Abstract: Es werden Bildungsprobleme und aktuelle Schwerpunkte der Bildungsreform in Malawi beschrieben, einem südostafrikanischen Staat und eines der ärmsten Länder der Welt. Mit einem dependenz-theoretischen Zugang wird das Land als „abhängige Gesellschaft“ charakterisiert. Vor diesem Hintergrund werden die Chancen, vor allem jedoch die Grenzen der Durchführung inklusiver, bedürfnisorientierter und „angepasster“ Schulreformen diskutiert. An verschiedenen Exklusionsrisiken einer „Bildung für alle“ werden diese theoriegeleiteten Reflexionen empirisch belegt. Kritische Ausblicke auf die deutsche Bildungspolitik in Entwicklungsländern beschließen die Überlegungen.
Stichworte: Afrika, Bildungsreform, Exklusion, Inklusion, Sprachpolitik, Aids, Entwicklungspolitik, Dependenztheorie, Education for all
Ausgabe: 3/2010
„Education for all” – so lautet die allererste Überschrift im Teacher’s Handbook, mit dem in Malawi, einem Binnenstaat im südlichen Afrika, Lehramtsstudierende auf ihre Unterrichtstätigkeit vorbereitet werden. Und weiter heißt es: „Every child has the human right to a basic education“ (MIE 1996: 5). Anders als in den Industrieländern, in denen mit der bildungspolitischen Perspektive einer Inklusion die Intention verknüpft ist, Kindern, die bislang in Sondereinrichtungen beschult werden, die Möglichkeit zu eröffnen, das Regelschulsystem zu nutzen, bedeutet die Forderung einer „Bildung für alle“ in Ländern wie Malawi zuvörderst, allen Kindern den Zugang zu schulischer Bildung zu sichern. Nicht um die freie Wahl des Lernorts geht es, sondern um die Verwirklichung des Rechts, überhaupt am schulischen Unterricht teilnehmen zu dürfen.
„Education for all“ ist auch das ehrgeizige Ziel der internationalen Gemeinschaft. Diese hat sich 2000 in der Millenniumserklärung der UN verpflichtet, bis zum Jahr 2015 allen Kindern Zugang zur formalen Grundbildung zu verschaffen. Nach internationalem Verständnis wird unter formaler Grundbildung die Schulbildung für Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren verstanden. Je nach Bildungssystem umfasst sie die Vor- und Grundschule sowie die untere Stufe der Sekundarschule.
Zurzeit gehen jedoch weltweit etwa 75 Millionen Kinder im Grundschulalter – davon mehr als die Hälfte Mädchen – nicht zur Schule. Um „Bildung für alle“ zu erreichen, hat die Weltbank die „Education for All – Fast Track Initiative“ (EFA-FTI) ins Leben gerufen. An dieser Initiative sind unter anderem die Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO), das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) und die Europäische Kommission beteiligt. Im Rahmen des Programms werden verstärkt institutionelle, personelle und finanzielle Ressourcen zur Förderung der Bildung für alle bereitgestellt.
Die Entwicklungsländer, die an der Initiative teilnehmen, müssen eine umfassende Armutsbekämpfungsstrategie entwickelt haben. Darauf basierend muss ein Plan für den Bildungssektor vorliegen, der die Einführung einer kostenlosen und obligatorischen Grundbildung für alle Kinder bis 2015 vorsieht und die Beseitigung der Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern im Grundschul- und Sekundarschulbereich zum Ziel hat.
Nach dem Ende einer dreißigjährigen Diktatur und der Einführung eines Mehrparteiensystems, hat die Regierung Malawis 1994 diesen freien Zugang zur Grundschule geschaffen. Seitdem hat sich die Einschulungsquote deutlich erhöht. Laut Weltbank besuchten dort 2009 rund 96 % der Kinder im schulpflichtigen Alter eine Grundschule. Malawi ist ein Schwerpunktland deutscher Entwicklungshilfe, seit 1994 arbeiten die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) und andere entwicklungspolitische Organisationen an der Umsetzung der in verschiedenen Regierungsabkommen festgelegten Entwicklungsziele im Bildungsbereich. Denn die Qualität der Bildung ist weiterhin unzureichend, es fehlen Schulräume, Lehr- und Lernmaterial sowie qualifizierte Lehrkräfte. Etwa die Hälfte der 51.000 Lehrkräfte im Land hatte 2002 keine formale Ausbildung. Mit deutscher Unterstützung werden Lehrerinnen und Lehrer für den Unterricht an Primarschulen vorbereitet. 2005 hatten bereits 87 % der Lehrkräfte eine entsprechende Ausbildung. Auch die Reform der Lehrpläne an den Grundschulen wird unterstützt. Die Schülerinnen und Schüler sollen fachlich, pädagogisch, psychologisch und kulturell angemessener unterrichtet werden. Lehrmaterialien, die diesen neuen Plänen entsprechen, werden erarbeitet und in Pilotprojekten erprobt.
Einer der Schwerpunkte der deutschen Unterstützung im Bildungsbereich ist die Umsetzung des nationalen Plans für den Bildungssektor (National Education Sector Plan, NESP), dessen Schwerpunkt im Bereich der Grundbildung liegt. Die Bundesrepublik unterstützt Malawi insbesondere dabei, die Voraussetzungen für die Teilnahme an der „Education for All – Fast Track Initiative“ (EFA-FTI) der Weltbank zu erfüllen. Dadurch kann Malawi zusätzliche Mittel für Bildung erhalten.
In dem afrikanischen Land sind somit bemerkenswerte Fortschritte zu verzeichnen, geeignete Bedingungen zur Verwirklichung schulischer Bildung für alle Kinder und Jugendlichen zu schaffen und die Qualität im Bildungswesen zu verbessern.
