Alois Bürli: Wie hast du’s, Europa, mit der Integration Behinderter?

Abstract: Welche Ansichten, Absichten und Aktivitäten entwickelt das offizielle Europa (in der Gestalt der EU) in Bezug auf die Integration behinderter Menschen? Dieser Frage geht der nachfolgende Beitrag unter mehreren Blickwinkeln nach. 1) Unter deskriptiv-komparativem Aspekt gibt es gemeinsame Merkmale, die auf eine integrative Orientierung Europas hinweisen, ohne allerdings die entsprechenden Elemente (wie: Behinderung, Integration) genau und einheitlich zu definieren. Integration bedingt und beinhaltet Werte wie Menschenwürde, Gleichberechtigung, Solidarität, Nichtdiskriminierung, Beschäftigung, soziale, schulische und berufliche Eingliederung. 2) Unter normativer Betrachtung zeichnet sich eine Integrationspolitik der EU zugunsten behinderter Menschen ab, dies im primären wie im sekundären Gemeinschaftsrecht. 3) Europäische Kooperation und Austauschprozesse sollen schließlich die Integration Behinderter begünstigen, sei dies in Lehre und Forschung oder durch Aktionsprogramme und Gemeinschaftsinitiativen.

Stichworte: Behinderung, Integration, Europapolitik, EU

Ausgabe: 2/2010

Inhaltsverzeichnis
  1. Merkmale europäischer Integration Behinderter
  2. Ansätze einer europäischen Politik der Integration Behinderter
  3. Europäische Kooperation im Bereich Integration Behinderter
  4. Fazit und Ausblick
  5. Literatur

Die im Titel (frei nach J.W. Goethe in Faust) gestellte Gretchenfrage an das vereinigte Europa ist nicht unberechtigt: Geht es der EG bzw. EU nach wie vor in erster Linie um die Schaffung eines großen gemeinsamen Marktes oder gewinnt die soziale Dimension des Binnenmarktes und damit unter anderem auch die Integration behinderter Menschen an Beachtung und Bedeutung? Unter der eingedeutschten Bezeichnung Inklusion hat das Anliegen noch kaum Eingang in die offizielle europäische Terminologie gefunden (Bürli 2009).
Gretchenfragen sind meistens unangenehm, gehen direkt auf den Kern eines Problems zu, verlangen ein klares Bekenntnis und wollen euphorische Erwartungen und Illusionen aufdecken. Was also denkt und tut Europa bezüglich Integration Behinderter? Diese vielschichtige Frage kann nicht mit einer eindimensionalen Antwort abgetan werden; eine schulische Platzierungsquote z.B. genügt nicht als Indikator für den integrativen Entwicklungsstand einer Region bzw. eines Landes. Will man der komplexen Frage gerecht werden, kann ihr, in Anlehnung an die Internationale Heilpädagogik (in analoger Bedeutung u.a. zur Sonder-, Behindertenpädagogik), unter folgenden vier Gesichtspunkten nachgegangen werden (s. Bürli 2006; 2009):

Deskription und Komparation sind zwar verschiedene, jedoch meist verbundene Schritte, beide führen aber zu (stabilen) Merkmalen und/oder (labilen) Tendenzen. Somit ergeben sich nachfolgend drei Fragenkomplexe:
a)   Mit welchen Merkmalen lässt sich die Integration behinderter Menschen innerhalb Europa (ohne Vergleiche mit dem außereuropäischen Raum) charakterisieren? (s. Abschn. 1)
b)   Welche Ziele und Normen will Europa auf diesem Gebiet erreichen, welche Politik verfolgt es? (s. Abschn. 2)
c)   Welche Zusammenarbeitsformen werden zu diesem Zweck empfohlen und praktiziert? (s. Abschn. 3)
Eingangs ist zu klären, was hier unter Europa zu verstehen ist? Der Begriff Europa bedeutet nämlich, je nach historischer, politischer, kultureller, geografischer Betrachtung, unterschiedliche Ausprägungen und Kreise. Anvisiert wird hier hauptsächlich – aber nicht trennscharf – der politische Raum, der von der Europäischen Union (EU) und der vorausgehenden Europäische Gemeinschaft (EG) abgedeckt wird. Aber auch hier gibt es im noch nicht abgeschlossenen Prozess der europäischen Identitätsfindung unterschiedliche „Geschwindigkeiten“ (s. Schmale 2008).
Der Fokus unserer Fragestellung richtet sich nicht auf die (wohl unterschiedliche) Situation in den europäischen Ländern, sondern auf Gemeinsamkeiten des vielfältigen, vielschichtigen Europa. Seine Identität besteht aber nicht in der Einheitlichkeit; entsprechend dem Motto der Union „In Vielfalt geeint“ gehört es vielmehr zu den Zielen der EU (s. VVE Art. I-3), die Wahrung des Reichtums ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt sicher zu stellen. Im Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Identität der EU (gemäß Präambel der Charta der Grundrechte) auf die unteilbaren und universellen Werte: der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität auf den Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit.
Inhaltlich ist die Rede von sog, „Behinderten“, die aber weder hier noch in den Quellen näher umschrieben werden. „Behinderung“ muss als allgemein verständlicher Begriff stehen bleiben, obwohl es diesbezüglich – auch im europäischen Raum und je nach Kontext – sehr unterschiedliche Auffassungen gibt (Europäische Kommission 2002).
Ähnliches gilt auch für den Begriff Integration. Die in Fachkreisen virulente Debatte um das Wesen und die Unterscheidung von Integration vs. Inklusion steht im politischen Europa vergleichsweise im Hintergrund. Für dieses Anliegen stehen in europäisch-politischen Texten  Grundwerte und Grundrechte im Vordergrund, die als Voraussetzungen der Integration Behinderter gelten können. ­– Wegen der nicht abgeschlossenen Begriffsklärung (s. Bürli 2009) ist hier eine Beschränkung auf den Begriff Integration angezeigt.

 

1. Merkmale europäischer Integration Behinderter

Unter welchen Gesichtspunkten lassen sich Anzeichen und Tendenzen einer (vermehrten, zunehmenden) integrativen Orientierung Europas im Hinblick auf Behinderung erkennen? (s.dazu auch: Bürli 1994; 2003a; 2003b; 2004; 2007; 2009).

1.1 Leitideen, Entwicklungslinien und Wissenschaftsbezug

In den letzten Jahrzehnten steht die europäische Heilpädagogik stark und zunehmend unter dem Einfluss von Leitideen wie: Normalisierung, Integration und/oder Inklusion (s. Hinz 2002), ohne dass ihnen ein völlig einheitliches Verständnis zugrunde liegt (Bürli 2003b). Dennoch haben diese weitgehend allgemein anerkannten Prinzipien sozusagen sämtliche Bereiche der Heilpädagogik und des Behindertenwesens verändert, ohne dass selbstverständlich alle Visionen bereits Wirklichkeit geworden wären. Im Gegenteil besteht europaweit noch immer eine große Kluft zwischen dem Integrationsprinzip und seiner Verwirklichung (s. Bürli 2003a; 2003b; 2004).
Bei der Entwicklung der europäischen Heilpädagogik lassen sich – in groben Zügen und keineswegs trennscharf und linear – vier Phasen erkennen (Bürli 1997, 63 f.):
a) Exklusion: Ausschluss Behinderter aus dem Bildungssystem
b) Separation: Sonderschulung für Behinderte
c) Integration: Zusätzliche Hilfen bei Besonderem Förderbedarf in Kooperation mit dem Regelschulsystem
d) Inklusion: Differenzierte Schulung für alle im Rahmen des Regelschulsystem.  
Auch eine differenziertere Betrachtung der Entwicklung des Fachgebiets anhand der wechselnden Bezeichnungen unserer Disziplin (vgl. Heil-, Sonder-, Behindertenpädagogik, Pädagogik der Behinderten bzw. bei besonderem Förderbedarf, Rehabilitationspädagogik, Integrations-, Inklusionspädagogik) deutet auf einen ähnlichen Verlauf hin, der allerdings keineswegs in allen europäischen Ländern in gleicher Ausprägung erfolgte (Bürli 2006; 2007, 229 ff.).
Als weiterer Integrationsindikator dient das Verhältnis der Heilpädagogik zu anderen Wissenschaften. Hier kann festgestellt werden, dass die Heilpädagogik sich zunehmend von ihrer separatistischen Position entfernt und von einer medizinischen Denkweise gelöst hat sowie sich (wieder) der Allgemeinpädagogik annähert. 

