Abstract: Die Bildungssysteme in den nordischen Ländern gelten als vorbildlich, auch unter dem Aspekt der Inklusion. Ein diesbezüglicher Blick auf Finnland, Norwegen und Schweden soll im Vergleich zu Deutschland Aufklärung darüber geben, welcher Entwicklungsstand erreicht wurde. Darüber hinaus soll der Stellenwert beleuchtet werden, den die Inklusion als Gesellschaftsmodell aktuell in diesen Ländern einnimmt. Dabei werden Veränderungen sichtbar, die sich aus dem Spannungsverhältnis zu neoliberalen Gesellschaftsvorstellungen ergeben.
Stichworte: Sonderpädagogische Förderung, Integration, Inklusion, Gemeinsamer Unterricht, teilintegrative Förderung, Sonderklassen, Output-Orientierung, Privatschulen, „free schools“, Neoliberalismus
Ausgabe: 2/2010
Die nordischen Schulsysteme zeichnen sich aus durch ein gemeinsames Verständnis darüber, was Bildung für den einzelnen und für die Gesellschaft ist. Gleiche Bildungschancen für alle gelten als Fundament für Demokratie und gesellschaftliche Entwicklung. „Kein Kind zurücklassen“, das Motto, mit dem Finnland bei uns bekannt geworden ist, gilt auch für die anderen Länder.
Im Überblick stellen sich die wichtigsten systemischen Merkmale so dar:
- Gute vorschulische Bildung in kleinen Gruppen, in Orientierung an
Bildungsplänen und in der Verantwortung von akademisch ausgebildeten
Erzieherinnen
- Gemeinsames Lernen von Klasse 1-9 (Finnland /Schweden) bzw. 1-10
(Norwegen) ohne äußere Leistungsdifferenzierung
- Binnendifferenziertes, individualisiertes und eigenverantwortliches Lernen
- Individuelle Förderung statt Klassenwiederholungen
- Arbeit in Lehrerteams und multiprofessionelle Zusammenarbeit
(von allgemeinen Pädagogen, Sonderpädagogen, Sozialarbeitern,
Psychologen, Schulassistenten)
- Große Selbständigkeit der Schulen
- Kommunale Verantwortung für die Umsetzung zentralstaatlicher
Rahmenvorgaben
Schulstrukturelle Veränderungen fanden in den ausgehenden 1960er und in den 1970er Jahren statt. Dabei hatte man auch den Mut zu experimentieren. Z.B. in der Form, dass in der einen Hälfte von Stockholm die Schulen die äußere Fachleistungsdifferenzierung in der Gesamtschule einführten, während man in der anderen Hälfte darauf verzichtete. Man wollte im direkten Vergleich sehen, was besser wirkt. Wie man feststellen kann, waren es dann die Erfahrungen mit den unselektierten Gruppen, die eine größere Lernwirksamkeit für sich verbuchen konnten. In den 1990er Jahren kamen dann Reformen hinzu, die den Kommunen und den Schulen größere Verantwortung übertrugen und die auch auf eine Verbesserung der Schul- und Unterrichtsentwicklung abzielten. Vor diesem Hintergrund konnte sich auch die Einbeziehung von Kindern mit Behinderungen in das Gesamtschulsystem anders entwickeln als in Deutschland.
Seit Mitte der 1990er Jahre bewegt sich die finnische Bildungspolitik weg von der eigenständigen Sonderschule hin zu flexiblen sonderpädagogischen Organisationsformen in der finnischen Gesamtschule. Seit 1999 ist mit dem Comprehensive Instruction Law gesetzlich geregelt, dass die Kommunen in ihrem Einzugsbereich dafür Sorge tragen müssen, dass alle Schüler/-innen die neunjährige Gesamtschule besuchen können.
Das bedeutet, dass Schüler und Schülerinnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf prioritär in Regelklassen unterrichtet werden sollen. „Ist das Lernen eines Schülers im Regelunterricht nicht möglich oder im Hinblick auf die Entwicklung des Schülers nicht zweckmäßig, so ist der Unterricht teilweise oder ganz in einer sonderpädagogischen Gruppe einzurichten“ (Zentralamt für Unterrichtswesen 2004, 28). Ob für diesen letzteren Fall Sonderklassen innerhalb der Gesamtschule eingerichtet werden oder Unterricht in Sonderschulen angeboten wird, darüber entscheidet jede Kommune selber.
