Abstract: Die gemeinsame Bildung und Erziehung aller Kinder ist im deutschen Elementarbereich - wenn auch mit deutlichen Unterschieden zwischen den Bundesländern - weitgehend realisiert. Ist mit der integrativen oder inklusiven Bildung und Erziehung die Frage des Umgangs mit Heterogenität gelöst? In den Diskursen zu dem Thema der Inklusion wurden bisher einige wichtige Aspekte eher am Rande erwähnt (z. B. widersprüchliche gesellschaftliche Aufträge des Bildungs- und Erziehungssystems, das Verhältnis von gemeinsamer Erziehung und realer Teilhabe, kompensatorische Unterstützung), die jedoch den pädagogischen Bezug auf die Unterschiedlichkeit der Kinder stark beeinflussen. Diese und andere Gesichtspunkte müssen mehr als bisher durchdacht werden, um in heterogenen Gruppen des Elementarbereichs die Chancen realer Partizipation und vorurteilsfreier Sozialisation zu gewährleisten.
Stichworte: Heterogenität, Inklusion, Partizipation, Elementarbereich, Bildung und Erziehung
Ausgabe: 3/2010
Fast jedes Kind in Deutschland besucht inzwischen vor seinem Schuleintritt eine Kindertageseinrichtung. Dabei ist das Alter die wesentliche differenzierende Variable (je älter die Kinder, desto höher der Anteil derer, die eine Kindertageseinrichtung besuchen). Andere Faktoren, z. B. Migrationshintergrund oder eine Beeinträchtigung, schlagen sich im Vergleich mit allen Kindern der Altersgruppe bzgl. des Besuchs einer Kindertageseinrichtung in geringen Unterschieden nieder. Wir können also davon ausgehen, dass wir in den Institutionen der öffentlichen Früherziehung und -bildung einen annähernd repräsentativen Querschnitt der Kinder in unserer Gesellschaft antreffen – und das heißt heute: ein breites Spektrum der Heterogenität.
Aus der schulischen und heilpädagogischen Integrations-/ Inklusionsdebatte heraus gilt unsere Aufmerksamkeit meist in erster Linie den Jungen und Mädchen mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen, Kindern mit Schwierigkeiten in ihrer physischen und geistigen Entwicklung. Aber natürlich lassen sich in multikulturellen marktwirtschaftlichen Gesellschaften die Unterschiede der Kinder nicht auf das Kriterium „mit oder ohne Entwicklungserschwernisse“ reduzieren.Unter den vielen Aspekten von Heterogenität treten im Elementarbereich besonders die der Sprache, der sozio-ökonomischen Basis der Familie, der Ethnie, der Familienkultur, der Religion, des Geschlechts und der Behinderung in den Vordergrund. Von Akteuren der Schule werden vor allem leistungsrelevante Momente als heterogen erfahren (vgl. Höhmann 2009).
In Deutschland wie in sehr vielen europäischen Systemen der Erziehung und Bildung versuchte und versucht man bis heute, die Komplexität heterogener Gruppen durch die Bildung angeblich homogener Einheiten (Institutionen, Klassen, Gruppen) zu bewältigen. Die weitreichende, wirkungsvolle Organisation der Verschiedenheit soll innerhalb der jeweiligen Gruppierungen eine Gemeinsamkeit im Lernstand der Kinder konstituieren, die einheitliches Lehren und Lernen legitimiert. Dass dies weder den Jungen und Mädchen noch der Wirksamkeit pädagogischer Arbeit zuträglich ist, wird zumindest im erziehungswissenschaftlichen Diskurs nicht mehr in Frage gestellt; das Beharren auf einer fiktiven Homogenität ist als Quelle von Entwicklungserschwernissen und Diskriminierung gewusst (vgl. beispielhaft: Katzenbach 2007; Beiträge in Hinz/ Walthes 2009). Der Umgang mit Heterogenität ist seit fast zwanzig Jahren Gegenstand von theoretischen Auseinandersetzungen, Aus- und Fortbildungen und pädagogischen Ratschlägen. Dabei sind einige Aspekte auffällig: Zum einen wird ungefähr schon genau so lange die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis konstatiert, zum zweiten bezieht sich die Debatte fast ausschließlich auf den schulischen Bereich.