1.2 Personen-/Problemkreis

Im Zentrum europäischer Heilpädagogik steht vorwiegend nach wie vor der Personen- bzw. Problemkreis behinderter Menschen bzw. Behinderung aus pädagogischer Sicht. Eine diesbezügliche europäisch einheitliche Begrifflichkeit, Terminologie und Kategorisierung gibt es allerdings nicht (s. Europäische Kommission 2002).
Im Zusammenhang mit der Integrationstendenz besteht das Bestreben, den kategorialen, defektorientierten Behinderungsbegriff zu überwinden und ihn durch die positivere, das Umfeld einbeziehende Sichtweise des Besonderen Förder- oder Bildungsbedarfs zu ersetzen. Der terminologische Wechsel hat weitgehend stattgefunden, ohne aber die Denkweise bereits grundlegend und konsequent verändert zu haben. Ähnliches lässt sich von der Internationalen Klassifikation der Behinderung (ICF) sagen.
Integration setzt eine entsprechend veränderte Denkweise über Behinderung voraus. In diesem Sinne hat sich das Behinderungsparadigma weg von der ausschließlichen Individuums- und Defektorientierung hin zu interaktionistischen, systemorientierten und gesellschaftlichen Sichtweisen verlagert.
Gleichzeitig hat sich der Umfang des Personenkreises erweitert. Von der Behinderungsform und vom Schweregrad her kamen die geistig, schwer- und schwerstmehrfach behinderten Personen dazu; später fanden auch die sozio-kulturell Benachteiligten zusätzliche Beachtung und Betreuung. Im Zeichen der Integration ist die Heilpädagogik daran, statt nur für Behinderte eine Pädagogik für eine heterogene Personengruppe mit besonderen Bildungsbedürfnissen zu werden (s. Feuser 1989; 1995).
Statistiken betr. sogenannt Behinderter, definiert über die Zuweisung zusätzlicher pädagogischer bzw. finanzieller Ressourcen, sagen wenig aus über deren effektive Anzahl und deren Integration. Die Häufigkeit hängt vielmehr ab vom diagnostischen Verfahren, von der Zuweisungspraxis, von den vorhandenen Angeboten und von der Finanzkraft des Systems. Prozentanteile von Schülerinnen und Schüler mit Besonderem Förderbedarf an der Gesamtschülerschaft im Schulpflichtalter schwanken in Europa von knapp 1% bis 17%, bei einem Mittel von 5.5% (Bürli 2001; 2003a; 2003b; 2004; Meijer, Soriano, Watkins 2003; OECD 2000; 2001). Angesichts großer methodologischer Probleme und fehlender Datenquellen lassen sich gesicherte Entwicklungen in Europa statistisch kaum nachweisen (s. OECD 2007).
In Sachen terminologische Umschreibung des Personenkreises wird vermehrt auf sachlich adäquate, politisch korrekte Ausdruckweise geachtet (vgl. Mensch mit einer Behinderung).
Zudem hat sich die Rolle und Rechtsstellung der Betroffenen wie der Angehörigen im Sinne vermehrter Selbstbestimmung entschieden verbessert.

1.3 Ausbildung und Professionalisierung des Fachpersonals

Der europaweite Ruf nach vermehrter Integration und Normalisierung verändert die Ausbildung und die berufliche Rolle des Fachpersonals, insbesondere der Regel- und der Sonderschullehrerinnen und -lehrer. Entsprechend internationalen Empfehlungen (s. Bürli 1995) haben manche Länder inzwischen die heilpädagogische Vorbereitung teilweise in die Lehrergrundausbildung integriert.
In der Förderung behinderter Menschen in Europa arbeiten sehr unterschiedliche Fachpersonen mit divergierenden Berufsbezeichnungen und aus verschiedenen Disziplinen, hauptsächlich aus der Pädagogik und der Sozialen Arbeit. Die Terminologie für deren Ausbildung und Beruf ist europäisch alles andere als einheitlich. Ob und wie stark dabei eine integrative Grundorientierung Fuß gefasst hat, lässt sich schwer beurteilen.

1.4 Strukturen und Angeboten

Integrative Ausrichtung manifestiert sich in den vorliegenden Strukturen und den benutzten Angeboten. Üblicherweise werden schulische und außerschulische Strukturen unterschieden, ferner ist die Unterteilung des Bildungssystem in einen Regel(schul)bereich und in Sonder(schul)angebote (Sonderklassen, Sonderschulen) geläufig. Die dazwischen liegenden Bildungsformen können (im Sinne der Integration) strukturell aus einer breiten Angebotspalette pädagogisch-therapeutischer Zusatzmaßnahmen bestehen. Demgegenüber setzt die Schule für alle (im Hinblick auf Inklusion) eine grundlegende Reform des Bildungssystems voraus (s.a. Hinz 2002).
Auf europäischer Ebene hat sich zur Bewältigung der heterogenen Schulpopulation weniger eine radikale Schulreform (im Sinne von Inklusion) als vielmehr eine Vielfalt von alternativen und zusätzlichen Angeboten (Integration) entwickelt. Separate Einrichtungen existieren sozusagen in jedem europäischen Land; anstelle eines Entweder/Oder wird vielerorts die Koexistenz verschiedener Angebotsformen akzeptiert. Die Problematisierung der Sonderschule und ihre Umwandlung in Förderzentren ist ein starker gemeinsamer Trend (Bürli 2003a; 2004; Meijer, Soriano & Watkins 2003).
Der Besuch segregierender Settings schwankt im europäischen Raum (nach Meijer, Soriano & Watkins 2003) von 0.4% bis 6% (Durchschnitt ca. 2.2%) der Gesamtschülerzahl (s.a. Bürli 2001), wobei sich die Umschreibung der schulischen Settings nur annähernd gleichen dürften.
Unter dem Einfluss der Integration/Inklusion wächst die Überzeugung, dass heilpädagogische Förderung nicht an einen besonderen Förderort gebunden ist, sondern an verschiedenen Orten des Bildungssystems stattfinden kann. Das Sonderschulsystem soll nicht mehr eigenständig sein, sondern als flexibles, kooperatives Unterstützungssystem in das Gesamtbildungssystem eingebunden werden. Die Verantwortung und die Problemlösungskompetenz soll dem regulären Bildungssystem zurückgegeben werden.
Die Aufsicht über die pädagogische Förderung behinderter Menschen liegt (nach Meijer 1998) in den meisten europäischen Ländern bei den Bildungsministerien. Dabei besteht eine deutliche Dezentralisierungstendenz hin zur regionalen und lokalen Ebene. Beide Tendenzen sind im Sinne der Integration.
Die Realisierung der Integration wird maßgeblich durch den Geldfluss bestimmt, wie die Studie der European Agency (Meijer 1999) zur Finanzierung sonderpädagogischer Maßnahmen deutlich macht.

