Maria Rethy: Das neue allgemeine pädagogische Konzept: Integration in Ungarn

Abstract: Weltweit gesehen gibt es laut Schätzungen internationaler Organisationen 500 Millionen behinderte Menschen. Mehr als 350 Millionen dieser Menschen erhalten nicht die benötige Hilfe (Bürli, 1997). Kaum ein anderes Thema beschäftigt die (sonder)pädagogische Diskussion so stark wie das des gemeinsamen Unterrichts behinderter und der nichtbehinderter Kinder. Mit einem Wort die Integration, neuerdings Inklusion. Es ist Vielzahl von Diskussionen entbrannt, Argumente und Gegenargumente stoßen aufeinander (Rethy, 1990).
Im vorliegenden Artikel wird zuerst auf die der Integrationsentwicklung zugrundeliegende Kritik an der Sonderpädagogik eingegangen bevor die Grundlagen des pädagogischen Konzeptes der Integration vorgestellt werden. Zum Abschluss wird die statistische Entwicklung in Ungarn beschrieben.

Stichworte: Behinderung, Integration, Ungarn

Ausgabe: 2/2010

Inhaltsverzeichnis
  1. Was waren die eigentlichen Gründe zur Herausbildung der Konzeption des gemeinsamen des Integrationsunterrichts in Ungarn?
  2. Das neue allgemeine pädagogische Konzept
  3. Entwicklung der Integration in Ungarn
  4. Integration in Ungarn aus statistischer Sicht
  5. Ausblick
  6. Zugrundeliegende Literatur

„Schau in die Welt so vielgestaltig, sorgfältig, doch nicht sorgenfaltig“
(aus dem Wunderdoktor von Eugen Roth)

1. Was waren die eigentlichen Gründe zur Herausbildung der Konzeption des gemeinsamen des Integrationsunterrichts in Ungarn?

1.1 Zunehmende Gesellschaftskritik

Von Anfang an wurde diese Bewegung von der Gesellschaftskritik ausgelöst. Man sah ein, dass die Mechanismen der Selektion die spezifischen Nachteile der behinderten Kinder nur noch weiter verstärken (Rethy/ Schaffhauser, 2000). Es wurden die Mängel des sonderpädagogischen Unterrichts, seine isolierenden Momente, seine Gettowirkung, sein Segregationsmechanismus erkannt.

1.2 Unzufriedenheit mit der Effizienz des sonderpädagogischen Unterrichts

Neben Segregation, Diskriminierung, isolierender Wirkung, dem Mangel an Sozialisation wurde auch die traditionelle sonderpädagogische Diagnostik durch kritische Auseinandersetzung mit paradigmatischen Veränderungen in der Forschungsgeschichte der Sozial- und Erziehungswissenschaften, unter besonderer Berücksichtigung qualitativer Momente in Erziehungssituationen und in Lernprozessen wie z.b. die holistische Rekonstruktion und subjektive Theoriebildung zu Lernprozesse und die Kind-Umwelt-Analyse (Dokumentanalyse, Biographie-Forschung, Interview,  Erziehungsethnographie, ethnomethodologische Betrachtungsweise, Aktions- und Handlungsforschung, Fallstudien, …) hinterfragt.
Der Behinderungsbegriff lässt sich nicht definitiv von „Nichtbehinderung“ abgrenzen. Das „behinderte“ Menschenbild ist durch das Abnormale, das Missglückte, das Bedürftige gekennzeichnet. Behinderte Menschen müssen lernen mit der Stigmatisierung durch die anderen zu leben. Wir reden von „Pygmalion Effekt“, „self-fulfilling-prophecy“, wenn Menschen schließlich zu dem werden, was andere in ihnen sehen wollen. Nachdem man den Mangel an Sozialisation behinderter Menschen erkannt hatte, wurde das Lernen neu interpretiert, das prosoziale Lernen und das Erlernen der Aktivitäten wurden in den Vordergrund gerückt (Rethy, 2002a.).

1.3 Zielprogramme auf dem Gebiet der allgemeinen Pädagogik

Die effektivere Erziehung der im Lernen zurückgebliebenen Kinder stellte man sich hiernach nicht durch expansionelle Entwicklung der Schule sondern mit Hilfe von speziellen Entwicklungsprogrammen vor. So werden die Merkmale der Schülerpersönlichkeit und die pädagogischen Verfahren aufeinander abgestimmt. All das entfaltete sich im Rahmen einer besonderen Forschungsrichtung, nämlich im Rahmen der WSU (Wechselwirkung zwischen Schülermerkmalen und Unterrichtsmethoden), auf englisch ATI (aptitude treatment interaction). Wie dies bei der Einführung eines jeden neuen experimentellen Modells der Fall ist, beruht auch die Integrationspädagogik auf einer spezifischen Konzeption, die im Folgenden vorgestellt wird (Rethy, 2002b.).