An letzterem will ich anknüpfen. Ist die Frage von Bildung und Erziehung weniger relevant, wenn es um die jüngeren Kinder geht? Ist die Heterogenität der Kinder im vorschulischen Bereich vernachlässigbar? Oder wird ihr hier ohnehin Rechnung getragen? Ist hier gar die Frage des Umgangs mit der Vielfalt der Kinder und ihrer Fähigkeiten schon gelöst?
Nicht ganz, so scheint es, wenn wir die Diskussionen verfolgen. Sprache, sprachliche Kompetenz steht aktuell zweifellos im Fokus. Als wesentlicher "Integrationsfaktor" identifiziert, gilt hier die Aufmerksamkeit vor allem (aber nicht nur) den Kindern aus Familien mit Migrationshintergrund. Des Weiteren gibt es immer noch die Frage, ob, wie und wieweit Kindern mit Behinderung, Kindern mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen die gemeinsame Sozialisation mit allen anderen Kindern erlaubt oder empfohlen wird. In den Bundesländern gibt es dazu unterschiedliche Antworten, die sich in unterschiedlichen Anteilen der Kinder mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen in Regeleinrichtungen nieder schlagen - trotz ratifizierter UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, womit nun der uneingeschränkte Zugang von Menschen mit Behinderung zu allgemeinen Einrichtungen der Bildung gesetzlich zugesichert wird.
Angesichts der Dimensionen von Heterogenität erscheint die derzeitige Konzentration auf sprachliche Kompetenzen und – abgeschwächt – auf Kinder mit Beeinträchtigungen stark verkürzt, so wichtig beide Aspekte zweifellos sind. Kinder wachsen unter sehr verschiedenen Umständen auf. Die Familien mancher Kinder leben schon seit Generationen in dem Land, in dem das Kind aufwächst, bei anderen ist die Familie zugewandert; dies geht weit über die Tatsache hinaus, dass manche Kinder und ihre Familien nicht die Mehrheitssprache des Landes sprechen; manche Jungen und Mädchen werden streng im Sinne traditioneller Geschlechtsrollenverteilung erzogen, anderen wird von ihren Eltern eher ein flexibles Geschlechtsrollenbild vermittelt; manche Kinder wachsen mit, andere ohne Geschwister auf; manche Kinder werden konsequent im Sinne eines religiösen Wertesystems erzogen, bei anderen scheint dergleichen keine Rolle zu spielen; die Eltern mancher Kinder haben kaum ökonomische Ressourcen, andere dagegen mangelt es daran nicht etc. Und es gibt Kinder, deren Entwicklung von physischen oder mentalen Beeinträchtigungen geprägt ist, während viele andere davon nicht betroffen sind.
Wie kann die Kindertageseinrichtung dieser Heterogenität Rechnung tragen? Wie können in gleicher Teilhabe die Unterschiede der Kinder Berücksichtigung finden? Ist Inklusion die Antwort darauf?
Gleichheit muss mit Blick auf Heterogenität neu durchdacht werden. Schon vor Jahren wurde im deutschen (integrations-)pädagogischen Diskurs der von Axel Honneth geprägte Begriff der "egalitären Differenz" aufgenommen (vgl. Honneth 1992) und von Prengel (1993/ 2006.3) in dem Konzept der "Pädagogik der Vielfalt" auf die Bildungsebene transferiert.
Egalitäre Differenz meint die Achtung der Besonderheit, ohne die Individuen über ihre Unterschiede zu hierarchisieren. Gleichheit im Sinn sozialer Anerkennung ist die Grundlage der Konstitution individuellen Selbstverständnisses, prägend für das jeweilige Selbstbild (vgl. Fuchs 2007, 20). Soziale Anerkennung darf sich jedoch nicht auf die Anerkennung von Gleichheit reduzieren, sondern muss die Anerkennung der Differenz einschließen. Warum? Gleichheit vom Bürgerrechtsgedanken her war einmal das Bestreben nach politischer Partizipation aller, nicht nur gewisser Stände. Aber dies allein, d. h. Gleichheit als Diktum des sozialen Zusammenlebens ist gefährlich. Oder mit Adorno (1980, 113 f)
"Das geläufige Argument der Toleranz, alle Menschen, alle Rassen seien gleich, ist ein Bumerang. Es setzt sich der bequemen Widerlegung durch die Sinne aus. ..."
Soziale Anerkennung, die sich lediglich durch die Anerkennung der Gleichheit konstituiert, d. h. ohne den Konterpart der Unterschiedenheit, legitimiert die Ausgrenzung des offensichtlich Nicht-Gleichen. "Egalitäre Differenz" dagegen komprimiert den Gedanken, dass in der sozialen Anerkennung die Respektierung der Unterschiede und der Gleichheit untrennbar ist.