Als jemand, der selbst fünf Jahre lang im Bereich der Lehrerbildung in Malawi tätig war, hat sich bei mir allerdings die Meinung verstärkt, dass solche Länder weiterhin von einer selbstbestimmten Bildungspolitik ausgeschlossen werden. „Bildung für alle“ ist nicht nur ein an Menschenrechten orientiertes hehres Ziel, sondern es ist ebenso ein hegemonialer Bildungsdiskurs, den sich Länder wie Malawi lediglich zu Eigen machen können, bei dem sie aber nicht mitreden dürfen. Denn Malawi ist nach der Unabhängigkeit 1964 und auch nach der Demokratisierung 1994 ein „abhängiges“ Land geblieben. Der Begriff „abhängige Gesellschaft“ geht auf die in den 1970er Jahren entwickelte Dependenztheorie zurück, in der die Armut weiter Teile der Welt als Folge einer asymmetrischen Weltordnung gedeutet und als ein historisch-gleichzeitiges Abhängigkeitsverhältnis zwischen „entwickelten“ und „unterentwickelten“ Gesellschaften beschrieben wurde. Dieses System „struktureller Abhängigkeit“ erfordere Mechanismen zur Vermittlung einer Bedürfnisstruktur und Reproduktionsdynamik der dominierenden kapitalistischen Metropolen in den Innenbereich der Gesellschaft der Dritten Welt hinein, die insbesondere über die Bildungssysteme reproduziert würden und die Schulreformen in beträchtliche Schieflagen bringen können (Menzel 1992).
Die in den 1970er Jahren vehement geführte wissenschaftliche und politische Debatte zu den negativen Folgen eines unreflektierten Bildungstransfers aus den Industrie- in die so genannten Entwicklungsländer hat überwiegend nicht zu einer inhaltlichen und organisatorischen Veränderung der entwicklungspolitischen Bildungszusammenarbeit geführt. Vielmehr wurde mit der Formel „Education for all” und der damit verknüpften Intentionen ein überwiegend in den Industrieländern geführter Bildungsdiskurs in einer Art Weltbildungspolitik festgeschrieben. Diese Bildungsziele treiben die Vereinheitlichung und Homogenisierung der Bildungskonzepte voran. Die Hegemonialität des Diskurses hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren noch verstärkt und dominiert Schulreformbemühungen in ökonomisch unterlegenen Ländern. Staaten wie Malawi müssen die international vorherrschenden Bildungsdiskurse übernehmen, weil sie auf die externe Bildungsfinanzierung angewiesen sind.
In dem 1992 erschienenen Buch „Das Ende der Dritten Welt“ geht Ulrich Menzel von der These aus, dass die internationale Nachkriegsgeschichte durch zwei wesentliche politische Koordinaten geprägt war: Dem West-Ost-Konflikt als dem Konflikt der kapitalistischen „Ersten Welt“ und der sozialistischen „Zweiten Welt“ sowie dem Nord-Süd-Konflikt zwischen den beiden industrialisierten Welten und der unterentwickelten „Dritten Welt“. Der politisch bedeutsamere Konflikt sei, so Menzel, der zwischen dem „Westblock“ und dem „Ostblock“ gewesen, ein Konflikt der allerdings häufig stellvertretend im Süden ausgetragen wurde. Der „Kampf der Systeme“ des Nordens wurde auf die Südländer projiziert und dort, oft genug kriegerisch, vollzogen. Die Hoffnung, dass die Drittweltländer auch „eigene“, „blockfreie“ bzw. „dritte Wege“ der Entwicklung einschlagen könnten, erfüllte sich überwiegend nicht. Vielmehr stellte sich diesen Ländern lediglich die Frage, welchen der beiden vorgezeichneten Wege man folgen oder wie man beide Blöcke für die eigenen Interessen nutzen könnte.
Nach der Auflösung der Blöcke und dem Ende der „Zweiten Welt“ zeichnet sich gegenwärtig die neue Weltordnung erst in Umrissen ab. Allerdings wird bereits jetzt schon deutlich, dass die meisten Südländer global und international fast völlig aus dem Blick geraten sind, denn überwiegend sind sie geopolitisch unwichtig geworden und wirtschaftlich sind sie zumeist relativ bedeutungslos. Insbesondere in den „last developed countries“, zu denen mindestens ein Drittel der afrikanischen Staaten zu zählen sind und zu denen auch Malawi gehört, sind die Lebensbedingungen gegenwärtig schlechter als zum Zeitpunkt der Entkolonialisierung. Es sind Länder, die kaum Bodenschätze haben, deren naturräumlichen Gegebenheiten eine landwirtschaftliche Entwicklung nur bedingt zulassen, und deren politische Instabilität sich in Bürgerkriegen, Putsch und Gegenputsch, krassen Menschenrechtsverletzungen, Genozid und Flüchtlingsströmen äußern. Diese Länder, Menzel bezeichnet sie als „permanente Katastrophenregionen“, seien so arm, dass sie eine „Fünfte Welt“ bildeten, deren gemeinsames Merkmal es sei, dass sie nicht mehr entwickelbar und deshalb dauerhaft auf internationale Unterstützung und „globale Sozialhilfe“ angewiesen seien. Diese provokante These führt Menzel weiter aus:
„In den westlichen Industrieländern ist es offensichtlich möglich, auch auf Dauer einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung, der aus diversen Gründen nur eine Existenz am Rande der Gesellschaft führt, durch sozialpolitische Maßnahmen soweit zu alimentieren, daß er wenigstens ein einigermaßen menschenwürdiges Leben führen kann. Dieser Ansatz muß um die internationale Dimension erweitert werden und verlangt entsprechende Einrichtungen, die es ermöglichen, daß die Wohlhabenden des Nordens die absolut Armen des Südens alimentieren. [...] Diese Gebiete [...] werden bis auf weiteres der Treuhandschaft [Hervorhebung im Original; JS] der Länder des Nordens unterstellt. [...] Die Treuhänder übernehmen die Finanzierung und Durchführung der Hilfe inklusive des logistischen und personellen Apparats und garantieren durch die Entsendung eigener Expertenstäbe, daß ausschließlich die bedürftigen Adressaten erreicht werden.“ (Menzel 1992: 208-211).