2. Das neue allgemeine pädagogische Konzept

Im Mittelpunkt der Integrationserziehung steht das Prinzip der Normalisierung, die den Fakt der Behinderung nicht als Anormalie auffasst. Das Prinzip der Normalisierung steckt sich nicht „das Normal-Machen“ zum Ziel sondern akzeptiert den behinderten Menschen, wie er ist. Es erkennt sein/ihr Recht an, anders zu sein, es akzeptiert also die jeweils eigene Identität der behinderten Menschen. All das bedeutet ein wirkliches Akzeptieren, die allmähliche Beseitigung der Vorurteile.
Die Normalisierung des Leben behinderter Menschen enthält bedeutende Konsequenzen in Bezug auf alle Sphären der Gesellschaft, so auf dem Gebiet des Lernens, der Bildung, der Arbeit, des Verbringens der Freizeit, der alltäglichen Lebensführung usw. Der/Die Behinderte kann nicht auf Dauer zur Arbeitslosigkeit verurteilt werden, er/sie soll auch nicht in einer Anstalt leben, seine/ihre Isolierung verschlechtert nämlich auch seine/ihre Chancen auf ein „normales“ Leben (Dreher, 1997).
Diese Auffassung leugnet die anthropologische Sonderstellung der behinderten Menschen, darauf aufbauend hält sie auch ihre gesellschaftliche Sonderstellung nicht für gesetzmäβig. Zugleich werden von ihr auch die besonderen Bedürfnisse behinderter Menschen berücksichtigt, ihre „andersartige Weise des In-der-Welt-Seins“. Die Gleichsetzung behinderter mit den nichtbehinderten Menschen bedeutet zugleich auch die Respektierung der Verschiedenheit (Rethy, 1990).
Es gibt einen einzigen gangbaren Weg: die Akzeptanz des Beeinträchtigt-Seins, die Beeinträchtigung als individuelle, persönliche menschliche Variation aufzufassen.
Die Normalisierung ist ein wichtiges Prinzip der Bildung, der Erziehung, des pädagogischen Umganges mit behinderten Menschen. Dadurch ist die Integration ein pädagogisches Ziel und Mittel in der Bildung, Erziehung und Unterrichtung. Dies bedeutet ein gesteuertes Lernen, das sich nach den speziellen Bedürfnissen, Lerngewohnheiten des beeinträchtigten Individuums richtet. Dieser Konzeption nach können spezifische Bedürfnisse nicht nur in besonderen Schulen befriedigt werden, sondern diese Hilfe und Unterstützung kann auch in der allgemeinbildenden Schule eingeführt werden. Dies ist umso mehr ein möglicher Weg, weil nicht nur die behinderten Kinder diese Hilfe brauchen, sondern auch jene Kinder, die mit soziokulturellen Nachteilen, mit Schwächen in den Teilfähigkeiten, mit innerer Unsicherheit kämpfen. Weisen doch auch die nichtbehinderten Kinder eine breite Streuung auf dem Gebiet der Fähigkeiten und Leistungen auf. Der Unterricht erfolgt nach kooperativen, handlungsorientieren Prinzipien, mit differenzierten, offenen Methoden in der Lernorganisation. Besonders das Projektlernen ermöglicht viele und vielfältige Kontakte zwischen behinderten und nichtbehinderten Kindern (Rethy, 2008).
Die Integrationserziehung ist keine pädagogische Mode, modische Strömung, sondern eine notwendige Entwicklung, ein Paradigmenwechsel, dessen Wurzeln bis zum pädagogischen Erbe der Vergangenheit zurückreichen (bis zu Pestalozzi, Rousseau, Montessori, Petersen… (Rethy, 1990).

Was sind nun die Voraussetzungen für die Integration?
Die wichtigste Voraussetzung ist das entsprechende Sozialisationsniveau der behinderten Kinder. Jede/Jeder muss sich selbst akzeptieren. Dazu ist die Hilfe und Unterstützung der Pädagog/inn/en erforderlich (Feuser, 2003)
Welche pädagogischen Verfahren erfordert der integrative Unterricht dazu?

