Abstract: Einleitend wird auf grundlegende Aspekte der UN-Behindertenrechtskonvention hingewiesen. Die Konvention ist nun für die Arbeit in der Kita der Bundesrepublik Deutschland verbindlicher Handlungsrahmen und stellt die elementarpädagogische Fachkraft vor neue Aufgaben: Wie kann sie bei der gemeinsamen Erziehung und Bildung das Wohlbefinden aller Kinder so stärken, dass sich jedes Kind zu einem beziehungsfähigen, zu einem lern-, spiel- und arbeitsfähigen Menschen entwickeln kann? Bei der Realisierung dieser Aufgabe werden auch die Ursprünge und Inhalte des Normalisierungsprinzips, das Prinzip der Stärkung der Perspektive von Menschen mit Behinderungen sowie Disability Mainstreaming zu beachten sein. Es wird am Situationsorientierten Ansatz von Armin Krenz – ganz konkret – gezeigt, wie die elementarpädagogische Fachkraft inklusive Erziehung und Bildung pflegen und weiterentwickeln kann.
Stichworte: UN-Behindertenrechtskonvention, verbindlicher Handlungsrahmen, Wohlbefinden aller Kinder, Normalisierungsprinzip, Stärkung der Perspektive von Menschen mit Behinderungen, Disability Mainstreaming, Situationsorientierter Ansatz
Ausgabe: 3/2010
Die Rechtskonvention als Leitbild einer modernen Behindertenpolitik
Das „Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung“ wurde bereits 2006 erlassen. Es konkretisiert die allgemeinen Menschenrechte aus der Perspektive der Menschen mit Behinderungen vor dem Hintergrund ihrer spezifischen Lebenslagen. Das universelle Vertragsinstrument führt im Einzelnen die Menschenrechte für die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen aus mit dem Ziel, ihre Chancengleichheit und volle gesellschaftliche Teilhabe weltweit zu fördern. Das Vertragswerk stellt einen wichtigen Schritt zur Stärkung der Rechte von rund 650 Millionen Menschen mit Behinderungen in der ganzen Welt dar.
Deutschland hat als einer der ersten Staaten das Übereinkommen am 30. März 2007 unterzeichnet und im Dezember 2008 wurde es vom Deutschen Bundestag und Bundesrat ratifiziert. „Die Ratifizierung wurde mit einer Denkschrift verknüpft. Seit dem 26. März 2009 ist das Übereinkommen in deutsches Recht umzusetzen“ (www.bmas.de vom 29. 11. 2009). Damit ist die Rechtskonvention auch für die Länder der Bundesrepublik Deutschland ein verbindlicher Handlungsrahmen. Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Herbert Hüppe, verlangt eine konsequente Umsetzung der Konvention: Die volle gesellschaftliche Teilhabe sei „kein Gnadenakt, sondern ein Menschenrecht“ (Süddeutsche Zeitung vom 29. März 2010).
Aspekte der Rechtskonvention
Artikel 1 bestimmt den Zweck der Konvention wie folgt: „Zweck dieses Übereinkommens ist es, den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern. Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristig körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können“ (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2010, 18).
Nach Artikel 7 der Konvention haben die Vertragsstaaten alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um zu gewährleisten, dass Kinder mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen Kindern alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen können. Und Artikel 24 thematisiert ausdrücklich das Menschenrecht auf Bildung für alle Menschen. Er fordert ein inklusives Schulsystem, eine „Schule für alle“, in der behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam, aber nach ihren individuellen Bedürfnissen gefördert werden. Nach Angaben von Sozialverbänden liegt Deutschland mit einer Integrationsquote von 15,7 Prozent der behinderten Schüler deutlich unter dem EU-Schnitt. Der Nachholbedarf ist also sehr groß. Nach Rechtsgutachten von Völker- und Menschenrechtsexperten handelt es sich bei der inklusiven Erziehung und Bildung um ein gerichtlich einklagbares individuelles Menschenrecht. Damit verpflichtet die Behindertenrechtskonvention die Vertragsstaaten das Wohl des Kindes mit Behinderung zu achten und das inklusive Bildungssystem zu schaffen (Klein 2010).