Aufgrund der undurchdringlichen Fassade der internationalen Diplomatie ist es nur schwer nachweisbar, dass die hier vorgeschlagene entwicklungspolitische Strategie einer treuhänderischen Übernahme der Nehmer- durch die Geberländer tatsächlich umgesetzt wurde. Allerdings spricht einiges für die Annahme, dass insbesondere im Bildungsbereich eine solche „Treuhandschaft“ des Nordens gegenüber dem Süden stattgefunden hat. Auch die Bildungsreformen in der „Dritten Welt“ waren eingespannt in den beschriebenen West-Ost und Nord-Süd-Konflikt: Obwohl die Debatten um die „dritten Wege“ gerade im Bildungsbereich besonders leidenschaftlich geführt wurden, war auch die internationale Bildungspolitik im Blockdenken verfangen, und diese Länder hatten im Grunde lediglich die Wahl zwischen zwei Schulmodellen: der modernisierungsorientierten bürgerlich-humanistischen und der sozialistisch polytechnischen Einheitsschule. Die 1990 im thailändischen Jomtien gefundene Formel „Bildung für alle“ hebt diese Entscheidungsmöglichkeit vollends auf und führt sie in einer internationalen und allgemeingültigen Perspektive zusammen. Hierdurch hat die Homogenisierung einer Bildungsidee stattgefunden, an deren Entwicklung die „last developed countries“ nicht oder nur wenig mitgearbeitet haben, sondern die diese Formel unterzeichnen müssen, wollen sie internationale Unterstützung erhalten. Malawi ist hierfür ein aufschlussreiches Beispiel.
Befunde der internationalen Schulforschung besagen, dass sich in vielen Bildungssystemen erhebliche Probleme ergeben, an mindestens vier Differenzlinien Chancengerechtigkeit herzustellen: Geschlecht, soziale Lage, Behinderung und Migrationshintergrund sind neuralgische Dimensionen, an denen individuelle Unterschiede von Schülerinnen und Schülern häufig in institutionell verursachte Bildungsbenachteiligungen umschlagen. Auch das deutsche Schulsystem weist bekanntlich hinsichtlich dieser Differenzlinien dramatische Gerechtigkeitsprobleme auf (vgl. Motakef 2006). Gemessen an diesen Indikatoren hat Malawi ein relativ inklusives Schulsystem. So orientiert sich beispielsweise die Beschulung von Kindern mit einer Behinderung oder Beeinträchtigung am Leitziel ‚Inklusion’. In Malawi gibt es traditionell nur wenige Sondereinrichtungen für solche Kinder, bis auf drei Blinden- oder Taubstummenschulen, die von kirchlichen Trägern eingerichtet wurden, hat das Land kein Sonderschulsystem. Auch an einem Abbau interner Etikettierung der beeinträchtigen Kinder wird gearbeitet:
„Special Needs Education. Malawi is reviewing its educational provision for children with special needs. Children often referred to as disabled or handicapped. Things are changing and teachers have a central role in sensitising not only pupils, but communities to the problems and talents of special needs children. Recently a new special need handbook ‘Inclusive Schooling at Primary level’ was produced at MIE with support from UNESCO.” (MIE, Teacher Development Unit, Student Teacher’s Handbook: 1996: 7)
Die Bildungsbeteiligung und der Bildungserfolg ist in Malawi bei Mädchen in der Primarstufe durchschnittlich etwas höher als bei Jungen, in der Sekundarstufe ist es umgekehrt (MoE&VT 2006: 77), was darauf hindeutet, dass Mädchen früher als Jungen zur Familienarbeit herangezogen werden und der Zugang zur beruflichen Bildung eher den männlichen Jugendlichen ermöglicht wird. Auch die Ausbildungsangebote in den Berufsbildungszentren sind fast ausschließlich auf traditionell männliche Tätigkeiten ausgerichtet (Maurer, Tischler, Drucker, Mechaniker), wenngleich darauf geachtet wurde, dass auch körperlich und geistig beeinträchtigte Jugendliche hier Zugang finden (UNESCO 2004: 14).
Im Unterschied zu vielen anderen afrikanischen Ländern sind in Malawi die ländlichen Gebiete schulisch zumeist besser versorgt als die Vorstädte. Bis 1994 war es der Landbevölkerung untersagt, ohne Genehmigung in die Städte zu ziehen. Vielmehr wurde im Rahmen der Förderung von Subsistenzwirtschaft auf die landwirtschaftliche Entwicklung der Dörfer gesetzt, zu der auch der Bau von Primarschulen gehörte. Erst mit Einführung des demokratischen Systems wurde die Freizügigkeit erlaubt, so dass nun ein Prozess der Bildung von Slums in den wenigen Städten des Landes beobachtet werden kann, der aber viel weniger ausgeprägt ist, als in anderen vergleichbaren Ländern. Die Bildungsstatistik für Malawi von 2006 zeigt allerdings, dass der Anteil der Schulabbrecher und -wiederholer besonders im Norden und südlich des Malawisees – verglichen mit dem Rest des Landes – am höchsten ist. Die Schüler in diesen beiden Distrikten scheinen die größten Probleme zu haben, die Lernziele am Ende des ersten Schuljahres zu erreichen (MoE&VT 2006: 46). Dies erklärt sich am plausibelsten mit der sehr späten Einführung des muttersprachlichen Sprachbildungskonzepts in diesen Regionen (Langer 2008: 53); auf dieses Thema komme ich noch zurück.