Auf den pädagogischen Bereich bezogen geht es also um die Berücksichtigung der unterschiedlichen Bedürfnisse, Fähigkeiten und Interessen der Kinder, ohne sie zu hierarchisieren, d. h. um Gleichheit in der individuellen Wertschätzung.
Diese Gleichung stimmt zweifellos, wenn wir uns die ursprünglichen und immer noch aktuellen (theoretischen) Integrationskonzepte wie die Aspekte betrachten, die in Weiterführung zum Inklusionsgedanken hin betont wurden. Vor allem die Abkehr von traditionellen Konzepten, in denen Schwierigkeiten, die innerhalb eines Bildungs- und Erziehungsprozesses auftauchen, bei dem Kind selbst lokalisiert werden, hat sich bei der fachlichen Mehrheit durchgesetzt. Doch dies ist nicht identisch damit, dass sich umgekehrt das Bildungs- und Erziehungssystem tatsächlich den Kindern mit ihren verschiedenen Bedürfnissen und Ausgangslagen angepasst hat. Worin liegen die Hindernisse? Sind die Bildungssysteme zu träge? Fehlen realisierbare Konzepte?
Im skandinavischen Raum z. B. wird kritisch diskutiert, ob die Komplexität der Anforderungen des Bildungs- und Erziehungssystems dichotome Gegenentwürfe im Umgang mit Behinderung oder mit anderen Aspekten der Heterogenität zulassen (vgl. Göransson 2007; Nilholm, 2003). Kritisiert wird z.B., dass die Forderung nach Anpassung des Systems dessen Komplexität vereinfacht und damit den Charakter der Probleme verfehlt, die in der Entwicklung hin zu einem inklusiven System entstehen (vgl. Göransson 2010). Stattdessen wird vorgeschlagen, das Bildungs- und Erziehungssystems als ein komplexes Praxisfeld mit Widersprüchen und Dilemmata wahrzunehmen, z. B. mit dem grundlegende Dilemma, jedem die gleiche Bildung und Erziehung zu offerieren, gleichzeitig die Bildung und Erziehung der Vielfalt der Kinder bzw. Schüler/ innen anzupassen (vgl. diess.).
Ein weiterer Gesichtspunkt betrifft die Frage, ob oder wieweit die bereits erfolgte praktische "Integration" nicht auch falsche Zufriedenheiten stiftet, die die Frage der tatsächlichen Teilhabe ignoriert. "Dabeisein ist nicht alles" – dies die richtige Feststellung (vgl. Kreuzer & Ytterhus 2008). Die Zugangsmöglichkeiten aller Kinder zu allgemeinen Einrichtungen der Bildung und Erziehung bedeuten nicht notwendig das Ende diskriminierender Prozesse, selbst wenn von den Kindern nicht verlangt wird, sich dem Standard anzupassen. Kinder können auch in Gruppen Gemeinsamer Erziehung von der Teilhabe an Aktivitäten ausgeschlossen bleiben; sie können auch dort Objekt subtiler Zurückweisung und Marginalisierung sein. Plaisance (2010) bezeichnet sie, angelehnt an Bourdieu (1993) als die "im Inneren Ausgestoßenen" (les exclus de l’intérieur), deren Isolation von subtilen Formen der Isolation verdeckt werden.
Ein dritter Aspekt wird in den Bedenken virulent, die sich auf das Verhältnis von Inklusion und Kompensation beziehen: Wird unter dem Gedanken der Inklusion die Frage kompensatorischer Erziehung vernachlässigt? Werden benachteiligte Kinder nur respektiert oder gibt es auch Versuche, Bildungs- und Erziehungsbenachteiligungen abzumildern oder auszugleichen (vgl. Weiß 2010)?
