Ausgabe: 3/2010
Nachfolgend einige notwendige Anmerkungen zum Aufsatz von Hans Wocken, in dem er die Disability Studies als recht ahnungslos attackiert. Mir geht es primär um Erinnerungen an kleine, aber feine Fakten. Denn die Kritik oder die Skepsis aus der kleinen politischen Behindertenbewegung gegenüber der (Integrations-)Pädagogik und die Betonung des eigenständigen, abgrenzenden Handelns ist wahrlich kein neues Thema:
In einer Broschüre der Grün-Alternativen Liste (GAL) zur Hamburger Behindertenpolitik wurde 1986 die Wirklichkeit für behinderte Menschen in der Hansestadt beschrieben: „Sie sind vom alltäglichen Geschehen ausgeschlossen, sie kommen in ihren eigenen Angelegenheiten nicht zu Wort. Die persönlichen Entwicklungen werden von den Fachleuten aus der Medizin und Pädagogik sowie von einer unbeweglichen Bürokratie der Wohltätigkeit in öffentlichen Veranstaltungen und privaten Vereinen bestimmt.“ [1] Die Inhalte der Broschüre waren maßgeblich von den Ausläufern der Krüppelbewegung und den sich formierenden Selbstbestimmt-Leben-Initiativen bestimmt. Entsprechend hieß es
an anderer Stelle vertiefend und eindeutig:
„Wir gehen … von der Idee aus, dass behinderte Menschen selbst am besten wissen, was Behinderte benötigen. Dieser Gedanke wurde für uns durch Erfahrungen bestätigt, die wir mit Nichtbehinderten in den Einrichtungen für Behinderte … gemacht haben. Uns wird als Behinderten nichts zugetraut, wir werden behütet, wir sollen praktische Dinge trainieren, die nur eine Hilfe aus Sicht der ‚Normalen’ sind; eigenständiges Handeln wird gegen die Bewahrung in ‚Schonräumen’ wie Heimen gesetzt; unsere Rechte gehen in der Bürokratie verloren. Wir Behinderte helfen uns selbst“![2]
Unschwer lässt sich aus dieser Argumentation der inhaltliche Vorläufer des Slogans der Disability Studies – ‚Nichts über uns ohne uns’ – erkennen. Die GAL-Broschüre mit den kritischen Positionen zum Expertentum wurde seinerzeit zu meiner Freude (und Überraschung) von Hans Wocken auf öffentlichen, universitären Veranstaltungen als das fortschrittlichstes Dokument Hamburger Behindertenpolitik gepriesen. Das die Ansätze der Selbstbestimmung gegenwärtig und aus internationaler Sicht verspätet auch an
wenigen Universitäten oder Fachhochschulen einzelne Farbtupfer setzen, ist die Fortsetzung des Fortschritts. Das beinhaltet aber gegebenenfalls fundamentale Kritik auch an jenen, die freundschaftlich oder kollegial verbunden scheinen. Nur die schonungslose Auseinandersetzung mit unseren ‚Gönnern’, wie es vor dreißig Jahren hieß, hat zu zählbaren Ergebnissen geführt.