Obwohl auch Malawi ein multiethnischer Staat ist, in dem verschiedene afrikanische Ethnien und – wie überall in Ost- und Südostafrika – auch viele Zugewanderte aus Indien, der arabischen Halbinsel und China sowie einige Weiße aus Zimbabwe, Südafrika und Europa leben, gibt es, anders als in den Nachbarländern, keine ethnischen Separierungen im Bildungssystem. Lediglich die religiöse Vielfalt des Landes bildet sich in konfessionell gebundenen schulischen Teilsystemen ab: Es gibt anglikanische und lutherische Schulen, auch die Baptisten und andere Freikirchen unterhalten eigene Schulen, ebenso entstehen gegenwärtig sehr viele muslimische Privatschulen. Was diese religiösen Ausdifferenzierungen für das Land bedeuten, muss sich zeigen; ob religiöse Konflikte entstehen, wird jedenfalls mit Sorge beobachtet.
Sind somit die verschiedenen kulturellen und ethnischen Bevölkerungsgruppen, die eine malawische Staatsbürgerschaft haben, zumindest in das staatliche Schulsystem integriert, so sind die vielen Flüchtlingskinder, die im Land leben, schulisch völlig unversorgt. Es gibt keine Zahlen, wie viele Menschen vor dem Bürgerkrieg in Mozambique, vor der Hungersnot in Zimbabwe oder vor der Gewalt in Somalia nach Malawi geflüchtet sind. In den Flüchtlingslagern gibt es lediglich eine pädagogische Betreuung, wenn die jeweils dafür zuständigen internationalen Hilfsorganisationen dafür sorgen.
Die Exklusionsrisiken im Zugang zu schulischer Bildung und somit in der Verwirklichung des inklusiven Anspruchs auf eine „Bildung für alle“ macht sich in Malawi somit weniger an den für europäische Bildungssysteme charakteristischen Differenzlinien fest, sondern es sind Faktoren wie die Ernährung und Gesundheit, Kinderarbeit und vor allem HIV/Aids, die hier von Bedeutung sind.
Krankheiten wie Malaria, Atemwegsinfektionen und Durchfall führen in Malawi bei Kindern häufig zum Tod. Da die finanziellen Mittel nicht ausreichen und nicht genug qualifiziertes Personal vorhanden ist, kann das nationale Gesundheitssystem diesen Problemen nur mühsam entgegenwirken. Malawi ist zudem weltweit eines der am meisten von der Aids-Pandemie betroffenen Länder:
„The HIV/AIDS prevelance is 15%, the eighth-highest globally. HIV infection concentrates in younger age groups, particularly women, and life expectancy is expected to drop from 57 to 44 by 2010“ (Coombe 2004: 15).
In Malawi leben zwischen 800.000 und 1,5 Millionen infizierte Menschen, der Anteil HIV positiver Kinder unter 15 Jahren liegt bei 18% und ist somit höher als bei den Erwachsenen (ebd.: 18). Es müssen etwa eine halbe Million Aids-Waisen versorgt werden, diese leben überwiegend bei Familienmitgliedern, seltener in Heimen. Anders als beispielsweise in Südafrika, wo infizierte Kinder oftmals Schwierigkeiten haben, Zugang zum öffentlichen Schulsystem zu finden und deshalb teilweise in gesonderte Einrichtungen eingewiesen werden (vgl. Velthuizen 2006, 75ff.), besuchen in Malawi auch solche Kinder die staatlichen Schulen. Lange Zeit war das Thema Aids im schulischen Curriculum tabuisiert, erst mit der Einführung des Unterrichtsfaches Life skills gibt es nun Ansätze, HIV/Aids in der Schule aufzugreifen:
„The principal objective is to determine how the education sector should be responding to the challenges of the HIV/AIDS pandemic. Concerns lie principally within four substantive areas: prevention, social support, education quality, and strategic management, and various cross-cutting issues: gender, violence and abuse, ethics and values, teaching service management, and strategic cooperation, and all education subsectors from early childhood development to higher education. HIV/AIDS is not a school issue but a matter for all sites of learning, all educators – teachers and officials – and all learners.“ (Coombe 2004: 57).
Malawi ist ein Agrarland. Die Landwirtschaft hat einen Anteil von 39 % am Bruttoinlandsprodukt. 80 % aller Beschäftigten arbeiten dort. Die meisten Devisen erwirtschaftet das Land durch den Export von Tabak und – in geringerem Umfang – auch von Tee und Zucker. Die große Abhängigkeit von nur wenigen landwirtschaftlichen Exportprodukten macht die Wirtschaft sehr anfällig für äußere Einflüsse wie Dürreperioden oder Preisschwankungen auf dem Weltmarkt. Hinzu kommt, dass Malawi durch seine Binnenlage bei Ex- und Import auf die umliegenden Transitländer angewiesen ist. Dadurch entstehen Zusatzkosten, die das Land im internationalen Wettbewerb benachteiligen. Das Wirtschaftswachstum war in den vergangenen Jahren zu gering, um die Armut in Malawi zu überwinden. Mit einem durchschnittlichen jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von 250 US-Dollar (2007) gehört Malawi zu den ärmsten Ländern der Welt. Die Armut trifft vor allem die Menschen auf dem Land. Viele von ihnen sind unterernährt. Dürreperioden belasten die Umwelt und führen immer wieder zu Nahrungsmittelknappheit. Darauf reagierte Deutschland mit der Durchführung eines Schulspeisungsprogramms, eine Initiative des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Von November 2006 bis März 2007 erhielten 147.000 Kinder eine warme Mahlzeit pro Tag. Die Schulspeisungen halbierten die Abwesenheitsrate der Schüler und Schülerinnen und führten zu einem Anstieg der Einschulungen um 15 %. Die Schulabbrecherrate wurde um fast vier Prozent verringert, die Versetzungsrate um fast eineinhalb Prozent erhöht. Seit Juni 2007 gibt es verbindliche nationale Richtlinien für die Schulspeisung (Langer 2008: 78).