Zu all dem ist eine entsprechende Kompetenz der Pädagog/inn/en erforderlich, die sie sich im Laufe der Lehrerausbildung anzueignen haben. Einige Faktoren dieser Kompetenz sind:

3. Entwicklung der Integration in Ungarn

Als historische Vorläuferin der integrierten Erziehung in Ungarn kann Erzsébet Burchard gelten. Sie nahm in ihre Schule – geführt nach der Methode Maria Montessoris – vom fünften Schuljahr an (1932) zu den nichtbehinderten Kindern auch in der Entwicklung zurückgebliebene, behinderte Kinder auf. Zuerst beschäftigte sie sich nur mit einem Zwillingspaar, dann im Schuljahr 1933 nahm sie drei weitere, im Schuljahr 1957 schon acht lern- bzw. geistigbehinderte Kinder in ihre Klassen von jeweils 24 Kindern auf. Diese behinderten Kinder lernten unter den gut entwickelten Kindern auf entsprechendem Niveau und mit geeigneten Mitteln sehr erfolgreich. Auf die soziale und individuelle Entwicklung wirkte sich dieses Experiment positiv aus (Rethy, 2008).     
Im Jahr 1985 wurde als wichtiger zentraler Schritt zur Integrationserziehung in Ungarn das Unterrichtsgesetz verabschiedet, welches die Sonderbezeichnungen der sonder-/heilpädagogischen Schulen und Institutionen aufhob. Wichtige positive Wirkungen waren die Aufhebung des Abgestempelt-Werdens, der entstandenen negativen Einstellungen, der Auflösung der Abgeschlossenheit durch Verbesserung der Chancen des Weiterlernens und der Erleichterung des Zurückversetzens in die allgemeine Schule. Parallel dazu sind auch Schwierigkeiten und Probleme aufgetreten. Anfangs wurden zwar formale Ergebnisse erzielt, es gab aber mehr Probleme als wirkliche Erfolge.
Im Weiteren wirkten sich die folgenden Deklarationen auf die Veränderung der Denkweise in Ungarn aus:

Das neue Unterrichtsgesetz im Jahre 2003 gab schon grünes Licht für Integrationserziehung. Die weitere Entwicklungsphase bestand in der Aufnahme von praktischen Versuchen und theoretischer Forschungstätigkeit. Gegenwärtig befinden sich die verschiedenen alternativen Schulmodelle in der experimentellen Phase.
Zwei europäische Curriculumentwicklungsprojekte beschäftigten sich mit der Einführung der Integration/Inklusion in die Lehreraus- und -weiterbildung: INTEGER (von 1997 bis 2001) entwickelte für die Lehrausbildung auf Bachelorniveau 5 Basismodule und viele optionale Module, EUMIE (= European Master of Inclusive Education) schuf ein innovatives Konzept für einen Masterstudiengang von 2001 bis 2005. Die Etvös Lorand Universität in Budapest war an beiden Projekten beteiligt und hat Teile daraus in ihr Studienprogramm übernommen (Feyerer, 2004).

3.1 Verschiedene Integrationsmöglichkeiten in Ungarn

Unterricht in Klassen mit Stützlehrer/inne/n
Ein oder zwei behinderte Kinder werden gemeinsam mit nichtbehinderten unterrichtet, für eine gewisse Zahl von Wochenstunden (je nach Bedarf) steht neben dem/r Klassenlehrer/in auch ein/e Sonderschullehrer/in zur Verfügung.

Unterricht in Kooperativen Klassen
Die behinderten Kinder werden zumindest in einem gewissen Teil des Unterrichts, in gewissen Fächern mit den nichtbehinderten Schüler/inne/n der gleichen Schulstufe zusammen unterrichtet. Daneben nehmen sie auch gemeinsam an schulischen Veranstaltungen teil.

Unterricht in Förderklassen
Schüler/innen, die dem Unterricht der allgemeinbildenden Schule nur schwer folgen können, mit Lernstörungen zu kämpfen haben, werden zu Förderklassen von sechs bis elf Schüler/inne/n zusammengefasst, wo sie nach den grundlegenden Lernzielen der allgemeinbildenden Schule unterrichtet werden. Sie werden von spezielle Methoden und Verfahren anwendenden Sonderschullehrer/inne/n unterrichtet (Csányi, 2008).

Welche Bildungswege können nun behinderte Kinder in Ungarn einschlagen, wenn wir an konkrete, individuelle Fälle denken?
Die Wahl des entsprechenden Weges hängt vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von vielerlei Voraussetzungen ab. Jedenfalls muss festgestellt werden, dass die Sonderschule in Ungarn bisher noch nicht in eine Legitimationskrise gekommen ist. Die Anwendung des Prinzips der Normalisierung kann in Ungarn nur das Ergebnis einer langfristigen Entwicklungsarbeit sein.

