‚neuen Unterschicht’ sei ein Leben in Resignation und Armut. Viele fühlten sich vom Staat allein gelassen. Emotionale ‚Ventile’ seien Alkoholismus und Ausländerhass“ (MZ vom 16.10.06, 4). Karl August Chassé erklärt diese „Moralisierungen sozialer Ungleichheit“ als Versuch im gesellschaftlichen und politischen Diskurs „die von Abstieg und Deklassierung bedrohten Gruppen der Bevölkerung (und das ist fast die Mehrheit) durch neue Abgrenzungslinien nach unten hegemonial zu integrieren“ (Chassé 2007, 17).
In einer neueren empirische Studie der Universität Würzburg im Jahr 2002/03 zur Lebenssituation von Förderschülerinnen und -schülernwurde nachgewiesen, dass diese zu einem hohen Prozentsatz Bevölkerungsgruppen angehören, die ein erhöhtes Armutsrisiko aufweisen. Deutlich mehr Kinder an Förderschulen wachsen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung ohne Eltern, mit nur einem Elternteil, oder in einer Familie mit drei oder mehr Kindern auf. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund ist an Förderschulen deutlich höher als an Grundschulen oder Gymnasien. Viele Eltern haben keinen oder einen geringeren Schul- und Ausbildungsabschluss. Die Familien von Förderschülerinnen und Förderschülern sind deutlich stärker von Armut und Niedrigeinkommen betroffen als die Gesamtbevölkerung. 58,6% der Familien leben in relativer Armut, das bedeutet hier, dass sie weniger als 50% des durchschnittlichen Nettoäquivalenzeinkommens zu Verfügung haben. In der Gesamtbevölkerung hingegen betrifft dies lediglich 9,1% der Menschen (vgl. Koch 2004, 181ff.).
Förderschulen befinden sich bei dem Thema Kinderarmut in einem unauflöslichen Spannungsfeld. Sie haben den Auftrag, den benachteiligenden Lebensbedingungen denen ihre Schülerinnen und Schüler ausgesetzt sind entgegenwirken. Aber das System der Förderschulen trägt selbst zur „Weitergabe und Erhaltung der Armut“ (Edelstein 2006, 121) bei.
Geht man mit Wolfgang Edelstein davon aus, dass das selektive Schulsystem geradezu die Bildungsarmut fördert und dadurch den Lebensweg der betroffenen Schülerinnen und Schüler bestimmt (vgl. ebd. 128), richtet sich der Blick zunächst auf die Schülerinnen und Schüler. Durch die Förderung in besonderen Schulen mit besonderen pädagogischen Möglichkeiten soll dem besonderen Bildungsanspruch der Kinder und Jugendlichen mit Lernschwierigkeiten entsprochen werden. Darauf scheint Jessica zu vertrauen, wenn sie erklärt: „Ja, ich finde es gut, dass ich in DER Schule bin, dass ich was lernen kann. Und dass ich später mal einen guten Beruf bekomme. [Die Schule] hilft später mal, um in der Welt weiterzukommen, sich irgendwie zu Recht zu finden und es ist gut so, dass es die Schule gibt“. Diese Erklärung liest sich als Widerspruch zu dem Eingangs zitierten Wunsch nach einer anderen Schule: „Ich wünschte, man könnte die Zeit zurück drehen, dass ich hier nicht herkomme“.
Die Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs und die Überweisung in eine Förderschule verweisen auf massive Probleme des in der Schule geforderten formellen Lernens. In einer Arbeitsgesellschaft mit der Maxime ‚Fördern und Fordern’ werden solche Schwierigkeiten üblicherweise als Leistungsversagen der und des Einzelnen bewertet. Eine solche Perspektive ist mit Stigmatisierungen und in Folge häufig mit einem entsprechenden Selbstbild verbunden. Zudem kann das Lernen an einer Sonderschule auch zu einer Ausgrenzung von Förderschülerinnen und Förderschülern aus ihrem Wohn- und Lebensumfeld beitragen und damit gerade nicht zur sozialen Teilhabe.
Zudem stellt sich die Frage nach den Aussichten auf „einen guten Beruf“ nach Schulabschluss. Thematisiert man den Zusammenhang von Bildungsbenachteiligung und Ausgrenzung aus dem Arbeitsmarkt wird man daran erinnert, dass die meisten Absolventinnen und Absolventen die Förderschule ohne einen qualifizierten Bildungsabschluss verlassen. Auch der möglicherweise zu erreichende Hauptschulabschluss bietet geringe Chancen auf dem aktuellen Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Jugendliche, die als lernbehindert gelten, finden sich häufig in berufsvorbereitenden Schulen und Bildungsmaßnahmen sowie in Sondermaßnahmen der Berufsausbildung wieder, wie sie Berufsbildungswerke (BBW) darstellen.