Verbindlicher Handlungsrahmen für die Arbeit in der Kita
In der Bundesrepublik Deutschland sind alle Rechtsansprüche auf einen zusätzlichen Unterstützungsbedarf an den Terminus „behindert“ gebunden. Insofern ist der Begriff der Behinderung ein sozialpolitischer, gesetzes- und verwaltungstechnischer Begriff, der seit 1994 im Grundgesetz (GG) verankert ist. Das Grundgesetz verpflichtet jeden Bürger die unantastbare Würde des Menschen zu achten und zu schützen. Der Gesetzgeber hat 1994 ausdrücklich den Diskriminierungsschutz für Menschen mit Behinderung als Grundrecht in das Gesetz aufgenommen: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG).
Mit diesem Benachteiligungsverbot findet die Inklusion von Menschen mit Behinderung zum ersten Mal Aufnahme in die rechtliche Grundordnung. Auf diesem Verfassungsdokument stehen drei Säulen der Behindertenpolitik in Deutschland: Das Neunte Sozialgesetzbuch (2001), das Behindertengleichstellungsgesetz als Beitrag zur Umsetzung des Benachteiligungsverbotes im Grundgesetzt (2002) und seit August 2006 das Behindertengleichstellungsgesetz und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz. Auf diese Rechtsgrundlagen kann nun die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen aufbauen.
Der Begriff der Behinderung
verleiht rechtlichen Schutz,
ermöglicht den sozialrechtlich zugesicherten Hilfebedarf nach dem individuellen Erziehungs- und Bildungsbedarf und
er stigmatisiert zugleich.
Die über 200jährige Geschichte der Heilpädagogik führte zu begrifflichen Differenzierungen (Körperbehinderung, geistige Behinderung, seelische Behinderung u. a.), die dazu dienen, berechtigte spezielle Ansprüche durchzusetzen. Andererseits ist damit die Gefahr verbunden, dass bestehende Abwertungen und Ausgrenzungen verstärkt werden.
Inzwischen sind die Ziele und Inhalte der UN-Rechtskonvention in den Köpfen der Verantwortlichen in Politik und politischer Administration auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene angekommen. So ist zum Beispiel den Berichten des Bayerischen Kultusministeriums (Bericht Nr. 209 von 13. Oktober 2009 und Bericht Nr. 223 vom 28. Oktober 2009) zu entnehmen, dass Bayern bei der Umsetzung der UN-Konvention im Elementar- und Schulbereich eine führende Rolle übernehmen will. Dieses politische Handeln bedarf der Unterstützung und Ergänzung durch fachkompetentes - pädagogisches, sozialpädagogisches und elementarpädagogisches – Handeln, um ein flächendeckendes Netz inklusiv gestalteter Kindertagesstätten in Verbindung mit wohnortnahen Freizeitangeboten für alle Kinder nachhaltig zu schaffen (Sarimski/Schaumburg 2010, 128). Politisches Handeln und fachkompetentes Handeln müssen sich hier einander ergänzen, um zu nachhaltig wirksamen Kind gerechten Veränderungen zu kommen.
Zusammenfassung
Ursprünge des Normalisierungsprinzips
Die Inklusionspädagogik hat ihre Wurzeln in dem international bedeutsamsten Reformkonzept der Behindertenhilfe: dem Normalisierungsprinzip. Das Normalisierungsprinzip geht auf das dänische „Gesetz über die Fürsorge für geistig Behinderte und andere besonders Schwachbegabte“ aus dem Jahre 1959 zurück. Es wurde von dem Dänen Niels Erik Bank-Mikkelsen entworfen und von dem Schweden Bengt Nirje weiter ausformuliert und in allen westlichen Ländern der Welt, vor allem in Nordamerika und Kanada, als Menschenrecht verbreitet. Bengt Nirje wurde für seine Verdienste 1993 mit der Ehrendoktorwürde der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg/CH ausgezeichnet.
Elemente des Normalisierungsprinzips
Das Normalisierungsprinzip bezieht sich auf die folgenden „Elemente der normalen Lebensmuster und Lebensbedingungen, an welchen auch behinderte Menschen das Recht haben teilzunehmen“ (Nirje 1994, 13):
Der Lebensbereich 5 (Normalen Respekt vor dem Individuum und dessen Recht auf Selbstbestimmung) kann folgendermaßen beschrieben werden: Menschen mit Behinderungen sind soweit wie möglich auch in die Bedürfnisermittlung einzubeziehen. Ihre Wünsche, Entscheidungen und Willensäußerungen sind zu beachten und zu berücksichtigen.