4. Integration in Ungarn aus statistischer Sicht

In Ungarn gab es im Schuljahr 2002/03 nur 18.165 Kinder in integrativen Kindergartengruppen und Schulklassen, im Schuljahr 2006/07 hat sich diese Zahl bereits mehr als verdoppelt, wie Abbildung 1 zeigt.


Abb. 1: Anzahl der Kinder in integrativen Kindergarten und Klassen (OKM, 2007)

Abbildung 2 zeigt die prozentuelle Verteilung im Vorschulbereich:


Abb. 2: Integrierte/nichtintegrierte Kinder im Kindergarten (2006/2007) (OKM, 2007)

Wie viele behinderte Kinder die Sonderschule besuchen und wie viele integriert sind zeigt Abbildung 3:                


Abb. 3: Verteilung der behinderten Kinder auf Sonderschulen und allgemeinen Schulen (2006/2007) (OMK, 2007)

Etwas weniger als die Hälfte aller Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf (insgesamt 38 138 im Schuljahr 2006/07) werden in Ungarn bereits integriert. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass eine Vielzahl der integrierten Kinder Modelle wie die kooperative Klasse oder die Förderklasse besuchen, die in anderen Ländern (z.B. in Österreich) nicht als Integrationsmodell gelten.

Abbildung 4 zeigt, dass sich der Integrationsgrad nach Behinderungsart sehr stark unterscheidet. Während leichter behinderte (mehr als 80%) und sinnes- bzw. körperbehinderte Kinder (mehr als 60%) bereits in relativ hohem Ausmaß integriert sind, wird nur jedes fünfte geistigbehinderte Kind in Ungarn integriert.

 

Abb. 4: Integrationsquotient nach Behinderungsarten

 

5. Ausblick

Für die zukünftige Entwicklung steht Ungarn vor allem vor folgenden Problemen und Herausforderungen:

 

6. Zugrundeliegende Literatur

Bürli, A. (1997): Integration im internationalen Vergleich In: Eberwin, H. (Hrsg.): Handbuch Integrationspädagogik Kinder mit und ohne Behinderung lernen gemeinsam. Belzt Verlag Weinheim und Basel 379-392.
Csányi, Y. (2008): Új utak és törekvések a sajátos igényű személyek oktatása terén az OECD szakpolitikájában Fejlesztő Pedagógia, 1.sz. 28-33.
Dreher, W. (1997): Denkspuren. Bildung von Menschen mit geistiger Behinderung. Basis einer integralen Pädagogik. Mainz Aachen.
Feuser, G. (Hrsg.) (2003): Integration heute - Perspektiven ihrer Weiterentwicklung in Theorie und Praxis. Behindertenpädagogik und Integration. Frankfurt/M.
Feyerer, E. (Hrsg.) (2004) . European Masters in Inclusive Education. Ein Curriculumentwicklungsprogramm im Rahmen von Socrates Erasmus. Steurer, Linz.
Feyerer, E./ Prammer, W. (Hrsg.) (2000): 10 Jahre Integration in Oberösterreich. Trauner, Linz.
OKM (2007): Oktatási Statisztikai Évkönyv 2006/2007. Előzetes adatok.
Réthy, Endréné (2002): A speciális szükségletű gyermekek nevelése, oktatása Európában-Az integráció és inkluzió elméleti és gyakorlati kérdései Magyar Pedagógia, 102. évf. 3. sz. 281-300.
Rethy, M. (1990). Integration behinderter Kinder. In: Groβmann, G.: Beiträge zur Erziehung Geschädigter Kinder. Internationale Konferenz des Wissenschaftsbereiches Rehabilitationspädagogik 1989. Martin-LutherUniversität Halle-Wittemberg Halle, 181.
Rethy, M./Schaffhauser, F. (2000). Changes of motivation in teacher education 2000. Mai. Integer Konferenz, Wien.
Réthy, Endréné (2002): Integrációs törekvések Európában In: Bábosik István-Kárpáti Andrea: A nevelés és oktatás nemzetközi perspektívái BIP, Budapest, 314-332.
Réthy, Endréné (2008): Inkluzív pedagógia In: Réthy Endréné (Szerk.): A tanítás-tanulás hatékony szervezése Adalékkok a jó gyakorlat pedagógiai alapjaihot Educatio, Budapest, 127-138.
Willhelm, M./ Bintinger, G./ Eichelberger, H. (2002): Eine Schule für Dich und mich! Inklusiven Unterricht, Inklusive Schule gestalten. Studien Verlag, Innsbruck Wien München Bozen