Den bildungspolischen Sprecher/-innen der im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien wurden folgende Fragen gestellt:
1. Die UN-Konvention zu den Rechten von Menschen mit Behinderungen präzisiert die Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen und ihre ungehinderte Teilhabe für alle Lebensbereiche. In welchem Bereich, in welchen Bereichen sehen Sie für Deutschland besonderen Entwicklungsbedarf?
2. In Artikel 24 der Konvention werden im englischen Text die Staaten zur Entwicklung eines „inclusive education system at all levels“ verpflichtet. Wie stehen Sie zu dieser Verpflichtung und welche Unterschiede sehen Sie zum „integrativen Bildungssystem“, wie es in der deutschsprachigen Übersetzung heißt?
3. Wie schätzen Sie die bisherige Entwicklung diesbezüglich ein und welche Veränderungen sehen Sie in Ihrem (Bundes-)Land im Hinblick auf ein inklusives Bildungssystem als besonders dringend an?
4. Welche Entwicklungen streben Sie an und was werden Sie in der gegenwärtigen bzw. in der nächsten Legislaturperiode realisieren?
5. Einzelne Eltern, das erfahren wir, werden den Klageweg beschreiten, um das Individualrecht von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung bzw. ihren Eltern auf den Besuch der allgemeinen Schule durchzusetzen. Wie werden Sie in der Zeit bis zur Etablierung eines inklusiven Bildungssystems die Interessen dieser Eltern berücksichtigen?
Mieke Senftleben MdA
Sprecherin für Bildung, Familie und Religionsgemeinschaften
FDP-Fraktion im Abgeordnetenhaus von Berlin
Wie Sie bereits schildern, ruft die Konvention viel Diskussion hervor, die auch gegenwärtig andauert.
So hatten wir im Fachausschuss Bildung, Jugend und Familie kurz vor der Sommerpause eine Anhörung zum Thema der Sonderpädagogischen Förderzentren. Und noch in diesem Herbst werden die FDP-Fraktionsvorsitzenden der Landesparlamente zu einer Konferenz zum Thema Inklusiver Unterricht zusammentreffen.
Für die FDP gilt der Grundsatz ‚Inklusion vor Sonderbeschulung’, jedoch bei grundsätzlicher Wahlmöglichkeit zwischen beiden Wegen, denn Zwang in die eine wie in die andere Richtung lehnen wir ab. So, wie wir Gemeinsamkeiten beim Leben und Lernen fördern wollen, verstehen wir den Wunsch mancher Eltern, die zum Wohle ihres Kindes eine spezielle Förderbeschulung vorziehen.
Die wir Liberalen individuelle Förderung im Bildungssystem groß schreiben, sehen wir gegenwärtig in Berlin einige Baustellen:
Die Versorgung mit Schulhelfern ist unterfinanziert, so dass sich für manche Eltern die Frage stellt, ob ihr Kind überhaupt beschult werden kann. Das wollen wir ändern.
Auch dass der Senat Inklusion nur als Raubbau an den Förderzentren versteht, halten wir für unzulässig, da eine enge Vernetzung mit den Förderzentren die Schulen weiter bringt.
Da die individuelle Förderung auch an Regelschulen nach immer wieder bestätigten Zahlen der Schulinspektion an mehr als 2/3 der Schulen sehr entwicklungsbedürftig ist, können Sie sich die Herausforderung vorstellen, die Inklusion zum gegenwärtigen Zeitpunkt ohne die geeigneten Rahmenbedingungen voranzubringen. Dazu gehören nicht nur die genannten Schulhelfer oder Fortbildungen für Lehrkräfte, sondern eine Schulentwicklung hin zu mehr Multiprofessionalität an Schulen und mehr geeigneten Förderkonzepten.
Dazu müssen nicht nur Lehrpläne, sondern auch die Lehrerausbildung verändert werden. Anstrengungen, die jedoch jetzt unternommen werden müssen, da bei der Berliner Lehrkräfte-Altersstruktur ein Generationswechsel in somit doppelter Hinsicht ansteht.
Die geschilderten Anstrengungen werden wir unternehmen und Sie gerne auch zu den Ergebnissen unserer Fachkonferenz auf dem Laufenden halten.
Dr. Felicitas Tesch,
bildungspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus Berlin
Zu 1.:
Ich sehe einen Bedarf in allen Bereichen des öffentlichen Lebens, vor allem aber in der Stadtentwicklungs- und Verkehrspolitik, in der Wirtschaftspolitik, in der Gesundheitspolitik und in meinem Bereich, der Bildungspolitik.
Zu 2.:
Der Unterschied zwischen der Inklusion und der Integration ist der Folgende: Bei einer Integration geht man noch immer von zwei Teilmengen aus, da ja eine Menge in die andere „integriert“ werden soll, während es bei der Inklusion von vorneherein nur eine einzige Menge ist.
Zu 3.:
Berlin ist im Vergleich zu den anderen Bundesländern ein Vorreiter, da bei uns 32% aller Kinder und Jugendlichen integrativ beschult werden (Im Bundesdurchschnitt sind es lediglich 16%). In den Koalitionsvereinbarungen und im Berliner Schulgesetz steht: „Integration hat Vorrang“. Leider haben wir aber eine finanzielle Deckelung der Stellen, so dass nicht alle Kinder, deren Eltern das wünschen, integrativ beschult werden können.
Zu 4.:
Wir werden natürlich die Ergebnisse der UN-Konvention vom 18.12.2008 aufgreifen und Verbesserungen anstreben.
Zu 5.:
Die Interessen dieser Eltern werden in Berlin bereits so gut wie möglich berücksichtigt. Wir hoffen auch noch mehr Ressourcen auch in diesem Bereich, um allen Wünschen entsprechen zu können.