Kinderarbeit ist offiziell verboten, gleichwohl werden Mädchen und Jungen frühzeitig einbezogen, zum Unterhalt der Familie beizutragen. Andererseits konnte durch die Einführung der kostenlosen Schulbildung die Benachteiligung von armen Kindern reduziert werden: Schulgeld wird in den staatlichen Schulen nicht erhoben, auch das erforderliche Schulmaterial, insbesondere Bücher, Hefte und Stifte, werden zumeist kostenlos bereitgestellt. Es gibt zwar Schuluniformen, doch wird nicht kontrolliert, ob diese getragen werden. Obwohl somit die Schulpflicht und der Schulbesuch relativ umfassend durchgesetzt ist, wird real durchschnittlich sehr wenig Unterricht erteilt: Schätzungen besagen, dass im Schuljahr durchschnittlich lediglich etwa einhundert Schultage stattfinden (Langer 2008: 63f.). Der Absentismus der Lehrkräfte hat vielfältige Gründe: Der Lohn muss persönlich in der Distrikthauptstadt abgeholt werden, was tagelange Reisen erforderlich machen kann; Fehlzeiten werden aber auch durch Erkrankungen verursacht oder weil Familienmitglieder versorgt werden müssen; ebenso finden Fortbildungen überwiegend an Unterrichtstagen statt.
In Malawi werden 16 Sprachen gesprochen, Chichewa ist die Nationalsprache, Englisch hat ebenfalls den Status einer offiziellen Sprache. Nach der Unabhängigkeit 1964 wurde Chichewa als landesweite Unterrichtssprache eingeführt, die Sprache wurde standardisiert und es wurden Schulbücher erarbeitet; allerdings wurden die anderen Sprachen vernachlässigt. Nach 1994 wurde die Sprachpolitik geändert und die linguistische Vielfalt betont. Die Lehrkräfte dürfen nun in der jeweiligen lokalen Sprache unterrichten. Dies soll den Schülerinnen und Schülern ermöglichen, aktiv am Unterrichtsgeschehen teilzunehmen, anstatt durch eine Sprache im Lernen behindert zu werden, die sie erst lernen müssen. Im malawischen Schulsystem gibt es somit einen durchgängigen zweisprachigen Unterricht nach dem Submersionsmodell: In der Primarschule wird bis zur fünften Klasse der Unterricht in einer der lokalen Sprachen erteilt und die Kinder lernen Englisch ab der ersten Klasse. Ab Klasse 5 übernimmt das Englische die Vermittlungssprache, auch in der Sekundarstufe wird überwiegend in Englisch unterrichtet, die Muttersprache bleibt aber Unterrichtsfach. Auch die Lehrerbildung ist in dieser Weise organisiert. Da im öffentlichen Leben das Chichewa seine Dominanz erhalten hat, wurde ein trilinguales Sprachbildungskonzept eingeführt, in dem in der Primarschule der Unterricht in der den Schülern bekannten Sprache beginnt, und Chichiwa neben Englisch als „Fremdsprachen“ gelehrt werden. In chichewa-sprachigen Gebieten lernen die Schüler eine zweite lokale Sprache sowie Englisch. Ziel dieses Ansatzes ist es, eine multilinguale alphabetisierte Umgebung zu schaffen (MoE 2007: 44). Da inzwischen die meisten lokalen Sprachen standardisiert und die erforderlichen Schulbücher entwickelt wurden, ist das Risiko, durch Sprachbarrieren den Bildungserfolg zu gefährden, minimiert worden. Trotz geringer finanzieller Mittel ist es in Malawi in einer beachtlichen Weise gelungen, ein integriertes Vorgehen aus Sprachforschung, Sprachgesetzgebung, Sprachproduktion und Sprachförderung zu schaffen.
Ein typisches Exklusionsrisiko in Entwicklungsländern sind die überfüllten Klassen. Auch in malawischen Grundschulen sind häufig achtzig oder gar einhundert Kinder in einer Klasse, eine systematische Beobachtung der Lernentwicklung oder eine individuelle Förderung der einzelnen Kinder ist somit kaum möglich. Der raschen quantitativen Ausweitung des öffentlichen Bildungssystems in Malawi konnte die qualitative Entwicklung der Schulen und des Unterrichts nur bedingt Schritt halten. Hinzu kommt ein großer Mangel an qualifizierten Lehrkräften, lediglich etwa die Hälfte der eingesetzten Lehrerinnen und Lehrer verfügt über eine entsprechende pädagogische Qualifikation. Vor diesem Hintergrund hat die malawische Regierung ein umfassendes bildungspolitisches Reformprogramm entwickelt, das insbesondere von der deutschen Entwicklungszusammenarbeit unterstützt wird. Kernelemente sind die Reform des Primarschulcurriculums sowie die Verbesserung der Lehrerausbildung. Ziel ist es, den Schülerinnen und Schülern in der Grundschule einen fachlich und kulturell adäquaten Unterricht zu gewährleisten, der ihre grundlegenden Lernbedürfnisse befriedigt.