1.5 Prozesse und Vorgehensweisen

Unter dem Einfluss der Integration/Inklusion sowie der veränderten Umschreibung des Personenkreises hat die heilpädagogische Diagnostik ihren Schwerpunkt von der medizinisch-klassifikatorischen zur prozessbegleitenden Orientierung hin verlagert.
In ähnlicher Weise hat sich die Zuweisung von heilpädagogischen Maßnahmen bzw. die Zuteilung zusätzlicher personeller und/oder finanzieller Ressourcen verändert und wurde angesichts der Vielfalt möglicher Lernorte diversifiziert. Das Fehlen eines quantifizierbaren Bedarfskriteriums führte allerdings vielerorts zur Eskalation beanspruchter Angebote.
Unter Bezugnahme auf das Normalisierungsprinzip wird europäisch dafür plädiert, in der heilpädagogischen Arbeit vorab vom regulären Curriculum auszugehen. Jegliche geplante Förderung soll durch die persönlich-individuelle Umsetzung und Gewichtung im Rahmen eines individualisierten Förderplans erfolgen (Meijer 1998; Meijer, Soriano & Watkins 2003).
Einen breiten Einblick in die Integrative Bildungspraxis in Europa gewährt die Studie der European Agency (Meijer 2001). Die Ergebnisse zeigen, dass Verhaltens-, soziale und emotionale Probleme sowie der Umgang mit Vielfalt und Differenz die größten Herausforderungen für die Klassenzimmer in Europa darstellen. Als wirksame integrative Unterrichtsverfahren haben sich erwiesen: der kooperative Unterricht, das kooperative Lernen, individuelle Unterrichtsplanung, gemeinsame Problemlösung sowie heterogene Gruppenbildung und flexible Unterrichtsdifferenzierung (s.a. Meijer, Soriano & Watkins 2003).
Der wichtigste Paradigmenwechsel erfolgte in der Favorisierung integrativer Bildungsprozesse gegenüber separierenden Formen. Dabei steht – nach Studien der European Agency (Soriano 1999; Meijer 2001) – die Klassenlehrperson im Mittelpunkt, die in unterschiedlichen Situationen durch ein Angebot von zusätzlichen Maßnahmen einer sonderpädagogischen Fachperson unterstützt wird. Dies geschieht in unterschiedlichen Unterstützungssituationen. Ferner kommt dem Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien bei Lernenden mit Besonderem Förderbedarf (ICT-SNE) besondere Bedeutung zu (s. Meijer & Watkins 2001; Meijer, Soriano & Watkins 2003).

2. Ansätze einer europäischen Politik der Integration Behinderter

Unter normativem Gesichtspunkt stellt sich die Frage, welche Ziele Europa bezüglich der Integration behinderter Menschen verfolgt. Zeichnet sich dazu so etwas wie eine Integrationspolitik ab, nach welcher mit zielgerichteten Handlungen und Anordnungen für öffentliche Belange generell verbindliche Regeln sozialer Gemeinschaften oder von Staaten aufzustellen und durchzusetzen versucht wird und damit ein Prozess gesellschaftlicher Veränderung initiiert und gefördert wird? Für den Bereich einer integrativen Behindertenpolitik ist nachfolgend zu prüfen, welche Aufgaben und Ziele (policy) mit welchen Mitteln und Strategien (politics) im europäischen Rahmen (polity) anvisiert und zu realisieren versucht werden (s. Bürli 2008).
Die Konzentration auf zuständige zentrale Behörden der EG/EU erlaubt gesamteuropäische Aussagen zur Integrationspolitik Behinderter. Dies ergibt ein einheitlicheres Bild als jenes in den einzelnen europäischen Ländern, in denen es (noch) wenig gemeinsame Konturen gibt (Maschke 2008). Ähnliches gilt in anderen Bereichen wie z.B. der Bildung (s. www.eurydice.org) und der Behindertenpädagogik (s. www.european-agency.org). Zu beachten ist schließlich, dass Europäische Behindertenpolitik nicht losgelöst betrachtet werden kann von der Internationalen Behindertenpolitik (s. http://www.un.org).
Die Entwicklung zu einer Europäischen Behindertenpolitik geht Hand in Hand mit dem engeren politischen Zusammenschluss in Europa. Explizit machte die Kommission der EG erstmals in den 70er Jahren auf Probleme behinderter Menschen aufmerksam. Sie führte Studien und Aktionsprogramme durch, widmete sich der Koordination der Sozialversicherungssysteme und der gemeinsamen Sozialpolitik. Die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer, auch als Sozialcharta der EG bezeichnet, wurde 1989 von den EG-Mitgliedstaaten unterzeichnet. Einer der 13 Bereiche des dazugehörigen Aktionsprogramms befasste sich mit dem Bereich Behinderte. Um ein Bewusstsein für die Belange Behinderter zu schaffen und die frühen sozialpolitischen Absichten zu unterstützen, schuf die EG 1981 auf Verwaltungsebene eine Abteilung für die Aktionen zugunsten behinderter Mitmenschen.
Um die heutige europäische Integrationspolitik für Behinderte verstehen und einordnen zu können, ist vorerst zu klären, wer in diesem Kontext die potentiellen Akteure sind, welche institutionellen Rahmenbedingungen vorliegen und welche Instrumente (insbesondere rechtlicher Natur) zur Verfügung stehen (s. Abschn. 2.1 und 2.2). Primärrechtliche Grundlagen der EG/EU (s. Abschn. 2.3) setzen den Rahmen für die Grundzüge europäischer Behindertenpolitik (s. Abschn. 2.4). Weitere Perspektiven eröffnen weniger verbindlichere Erlasse auf der Ebene des sekundären Gemeinschaftsrechts (s. Abschn. 2.5).

2.1 Akteure europäischer Behindertenpolitik

Die offiziellen Akteure europäischer Behindertenpolitik sind ursprünglich die Organe der Europäischen Gemeinschaft (EG); sie, ihre Erlasse und Aktivitäten wurden weitgehend von der heutigen Europäische Union (EU) übernommen, teils umbenannt und fortgeführt.
Als Organe sind insbesondere zu erwähnen: 1) Europäisches Parlament; 2) Rat der Europäischen Union; 3) Europäische Kommission; 4) EU-Ministerrat.
Auf der Ebene der Administration ist die Generaldirektion V Beschäftigung, soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit und darin die Unterabteilung E 3 für die Eingliederung von Menschen mit Behinderungen zuständig.
Verschiedene übergreifende Gruppierungen, bestehend aus Vertretern der Regierungsgremien und/oder der Verwaltung und von Verbänden, sollen sicherstellen, dass die behindertenpolitischen Interessen auf allen Ebenen und in allen Bereichen berücksichtigt und untereinander koordiniert werden.
Hier nicht in Betracht gezogen werden Ansichten, Absichten und Aktivitäten zur Integration Behinderter, die von europäischen non-gouvernementalen Gremien und Organisationen stammen. Die pragmatische Einschränkung auf die offiziellen Organe der EG/EU bedeutet aber nicht, dass es daneben nicht auch andere behindertenpolitische Akteure (Selbsthilfegruppen, Fachleute, NGOs) gibt und geben soll.

2.2 Instrumente europäischer Integrationspolitik Behinderter

Zur europäischen Integrationspolitik Behinderter können verschiedene Instrumente mit unterschiedlicher Verbindlichkeit und Reichweite eingesetzt werden:
Die wichtigsten Aussagen dazu finden sich im primären Gemeinschaftsrecht in Form von Verträgen. Sie werden unterstützt und ergänzt durch verschiedene Formen des sekundären Gemeinschaftsrechts (s. Abschn. 2.5).
Als erstes sind die Richtlinien der EG zu erwähnen; durch diese Rechtsetzungen werden die Mitgliedstaaten zur Verwirklichung bestimmter Ziele verpflichtet, wobei jedoch die Wahl der Methode den einzelnen Staaten überlassen bleibt; die Umsetzung innerhalb der Rechtsordnung der Mitgliedstaaten ist erforderlich.
Verordnungen der EG sind Rechtsakte des Rates oder der Kommission, gerichtet an die EG selbst, an deren Mitgliedstaaten oder an die Bürger der Mitgliedstaaten; sie sind von allgemeiner Geltung, in allen ihren Teilen verbindlich und gelten unmittelbar in jedem Mitgliedstaat.
Entschließungen der EG  regeln einen Einzelfall, werden üblicherweise von der Kommission erlassen und sind nur für spezielle Adressaten verbindlich.
Neben diesen drei Rechtsakten sieht der EG-Vertrag noch die Möglichkeit von Empfehlungen und Stellungnahmen vor, die jedoch von geringerer praktischer Bedeutung sind.
Als weitere Instrumente gelten Aktionsprogramme und Gemeinschaftsinitiativen, die aber weniger der Normierung als vielmehr der Kooperation und Sensibilisierung dienen (s. Abschn. 3).