Wirkungen in der Bundesrepublik Deutschland
Seit 1984 wurde das Normalisierungsprinzip in der Bundesrepublik Deutschland vor allem durch die Forschungen des Heilpädagogen und Soziologen Professor Dr. Walter Thimm (1936-2006) bekannt. Thimm ging es bei der Anwendung dieses Reformkonzepts um
Teilhabe der Menschen mit Behinderungen,
Änderungen der Haltungen und Einstellungen ihnen gegenüber,
sinnstiftende Beziehungen und Bindungen sowie
solidarische und Gemeinwesen orientierte Hilfen.
Walter Thimm hebt auch hervor, dass die Einbeziehung Behinderter letztlich nur gesichert werden kann, „wenn über die Dienstleistungen des professionellen Systems hinausgehend nichtprofessionelle, solidarische Hilfeleistungen der Gemeindeglieder mobilisiert werden“ (Thimm 2005, 233). Die Inhalte des Konzepts beziehen sich auf kulturelle und gesellschaftliche Gegebenheiten, die als ganz selbstverständlicher „Anspruch an das Leben“ empfunden werden und anzustreben sind.
Ein allgemein gültiges Prinzip findet weltweite Beachtung
Das Normalisierungsprinzip, das ursprünglich aus praktischen Notwendigkeiten hervorging, nämlich der Verbesserung der Lebenssituation Behinderter in Einrichtungen, ist für alle Menschen mit Behinderungen gültig – „wo immer sie auch leben“. Es „kann in jedem Gesellschaftssystem und in jeder Altersgruppe“ (Nirje 1994, 13) angewandt und an unterschiedliche individuelle Entwicklungen sowie an soziale Veränderungen angepasst werden.
Dieses universelle Prinzip soll als Richtlinie für die
Arbeit im Bereich der Hilfe für Menschen mit Behinderungen dienen.
Bedürfnisse des Kindes und seiner Angehörigen achten
Die Idee der Normalisierung ist eine Basis für das Handeln von Fachkräften im Umgang mit dem Kind und seinen Eltern. Sie kennt keine so genannte „untere Grenze“, kein Ausschlusskriterium.
Um das Normalisierungsprinzip zu verwirklichen, ist es notwendig sich an den Bedürfnissen der Menschen mit Behinderung und ihren Angehörigen zu orientieren, sich Klarheit über die Beziehungen zwischen den alltägliche Lebensgewohnheiten der Familie, Gruppe oder Gemeinschaft einerseits und den Lebensweisen behinderter Menschen andererseits zu verschaffen, denn erst dann kann es seine Wirkung entfalten. Das zeigt das folgende Beispiel.
Ausdrücklich ist auf das im März 2002 gegründete „Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft – IMEW“ hinzuweisen, das mit Veröffentlichungen, Vorträgen und Diskussionen, Ethikforen und Politikberatung sich gegen ein Menschenbild wendet, das den Menschen auf Leistungen oder Gene reduziert. Diese wissenschaftlich argumentierende Bürgerinitiative nimmt aus der Perspektive der Menschen mit Behinderungen Stellung zu anstehenden Gesetzesvorhaben (z. B. zur Gendiagnostik, Patientenverfügung, Stammzellenforschung, Prävention). Das IMEW stärkt, erweiterte und festigt die Perspektive der Behinderten.
Dr. Peter Radtke, von Geburt an körperlich schwer behindert, Mitglied des Deutschen Ethikrats, würdigt die Arbeit des IMEW:
„Behinderung ist kein Zustand; sie ist ein Prozess. In ihm wirken Vorurteile und Klischeevorstellungen von Leid und mangelnder Lebensqualität zum Schaden der Betroffenen zusammen. Nicht die Menschen mit Behinderungen zu eliminieren, sondern die unseligen Gedanken aus den Köpfen der Zeitgenossen, ist die gesellschaftliche Aufgabe unserer Tage. Das IMEW nimmt diese Herausforderung in beispielhafter Weise an und trägt hiermit zur Enthinderung der Gehinderten bei“ (siehe www.imew.de).