Die Reform geht von einem Bildungsverständnis aus, das Schülerinnen und Schüler nicht nur „mit Wissen füllen“, sondern diese anregen möchte, sich „verstehend“ mit Inhalten auseinander zu setzen. Anknüpfend an internationale Entwicklungen sollen Unterrichtsformen entwickelt werden, die vorhandene Vorstellungen der Kinder und Jugendlichen aufgreifen, den Aufbau und Veränderungen von Vorstellungen in gemeinsamen Gesprächen unterstützen, dabei Bezüge zur Alltagswelt herstellen und Interessen der Schülerinnen und Schüler berücksichtigen. Es handelt sich somit um eine konstruktivistische Sichtweise auf Lernen, die als Grundlage für die Entwicklung von Transferkompetenzen, kritischem Hinterfragen und selbstständigem Lernen gesehen werden. Die laufende Curriculumreform für die Primarschule in Malawi versucht, die neuen Anforderungen angepasst an den spezifisch malawischen Kontext zu berücksichtigen. Beispielsweise wurden die bislang 13 Fächer im Primarschulbereich in sechs Lernbereiche zusammengefasst: Literacy and Languages, Numeracy and Mathematical Education, Agriculture Science and Technology, Life Skills Education, Social and Environmental Sciences und Expressive Arts. Gleichwohl ist der Unterricht in den Schulen und auch in den Lehrerausbildungszentren mehrheitlich von einem instruktiven Bildungsverständnis geprägt, d.h. es wird vorwiegend lehrerzentriert frontal unterrichtet, Lehrbuchwissen abgefragt und somit Auswendiglernen gefördert, es werden wenig Fragen zugelassen, der Lernstoff wird an der Examensrelevanz gemessen etc. Diese Unterrichtssituation wird mitverantwortlich gemacht für die schlechten Lernergebnisse, die malawische Schülerinnen und Schüler bei afrikanischen Schulvergleichstests zeigen (InWEnt 2004).
Die Lehrerausbildung ist in Malawi ein Problembereich, von dessen Ausbau und Qualität die Ergebnisse des Primarschulbereichs wesentlich abhängen. Das sehr kurze Ausbildungsprogramm besteht aus zweimal 16 Wochen Präsenzausbildung in den Teacher Training Colleges (TTC) und einer dazwischen liegenden einjährigen Praxisphase an Schulen. Auf diese Weise werden an den sechs Lehrerausbildungszentren etwa 3.000 Lehrkräfte jährlich ausgebildet. Die meisten haben, bevor sie in die Ausbildung aufgenommen werden, mehrjährige Praxiserfahrungen in Primarschulen gesammelt. An den TTCs unterrichten 120 Dozentinnen und Dozenten, die mehrheitlich aus dem Sekundarschulbereich stammen und ohne weitere professionelle Fortbildung für die Primarschullehrerausbildung rekrutiert wurden. In das Programm vorbereitenden Untersuchungen ergab sich ein großer Fortbildungsbedarf im Bereich der Entwicklung und Umsetzung von für den malawischen Kontext geeigneten lernerorientierten aktiven Lernmethoden. Die Dozierenden an den TTCs lehren im Großen und Ganzen so, wie sie selbst unterrichtet worden sind: im traditionellen, lehrerzentrierten Frontalunterricht, bei dem die Schülerinnen und Schüler hauptsächlich dazu motiviert werden, prüfungsrelevante Stoffmengen korrekt wiederzugeben (Susuwele-Banda 2005).
Verständnis- und problemorientiertes Lernen und Hinterfragen wird in seiner Relevanz für Transferkompetenzen und selbstständiges Lernen durchaus anerkannt, methodische Ansätze werden jedoch nicht vorgeführt und praktiziert. Dies führt wiederum dazu, dass auch die angehenden Lehrkräfte in ihrer Ausbildung keine konkreten Ansätze und Methoden eines stärker lernerorientierten Unterrichts erfahren und einüben können. Als mögliche Lösungsansätze für ein Durchbrechen des weitverbreiteten „train as they were trained“ werden in der Lehrerbildung spezifisch zugeschnittene Kurzzeitfortbildungsprogamme angeboten, in denen neue methodisch-didaktische Unterrichtsmethoden für den Primarschulunterricht in ihren Ansätzen kennen gelernt, in ihrer Anwendung selbst erfahren und schließlich am Arbeitsplatz eingeübt werden sollen.
In mehreren mehrwöchigen Workshops in Malawi haben sich die Lehrkräfte der Teacher Training Colleges den aktuellen internationalen Forschungsstand zu lernerorientiertem Unterricht erarbeitet und den Fortbildungsbedarf aus ihrer Sicht konkretisiert. Zudem haben sie fachbezogene Techniken der Erforschung von Schülervorstellungen und deren vorhandenen Kenntnisse kennen gelernt. Daran anknüpfend wurden kleine Explorationsstudien zu spezifischen fachbezogenen Fragestellungen durchgeführt. Die Mathematikgruppe arbeitete beispielsweise über Rechenstrategien bei Straßenkindern, über das geometrische Wissen von Schreinern, Weberinnen und Korbmacherinnen, über die Heterogenität von Rechenkompetenzen bei Grundschulkindern, über Lehrstrategien bei Lehrkräften, über Probleme des Rechenunterrichts in mehrsprachigen Gruppen usw. Die Ergebnisse dieser Studien dienten zur Vorbereitung der Fortbildungen (Schroeder 2008).