2.3 Grundlagen einer europäischen Integrationspolitik für Behinderte

Rechtliche Grundlagen und Aussagen zur europäischen Integrationspolitik für Behinderte sind vorerst in den verschiedenen Verträgen der Europäischen Gemeinschaft (EG) bzw. der Europäischen Union (EU) zu suchen.
a)   Im Vertrag über die Europäische Union (EUV), in Maastricht 1992 unterzeichnet, wurde die EG als Sozialgemeinschaft ausgebaut, und zwar auf der Grundlage der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte (1989). Schwerpunkte im Aufgabenbereich Beschäftigung und Sozialpolitik sind Arbeitsplatzsicherung, Chancengleichheit, Sozialfonds, Mindeststandards, Mobilität, soziale Eingliederung und sozialer Schutz. Auf eine Vereinheitlichung der Sozialsysteme unter den Mitgliedstaaten hat die EU angesichts sehr unterschiedlicher Auffassungen und Strukturen vorderhand weitgehend verzichtet.
Zu den sechs neuen Politikbereichen gehört im Vertrag von Maastricht auch die Förderung der allgemeinen und beruflichen Bildung. In diesem Vertrag (s. Art. 126) wird festgehalten, dass die Gemeinschaft zur Entwicklung einer qualitativ hoch stehenden Bildung beträgt, indem sie die Zusammenarbeit unter den Mitgliedstaaten fördert und ihre Tätigkeit unterstützt, aber die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Bildungssysteme sowie die Vielfalt ihrer Kulturen und Sprachen strikte beachtet. Für den BereichBildung – und damit auch für die Bildung Behinderter – sind also im Vertrag von Maastricht ebenfalls keine Harmonisierungsabsichten enthalten.
b)   Der Vertrag über die Verfassung für Europa (VVE), der den EG-Vertrag (1957) und den EU-Vertrag (1992) hätte ablösen und der Europäischen Union eine einheitliche Struktur und Rechtpersönlichkeit geben sollen, wurde 2004 in Rom unterzeichnet. Er sollte ursprünglich am 1. November 2006 in Kraft treten. Da jedoch die Ratifizierung misslang, wurde die Inkraftsetzung durch eine erzwungene „Denkpause“ verzögert. Dennoch ist (gerade auch im Hinblick auf den Reformvertrag) von Interesse, was in der EU-Verfassung  in behindertenpolitischer Hinsicht vorgesehen gewesen wäre.
Der VVE legt bereits in Teil I (Grundsätze) wichtige behindertenpolitische Grundlagen. Zu den Werten der Union (Art. I-2) gehören nämlich die „Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in der Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet“. Zu den Zielen der Union (Art. I-3) gehört u. a. die Wahrung des Reichtums ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt sowie die Bekämpfung sozialer Ausgrenzung und Diskriminierungen sowie die Förderung sozialer Gerechtigkeit und sozialen Schutzes.
Teil II des VVE enthält die Charta der Grundrechte der Union. Dieses behindertenpolitisch bedeutsame Wertefundament wurde 1999-2000 erarbeitet, an der Regierungskonferenz 2000 in Nizza feierlich proklamiert, blieb aber zunächst unverbindlich, wurde nun aber sozusagen unverändert in den VVE integriert und soll nach dessen Inkrafttreten für die Europäische Union und die Mitgliedstaaten rechtlich verbindlich werden.
In der Präambel der Charta stützt sich die EU erneut auf die unteilbaren und universellen Werte: der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität auf den Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit.
Die Charta sollte die Grundrechte für den Einzelnen transparenter machen und zugleich die Identität und Legitimität der EU stärken. Die allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte sowie die wirtschaftlichen und sozialen Rechte wurden in einem Dokument zusammengefasst.
Direkten Bezug zur Behindertenfrage nimmt der VVE unter Titel II (Gleichheit). Art. II-81 zur Nichtdiskriminierung hält fest, dass u.a. Diskriminierungen wegen einer Behinderung verboten sind. Art. II-86 zur Integration von Menschen mit Behinderung hält fest: „Die Union anerkennt und achtet den Anspruch von Menschen mit Behinderung auf Maßnahmen zur Gewährleistung ihrer Eigenständigkeit, ihrer sozialen und beruflichen Eingliederung und ihrer Teilnahme am Leben der Gemeinschaft“.
In Bezug auf die Politikbereiche und die Arbeitsweise der Union (Teil III) will die EU ganz allgemein Diskriminierungen, auch aus Gründen einer Behinderung, bekämpfen (Art. III-123). Zudem können erforderliche Maßnahmen gegen Diskriminierungen aus Gründen einer Behinderung auch durch Europäisches Gesetz oder Rahmengesetz des Rates festgelegt werden (Art. III-124). Auf sozialpolitischem Gebiet verfolgt die Union und die Mitgliedstaaten das Ziel, Ausgrenzungen zu bekämpfen (Art. III-209; III-210).
Zu den Bereichen, in denen die Union beschließen kann, eine Unterstützungs-, Koordinierungs- oder Ergänzungsmaßnahme durchzuführen“ (Kap. V), gehören „Allgemeine Bildung, Jugend, Sport und berufliche Bildung“ (Art. III-282 und 283). Der Grundsatz bezüglich Bildung gleicht jenem im Vertrag zur Europäischen Union (EUV): Unterstützung durch Koordination und Zusammenarbeit; Respektieren der Verantwortung der Mitgliedsstaaten für die Gestaltung des Bildungssystems sowie die Vielfalt ihrer Kulturen und Sprachen (s. Abschn. 2.3 a). Weder hier noch in der Aufzählung der Tätigkeiten und Ziele wird auf Behinderungen Bezug genommen.
c)   Der Reformvertrag bzw. EU-Grundlagenvertrag soll den 2005 gescheiterten Vertrag über eine Verfassung für Europa (VVE) ersetzen und der Europäischen Union eine einheitliche Struktur und Rechtspersönlichkeit geben. Der VVE wurde 2007 in Lissabon revidiert und unterzeichnet; anschließend soll er, mit wenigen Ausnahmen ohne Volksabstimmung, von allen Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Der Vertrag von Lissabon übernimmt größtenteils die Inhalte des VVE; die darin integrierte Charta der Grundrechte soll somit, mit Ausnahme von Großbritannien und Polen, rechtlich verbindlich werden.

2.4 Grundzüge europäischer Integrationspolitik Behinderter

Welches sind die Hauptzielsetzungen der EU zur Integration Behinderter? – Alle Maßnahmen der Europäischen Kommission, die einen Bezug zur Behindertenthematik aufweisen, verfolgen ein gemeinsames Ziel: die Förderung der Chancengleichheit und der Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen. Diese Grundsätze wurden in der Strategie der EU im Bereich Behinderung festgehalten. Sie umfasst drei Schwerpunkte:
a)   Zusammenarbeit der EU-Kommission mit den Mitgliedstaaten, die gemäß  Subsidiaritätsprinzip für die praktische Durchführung verantwortlich sind. Die Kommission unterstützt sie bezüglich Kooperation, beim Informations- und Erfahrungsaustausch, in der Sensibilisierung der Öffentlichkeit und beim Einbezug von Behindertenanliegen bei Planung und Gesetzgebung.
b)   Volle Teilhabe von Personen mit Behinderungen, die als Partner in Planung, Begleitung und Auswertung von Neuerungen in Politik, Praxis und Programmen involviert sein sollen.
c)   Mitberücksichtigung des Behinderungsaspekts (Mainstreaming Disability) bei politisch-gesetzgeberischen Formulierungen allgemein.