Der Entwicklungsstand in Finnland lässt sich wie folgt zusammenfassen (Schumann 2007): 1. Es gibt einen deutlichen Rückgang an Sonderschulen durch die Verlagerung der sonderpädagogischen Ressourcen in die Gesamtschulen. Die Zahl der Sonderschulen ist im Zeitraum von 1991 bis 2002 von 362 auf 250 zurückgegangen (European Agency 2003).
2. Am häufigsten sind Sonderschulen für Sinnesgeschädigte sowie für Schüler/-innen mit schwerer körperlicher und /oder geistiger Behinderung.
3. Schüler/-innen mit Lernproblemen werden in den Regelklassen der Gesamtschulen unterrichtet, während in Deutschland die Sonderschulen für Lernbehinderte bislang für sie in der Regel zuständig waren, weil die lernschädliche Wirkung der Separation trotz der erdrückenden wissenschaftlichen Befunde und Statistiken bildungspolitisch geleugnet wurde.
4. Es gibt unterschiedliche Organisationsformen unter dem Dach der Gesamtschule. Die Förderung für Schüler/-innen mit festgestelltem sonderpädagogischem Förderbedarf erfolgt im Regelunterricht oder aber in einer Kombination aus Regelunterricht und sonderpädagogischer Kleingruppe oder in separaten Sonderklassen.
5. Der Unterricht für Schüler/-innen mit sozialen und emotionalen Entwicklungsproblemen und mit geistiger Behinderung findet häufig in Sonderklassen statt.
6. Die sonderpädagogischen Ressourcen in den Gesamtschulen werden zur präventiven Förderung von Schüler/-innen mit zeitweiligen Lernproblemen genutzt und besonders in den ersten Jahren für die zusätzliche Unterstützung im Bereich Sprache eingesetzt.
Anders als in Deutschland wird die Unterstützung von Sonderpädagog/-innen nicht erst dann gewährt, wenn umfängliche Lernschwierigkeiten festgestellt worden sind. „Bevor der Erfolg eines Schülers in einem Unterrichtsfach als mangelhaft bewertet wird, muss ihm Förderunterricht angeboten werden. (...) Der Förderunterricht sollte im Einverständnis mit den Erziehungsberechtigten des Schülers erfolgen, wobei diese über die Organisation des Förderunterrichts informiert werden sollen. Der Förderunterricht soll so oft und so umfassend
organisiert werden, wie es für den Schulerfolg des Schülers am zweckmäßigsten ist. Er findet im Rahmen des Stundenplans des Schülers oder außerhalb der Unterrichtsstunden statt“ (Zentralamt für Unterrichtswesen 2004, 24f.).
Mit der Einführung des Förderunterrichtssystems in Verbindung mit der grundlegenden Strukturreform war man in Finnland von Anfang an bemüht, jede Stigmatisierung der Schüler/-innen mit Sonderbedarf zu vermeiden (Siljander 2005). Das System hat sich bewährt, weil es in der Tat das Leistungsniveau der Schüler/-innen mit den schwächsten Lernresultaten erhöht hat. Klassenwiederholungen werden überflüssig gemacht. Durch Prävention werden auch manche Probleme des Lernens, die einen sonderpädagogischen Förderbedarf später nach sich ziehen, vermieden. Sonderschulen für so genannte Lernbehinderte braucht Finnland nicht mehr.
Wenn man so will, ist dieser von Sonderpädagog/-innen phasenweise in einem Fach oder in mehreren Fächern erteilte und in der Schule durchgeführte Förderunterricht eine individuelle, kostenfreie „Nachhilfe“, für die in Deutschland die Eltern sorgen müssen und in der Regel viel Geld zahlen. Er ist aber gleichzeitig mehr als das, weil er eingebettet ist in die „Schülerfürsorge“. Ein multiprofessionelles „Schülerpflegeteam“, das sich zusammensetzt aus Lehrpersonal und Sonderpädagog/-innen der Schule sowie einem/einer Sozialarbeiter/-in und einem/einer Psychologen/-in, berät unter dem Vorsitz der Schulleitung, welche zusätzlichen, eventuell auch außerschulischen Hilfen gegeben werden müssen, um die Lernchancen von sozial und emotional belasteten Schülern und Schülerinnen zu verbessern (Linderoos 2006). Hinter diesem Konzept steht die Vorstellung, dass die Schule eine Schlüsselrolle einnimmt in der Vermeidung des sozialen Ausschlusses.