Als zweiter Teil des Programms wurde ein dreiwöchiger Kurs in Deutschland angeboten, in dem es vor allem um die Reflexion des Selbstverständnisses von Lehren und Lernen, um fachbezogene Grundlagen und Ansätze lernerorientierten Unterrichts, um die Auswertung der Explorationsstudien sowie um Unterrichtsbeobachtungen und -analysen in der Lehrerausbildung und in Schulen ging. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben während ihres Aufenthalts in Frankfurt in verschiedenen Schulen im Unterricht hospitiert, sich intensiv mit Fragen der Vorbereitung, Durchführung und Auswertung schulpraktischer Studien beschäftigt und mehrere Methodentrainings absolviert. Über einen Zeitraum von vier Jahren wurden die Teilnehmenden durch regelmäßige Besuche und gemeinsame fachbezogene Arbeitstreffen in Malawi in der Durchführung ihrer Projekte begleitet und beraten. Gemeinsame Reflexionen der Erfahrungen waren zentrale Bestandteile der Entwicklung, Analyse und Verbesserung angepasster Unterrichtsmodule. Sie dienten gleichzeitig der Vertiefung von methodischen Fähigkeiten für die Selbstreflexion, Beobachtung und kritisch-konstruktiven Analyse von Unterrichtsprozessen. Ein weiterer Schwerpunkt war die Produktion von Unterrichtsmaterialien aus lokal verfügbaren Materialien: „Teaching and learning using locally available resources“ (TALULAR) vermittelt, wie man aus Flaschenverschlüssen, Streichhölzern, Zweigen und Abfällen in großen Mengen einfache didaktische Materialien basteln oder wie man aus Elefantendung Papier herstellen kann. Dieses Beispiel zeigt vielleicht am Besten, wie sehr man in der malawischen Schulreform noch an der Sicherung grundlegender infrastruktureller und materieller Bedingungen zu arbeiten hat.
Will man Risiken bei Inklusionsbemühungen in „abhängigen“ Gesellschaften identifizieren, so ist auch zu fragen, wie Deutschland im Rahmen seiner Entwicklungspolitik den Bildungstransfer in solche Länder gestaltet. Ungeachtet der in Malawi im Einzelnen zur Umsetzung der Schulreform bewirkten positiven Effekte fällt auf, dass es anders als in früheren Jahrzehnten gegenwärtig in Deutschland keinen inhaltlich definierten entwicklungspolitischen Bildungsansatz mehr gibt: Während in den 1960er Jahren das Humankapitalkonzept vor allem auf wirtschaftliche Förderung zielte, setzte man in den Siebziger Jahren auf das Ruralisierungskonzept zur Entwicklung ländlicher Räume. In den 1980er Jahren wurde unter der Forderung einer Entkolonialisierung der Bildungssysteme nach angepassten „afrikanischen“ Bildungskonzepten gesucht. Aktuell orientieren sich die deutschen Kooperationen vor allem an formalen und messbaren Kriterien des Projektmanagements, ein ausformuliertes Konzept bundesdeutscher Bildungspolitik in der Entwicklungszusammenarbeit dagegen gibt es nicht mehr.
Zur Konzipierung, Umsetzung und Bewertung von Programmen werden überwiegend technizistische Instrumentarien aus Bedarfsmessungen, Steuerungssystemen, Mehrebenen- und Wirkungsanalysen sowie ausgefeilten Evaluationsansätzen eingesetzt, von denen mehr als fraglich ist, ob sie dazu taugen, die spezifischen Bedingungen, unter denen solche Programme umzusetzen sind, differenziert genug in den Blick zu bekommen, mehr noch, es eher unwahrscheinlich ist, dass sie den Bedürfnissen und Erwartungen der Betroffenen gerecht werden. Früher zeichnete sich gerade die deutsche Entwicklungspolitik dadurch aus, dass sie großen Wert auf die Einhaltung von Qualitätsstandards legte und anders als viele andere Länder bzw. manche internationalen Organisationen den ‚Erfolg’ von Bildungsreformen nicht nur an der Anzahl der neu errichteten Schulgebäude festmachte, sondern zumindest auch an inhaltlichen Kriterien. Es steht zu befürchten, dass mit der Einführung formaler Management- und Controllinginstrumente diese Qualitätsansprüche ein Stück weit bedeutungslos werden.
Wie einleitend bereits erwähnt, erfolgt die entwicklungspolitische Zusammenarbeit seit längerem überwiegend in multilateralen Bezügen. Während früher ein Land einen Vertrag mit der Bundesrepublik zur Reform der Schulen schloss, woraufhin dann Deutschland seine Experten dorthin schickte, um vor Ort die Projekte umzusetzen, sind heutzutage fast alle Programme im Zielland mit diversen Institutionen verknüpft (Ministerien, halbstaatliche wissenschaftliche oder politische Einrichtungen), und die Geberländer sind eingebunden in nationale und internationale Netzwerke (Entwicklungsbanken, Unterauftragnehmer, EU, UNESCO, Weltbank etc.). Dies kann Synergieeffekte erbringen; es macht die Programmabwicklung jedoch oftmals ungemein kompliziert, erzeugt einen sehr hohen Abstimmungsbedarf und lähmt häufig die Umsetzung von Bildungsreformen.
Eine markante Veränderung in der Entwicklungszusammenarbeit hat sich auch durch eine radikale Umstellung auf das Prinzip der temporären Rekrutierung von Kurzzeitexperten ergeben. In den meisten deutschen Hilfsorganisationen wurde das festangestellte Personal überwiegend abgebaut, wodurch jedoch über Jahre erworbenes Professions-, Länder- und Kontextwissen verloren gehen kann. Zunehmend entscheidet bei der Vergabe von Durchführungs- und Evaluationsaufträgen nicht mehr die fachliche Expertise, sondern die Höhe des Preises. Durch den vermehrten Einsatz von freiberuflich Tätigen haben sich auch die Arbeitsbedingungen in der Entwicklungszusammenarbeit spürbar verschärft: Aufenthalte vor Ort sollen so kurz wie möglich sein, Berichte müssen immer schneller geliefert und Produkte (Kurskonzepte, Trainingsmaterialien) müssen so erarbeitet werden, dass sie mit wenig Adaptionen auch in anderen Ländern eingesetzt werden können. Zeit, sich intensiv in einen lokalen und kulturellen Kontext einzuarbeiten, wird so gut wie nicht mehr gewährt. Es gehört viel Mut dazu, hier noch von einer ‚bedürfnisorientierten’ oder ‚angepassten’ Kooperation zu sprechen.