Der EU-Aktionsplan zugunsten behinderter Menschen dient dazu, die entsprechende Strategie in der Praxis umzusetzen. Er wurde entwickelt, um dem Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen (2003) kohärente politische Maßnahmen folgen zu lassen. Der Rahmenplan 2004-2010 soll regelmäßig aktualisiert und konkretisiert werden.
Die europäische Behindertenpolitik war und bleibt (nach Doose 2003) wohl weiterhin verschiedenen Einflüssen und Wandlungen unterworfen, einerseits durch eine veränderte Auffassung des Behindertenkonzepts und der Behindertenrolle, andererseits durch die Behindertenrechtsbewegung.
a)   Wandel des Behinderungskonzepts: Im europäischen Raum gibt es  nicht nur gleichzeitig sehr unterschiedliche Begriffe und Konzepte von Behinderung, sondern diese haben sich auch im Verlauf der neueren Zeit erheblich gewandelt. Einseitige negative Klassifikationen, welche die Lebenswirklichkeit behinderter Menschen nicht zu erfassen vermögen, machen sukzessive dem dreistufigen bio-psycho-sozialen Modell (ICF) Platz. Verantwortliche beginnen, Behinderung nicht mehr primär als medizinisches, sondern als gesellschaftliches Problem zu betrachten. Demzufolge tritt der Aspekt der Rehabilitation zugunsten der Integration/Inklusion in den Hintergrund. Betroffene werden als Partnerinnen und Partner ernster genommen. Im Zentrum stehen die Eröffnung gleicher Chancen und der Zugang zum Mainstream. Dies soll durch ein Benachteiligungsverbot in Politik und Recht verankert werden (Ratke 1996).
b)   Zur Rolle behinderter Bürgerinnen und Bürger gibt es in Europa divergierenden Auffassungen. Dementsprechend sind auch regional unterschiedliche Ansätze in der europäischen Behindertenpolitik erkennbar (Ratke 1996). In den Mittelmeerländern wird fast ausschließlich über Betroffene gesprochen;  Wortführend sind nicht-behinderte Spezialisten, während in den skandinavischen und angelsächsischen Ländern sozusagen nur „betroffene“ Repräsentanten zu finden sind und die Entwicklung einer eigenständigen Behindertenkultur Priorität genießt. Mitteleuropäische Staaten nehmen diesbezüglich quasi eine Mittelstellung ein.
c)   Die Behindertenrechtsbewegung gilt als weitere Stosskraft, die zu einem allmählichen Bewusstseinswandel in der behindertenpolitischen Ausrichtung geführt hat. Deren Ansatzpunkt ist nicht mehr wohlfahrtsstaatliche Fürsorge, sondern der rechtlich begründete Anspruch auf Chancengleichheit und Schutz vor Diskriminierung (Doose 2003). Die Herstellung der Chancengleichheit bedeutet jenen Prozess, mit dessen Hilfe die Systeme der Gesellschaft und die Umwelt allen zugänglich gemacht werden, insbesondere auch den Behinderten. Behinderte sind Mitglieder der Gesellschaft und haben das Recht, in ihrer jeweiligen Ortsgemeinschaft zu verbleiben. Sie sollen die von ihnen benötigte Unterstützung im Rahmen der üblichen Bildungs-, Gesundheits-, Beschäftigungs- und sozialen Dienstleistungsstrukturen erhalten.

Die Europäische Union hat diese Entwicklung aufgegriffen und bereits am 20.12.1996 eine Neue Strategie der Europäischen Gemeinschaften zur Chancengleichheit für behinderte Menschen verabschiedet. Dieses neue Konzept basiert stärker auf dem Gedanken des Rechts als auf Nächstenliebe; ferner darauf, dass die Gesellschaft sich auf Unterschiede einstellen muss, statt die zwangsweise Anpassung auf eine künstliche Norm zu betreiben. Nicht die Anpassung des behinderten Menschen, sondern die Anpassung der Gesellschaft steht somit im Vordergrund der neuen Behindertenpolitik der Europäischen Union. Dies führt zu einem behindertenpolitischen Ansatz, der auf Bürgerrechten und der Einbeziehung behinderter Menschen statt auf Aussonderung und Ausgrenzung basiert (Doose 2003).
Damit ist aus dem Spezialthema Behinderung ein Querschnittsthema der Europäischen Union geworden, das in allen Politikbereichen (z.B. der Sozial-, Arbeitsmarkt- und Verkehrspolitik) berücksichtigt werden soll.
Die Neuorientierung der Behindertenpolitik wird sich künftig zunehmend auch auf die Behindertenpädagogik, die Beschäftigung, das Wohnen und die Förderung behinderter Menschen allgemein auswirken. Gemeindenahe Dienstleistungen wie unterstützte Beschäftigung, ambulante Konzepte der Rehabilitation, persönliche Assistenz und betreutes Wohnen im eigenen Wohnraum passen zur neuen Grundausrichtung auf Selbstbestimmung und umfassende gesellschaftliche Teilhabe behinderter Menschen, während der Zuweisung von Menschen mit Behinderung in Sondereinrichtungen und zu Spezialmassnahmen immer mehr Zurückhaltung entgegen gebracht wird (Doose 2003).