Der Förderunterricht kann sowohl als Einzelunterricht als auch in kleinen Gruppen erteilt werden. Im Förderunterricht lernen die Schüler/-innen nach einem individuellen Lernplan (HOPPI) auf der Basis des allgemeinen Lehrplans. Ausgehend von Stärken und persönlichen Lern- und Entwicklungsbedürfnissen beschreibt er die individuellen Ziele des Lernens sowie den Bedarf an Hilfe und vertraut auf die Fähigkeit des Schülers, seine eigenen Stärken in dem Prozess des Förderunterrichts zu mobilisieren. Die Leistungsbewertung erfolgt auf der Basis des allgemeinen Lehrplans (Linderoos 2006).
Der Förderunterricht wird hauptsächlich in den ersten Jahren erteilt. Zwei Drittel aller Förderangebote konzentrieren sich auf die Verbesserung der Lese- und Rechtschreibkompetenz sowie auf die Sprachförderung (Herz/Kuorelahti 2005), da man in Finnland davon überzeugt ist, dass Probleme der Sprache vorwiegend das Fundament für weitere Lernschwächen oder Verhaltensauffälligkeiten darstellen. Statistisch nimmt jedes vierte Kind innerhalb der ersten Schuljahre an dem Förderunterricht mindestens einmal teil. Dagegen erhält nur noch jeder zehnte Schüler der neunten Klasse den zeitlich befristeten Förderunterricht (Matthies 2003).
Der zeitweilige Förderunterricht ist bei Schüler/-innen sehr beliebt und viele von ihnen ergreifen selbst die Initiative, um sich dafür anzumelden. Dies ist ein sicherer Hinweis darauf, dass er als Unterstützung, Ermutigung und Stärkung verstanden wird und nicht als eine diskriminierende oder gar stigmatisierende Maßnahme. Sonderpädagogik ist in dem finnischen Hilfesystem heutzutage positiv konnotiert und angeschlossen an die moderne Vorstellung, dass zum lebenslangen Lernen die Schule und der Unterricht die „Unterstützung der Lernfähigkeiten und die positive Lerneinstellung zu betonen“ (Linderoos 2006, 17) hat.
Timo Saloviita (2009) kritisiert die finnische Entwicklung. Er stellt im Zeitvergleich der letzten zehn Jahre heraus, dass die Zahl der als behindert klassifizierten Schüler/-innen enorm angewachsen und die Zahl der Schüler/-innen, die nur phasenweise gemeinsam oder in Sonderklassen unterrichtet werden, auch kontinuierlich gestiegen ist. Für ihn nimmt Finnland in Abweichung von den anderen nordischen Ländern eine negative Sonderrolle ein, die er mit den deutschen Verhältnissen vergleicht.
Seine Kritik aus inklusionspädagogischer Sicht ist nachvollziehbar und berechtigt, aber nicht sein Vergleich mit deutschen Schulverhältnissen. Anders als in Deutschland hat es eine deutliche Verlagerung von völlig separierter sonderpädagogischer Förderung unter das Dach der finnischen Gesamtschule gegeben. Dass Kinder mit Lernproblemen nicht in Sonderschulen ausgesondert werden, sollte auch als Pluspunkt gegenüber der Praxis in Deutschland herausgestellt werden. Teilintegrative Förderung in Finnland produziert nicht die bekannten negativen pull-out Effekte, wie man sie aus der Forschung kennt. Das liegt an dem allgemeinen Förderunterricht, auf den alle Schüler und Schülerinnen Anspruch haben, wenn sie Leistungsschwächen zeigen. Dennoch ist festzuhalten: Finnland hat noch längst nicht das Ziel der Inklusion erreicht. Es muss sich mit seinen Widersprüchen auseinandersetzen, um es positiv zu formulieren.
Einige vielsagende Zahlen vorweg: Die Förderquote in Norwegen beträgt 6,5%, die Sonderschulbesuchsquote 0,41% und die Integrationsquote 6%. Was ist der Hintergrund für diese Entwicklung, die Norwegen zu den Vorreitern der Inklusion macht?
Es gibt den gesellschaftlichen Konsens, dass für alle Schüler/-innen der Ort des Lernens die reguläre Schule ist, in der gemeinsam gelernt wird. Ganz selbstverständlich haben auch Schüler/-innen mit den schwersten Behinderungen ihren Platz in der norwegischen Gesamtschule. Inklusion und gleichwertige Teilhabe dieser Menschen gelten den Kommunen ausdrücklich als Gradmesser für die Qualität des kommunalen Schulangebots. Nur Menschen mit Gehörlosigkeit haben das Recht, in eigenen Einrichtungen gefördert zu werden.