Diese kritischen Einwände oder Anmerkungen haben große Bedeutung, wenn wir an den Umgang mit Heterogenität, an den Realisierungsprozess von Inklusion denken. Letztendlich hängt die Umsetzung an der Offenheit eines Systems (und seiner Akteure), das nicht oder nur bedingt die Berücksichtigung von Vielfalt zur Grundlage hat, sondern Ziele ansteuert, die dem zum Teil entgegenlaufen. Im schulischen Bereich treten solche Dilemmata deutlich hervor: Die individuelle Förderung eines Schülers zusammen mit 30 weiteren Kindern; die Unterstützung des Selbstvertrauens einer (schwächeren) Schülerin und ihre Benotung im Vergleich mit der Klasse oder mit dem Jahrgang eines Bundeslandes; die Achtung der Selbstbestimmung auch von Schülern, die vielleicht aus pädagogisch nicht zu akzeptierenden Gründen mit bestimmten anderen nichts zu tun haben wollen, die Achtung kultureller Werte und Normen unter einer deutschen "Leitkultur" etc.
Im Elementarbereich scheinen solche Dilemmata weniger wirksam zu sein. Einen entscheidenden Unterschied macht vor allem die Tatsache, dass noch kein Zwang zur Benotung existiert, auch wenn der Druck der Schule immer stärker in den vorschulischen Bereich einfließt. Andere Probleme ähneln sich jedoch sehr: Die Gleichwertigkeit von Individualisierung und Gleichbehandlung, die Frage von selbstbestimmter Abgrenzung des einen und der möglicherweise daraus folgenden Isolation des anderen Kindes und ganz generell die Frage, wie auf die Besonderheiten der Kinder in einer heterogenen Gruppe adäquat einzugehen ist.
Der Ausgangspunkt sei noch einmal fest gehalten: Das Konzept der Inklusion nimmt seinen Ausgang bei den entwicklungs- und sozialisationsrelevanten Unterschiedlichkeiten der Individuen, deren Teilhabe durch die Adaption gesellschaftlicher Institutionen gesichert werden soll. Strategie und Ziel inklusiver Erziehung in heterogenen Gruppen ist die gleiche Anerkennung aller Kinder bei Respektierung ihrer individuellen Unterschiede. Eine Kindertageseinrichtung hat auf Grund ihrer strukturierenden und inhaltsvermittelnden Funktion in diesem Sinn die positive Entwicklung der Kinder zu gewährleisten.
Konkret erleben die Jungen und Mädchen Gleichheit und Achtung individueller Unterschiede, wenn die Pädagogen/ Pädagoginnen alle Kinder der Gruppe mit ihren jeweiligen Fähigkeiten akzeptieren und sie zu einem nächsten Schritt ermuntern, der in der Reichweite ihrer Möglichkeiten liegt. So kann realisiert werden, dass die Kinder nicht mit einem Standard des fiktiven Durchschnitts (des Alters, des kulturellen Standards etc.) konfrontiert und darüber evtl. diskriminiert werden.
- Diese Achtung der Differenz zwischen Kindern heißt übrigens nicht, Entwicklungs- bzw. Sozialisationstheorien zu negieren, die das Konzept einer "Normalentwicklung" entwerfen und Allgemeingültigkeit beanspruchen. Aber sie werden pädagogisch anders geschätzt. Sie sind nicht als allgemeine Richtlinien der Entwicklung zu lesen, denen gegenüber andere Entwicklungen nur als defizitär erscheinen können. Stattdessen können sie uns als Bezugstheorien dienen, die uns die Handlungsfähigkeit des Subjekts, seine Potenziale und die Eigenlogik seiner Entwicklung erkennen lassen.
- Die Achtung der Differenz zwischen Kindern heißt auch nicht, unterschiedliche Bedingungen des Aufwachsens per se gut zu heißen. Deprivierende soziale Bedingungen, die die Entwicklung der Kinder beeinträchtigen und Unterprivilegierung stabilisieren, müssen auf gesellschaftspolitischer Ebene thematisiert und verändert werden. Aus inklusionspädagogischer Sicht ist es wichtig dafür zu sorgen, dass ein Kind, das unter solchen erschwerenden Umständen aufwächst, sich in der Gruppe aufgenommen und anerkannt sieht und Unterstützung erhält. Das schließt bei vielen Kindern, die in ökonomisch, physisch und psychisch beengten Verhältnissen aufwachsen, auch kompensatorische Elemente ein. Hier muss die Erziehung damit einhergehen, ökonomisch und sozial unterprivilegierte Kinder und Kinder aus bildungsfernen Schichten zu fördern und so Bildungsbenachteiligung abzubauen. Zu recht wiesen Zigler und Styfco in Reflexion auf die US-amerikanischen Head-Start-Programme darauf hin, dass kompensatorische Erziehung keine wirkungsvolle Armutsbekämpfung ersetzt, aber die Ressourcen der Kinder stärken kann:
"Frühzeitige Intervention kann den Einfluss schlechter Wohnbedingungen, Mangelernährung und schlechter Gesundheitsvorsorge, negativer Rollenvorbilder und unterdurchschnittlicher Schulen einfach nicht überwinden. Gute Programme können die Kinder aber auf die Schule vorbereiten und ihnen vielleicht helfen, bessere Fähigkeiten zur Anpassung und Bewältigung zu entwickeln, die ihnen bessere, wenngleich nicht perfekte Lebensumstände gestatten" (Zigler, E. & Styfco 1994, 129, nach Zimbardo, P. 2004.16, 426).