Weitere Perspektiven und Bereiche europäischer Integrationspolitik Behinderter

Das offizielle Europa spricht sich auf der Ebene des sekundären Gemeinschaftsrechts der EU (http://ec.europa.eu/) in drei Bereichen für die Integration Behinderter aus, nämlich 1) in rechtlicher Hinsicht, 2) bezüglich  Fragen des Soziales und der Beschäftigung, sowie 3) der Bildung. Dies geschieht vor allem indirekt durch die Forderung nach Chancengleichheit, Gleichbehandlung, Teilhabe, Vermeidung von Diskriminierung. (s.a. Heimlich & Willmann 2002).
a)   Rechtsbereich: Nach modernem behindertenpolitischem Verständnis bedeutet die Forderung nach Chancengleichheit und Gleichbehandlung sowie – im Gegenzug dazu – nach Vermeidung von Diskriminierung gegenüber Menschen mit Behinderungen eine wichtige Voraussetzung für deren Integration. Im Zusammenhang und in Ergänzung zu den entsprechenden Forderungen in den EG/EU-Verträgen (s. Abschn. 2.3) gibt es dazu weitere Äußerungen und Aktionen von EG/EU-Organen (s.a. Schulte 2008).
Bereits im Juli 1996 verabschiedete die Kommission ein Strategiepapier zur Chancengleichheit für behinderte Menschen. Darin wendet sie sich gegen jede Ausgrenzung und Diskriminierung behinderter Menschen u.a. durch Mobilitätsschranken, Einstellungshindernisse oder die Ausgrenzung behinderter Kinder aus dem allgemeinen Bildungswesen. Für behinderte Menschen werden die uneingeschränkte Chancengleichheit sowie die volle Teilhabe an allen gesellschaftlichen Lebensbereichen gefordert.
In der Entschließung des Rates vom 20. Dezember 1996 bekennen sich in der Folge die Mitgliedstaaten zur Chancengleichheit für behinderte Menschen und verpflichten sich zur Beseitigung aller Formen von Diskriminierungen. Zugleich werden die Mitgliedstaaten aufgefordert, die Behindertenperspektive bei der Festlegung von Maßnahmen in allen einschlägigen Bereichen einzubeziehen, behinderten Menschen durch den Abbau von Hindernissen eine uneingeschränkte Mitwirkung am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen und die öffentliche Meinung dahingehend zu beeinflussen, dass sie sowohl den Fähigkeiten von Menschen mit Behinderung als auch Strategien, die auf Chancengleichheit für behinderte Menschen abzielen, aufgeschlossen gegenübersteht.
Im November 1999 hat die Kommission einem umfassenden Antidiskriminierungspaket zugestimmt, zusammen mit einem Vorschlag für eine entsprechende Richtlinie und einem Aktionsprogramm (2001-2006). Durch die Richtlinie sollte ein Rahmen für einklagbare Rechte geschaffen werden.
Nach der Mitteilung der Kommission vom 30.10.2003 sollte ein Europäischer Aktionsplan zur Chancengleichheit für Menschen mit Behinderungendie Impulse und Errungenschaften des Europäischen Jahres für Menschen mit Behinderungen nutzen und ein tragfähiges, nachhaltiges Konzept für die Behindertenthematik in einem erweiterten Europa entwickeln. Die Dimension „Behinderung“ soll in allen relevanten EU-Politiken gefestigt werden; gleichzeitig sind die Strategien auf nationaler Ebene zu fördern. Angestrebt werden eine uneingeschränkte Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf sowie der Zugang für alle.
b)   Bereich Soziales und Beschäftigung: Die Bereiche Soziale Integration und Beschäftigung behinderter Menschen sind miteinander, aber auch mit dem Rechtsaspekt (Chancengleichheit, Diskriminierung) eng verbunden. Behinderung führt oft zu sozialem Ausschluss und zu Armut. In der Europäischen Sozialagenda, im Dezember 2000 in Nizza vom Europäischen Rat verabschiedet, wird vorgesehen, sämtliche Maßnahmen zugunsten einer besseren Eingliederung behinderter Personen in allen Bereichen des sozialen Lebens durch die EU weiter zu entwickeln. Ferner wurde beschlossen, ab 2001 die soziale Integration durch das Erstellen entsprechender nationaler Pläne (NAPincl: Nationale Action Plan on Social Inclusion) zu fördern.
In der Mitteilung der EU-Kommission "Auf dem Weg zu einem Europa ohne Hindernisse" vom 10.5.2000 werden konkrete Maßnahmen zur Beseitigung von Barrieren und Hindernissen im Bereich der Mobilität, Zugänglichkeit, Informationstechnologien und Verbraucherrechten vorgeschlagen.
Behinderte Menschen sind in großem Ausmaß von Arbeitslosigkeit betroffen, was die soziale Eingliederung und Stellung erschwert.  Deshalb verfolgen rechtliche Absicherungen, Initiativen und Programme auf Gemeinschaftsebene das Ziel, die Beschäftigungsmöglichkeiten für behinderte Menschen zu verbessern.
Einer der Eckpfeiler europäischer Beschäftigungs- und Sozialpolitik der EU ist das Bereitstellen von mehr und besseren Arbeitplätzen. Die Sozialagenda soll dafür einen wichtigen Rahmen darstellen, damit die Vorteile des Europäischen Wachstums jedem Bürger und jeder Bürgerin zugutekommen. Sie legt für den Zeitraum 2005-2010 die Eckwerte zur Schaffung von Arbeitsplätzen für alle fest. Die Chancengleichheit ist dabei eine zentrale Voraussetzung. Vorrangiges Anliegen des europäischen Sozialmodells ist es deshalb, gegen fundamentale Ungleichheiten zwischen Menschen anzugehen. Menschen, die sich – z.B. infolge Behinderung - in schwierigen Lebenssituationen befinden, sollen unterstützt werden. Eine wesentliche unterstützende Funktion kommt dabei dem Europäischen Sozialfonds zu.
In der Entschließung des Rates vom 17. Juni 1999 zu gleichen Beschäftigungsmöglichkeiten für behinderte Personen fordert die Mitgliedstaaten auf, Förderprogramme für die Integration von unterschiedlich behinderten Personen zu erarbeiten, zu bewerten und zu überwachen.
Mit der Entschließung des Rates vom 15. Juli 2003 werden später ebenfalls die Förderung der Beschäftigung und der sozialen Eingliederung der Menschen mit Behinderungen gefordert. Darin werden die Mitgliedstaaten und die Kommission aufgefordert, weitere Anstrengungen zur Beseitigung der Hindernisse für eine Eingliederung der Menschen mit Behinderungen in den Arbeitsmarkt und ihre Beteiligung am Arbeitsmarkt zu unternehmen,  
Im Bereich Beschäftigung setzt die EU (nach Doose 2003) heute auf neuere, offensivere Ansätze wie: aktive Unterstützung bei der Stellensuche und Bewerbung, Antidiskriminierungsgesetze, Aufklärungskampagnen, maßgeschneiderte Arbeitsangebote, Anpassung des Arbeitsortes,  Ausbildungsangebote, Integrationsfirmen usw.
c)   Bereich Bildung: Die Zuständigkeit der EG/EU im Bereich Bildung ist bekanntlich sehr eingeschränkt, auch wenn mit dem Vertrag von Maastricht diesbezüglich unter bestimmten Bedingungen eine gewisse Öffnung stattgefunden hat (s. Abschn. 2.3). Dennoch hat sich die EG schon früh mit der Schulischen sowie Beruflichen Bildung und Integration Behinderter befasst. Sie publizierte dazu 1986 Empfehlungen und 1988 einen Bericht. 1987 erschienen Schlussfolgerungen zu einem europäischen Kooperationsprogramm für die schulische Eingliederung behinderter Kinder und 1992 der Integrationsbericht (s. Bürli 1994).
Die EU verfolgt weiterhin den Grundsatz, den besonderen Charakter der Bildungssysteme in den Mitgliedstaaten unbedingt zu wahren und gleichzeitig die Interaktionen zwischen den Bildungs-, Berufsbildungs- und Beschäftigungssystemen besser zu koordinieren. Die Gegenüberstellung von Ideen und vorbildlichen Lösungen soll zentraler Bestandteil europäischer Bildungskooperation werden. Dies führt zu Netzwerken, Austauschprogrammen und Partnerschaften.
Gemäß der Entschließung des Rates und der im Rat vereinigten Minister für das Bildungswesen (vom 31. Mai 1990) über die Eingliederung von behinderten Kindern und Jugendlichen in das allgemeine Bildungssystem sind die Mitgliedstaaten übereingekommen, „sich in allen geeigneten Fällen um die Eingliederung behinderter Schüler und Studenten in ihre allgemeinen Bildungssystem zu bemühen. Die Arbeit der Sonderschulen und -einrichtungen ist als Ergänzung der Arbeit des allgemeinen Bildungssystems anzusehen. Es soll die Zusammenarbeit zwischen allen Einrichtungen, die sich behinderter Kinder und Jugendlicher annehmen, gefördert werden (schulische Einrichtungen, Berufsvorbereitung, Freizeitgestaltung, Gesundheitswesen, Sozialwesen). (…) Der Rat und die Minister halten es für erforderlich, dass im Zusammenhang mit dem im Juli 1992 vorgelegten Bericht über das HELIOS-Programm auch Bericht erstattet wird über die bisher getroffenen Maßnahmen zur Erleichterung der Eingliederung in das allgemeine Bildungssystem, zum Ausbau der Funktion der Sondereinrichtungen bei der Förderung der Entwicklung der integrierten Bildung, zur Entwicklung einer aktiveren Zusammenarbeit zwischen den Bildungseinrichtungen und den anderen Einrichtungen, zur Förderung der Ausarbeitung einer umfassenderen und kohärenten Bildungspolitik sowie zur Beseitigung von Schwierigkeiten, die die Lehrpläne allgemeiner Bildungseinrichtungen für behinderte Kinder und Jugendliche aufwerfen können“.
Ein für den europäischen Raum wichtiges Dokument ist die Charta von Luxemburg (1996), welche die Ergebnisse des HELIOS-Programms (1993-1996) zusammenfasst. „Auf dem Weg zu einer Schule für alle“ nimmt sie zwar keine Einengung der Integration auf behinderte Kinder vor, sondern zieht auch andere Kinder mit besonderen Bedürfnissen mit ein. Das Hauptanliegen der Charta aber ist und bleibt die Verbesserung und Verbreitung der Integration behinderter Kinder und nicht so sehr der Einbezug aller Kinder mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen in einen veränderten, inklusiven Unterricht.
Die Entschließung des Rates vom 5. Mai 2003 postuliert die Chancengleichheit für Schülerinnen und Schüler sowie Studierende mit Behinderungen in der allgemeinen und beruflichen Bildung.  (http://europa.eu.int). „Im Zusammenhang mit den europäischen Initiativen zum Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen 2003 fordert diese Entschließung die Mitgliedstaaten und die Kommission auf, im Rahmen ihrer jeweiligen Befugnisse

Schließlich ist gemäß Entschließung des Rates vom 6. Februar 2003 die „eAccessability“ – d.h. der Zugang von Menschen mit Behinderungen zur Wissensgesellschaft zu verbessern. Das Potential der Informationsgesellschaft ist für Menschen mit Behinderungen zu erschließen und Schranken für ihre Beteiligung zu beseitigen.
Nach der gleichen Entschließung ist aber auch die Zugänglichkeit kultureller Einrichtungen und kultureller Aktivitäten für Menschen mit Behinderungen zu fördern. Möglichkeiten zur Integration von Menschen mit Behinderungen in die Bereiche Kunst und Kultur sind zu prüfen, der physische Zugang zu kulturellen Stätten zu erleichtern und der Einsatz von Zeichensprache und Blindenschrift zu verstärken.

