Reimer Kornmann: Impulse für Inklusion – Eindrücke von der AESF-Tagung vom 04. bis zum 05. Juni 2010 in Rostock

Die halbjährlich stattfindenden Arbeitstagungen für empirische sonderpädagogische Forschung sind traditionell keinem besonderen Thema gewidmet, sondern befassen sich mit den Planungen und Ergebnissen inhaltlich unterschiedlicher Forschungsvorhaben aus dem Bereich der Sonderpädagogik, sofern sie empirisch fundiert sind. Bei der  Diskussion der einzelnen Forschungsvorhaben überwiegen methodische Fragen, doch sind diese stets mehr oder weniger eng mit bestimmten  Inhalten verbunden. In diesen Inhalten spiegeln sich  aktuelle Forschungsinteressen wider, aus denen die Teilnehmenden wiederum Anregungen für ihre eigenen Vorhaben und ihre wissenschaftlichen Interessensschwerpunkte gewinnen können.
So habe ich selbst die 15 in Rostock vorgestellten Projekte vor allem unter dem Gesichtspunkt aufgenommen, ob und inwieweit sie Impulse zur Stützung und Realisierung inklusiv orientierter pädagogischer Konzepte liefern. Bei einem allgemeinen Überblick über die vorgestellten Themen habe ich folgende Schwerpunkte festgestellt:

  1. Zwei Beiträge behandeln direkt  Fragen der Gestaltung inklusiver Prozesse.
  2. Drei der vorgestellten Projekte beinhalten Forschungen zur Prävention von Verhaltensstörungen und Schulleistungsproblemen im Rahmen von Regeleinrichtungen, könnten also ebenfalls den Zielsetzungen der Inklusion entsprechen.
  3. Drei Untersuchungen sind Hinweise zu entnehmen, dass Kinder und Jugendliche, die separiert in Förderschulen oder in Diagnoseförderklassen unterrichtet werden, weniger gut auf schulorganisatorische Maßnahmen oder pädagogische Interventionen ansprechen oder ungünstigere Lernvoraussetzungen zeigen als vergleichbare Kinder und Jugendliche, die unter anderen institutionellen Bedingungen lernen.
  4. Vier Projekte dienen der Entwicklung von Instrumenten und Konzepten zur Diagnose und Förderung, die sich auch für die Zielsetzungen inklusiver Pädagogik eignen bzw. dem Prinzip der Inklusion entsprechen, ohne dass hierauf explizit Bezug genommen wird.
  5. Drei Forschungsvorhaben fokussieren Persönlichkeitsmerkmale von jungen Menschen mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Dabei besteht kein erkennbarer Zusammenhang mit dem Thema der Inklusion. Den Ergebnissen können aber wichtige Aufschlüsse entnommen werden, die das Verstehen bestimmter problematischer Verhaltensweisen und Lernschwierigkeiten erleichtern. Insofern sind sie auch für inklusive pädagogische Konzepte nützlich.

Zu 1):
Franziska Schenk will die Frage untersuchen, „wie Lehrkräfte sozial-emotionale Kompetenzen von Kindern mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf im Lernen und Verhalten fördern können, um die Integrationsfähigkeit des Gemeinsamen Unterrichts zu erhöhen“.  Dieses Projekt befindet sich noch in der Planungsphase.

Christian Huber befasst sich mit Möglichkeiten, soziale Integrationsprozesse mit Blick auf den gemeinsamen Unterricht durch die Qualität von Lehrerfeedbacks zu steuern. Dabei wird die Frage untersucht, ob positive Rückmeldungen der Lehrkräfte, die sich speziell auf sozial schlecht integrierte, leistungsschwache Kinder richten, im Sinne eines positiven Modells für die Mitschüler wirken und dadurch zur Verringerung der Intensität und Häufigkeit ablehnender Äußerungen und Einstellungen beitragen.

Zu 2):
Thomas Hennemann & Clemens Hillenbrand stellen einige Ergebnisse der Evaluation des gerade erschienenen Förderprogramms „Lubo aus dem All“ vor, die zeigen, dass sich das Programm auch für die Prävention von Verhaltensstörungen in der Schuleingangsstufe der Grundschule eignet.

Mack D. Burke, Anna-Maria Hintz & Michael Grosche geben einen Überblick über ein in den USA erprobtes „Response to Intervention“-Modell, das der Prävention von Lern- und Verhaltensstörungen im Regelschulbereich dient und drei Stufen der Intervention mit jeweils gesteigerter Intensität vorsieht.

Shanna Hagan-Burke & Anna-Maria Hintz beschreiben eine Interventionsstudie zur frühen Leseförderung, in der die in früheren Studien festgestellten negativen Einflüsse problematischen Verhaltens auf die Leseleistungen abgemildert werden konnten.
Anmerkung: Bei Interventionsstudien dieser Art ist grundsätzlich nicht auszuschließen, dass ein (geringer) Teil der Zielgruppe nicht in dem gewünschten Maße auf die Fördermaßnahmen anspricht, also nicht „responsiv“ ist. Es wäre nicht im Sinne inklusiver Konzepte, wenn mangelnde Responsivität als Kriterium für schulische Selektionsentscheidungen dienen würde. Stattdessen müsste versucht werden, die Zielsetzungen der Interventionen besser auf die individuellen Voraussetzungen abzustimmen und/oder die Methoden der Intervention zu optimieren. Sind diese Möglichkeiten ausgeschöpft, stellt sich die Aufgabe, die bestmöglichen Lernumgebungen für die betreffenden jungen Menschen zu schaffen.