Umgekehrt kann Gleichheit durchaus auch Unterschiede produzieren. Gleiches Recht auf Teilhabe z. B. kann unterschiedliche pädagogische Unterstützung nötig machen, damit die Partizipation eines Kindes gelingt.
Was bedeutet also "Achtung der Vielfalt" in der inklusiven Erziehung? Im Kern geht es darum, Hindernisse zu beseitigen, die Kinder auf Grund ihrer Besonderheit als Barrieren der Teilhabe erfahren.
Wir wissen, dass Barrieren in unterschiedlicher Weise auftreten. Manche haben mit der Zugänglichkeit zu Institutionen zu tun, andere mit Tagesstrukturen und Aktivitäten, in denen sich das Kind nicht einbringen kann, andere mit Kommunikationsschwierigkeiten, Lern- oder anderen Erschwernissen. Barrieren der Teilhabe sind das Resultat einer mangelnden Passung zwischen äußeren und individuellen Voraussetzungen der kindlichen Entwicklungs- und Lernprozesse, was Aktivitäten, Beziehungen und Persönlichkeitsentwicklung nachhaltig beeinflusst. Der Abbau oder zumindest die Reduktion solcher Barrieren hat also Priorität. Die Gruppe als Sozialisationsraum ist pädagogisch so zu gestalten, dass die Verschiedenheit der Kinder zum Zuge kommen kann. Die Gruppenorganisation sollte Annäherungen, Abgrenzungen, Interaktion und Kooperation ermöglichen. Inklusive Erziehung in heterogenen Gruppen bedeutet - neben der Beseitigung struktureller Hindernisse - die Kinder in Suche nach Anknüpfungspunkten zu ermuntern und sie zu unterstützen, Gemeinsamkeiten und Ebenen der Kooperation und des gemeinsamen Lernens zu entdecken. Das kann z. B. heißen, Barrieren abzubauen durch den Einsatz von Hilfsmitteln oder durch (in allgemeine Abläufe integrierte) individuelle Unterstützung und Förderung. Barrieren können auch von Kindern durch attraktive pädagogische Angebote gemeinsamer Vorhaben überwunden werden oder dadurch, dass die Pädagogin/ der Pädagoge in gemeinsamen Aktivitäten zunächst als Hilfs-Ich eines Kindes agiert. Der Abbau von Barrieren durch Modifikation und Anpassung von Aufgaben (z.B. durch individuelle Aufgaben, individuelle Zeitstrukturen etc.) und durch die Modifikation von Lernzielen ist in solchen Unternehmungen eingeschlossen.
In der Gruppe des Kindergartens, oder der (Vor-)Schule zu erleben, dass Heterogenität "normal" ist und geschätzt wird, ist die beste Vorbereitung auf eine Gesellschaft voller individueller und kultureller Unterschiede.
Jérôme S. Bruner, amerikanischer Psychologe, sagte einmal sinngemäß: Entwicklung ist, sich mit dem Fremden vertraut zu machen und sich Vertrautes 'fremd' zu machen. In diesem Sinn bietet das Aufwachsen in heterogenen Gruppen gute Entwicklungschancen. Es ist die beste Basis für den Abbau von Vorurteilen (vgl. Vandenbroeck 2007) bzw. bietet eine gute Chance, dass bestimmte Vorurteile nicht aufgebaut werden, weil Kinder lernen, offen mit Verschiedenheit umzugehen. Wesentlich dafür sind Pädagoginnen/ Pädagogen in der Gruppe, die diese Offenheit und Wertschätzung modellhaft in ihrer Arbeit realisieren. Der Missachtung und Ausgrenzung des Anderen, des Fremden, kann so bei den Kindern grundlegend entgegengewirkt werden, z.B. mit dem Blick auf andere familiäre und ethnische Kulturen oder mit Blick auf das individuelle Leistungsvermögen von Menschen. Zwar machen die gesellschaftlichen Maßstäbe auch nicht vor der frühkindlichen Sozialisation Halt. Doch schon frühere Untersuchungen in schulischem Rahmen (Wocken 1993, Preuss-Lausitz 1998) zeigen uns, dass soziale Nähe oder Distanz sehr stark von den eigenen Alltagserfahrungen geprägt wird. Die Sozialisation in heterogenen Gruppen mit integrativem oder inklusivem Anspruch ist - so darf man schließen - ein auch auf personaler Ebene wirksamer Gegenentwurf zu den früh ausgrenzenden Strategien des Bildungs- und Erziehungssystems.