Schon in den 1970er Jahren stand die Integration ganz oben auf der bildungspolitischen Agenda. Dies führte dazu, dass 1992 alle staatlichen Sonderschulen aufgelöst wurden. Einige von ihnen wurden in landesweit bzw. regional tätige Kompetenzzentren umgewandelt. Sie verstehen sich als unterstützende Service-Agenturen, die aber auch Kinder aufnehmen können, wenn besondere therapeutische Angebote notwendig sind. Der Paradigmenwechsel von der Integration zur Inklusion mit der bildungspolitischen Forderung nach einem curricular angepassten Unterricht („adapted education“) an die Unterschiedlichkeit der Schüler/-innen erfolgte im Laufe der 1990er Jahre.
Zahlreiche Studien über das norwegische Schulsystem haben sich kritisch mit der Verwirklichung des gemeinsamen Lernens im Sinne der Inklusion auseinandergesetzt. Haug (2000) konnte z.B. feststellen, dass der bildungspolitische Anspruch und die Schulrealität je nach Kommune sehr weit auseinander fallen. Er bezifferte den Anteil der Schüler/-innen mit Förderbedarf, die eine Form des Sonderunterrichts an der Gesamtschule erleben, auf durchschnittlich 5%, während in einigen Kommunen bis zu 20% der Schüler/innen in einer gesonderten Förderung an der Gesamtschule teilnahmen. Davon betroffen waren besonders häufig Kinder mit Verhaltensschwierigkeiten.
Als Grund für die Abweichung vom Gemeinsamen Unterricht fand Haug heraus, dass der individualisierte Unterricht sich nicht in der wünschenswerten Weise gegenüber dem normalen Klassenunterricht durchgesetzt hatte. Er vermutete, dass die vorherige Integrationspraxis noch tief im Bewusstsein der Lehrer/-innen verankert sei. Im herkömmlichen Integrationsdenken sei die Skepsis versteckt, ob der Gemeinsame Unterricht denn überhaupt für die Kinder mit Förderbedarf geeignet ist. Dieser Zweifel führe dazu, dass nicht genug daran gedacht werde, den Unterricht für alle geeignet zu machen.
Auch die norwegische Inklusionsforscherin Annelise Arnesen beschäftigt sich mit der schulischen Realisierung des Inklusionsanspruchs. Sie hat vor allem die letzte Dekade untersucht. 2001 markiert aus ihrer Sicht eine wichtige Zäsur. Da begann nicht nur die Zeit für eine konservative Regierung. Auch die PISA - Ergebnisse für Norwegen lagen vor und man war offiziell nicht sehr erfreut darüber. Von einer krisenhaften Entwicklung der Schule war sogar die Rede, obwohl Norwegen im Vergleich zu Deutschland in der ersten PISA- Runde sehr viel besser abgeschnitten hatte. Aber nicht zuletzt wegen des hohen finanziellen Mitteleinsatzes für das Bildungssystem hatte man sich weit mehr versprochen und fand den Abstand zu Finnland besonders enttäuschend.
Arnesens Analyse (2009) bestätigt die Zunahme der segregierten Gruppen an norwegischen Gesamtschulen. Waren es nach der amtlichen Statistik 1349 Schüler/-innen in 2001/2002, die in Sonderklassen unterrichtet wurden, so erhöhte sich ihre Zahl auf 7065 Schüler/-innen in 2007/2008. Ebenso stellt sie fest, dass schleichende Formen der Leistungsdifferenzierung in die norwegischen Schulen einziehen, auch wenn das offiziell verboten ist.
Arnesen hat regierungsamtliche Verlautbarungen und Maßnahmen untersucht und kann belegen, dass seit 2001 bestimmte Tendenzen sichtbar werden, die sich stichwortartig so zusammenfassen lassen:
- Betonung des Individuums und eine Zurückdrängung der sozial-inklusiven Aspekte
- Hinwendung zur Outputorientierung auf Kosten der Lernprozessorientierung
- Fokussierung auf fachliche Leistungssteigerung
- Einführung von Bildungsstandards
- Ergebniskontrollen in nationalen Leistungstests mit Veröffentlichung
- Wettbewerb zwischen Schulen
- freie Schulwahl
- Druck auf Schulen und Lehrer/-innen
Aus dem Konflikt zwischen dem Anspruch auf Inklusion einerseits und dem allgemeinen Trend zu einer bildungspolitischen Ausrichtung an messbaren Outputs der Schulen erwächst auch in Norwegen ein ernsthaftes Problem für die Inklusion. Besonders scharf zeigt sich dieser Konflikt in England, wo alle Schulen - unabhängig von ihren unterschiedlichen sozioökonomischen und soziokulturellen Schulkontexten – in der Öffentlichkeit daran gemessen werden, zu welchen Leistungsergebnissen und Abschlüssen sie ihre Schüler/-innen bringen. Schüler/-innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf können schnell zu unerwünschten Schüler/-innen werden.