Zu 3):
Yvonne Blumenthal, Bodo Hartke & Katja Koch zeigen mit den Ergebnissen einer Längsschnittstudie, dass die Förderung in Diagnoseförderklassen trotz günstigerer äußerer Rahmenbedingungen  weniger effektiv ist als im Rahmen normalen Grundschulunterrichts.

Gerhard Büttner, Sebastian Poloczek, Andju Sara Labuhn & Marcus Hasselhorn finden in einer zusätzlichen Analyse von Daten, die unter anderer Fragestellung erhoben wurden, dass die Leistungen im Arbeitsgedächtnis von Förderschülern schlechter ausfallen als die von Grundschülern mit vergleichbaren Intelligenzleistungen. Die Erklärung, dass die geringeren Leistungen des Arbeitsgedächtnisses auf eine geringere Bereitschaft zur Mitarbeit der Förderschüler bei der Untersuchung zurückzuführen sind, kann nicht ausgeschlossen werden.

Jürgen Wilbert untersucht die Eignung eines Verfahrens zur Messung der motivationalen Zielorientierung  bei lernschwachen Schülerinnen und Schülern, die eine Förderschule besuchen. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass sich das zu erfassende Konstrukt trotz der Bemühungen um eine für die Zielgruppe sprachlich angemessene Form nicht in inhaltlich differenzierter Form abbilden lässt. Offensichtlich verweist dies auf einen motivational bedingten Überlagerungseffekt, der die Validität beeinträchtigt.

Zu 4):
Henri Julius greift eine Problematik auf, die die Praxis inklusiver Pädagogik unmittelbar berührt: Es gibt Kinder und Jugendliche, die aufgrund massiver Störungen im zwischenmenschlichen Bereich kaum noch zugänglich für pädagogische und therapeutische Hilfen sind. Diese verfestigten Zustände können durch Kontakte mit Tieren aufgebrochen werden. Entsprechende Möglichkeiten werden nicht nur dargestellt, sondern auch vor dem Hintergrund bindungstheoretischer und neurobiologischer Erkenntnisse einleuchtend erklärt.

Gerald Jacobs & Gisela Schulze berichten über die Planung einer groß angelegten Studie zur Erfassung von Beeinträchtigungen im Hören bei Studierenden an je zwei deutschen und holländischen Universitäten, um auf dieser Grundlage die vielschichtigen Problemlagen erkennen und analysieren zu können und geeignete Maßnahmen zur Sicherung und Erhöhung der Studienqualität einzuleiten.

Mohamed Mostafa Taha Mohamed erläutert die Notwendigkeit, ein ökonomisches und inhaltlich valides Verfahren zur Erfassung von Beeinträchtigungen des Hörens von ägyptischen Kindern im Einschulungsalter zu entwickeln und beschreibt dazu seine ökologischen Analysen, linguistischen Überlegungen und erste Befunde, die mit dem Verfahren erzielt wurden.

Eva Knopp stellt das standardisierte Inventar „Rechenfische“ für den Anfangsunterricht Mathematik und erste damit erzielte Ergebnisse vor. Aufgrund der differenzierten Auswahl der Testaufgaben eignet es sich zur systematischen Feststellung der Lernfortschritte.
Anmerkung:
Auch wenn es nicht thematisiert wurde, so ist doch gut vorstellbar, dass die beiden zuletzt beschriebenen diagnostischen Instrumente brauchbare Informationen für pädagogische Entscheidungen im Zusammenhang mit der Planung und Durchführung inklusiver Konzepte liefern.

Zu 5):
Melanie Eberhardt & Susanne Nussbeck gehen der Frage nach, ob die Besonderheiten im Sprachverstehen von Kindern mit Autismus auf einer bevorzugten Beachtung von Detailinformationen auf Kosten der Orientierung an Kontextinformationen beruhen.

Soulemanouou Pepouna stellt die Ergebnisse eines Forschungsvorhabens vor, in dem der Einfluss der sprachlichen Vertrautheit deutscher, russischer und türkischer Kinder im Hinblick auf das Nachsprechen von Pseudowörtern in den jeweiligen Erstsprachen und im Deutschen untersucht wurde. Erkennbar ist eine Überlegenheit der mehrsprachigen Kinder.

Michael Grosche & Wolfgang Sonntag berichten über differenzierte Untersuchungen zum Einfluss eines induktiven Denktrainings und eines Trainings von Leseverständnisstrategien auf Aspekte der Intelligenz und des Leseverständnisses. Ein Teil der Ergebnisse ist hypothesenkonform und plausibel, während ein anderer Teil im Widerspruch zu früheren Untersuchungen steht und neue Fragen aufwirft.

So weit also die Darstellung der 15 Beiträge und der Versuch ihrer thematischen Einordnung. Zum Zwecke einer konsensuellen Validierung habe ich diesen Text allen Autorinnen und Autoren zugesendet mit der Bitte, mich dann zu informieren, wenn meine knappen Referate den Kern ihres jeweiligen Vorhabens nicht korrekt wiedergeben. Dies scheint nicht der Fall zu sein, da ich – wenn überhaupt – nur bestätigende Rückmeldungen erhielt.