Adorno, Th. W. (1980): Minima Moralia. (Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Bd. 4) Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 113 f.
Bourdieu, P. (Ed.) (1993): La misère du monde. Paris: Ed de Minuit.
Fuchs, M. (2007): Diversity und Differenz – Konzeptionelle Überlegungen. In: Krell, G. u. a. (Hg.): Diversity Studies. Grundlagen und disziplinäre Ansätze. Frankfurt, N. Y.: Campus, 16-34.
Göransson, K. (2007): Olikhetens plats i den inkluderande skolan. In: Andersson, B., Thorsson, L. (red.): Därför inkludering. Härnösand: Specialpedagogiska institutet. (The place of difference in the inclusive school.)
Göransson, K. (2010): Unterschiedliche Perspektiven – unterschiedliches Verständnis von
Inklusion. In: Zusammen aufwachsen. In: Kron, M. et al. (Hrsg): Zusammen aufwachsen. Schritte zur frühen inklusiven Bildung und Erziehung. Bad Heilbrunn (erscheint demnächst)
Hinz, R.; Walthes, R. (Hrsg.) (2009): Heterogenität in der Grundschule: Den pädagogischen Alltag erfolgreich bewältigen. Weinheim, Basel: Beltz
Höhmann, K. (2009): Heterogenität: Eine begriffliche Klärung. In: Höhmann, K. et al. (Hrsg.): Lernen über Grenzen. Auf dem Weg zu einer Lernkultur, die vom Individuum ausgeht. Opladen: Budrich
Honneth, A. (1992): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt: Suhrkamp.
Katzenbach, D. (Hrsg.) (2007): Vielfalt braucht Struktur. Heterogenität als Herausforderung für die Unterrichts- und Schulentwicklung. Frankfurt: Goethe Univ.
Kreuzer, M.; Ytterhus, B. (Hrsg.) (2008): "Dabeisein ist nicht alles". Inklusion und Zusammenleben im Kindergarten. München: Reinhardt
Nilholm, C. (2003): Perspektiv på specialpedagogik. Lund: Studentlitteratur. (Perspective on special education.)
Plaisance, E. (2010): Integration oder Inklusion? Anmerkungen zu den Begrifflichkeiten. In: Kron, M. et al. (Hrsg): Zusammen aufwachsen. Schritte zur frühen inklusiven Bildung und Erziehung. Bad Heilbrunn (erscheint demnächst)
Prengel, A. (1993/ 2006.3): Pädagogik der Vielfalt. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Preuss-Lausitz, U. (1998): Bewältigung von Vielfalt – Untersuchungen zu Transfereffekten gemeinsamer Erziehung. In: Hildeschmidt, A.; Schnell, I. (Hrsg.) (1998): Integrationspädagogik. Auf dem Weg zu einer Schule für alle. Weinheim, München: Juventa 223-240
Vandenbroeck, M. (2007): Beyond anti-bias education. Changing conceptions of diversity and equity in European early childhood education. In: European Early Childhood Education Research Journal, 15, 1/2007, 21-35.
Weiß, H. (2010): Kinder in Armut – eine Herausforderung inklusiver Bildung und Erziehung. Sonderpädagogische Förderung heute 55 (2010), 1, 7-27
Wocken, H. (1993):Bewältigung von Andersartigkeit. Untersuchungen zur Sozialen Distanz in verschiedenen Schulen. In: Gehrmann, P.; Hüwe, B. (Hrsg.) (1993): Forschungsprofile der Integration von Behinderten. Essen, 86-106
Zigler, E., & Styfco, S.J. (1994). Head Start. Criticisms in a constructive context. American Psychologist, 49(2), 127-132.
Zimbardo, P. (2004.16): Psychologie. München: Pearson