Mit dem Regierungswechsel 2005 hat zwar die rot-grüne Regierung diese Tendenzen nicht erkennbar zurückgenommen. Sie hat aber auf der Basis einer gründlichen wissenschaftlichen Evaluationsstudie kritisch angemerkt, dass das Ziel der Inklusion bei einem so hohen Anteil von Sonderklassen verfehlt wird. Die Heterogenität im Klassenzimmer soll zukünftig als Ressource besser genutzt werden. Die Schulen haben daher den Auftrag erhalten, den Unterricht individuell anzupassen, und zwar mit individuellen Lernplänen für jeden Schüler und jede Schülerin(Andresen 2006).
In Schweden gehört der Gemeinsame Unterricht von Schüler/-innen mit und ohne Behinderungen nicht zur alltäglichen Praxis. „Weder Jugendliche mit besonderem Förderbedarf im Lernen oder in der Motorik noch solche, die besondere Förderung in der emotionalen oder geistigen Entwicklung bedürfen, werden die meiste Zeit gemeinsam mit ihren Altersgenossen in einer Klasse unterrichtet“ (Engelhardt/Ellinger 2006, 5). Stattdessen gibt es häufig noch hochdifferenzierte Sonderschulklassen, die an die schwedische Gesamtschule angegliedert sind. Individualisierung des Lernens darf nicht zu Lasten und auf Kosten gemeinschaftlicher Lernerfahrungen gehen. Daher ist nachzufragen, ob die vergleichsweise auffällige Sonderung behinderter Schüler/-innen in Schweden ein Reflex auf die überaus starke Betonung der Individualisierung sein könnte.
Wie stark ist Inklusion als Gesellschaftsmodell in den nordischen Wohlfahrtsstaaten heute verankert? Auch dazu hat Arnesen (2006) vergleichend geforscht. Als Indikator dient ihr dabei die Privatschulentwicklung. Die nordischen Länder weisen gegenüber dem OECD-Durchschnitt derzeit noch eine geringere Privatschulquote auf. Besonders auffällig ist jedoch die Entwicklung in Schweden.
Auch die schwedische Organisation “Save the Children“ stellt eine starke und lineare Zunahme von schulischer Segregation bezogen auf Migrationshintergrund und sozialer Herkunft fest. Mit dem Antritt der konservativen Regierung erlebt die „free school“ - eine Schule mit einem privaten Schulträger und 100% staatlicher Unterstützung - einen wahren Boom. Die Zulassung und Registrierung erfolgt auf der nationalen Ebene, aber die Kommunen müssen die Finanzierung übernehmen. Dieses Verfahren leistet einer Privatisierung des Bildungssektors Vorschub, ohne hierfür klare Regeln vorzugeben.
Gegenwärtig stellt sich nach Krumrey (2007) die Situation so dar, dass das Gros der „freien Schulen“ in den Ballungszentren von Stockholm, Göteborg und Malmö zu verzeichnen ist und dort dem einheitlichen Bildungssystem sukzessive die Grundlage zu entziehen droht. Es gibt dort mehr Plätze als Schüler/-innen und die kommunalen Schulen müssen gegen die privaten konkurrieren. Das hat bei einigen kommunalen Schulen schon zu sozialer Ghettoisierung und zu Qualitätsverlusten geführt. Die Kommunen können dem nichts entgegensetzen, weil sie nicht zuständig sind für die Zulassung dieser Schulen. 2006/2007 gingen zwar insgesamt 92% der Grundschüler noch auf kommunale Schulen, aber in Stockholm, Malmö und Göteborg besuchte schon jeder siebte Grundschüler eine „freie Schule“.