 

3. Europäische Kooperation im Bereich Integration Behinderter

Europäische Zusammenarbeit im Bereich Integration Behinderter verfolgt primär das Ziel der diesbezüglichen internationalen Unterstützung und des Austauschs. Sekundär stärkt sie die interkulturelle Verständigung, Qualitätssicherung und -verbesserung. Infolge zunehmender Mobilität, Globalisierung und Europäisierung haben Ausmaß und Bedeutung internationaler Zusammenarbeit – auch in Sachen Integration Behinderter – deutlich zugenommen.

3.1 Formen und Beispiele

Zu den Beispielen und Formen der Zusammenarbeit im (gesamt- oder teilweisen) europäischen Raum gehört die vermehrte Thematisierung der Integration Behinderter an Kongressen und Tagungen. So treffen sich z.B. seit Jahren die  (deutschsprachigen) Integrationsforscher/-innen zu einer Tagung. Ferner kann auf die European Science Foundation hingewiesen werden, welche 78 nationale Agenturen zur Forschungsfinanzierung in 30 Ländern vereinigt und in ihrem Programm Social Sciences in Europe auch den Fokus Social Inclusion ausweist (www.esf.org).
Europäische Kooperation ist ferner angesagt bei der Entwicklung und Anwendung des Index for Inclusion sowie der International Classification of Functioning / ICF).
Der engere Schulterschluss Europas hat auch der integrationsorientierten Ausbildung von Fachpersonal grenzüberschreitende Impulse verliehen. Als Beispiele können genannt werden: die Entwicklung europäischer Studiengänge (s. Bloemers 2006; Störmer 2006), insbesondere eines eigenen Masterstudiums in Inklusiver Bildung (European Master in Inclusive Education / EUMIE; Feyerer 2004) sowie der internationale Studiengang Integrative Heilpädagogik/ Inclusive Education der Evangelischen Fachhochschule Darmstadt in Kooperation mit Hochschulen in Ungarn und Finnland (s. Stein 2006). Der Weiterbildung dient die Europäische Akademie für Heilpädagogik (EAH) mit Sitz in Berlin.
Unterschiedlich stark auf Integration ausgerichtet sind europäische Vereinigungen (Fach-, Berufs-, Selbsthilfe- und Betroffenenorganisationen). Seit 2005 gibt es im europäischen Raum die Internationale Gesellschaft heilpädagogischer Berufs- und Fachverbände. Auf der Seite der Betroffenen repräsentiert das Europäische Behinderten Forum (European Disability Forum / EDF) als Dachorganisation 70 europäische Nicht-Regierungsorganisationen, 17 nationale Räte und 37 Millionen behinderte Bürgerinnen und Bürger aus allen EU- und EWR-Ländern. Seine Hauptaufgabe liegt darin, die Grundrechte behinderter Menschen durchzusetzen und die Gleichberechtigung in den EU-Institutionen und den Mitgliedstaaten zu fördern.
Schließlich strebt das Netzwerk The European Agency for Development in Special Needs Education (www.european-agency.org/) mit derzeit 31 Mitgliedsländern die Zusammenarbeit und Qualitätsverbesserung im Bereich integrativer/inklusiver Pädagogik in Europa an. Ebenfalls länderübergreifend tätig ist das Internet-Projekt bidok am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck (http://bidok.uibk.ac.at). Seine Hauptaufgabe ist die Aufarbeitung fachspezifischer Artikel im Bereich integrativer Pädagogik und der Integration behinderter Menschen.  

3.2 Integrationsorientierte Aktionsprogramme und Gemeinschaftsinitiativen der EU

Weitere Beispiele europäischer Kooperation sind Aktionsprogramme und Gemeinschaftsinitiativen der EU,  die mehr oder weniger direkt die Integration Behinderter im Fokus haben. Dabei ist einmal mehr von einem sehr breit gefächerten Integrationsbegriff auszugehen, der rechtliche, soziale, wirtschaftliche und schulische Aspekte einschließt. Tendenziell führt die Entwicklung weg von spezifischen Aktivitäten hin zur Berücksichtigung solcher Anliegen innerhalb allgemeiner Aktionen (im Sinne von Disability Mainstreaming).
Zwei allgemeine Bildungsprogramme mit gewissem Behinderungsbezug sind SOKRATES und LEONARDO DA VINCI (beide ab 1995). Im ersten Programm wird den gleichen Bildungschancen und der Integration behinderter Menschen große Beachtung sowie eine hohe Priorität bei der Auswahl von Aktionen geschenkt. Das zweite Programm beinhaltet die Förderung neuer Ansätze in der beruflichen Grund- und Fortbildung, unter besonderer Berücksichtigung des gleichberechtigten Bildungszugangs für Benachteiligte, Behinderte und Migranten.
Drei behinderungsspezifische Bildungsprogramme bezweckten, den Informations- und Erfahrungsaustausch über Maßnahmen auf nationaler Ebene zwischen den Mitgliedstaaten und mit den Nichtregierungsorganisationen zu ermöglichen und zu erleichtern (s. BAR 1997; Schulte 2008). Nach dem ersten Aktionsprogramm (ab 1974) folgte von 1988-1991 das zweite  unter dem Namen HELIOS I (Handicapped People in the European Community living independendly in an Open Society). Seine Zielvorstellung war die selbständige Lebensführung aller behinderten Menschen. Es befasste sich mit unterschiedlichen Themenbereichen der Behindertenhilfe und berücksichtigt alle Arten von Behinderungen. Das Anschlussprogramm HELIOS II (1992-1996) knüpfte hauptsächlich an bei der UNESCO-Erklärung von Salamanca (1994) und den UN-Standardregeln zur Chancengleichheit (1993). Als  Abschlussdokument wurde ein Europäischer Leitfaden erarbeitet, der als umfassende Anleitung für koordinierte nationale Programme und Weiterentwicklungen gedacht ist. Hauptthemen sind: soziale Eingliederung und eigenständige Lebensführung, Eingliederung in das Bildungssystem, Funktionelle Rehabilitation, Beruf und Vorbereitung auf das Berufsleben (Europäische Kommission 1996).
Als weitere Aktionsprogramme zur Beschäftigung und Integration von Menschen mit Behinderung sind zu nennen:
HANDYNET: ein mehrsprachiges, EDV-gestütztes Datenbanksystem über technische Hilfsmittel und Integrationstechnologien
HORIZON: eine Initiative zur Verbesserung der Zugangsbedingungen für behinderte Menschen zum allgemeinen Arbeitsmarkt und zur Verminderung ihrer Arbeitslosigkeit
TIDE: ein sozio-ökonomisches Integrationsprogramm für behinderte und ältere Menschen
EUCREA: ein Programm, das kreatives Handeln behinderter Menschen fördern und ihre Möglichkeiten in allen Kunstformen und kulturellen Aktivitäten erhöhen will
EQUAL: eine Gemeinschaftsinitiative (2000-2006), die als ein Labor zur Entwicklung neuer Ideen für die Europäischen Beschäftigungsstrategie und den sozialen Eingliederungsprozess gedacht ist und ein integrationsförderndes Arbeitsleben unterstützen soll, indem Diskriminierungen (z.B. wegen Behinderung) durch Sensibilisierungsmaßnahmen, Tagungen und Berichte bekämpft werden.
Der Europäische Tag und das Europäische Jahr der Menschen mit Behinderungen sind weitere behindertenpolitische Instrumentarien, um die Öffentlichkeit für die Bedürfnisse behinderter Menschen  zu sensibilisieren.
Nachdem die Vereinten Nationen 1992 den 3. Dezember jeden Jahres zum Tag der behinderten Menschen erkoren hatten, erklärte die Europäische Kommission 1993 den gleichen Tag auch zum Europäischen Tag behinderter Menschen.
Darüber hinaus erklärte der Rat der EU das Jahr 2003 zum „Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen“, um so den 37 Millionen behinderten Menschen in der EU die Möglichkeit zu geben, europaweit auf sich und ihre Bedürfnisse aufmerksam zu machen.
Hauptzielrichtung beider Anlässe sind die Rechte behinderter Menschen. Im Rahmen dieser übergeordneten Zielsetzung geht es vor allem um den Schutz vor Diskriminierung sowie um die Wahrnehmung der vollen Bürgerrechte, wozu auch der Zugang zur Bildung gehört, wie es in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union niedergelegt ist.