Die Schule als Institution zeigt eine Tendenz zur Universalisierung, die organisatorische und inhaltliche Vereinheitlichung der Bildungssysteme schreitet weltweit immer mehr voran (Adick 1992, Seitz 2005). Die ‚moderne Schule’ ist universal und findet sich sowohl in Industrie- als auch in Entwicklungsländern. ‚Bildung für alle’ zu schaffen wurde historisch zu einem zentralen politischen Ziel aller modernen Nationalstaaten einschließlich der aus Kolonialgebieten hervorgegangenen Staatswesen. Neben nationalen und historischen Besonderheiten gibt es offenbar einen Trend zur transnationalen Annäherung nationalstaatlicher Schulentwicklungen: Die Universalisierung von Schule beinhaltet eine Ausweitung der Schulbildung auf möglichst alle, verbunden mit einer immer längeren Schulverweildauer. Weltweit sehen die meisten Länder eine vier- bis sechsjährige Primarstufe zur Vermittlung einer allgemeinen Grundbildung, eine ebenfalls vier bis sechs Jahre umfassende Sekundarstufe zur Erweiterung bzw. Spezialisierung der allgemeinen Bildung, sowie eine drei- bis fünfjährige Stufe beruflicher Bildung vor, die in den unterschiedlichen Formen ausbildungsbezogener oder universitärer Bildungsgänge absolviert werden kann. Diese etwa fünfzehnjährige individuelle Bildungszeit ist in Großbritannien und Russland ebenso wie in Mexiko, Indien und in den meisten afrikanischen Ländern eine formale Richtgröße, auf die sich die Organisation der Bildungs- und Ausbildungssysteme bezieht; auch Malawi weicht hiervon nicht ab.
Kritische Stimmen, die auf die problematischen Seiten dieser weltweiten Homogenisierung von Bildungssystemen und der darin wirkenden Tendenzen zur Verschulung, Entfremdung und Kolonisierung des Lernens hinweisen (vgl. Sünker 1994, Miedema/Wardekker 1999), werden kaum beachtet. Jedenfalls unterscheiden sich die Bildungsphilosophie, die bildungspolitischen Maßnahmen, die Organisation des Schulsystems, die Curricula sowie die didaktischen Konzepte in Malawi so gut wie nicht von denen in anderen afrikanischen Ländern, und sie sind – bei ungleich schlechteren strukturellen Rahmenbedingungen – auch den deutschen, finnischen oder kanadischen Bildungssystemen sehr ähnlich. Die Bildungsexpansion innerhalb der malawischen Gesellschaft und der Systembildungsprozess der ‚modernen Schule’ sind aufeinander bezogen.
Der Inklusionsdiskurs wäre somit zu überprüfen, inwiefern er ein Bildungskonzept mit hegemonialen Wirkungen darstellt: Denn er ist zum einen Voraussetzung der Hegemonie, weil er normativ einen Alleinstellungsanspruch vertritt; er ist aber auch Teil der Dominanz, indem er die Universalisierung der einen modernen Schule legitimiert und vorantreibt; und nicht zuletzt ist er ein Produkt dieses universalisierten Homogenisierungsdiskurses. In Bezug auf Malawi jedenfalls stellt sich schon die Frage, inwiefern sich dort eine bedürfnisorientierte Bildungsreform vollzieht oder ob sich nicht vielmehr das Muster „abhängiger Entwicklung“ fortsetzt, indem man versucht, den Entwicklungsstufen des dominierenden Zentrums nachzueifern. Inklusion ist ja nicht nur das optimistische Versprechen, durch eine Neustrukturierung von Schulsystemen einen individuellen sozialen Aufstieg durch Bildung zu ermöglichen, sondern mit der Formel ‚Bildung für alle’ wird auch die Vision transportiert, durch Bildungsanstrengungen könne es einen kollektiven sozialen Aufstieg von Staaten in einer auf Ungleichheit basierenden Weltgesellschaft geben; dies darf wohl mit Gründen bezweifelt werden.
Um nicht missverstanden zu werden: Bildungsreformen sind – auch in den Industrieländern – nicht ohne externe Unterstützung durchführbar, nationalstaatliche Ansätze können nicht mehr überzeugen. Internationale Kooperationen sind vor allem dann wichtig, wenn es gilt, auf Missstände hinzuweisen. So ist die schulische Benachteiligung von Migrantenkindern in Deutschland seit dreißig Jahren bekannt, die Debatte wurde aber erst durch internationale Aufmerksamkeit auf die nationale Agenda gebracht. Unter anderem durch die deutsche Entwicklungszusammenarbeit ist in Malawi die Problemstellung des Umgangs mit Minderheitensprachen im Bildungssystem wieder auf die Tagesordnung gesetzt worden, die dort entwickelte Sprachpolitik wiederum könnte auch die Diskussion in Deutschland anregen. Auf der Grundlage eines kritischen Austausches, in dem wechselseitig Problemlagen identifiziert werden, könnten sich internationale Entwicklungskooperationen solchermaßen zu transnationalen Lernpartnerschaften ‚auf Augenhöhe’ weiterentwickeln (Schroeder 2010).
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