Andrea Platte: Das Recht auf Bildung und das besondere Recht auf Bildung

Erstveröffentlichung in: Neue Deutsche Schule 5/2009 (S.20, 21)

Ausgabe: 2/2009

Das Recht auf Bildung wurde erstmals in der Erklärung der Menschrechte im Jahr 1948 formuliert. Es hat zentrale Bedeutung als Befähigung, sich für die eigenen Rechte einzusetzen und solidarisch für die Rechte anderer einzutreten.
Betrachtet man die deutsche Bildungsgeschichte, fragt sich, ob das Recht tatsächlich für jeden gilt oder ob nicht vielmehr daneben ein „besonderes Recht auf Bildung“ existiert. Die Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen mit der eigenwilligen Übersetzung der englischen Vokabel „inklusiv“ durch „integrativ“ rückt diese Frage in die aktuelle bildungspolitische Diskussion.
In der BRD waren zur Zeit der o. g. Erklärung nicht alle Bürger/innen zur Teilnahme am Bildungswesen eingeladen oder gar verpflichtet. Bis heute – das ist verschärft deutlich geworden bei internationalen Vergleichsstudien – ist nicht allen die diskriminierungsfreie Partizipation am Bildungswesen garantiert, es gibt Ausnahmen und Besonderungen.

Erst seit kurzer Zeit wird die Perspektive der Menschenrechte in die bildungspolitische Diskussion einbezogen. Dieser neue Fokus macht deutlich, dass es nicht nur um die unmittelbare Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen geht, sondern dass darüber hinaus politische Gestaltungsmaßnahmen nötig sind.

Regional, national und international sind Meilensteine in Richtung einer vollständigen Erfüllung des Bildungsrechts auszumachen. Ein solcher Meilenstein war der mit dem Gutachten der KMK zur Ordnung des Sonderschulwesens von 1960 realisierte Aufbau von 13 Sonderschulformen zur schulischen Förderung von Kindern und Jugendlichen mit unterschiedlichen Behinderungen. Das Schulrecht für Kinder und Jugendliche mit einer geistigen Behinderung wurde allerdings – gefordert zunächst durch die Elternvereinigung „Lebenshilfe e.V.“ – erst im Jahr 1966 in NRW mit der Gründung der „Sonderschule für Geistigbehinderte“ schulrechtlich verankert. Dieser Schritt von der Versorgung im „Heilpädagogischen Lebenskreis“ hinaus zur Anerkennung des Rechtes auf Schulbildung von bis dato als bildungsunfähig geltenden Menschen in einer neuen Schulform kann als Bestätigung einer segregierenden Schulstruktur, zugleich aber als bedeutsamer Reformschritt bezeichnet werden.

In Anbetracht der langsamen Entwicklung verwundert nicht, dass auch zu diesem Zeitpunkt noch Personengruppen von der Schulpflicht – und damit vom Recht auf Bildung – ausgeschlossen blieben: Die Schulpflicht für Schülerinnen und Schüler mit schweren Behinderungen wurde erst 1978 eingeführt.

Jeder Mensch hat ein Recht auf Bildung – formal scheint dieses Recht in den deutschen Bundesländern inzwischen gewährleistet. Dabei hat im deutschen Bildungssystem – so auch in NRW – die Sonderpädagogik mit einem eigenen Schulsystem die Verantwortung für die Realisierung von Bildung für eine große Gruppe übernommen und damit auch die allgemeinen Schulen entlastet.
Die Orientierung an internationalen Vereinbarungen im Sinne der Menschenrechte weisen indes schon lange in Richtung integrativer/ inklusiver Bildungssysteme:

 

Artikel 24 der Internationalen Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen formuliert kompromisslos das Recht auf Bildung ohne Diskriminierung und dürfte – trotz „Übersetzungsfehler“ – Eltern behinderter Kinder in ihrer Freiheit bei der Schulwahl unterstützen. Da der UN-Beschluss in Deutschland rechtswirksam übernommen wurde, bindet er auch NRW: Schüler/innen mit Behinderungen dürfen nicht mehr gegen ihren Willen oder gegen den ihrer Eltern vom Besuch einer allgemeinen Schule ausgeschlossen werden. Konsequenterweise müsste das uneingeschränkte Wahlrecht im Schulgesetz verankert werden.
Interessant im Blick auf schulstrukturell notwendige Änderungen erscheint mir zudem eine zweite Perspektive. Diese spricht nicht nur für die Integration behinderter Kinder in Regelschulen, sondern für das Erkennen von Heterogenität als Ressource und die Vermeidung von Bildungsbenachteiligung durch längeres gemeinsames Lernen. Erfahrungen und wissenschaftliche Begleitstudien zu den Schulversuchen und zur Umsetzung integrativen Unterrichts zeigen seit Jahren positive Ergebnisse bezüglich der Leistungs- und der Sozialentwicklung der behinderten und der nichtbehinderten Schüler/innen. Diese positiven Effekte lassen sich zurückführen auf

 

Viele bildungspolitische Diskussionen, so auch die Vergleichsstudien, lassen die Sonderpädagogik und damit ein gesamtes System innerhalb der deutschen Bildungslandschaft (in NRW gab es 2007 125.413 Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, 88% davon in Förderschulen) unbeachtet. Folglich werden auch in diesem System entwickelte Kompetenzen nicht genutzt. Beobachtungswissen, Differenzierung, Individuelle Förderung und Beratungskompetenz – Schlüsselqualifikationen, die der Sonderpädagogik zugeschrieben werden – unterstützen Lernprozesse. Das gilt nicht nur für Lernende, denen ein sonderpädagogischer Förderbedarf attestiert wurde, das gilt für alle Lernenden. Dies bestätigen neben o. g. Studien auch die langjährigen Erfahrungen mit dem Gemeinsamen Unterricht in NRW, das positive Feedback des ansonsten kritischen UN-Botschafters Munoz zur (integrativen) Gesamtschule Bonn-Beuel, die Auszeichnung mit dem deutschen Schulpreis gerade für Schulen, die Heterogenität als Bereicherung und Ressource nutzen.
In NRW hat gerade die Pilotphase der Kompetenzzentren für Sonderpädagogische Förderung (KSF) begonnen. „Neue Wege sonderpädagogischer Förderung“ müssen in Anbetracht von Artikel 24 der UN-Konvention innerhalb der Allgemeinen Pädagogik stattfinden. Wenn die in den KSF gebündelten Kompetenzen in den Bereichen Diagnostik, Beratung und Prävention zur Unterstützung von Kindern in unterschiedlichen Schulformen eingesetzt werden[1], können sich allgemeine Schulen auf den Weg machen, die Verantwortung für alle Lernenden zu übernehmen, können sonderpädagogische Kompetenzen einer Allgemeinen Pädagogik dienen, kann die in der UN-Konvention geforderte Wahlfreiheit eingelöst werden. Das Recht auf Bildung ohne Diskriminierung würde dann umgesetzt – ohne durch ein besonderes Recht auf Bildung ergänzt werden zu müssen.

 

Dies ist z.B. in Schleswig Holstein der Fall, wo das Jahr 2009 zum „Jahr der inklusiven Bildung“ ausgerufen wurde. Dort hat die Umstrukturierung zu Kompetenzzentren in den letzten 10 Jahren dazu geführt, dass inzwischen 45% aller Kinder mit Förderbedarf in Regelschulen unterrichtet werden.