Jessica hat erfolgreich in der Schule gelernt. Aber ihr Erfolg zählt an der erste Schwelle des Übergangs von der Schule zum Arbeitsmarkt nicht, um einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Sie erzählt was ihr jetzt wichtig ist: „dass ich wenn ich jetzt raus komme aus der Schule, viel gelernt habe. Und wenn ich dann jetzt ins BBW gehe, dass ich da auch noch viel mehr lerne.“
In Berufsbildungswerken werden Jugendliche „unter Berücksichtigung ihrer individuellen Behinderung in anerkannten Ausbildungsberufen oder besonderen Ausbildungsgängen“ (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2001, 50) ausgebildet. Als offene Fragen der Ausbildung in Berufsbildungswerken können immer noch die von Ulrich Bleidick schon 1982 thematisierten grundsätzlichen Probleme angegeben werden: ‚der ungeklärte bildungspolitische Standort, arbeitsrechtliche Bestimmungen, die Internatsregelung, das Problem der qualifikationsaufweichenden Sonderregelungen und die Einschätzung der BBW-Absolventen durch den Arbeitsmarkt’ (vgl. Bleidick 1982, 154).
Das Berufsbildungswerk ist aber auch Michaelas erste nachschulische Perspektive. Die 13jährige Schülerin der Klasse 6/7 hat ihren Berufswunsch im Praktikum entdeckt, von dem sie begeistert erzählt: „Am meisten hat mir in der Schule das Praktikum Spaß gemacht. Im Kindergarten. [...] Mal mit den kleinen Kindern gespielt, dann hab ich denen geholfen beim Anziehen. Dann hab ich noch ein paar Schränke ausgewischt. Den kleinen Kindern Tisch gedeckt. Alles halt, was man da machen muss, nur kein Baby gewickelt. [...] Voll cool die kleinen Kinder“. Michaela hat konkrete Vorstellungen, wie sie ihren Berufswunsch verwirklichen könnte: „Ich will im BBW meinen Hauptschulabschluss machen, dann den Realschulabschluss und dann werde ich Kindergärtnerin“. Das ist ein langer und – aufgrund der theoretischen Leistungsanforderungen in der Berufsausbildung für Jugendliche mit Lernschwierigkeiten – hürdenreicher Weg. Das scheint Michaela zu ahnen, wenn sie erklärt: „Wenn ich keine Kindergärtnerin werden kann, möchte ich Altenpflegerin werden, wie meine Mutter“. Die verschiedenen separierenden Maßnahmen im Übergang von der Schule in den Beruf scheinen notwendig, um die Chancen beruflicher Integration zu erhöhen. Jedoch musste festgestellt werden, dass benachteiligte und behinderte Menschen trotz aller besonderen pädagogischen Maßnahmen in ihrem weiteren Lebenslauf überdurchschnittlich häufiger arbeitslos und von staatlicher Unterstützung abhängig sind als andere (Vgl. Powell/Pfahl 2008, 2ff.). Insofern sind auch separierende Maßnahmen im Übergang von der Schule in den Beruf in ihrem Beitrag zur ‚Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung’ kritisch zu hinterfragen.

Die Auflösung des mehrgliedrigen Schulsystems und des separierenden Ausbildungssystems stellt eine politische Frage dar, ebenso wie die Anerkennung verschiedenster Schulabschlüsse und die Entkopplung von familiärer Armut und Bildungsbenachteiligung. Nicht nur im Europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung braucht Engagement qualitativ und quantitativ gute und verlässliche strukturelle, personelle und materielle Rahmenbedingungen. Die Betrachtung der aktuellen Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, Familien- und Bildungspolitik im Wohlfahrtsstaat Deutschland unter der Perspektive der Bekämpfung von Kinderarmut zerstreut nicht unsere – von Christoph Butterwege deutlich ausgesprochenen – Bedenken, „dass sich die (west)deutsche Gesellschaft nie ernsthaft mit dem Problem [der (Kinder-)Armut] beschäftigt und nach Möglichkeiten zu seiner Lösung gesucht hat“ (Butterwege 2007, 11).

 

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