Die „UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ bejaht Menschen mit Behinderungen als normalen Teil der menschlichen Gesellschaft. Sie versteht Menschen mit Behinderungen als Quelle kultureller Bereicherung. Dieser Gedanke wird durch Disability Mainstreaming nachhaltig gestützt. Was ist darunter zu verstehen?
Das seit 1995 in den USA und in England eingeführte Projekt des Disability Mainstreaming betont die politische Dimension der Inklusion, weist auf die Verknüpfung von Inklusion und Gesellschaftsordnung hin.
Aus diesem Projekt der Entwicklungspolitik entstand mit den Disability Studies eine politische Behindertenbewegung, die den Fachdisziplinen vorwirft, sie analysieren nicht aus der Perspektive des behinderten Menschen und tragen dadurch zu seiner Stigmatisierung und Diskriminierung bei. Die wissenschaftlichen Disziplinen trennen sich nicht vom individualistischen Modell, blenden das soziale und kulturelle Modell von Behinderung weitgehend aus, drohen dem Machbarkeits- und Rentabilitätskult, dem Schönheits- und Gesundheitskult zu verfallen.
Mit Disability Mainstreaming ist also ein sozialer Prozess in Gang gekommen.
Der Begriff Mainstreaming lässt sich nicht übersetzen. Er kann wie folgt beschrieben werden:
Ein Thema oder eine Aufgabe wird von der Peripherie ins Zentrum der Gesellschaft gerückt und soll in der Gesellschaft verankert werden. Das bedeutet, das Anliegen des behinderten Menschen ist zum grundlegenden Bestandteil von politischen und gesellschaftlichen Prozessen zu machen – und zwar von Beginn an, nicht erst, nachdem bereits Vorentscheidungen gefallen sind.
Insofern ist Disability Mainstreaming ein Instrument zur Verwirklichung der Gleichstellung behinderter Menschen und ein Konzept, weil es einen grundlegenden Perspektivenwechsel notwendig macht, der behinderte Menschen in alle Entscheidungsprozesse einbezieht (IMEW 2007).
Dem politischen Ziel der Inklusion steht der unaufgebbare individuelle Bildungsanspruch gegenüber. Dieser Anspruch ist an Voraussetzungen gebunden, die die Elementarpädagogik allein nicht schaffen kann.
Die elementarpädagogische Fachkraft soll Normalisierung und
inklusive Erziehung und Bildung pflegen
Die elementarpädagogischen Fachkräfte können nicht warten bis die genannten Voraussetzungen geschaffen sind. Sie werden vielmehr im Rahmen ihrer Möglichkeiten zeigen wie inklusive Erziehungs- und Bildungsarbeit zum Wohle aller Kinder gelingen kann. Dadurch schaffen sie aus der Praxis heraus die Bedingungen für die Weiterentwicklung. Entscheidend ist wie die Fachkraft ihre Professionalität versteht. Versteht sie sich als Bildungsträger für alle Kinder?
Eine Fachkraft, die sich als Bildungsträger für alle Kinder versteht, wird ihre Einrichtungen als einen Lebens- und Erfahrungsraum für alle Kinder sehen, institutionelle, organisatorische, pädagogische und didaktische Grundsatzfragen aufwerfen, diskutieren und beantworten.
Und sie wird bei ihrem pädagogischen Handeln klare entwicklungsfördernde Strukturen und sinngebende Regeln beachten. Diese verlangt der „Situationsorientierte Ansatz“ von Armin Krenz (Krenz 2008).
Die Erzieherin hat darauf zu achten, dass
Erfahrungen und wissenschaftliche Erkenntnisse lehren (Krenz 2009):
Dieser bindungsgestaltete Erfahrungs-, Erziehungs- und Bildungsraum entspricht dem kindlichen Bedürfnis nach Sicherheit, Kontinuität, Rhythmus und Wiederholung, er schafft innere Zufriedenheit, Freude und Dankbarkeit im Miteinander.
Die fröhliche Atmosphäre wirkt unmittelbar und motiviert zum geordneten schöpferischen Tun:
Anmerkung: Diese UN-Behindertenrechtskonvention kann kostenlos bezogen werden. Sie ist in der genannten Publikation auf den Seiten 78-159 in leichter Sprache dargestellt und erklärt.