Die Skepsis der politischen Behindertenbewegung gegenüber der Integration als gefährliches Zauberwort ist nicht neu. Ich habe vor zwanzig Jahren formuliert: „Das schöne Wort ‚Integration’ sollte näher betrachtet werden. Alle Integrationsmodelle werden gemacht, und zwar von nicht behinderten Eltern, LehrerInnen, Fachleuten. Sie bestimmen, welche behinderten Kinder oder Erwachsenen wann, wo, warum oder überhaupt integriert werden, sie sind es selbstverständlich auch, die beurteilen, ob diese Versuche als gelungen oder fehlgeschlagen gelten. Das Normalitätsdenken, der ständige Konfliktbereich zwischen behinderten und nicht behinderten Menschen, fällt in den Beurteilungen und Überlegungen einseitig unter den Tisch – wer die Macht der Normalität auf seiner Seite weiß, hinterfragt sie nicht. Als integriert gilt folglich, wer sich so verhält, wie es vorgezeichnet und erwartet wird. Damit übt der unreflektierte Integrationswille einen enormen Anpassungsdruck aus auf die Werte und Normen der Leistung, des Verhaltens oder des Aussehens. Sich dem zu beugen setzt für behinderte Menschen die Verleugnung von Teilen ihrer Identität voraus. Das hat mit gleichberechtigten Möglichkeiten und selbstbewussten Handeln nichts zu tun, ist in den Sonderschulen aber auch nicht anders: Auch hier herrscht die Hierarchie der funktionstüchtigen Körper(teile) und der vorzeigbaren intellektuellen Fähigkeiten.“ [3]
Bei dieser Reflektion über die Integration darf allerdings nicht vergessen werden, dass der Gedanke der Nicht-Aussonderung das vielfältige Wirken der Krüppel- und Behindertengruppen von Beginn an geprägt hat. Denn es gab in diesem Kreis keine behinderte Person, die nicht in irgendeiner Form Aussonderung, Sonderbehandlung oder Diskriminierung erlebt hatte. Nicht zufällig prägten ihre Statements schon auf dem Hamburger Gesundheitstag 1981 die Debatten um die Deinstitutionalisierung in Schule und Wohnen oder um das Recht auf Anderssein. Dieser Gesundheitstag wurde von der Hamburger Krüppelgruppe mit organisiert. Perspektiven zur Integration trugen Referenten aus Dänemark und Italien vor. Eine direkte Auseinandersetzung mit der bundesdeutschen Behindertenpädagogik über Möglichkeiten und Ziele der Integration fand nicht statt - erkennbare Vertreter dieser Zunft waren nicht erschienen. [4]
Das seit Beginn der achtziger Jahre von einer Integrationsbewegung gesprochen werden kann, ist in bezug auf Kindergarten und Schule primär Eltern behinderter Kinder zu verdanken. Ohne deren Engagement hätte sich auch in Hamburg wenig bewegt, da hätte sich selbst ein Hans Wocken vergeblich ‚auf den Kopf stellen’ können. Genauso war die erste praktische Umsetzung der Theorie von der Nicht-Aussonderung im Arbeitsleben in Hamburg kein Ergebnis der Integrationspädagogik, sondern ein Produkt der Behindertenbewegung: Das Cafe & Restaurant ‚Röpers-Hof-Cafe’ verband Anspruch mit wirtschaftlicher Realität. Die Geschäftsführerin Nati Radtke wurde deshalb mit dem Senator-Neumann Preis der Stadt Hamburg für diese zukunftweisende behindertenpolitische Initiative ausgezeichnet. Erst danach informierten sich Eltern behinderter Jugendlicher über die Entstehungsgeschichte und die Voraussetzungen des Restaurantbetriebes, so wurde die Idee vom ‚Stadthaus-Hotel’ geboren und in den Folgejahren integrationspädagogisch begleitet.
Abschließend: Es geht nicht um Rechthaberei. Es geht vielmehr darum, an fast schon historische Fakten zu erinnern, die belegen, dass die kleine Behindertenszene seit drei Jahrzehnten kontinuierlich Politik betreibt und wichtige Denkanstöße gibt. Die Disability Studies als ein konkretes Ergebnis dieses beharrlichen Wirkens stehen auf der fundierten Basis dieses gesammelten Wissens. Ob es der Integrationspädagogik nun gefällt oder nicht.
[1] Behindertenpolitik Hamburg, Bürgerschaftsfraktion der GAL (Hg.), Hamburg 1986, S.3
[2] Behindertenpolitik Hamburg, Bürgerschaftsfraktion der GAL (Hg.), Hamburg 1986, S.22
[3] Udo Sierck, Integration oder Aussonderung ? Neue Perspektiven für alte Themen in der Behindertenpolitik. In: ‚Dr. med.Mabuse – Zeitschrift für alle Gesundheitsberufe, Nr.70, 1991, S.29
[4] vgl. Udo Sierck/Michael Wunder, Sie nennen es Fürsorge. Behinderte zwischen Vernichtung und Widerstand, Berlin 1982