 

4. Fazit und Ausblick

Zurück zur Gretchenfrage: Wie hält es Europa mit der Integration Behinderter? Dazu lässt sich Folgendes aussagen:
Es ist schwieriger, die Wirklichkeit zu beschreiben, wie es um die Integration Behinderter in Europa bestellt ist, als dazu die diesbezüglichen europaweit gültigen Absichtserklärungen, Grundlagen und Zielsetzungen der EG/EU zu konsultieren. In Abhängigkeit vom derzeitigen Grad der politisch-kulturellen Identitätsbildung Europas liegen dazu zahlreiche Formulierungen gemeinsamer Perspektiven vor. Es geht dabei vor allem um das Bereitstellen eines Wertefundaments als Voraussetzungsbedingung für die Integration Behinderter. Dazu gehören: Achtung der Menschenwürde, Wahrung der Menschenrechte, Gleichheit und Chancengleichheit, Ermöglichung der vollen Teilhabe und Mobilität, Schutz vor Diskriminierung, Sicherstellung von Beschäftigung, Förderung von Toleranz und Solidarität.
Da die Gestaltung der Bildungssysteme nicht in der zentralen Kompetenz der EU liegt, sondern in der Verantwortung der Mitgliedsländer, sind ihre Aussagen zur Integration im pädagogischen Sinne spärlicher und unverbindlicher. Vorliegende Empfehlungen dazu sind an Bedingungen geknüpft (Integration „im geeigneten Fall“), konzentrieren sich auf Zusammenarbeit und Austausch, lassen die Koexistenz integrativer wie separativer Systeme zu und plädieren sinngemäss eher für Konzepte der Integration als der Inklusion. Es wird sich zeigen, wie und wieweit das Übereinkommen über die Rechte behinderter Menschen (insbes. Art. 24 der UN-Konvention (2007; 2008) die entsprechenden Konzepte der EU zu präzisieren vermag.
Auf der politisch-rechtlichen Ebene hat das sich vereinigende Europa, sei dies im Rahmen der EG oder der EU, von Anfang an eine bemerkenswerteAktivität im Interesse Behinderter entfaltet, die wohl keineswegs als abgeschlossen betrachtet werden kann. Europaweit festgelegte Normen und Richtlinien tragen dazu bei, die Rechtsansprüche behinderter Menschen überall zu sichern sowie den Qualitätsanforderungen durchwegs Rechnung zu tragen.
Die der Behindertenpolitik zugrunde gelegten Inhalte und Werte tragen aber auch viel zum Selbstverständnis und zur Profilierung Europas bei. Europäische Integrationspolitik zugunsten behinderter Menschen ist ein Ausdruck europäischen Gemeinsinns. Behindertenpolitik ist erfreulicherweise daran, von einem Spezialanliegen zu einem Querschnittsthema europäischer Politik zu werden.
Wichtig ist allerdings, dass diese Grundaussagen der Öffentlichkeit und den Bürgerinnen und Bürgern Europas überhaupt bzw. hinreichend vermittelt und von ihnen zur Kenntnis genommen werden. Das Ergebnis integrativer Behindertenpolitik ist maßgeblich von den Willensbildungs- und Vermittlungsprozessen abhängig. Nun sind aber behindertenpolitische Äußerungen der EU von unterschiedlicher Verbindlichkeit und die EU verfügt teilweise nur beschränkt oder indirekt über Macht und Einfluss auf deren Umsetzung. Das heißt aber nicht, dass ihre teils unverbindlichen Leitideen nicht richtungsweisend zur Stärkung der europäischen Integrationspolitik Behinderter beitragen können.
Europäische Behindertenpolitik richtet sich bei den Mitgliedsländern an ein sehr heterogenes Umfeld mit großen Unterschieden bezüglich Rechtsordnungen, Traditionen, Kulturen, Regierungssysteme und Verfassungen. Die Sozial- und Bildungssysteme in Europa sind stark in ihrem nationalen Kontext verankert. Auch in der Behindertenpolitik gibt es in den Mitgliedsländern unterschiedliche Traditionen und Entwicklungsverläufe (vgl. Maschke 2000). Somit ist damit zu rechnen, dass die Entwicklung und vor allem die Umsetzung gemeinsamer behindertenpolitischer Auffassungen wie diejenige der Integration in Europa ein sehr langwieriger Prozess sein wird.
Auf diesem Weg setzt die EU auch auf die Zusammenarbeit und den Austausch unter den Mitgliedsländern. Dies setzt eine Kultur des partnerschaftlichen Dialogs und der gegenseitigen Verständigung voraus, die frei ist von Vorherrschaftsdenken und Geringschätzung.  Die wichtige und schwierige Aufgabe besteht darin, eigene Konzepte ständig mit fremden Auffassungen in Relation zu bringen und das Andere als Teil der europäischen Kultur zu akzeptieren.

Das Beschreiben und Vergleichen der Wirklichkeit europaweit zutreffender Merkmale und Tendenzen im Bereich Integration Behinderter gestalten sich – wie gesagt – schwieriger und problematischer als zentral formulierte Soll-Vorstellungen zu erörtern. Immerhin lassen sich aber solche gesamteuropäische integrative „Anzeichen“ erkennen, so z.B. unter den Gesichtspunkten Leitideen, Personenkreis, Fachpersonal, Strukturen und Angeboten, Prozesse und Vorgehensweisen. Besonders problematisch wäre es, „Integration“ an nur einem dieser Merkmale festmachen zu wollen.
Trotz gewisser gemeinsamer Tendenzen besteht hinsichtlich der Integration Behinderter ohne Zweifel eine große Variabilität, die – je nach Standpunkt – (nach dem Motto der EU) als „Vielfalt in der Einheit“, als Bereicherung oder als Erschwernis und Unübersichtlichkeit betrachtet werden kann.
Wichtiger als das Ansammeln von Wissen über den Anderen und das Gemeinsame ist jedoch die Auseinandersetzung mit dem Fremden. Dadurch werden ständig Relationen zum Eigenen hergestellt und das Eigene neu bewertet. Sich im Spiegel des europäischen Auslands besser kennen zu lernen, führt zu einer Horizonterweiterung, die über einen rein intellektuell-mentalen Erkenntniszuwachs hinausgeht. Sie schafft Distanz zum Eigenen, hinterfragt und relativiert die eigenen Denk- und Handlungsgewohnheiten.

5. Literatur                                                        

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