Besonders kritisch müssen religiös orientierte private Schulträger gesehen werden, da es keine Kontrolle über ihren Schulalltag gibt. Ebenfalls kritisch zu betrachten ist die Gruppe der gewinnorientierten Schulträger. Sie übernehmen kaum ein unternehmerisches Risiko bei der Gründung von Schulen, weil die Grundausstattung nach der Zulassung von den Kommunen kommt. Sie erwirtschaften sogar Gewinne, wenn sie z.B. den naturwissenschaftlichen Unterricht in den Labors von Betrieben durchführen, die sie am Wochenende angemietet haben.
Arnesens Fazit lautet: Wenn man das ganze Feld der Sozial- und Bildungspolitik untersucht, ist es gerechtfertigt, die nordischen Länder dem Modell des Wohlfahrtsstaats zuzuordnen. Jedoch ist die Balance zwischen sozialdemokratischen und neoliberalen Komponenten in der Bildungspolitik nicht stabil. Wachsamkeit ist geboten.
Trotz einiger ernüchternder Tendenzen ist festzuhalten, dass diese keineswegs geeignet sind, die nordischen Schulsysteme abzuwerten. Sie eignen sich auch nicht als Alibi für die deutsche Segregationspolitik.
Schule findet in der Gesellschaft statt. Der Neoliberalismus hat in den letzten Jahrzehnten das Wertesystem und das Politikverständnis der westlichen Gesellschaften entscheidend geprägt. Er ist das Gegenmodell zu der Inklusion. Diese Entwicklungen sind auch an den nordischen Ländern nicht spurlos vorbei gegangen.
Eine Schule für alle hat in Deutschland mit dem erbitterten Widerstand von Eltern zu rechnen, die eben nicht ihre Kinder mit allen anderen unterrichten lassen wollen und dies unter dem Deckmantel tarnen: „Wir wollen lernen!“ Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen hilft jedoch in dieser Auseinandersetzung, den Inklusionsgedanken bildungs- und gesellschaftspolitisch stark zu machen. Sie ist unsere Chance, ergreifen wir sie!
Andresen, R.: Individualized learning in mixed ability groups in Norway. In: Dimenäs, J./Andresen, R./Cruikshank, M./Ojala, J./ Ratzki, A.: Our children - How do they succeed in school? Jyväskylä 2006
Arnesen, A./ Lundahl, L.: Still Social and Democratic? Inclusive Education Policies in the Nordic Welfare States. In: Scandinavian Journal and Educational Research 3/2006, 285-300
Arnesen, A.: International Policies and National Imagineries: the “competent child” of the “inclusive school” in Norwegian educational reforms. Unveröffentlichtes Manuskript 2009
Engelhardt, C./Ellinger, S.: Schweden: Das gelobte Land der Integration? Eine kritische Würdigung der „en skola för alla“. In: vds -Verbandszeitschrift Bayern 2/2006, 2-12
European Agency for Development in Special Needs Education (ed.): Special Education across Europe in 2003. Trends in provision in 18 European countries. November 2003
Haug, P.: (Spezial-)Pädagogik auf dem Prüfstand. In: Hans, M./Ginnold, A.(Hrsg.): Integration von Menschen mit Behinderung – Entwicklungen in Europa. Neuwied/Berlin 2000, 111-138
Herz, B./Kuorelahti, M.: Integrative Förderung in Finnland. In: Zeitschrift für Heilpädagogik
9/2005, 330-334
Krumrey, P.: Eine Schule für alle – verschläft das schwedische Erfolgsmodell seinen Innovationsvorsprung? Büro Stockholm – Friedrich Ebert Stiftung 2007
Linderoos, P.: So früh und so viel wie möglich und nötig! In: SchulVerwaltung spezial.
Sonderausgabe 1/2006, 16-18
Matthies, A.-L.: Von der Integration zur Inklusion im finnischen Schulsystem. Vortrag an der
Hochschule Magdeburg-Stendal 2003
Saloviita, T.: Inclusive Education in Finland: a thwarted development. In: Zeitschrift für Inklusion-online.net 1/2009
Schumann, B.: “Ich schäme mich ja so!” Die Sonderschule für Lernbehinderte als Schonraumfalle. Bad Heilbrunn 2007
Siljander, P.: Bildung und Wohlfahrtsstaat. Faktoren des erfolgreichen Schulsystems in
Finnland. In: Die Deutsche Schule 4/2005, 432-447
Zentralamt für Unterrichtswesen: Rahmenlehrpläne und Standards für den grundbildenden
Unterricht an finnischen Schulen (Perusopetus). Helsinki 2004