Steffen Zillich,
Fraktion die Linke im Abgeordnetenhaus von Berlin
Die UN-Konvention zu den Rechten von Menschen mit Behinderungen präzisiert die Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen und ihre ungehinderte Teilhabe für alle Lebensbereiche. In welchem Bereich, in welchen Bereichen sehen Sie für Deutschland besonderen Entwicklungsbedarf?
Wir sehen insbesondere die Umsetzung des Artikels 24 der UN-Konvention als wichtige Verpflichtung an. Hierzulande werden viel zu viele Kinder und Jugendliche bereits in frühen Jahren auf Sonderschulen abgeschoben und damit ihre aktive Teilhabe an der Gesellschaft aktuell wie in der Perspektive einschränkt. Die Bundesrepublik ist einmaliger Spitzenreiter im frühen Aussortieren von Schülerinnen und Schülern. Wir wollen das in Berlin insbesondere mit der Gemeinschaftsschule ändern. Bereits das dreigliedrige bundesdeutsche Schulsystem mit Haupt- und Realschulen sowie Gymnasien als Regelschulen sorgt für eine Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen aus bildungsfernen Schichten. Diese Selektion von Bildungschancen wird mit dem extrem hohen Anteil von Schülerinnen und Schülern mit „sonderpädagogischem Förderbedarf“, die an Sonder- oder Förderschulen außerhalb des regulären Bildungssystems abgeschoben werden, noch massiv verstärkt. Die Erfahrungen mit den bundesdeutschen Sonder-/Förderschulen haben gezeigt, dass Schülerinnen und Schüler dort in der Regel nicht optimal gefördert werden und nicht die Fortschritte erreichen, die sie bei entsprechender Unterstützung im Regelschulsystem erreichen könnten. Ein Aufstieg von einer Förderschule auf eine Regelschule ist die absolute Ausnahme, die Anzahl regulärer Schulabschlüsse verschwindend gering. Entsprechend schlecht sind die Chancen der Jugendlichen, je ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Deshalb setzen wir uns für eine radikale Verringerung der Förderschule“ und mehr gemeinsames Lernen auch von Kindern mit und ohne Handicap ein.
Ein inklusives Schulsystem ist die grundlegende Voraussetzung für eine inklusive Gesellschaft, die „Behinderte“ nicht ausgrenzt, sondern sie umfassend teilhaben lässt.
In Artikel 24 der Konvention werden im englischen Text die Staaten zur Entwicklung eines „inclusive education system at all levels“ verpflichtet. Wie stehen Sie zu dieser Verpflichtung und welche Unterschiede sehen Sie zum „integrativen Bildungssystem“, wie es in der deutschsprachigen Übersetzung heißt?
Die Linke hat den Versuch, die Forderung nach einem inklusiven Bildungssystem in der deutschsprachigen Übersetzung der Konvention abzuschwächen, u.a. bei der Vorstellung des diesjährigen „Behindertenberichts“ der Bundesregierung scharf kritisiert. Wir fordern die rasche Umsetzung der Konvention und richten uns in unserer Politik nach dem englischen Vertragstext.
Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Formulierungen liegt für uns in der Sicht auf die betroffenen Kinder und Jugendlichen: Während „Integration“ davon ausgeht, dass die „Behinderten“ sich in das bestehende System integrieren sollen, fordert die Konvention mit einem „inclusive education system at all levels“ weit mehr: Alle gehören von vorn herein dazu. D.h. das System muss sich ändern, damit alle Kinder und Jugendlichen die Möglichkeit haben, an ihm ungehindert, gleichermaßen und gleichberechtigt teilzuhaben und es zu nutzen. Nicht die bereits vorhandenen Möglichkeiten (beispielsweise an Rollstuhlgerechten Schulen oder aber vorhandenen Lesehilfen für sehschwache Kinder) sollen die Grenzen für ein gemeinsames Lernen setzen, sondern die Voraussetzungen für einen gemeinsamen Unterricht müssen aktiv geschaffen werden. Es geht bei Inklusion letztlich um das Selbstverständnis des Bildungssystems und seiner Institutionen insgesamt. Es geht um ein Bildungssystem, das auf Auslese und Ausgrenzung insgesamt verzichtet und Kinder und Jugendliche mit ihren unterschiedlichen Möglichkeiten und Fähigkeiten individuell optimal fördert.
Wie schätzen Sie die bisherige Entwicklung diesbezüglich ein und welche Veränderungen sehen Sie in Ihrem (Bundes-)Land im Hinblick auf ein inklusives Bildungssystem als besonders dringend an?
Auch in Berlin steht das Prinzip der Aufteilung der Kinder auf verschieden Regel- und Sonderschulformen einem inklusiven Verständnis der Bildung entgegen. Allerdings ist Berlin im Bereich der Förderinfrastruktur in der frühkindlichen und vorschulischen Bildung sowie bei Ganztagsschulangeboten bundesweit Vorreiter.
Berlin hat früher als andere Bundesländer den Gemeinsamen Unterricht entwickelt und im Bereich der frühkindlichen und vorschulischen Bildung auf Integration gesetzt. Es gibt einen Vorrang für den Gemeinsamen Unterricht, dessen Anteil im Bundesvergleich mit fast 40 % im Schuljahr 2008/09 relativ hoch ist (allerdings zwischen den Ost- und Westbezirken erheblich differiert), der jedoch unter einem Ressourcenvorbehalt steht.
Derzeit sorgt das Berliner System der Ressourcensteuerung im Effekt für eine Fortführung des Sonder-/Förderschulsystem, die Mittel für den Gemeinsamen Unterricht sind gedeckelt. Dies muss geändert werden. Das Abgeordnetenhaus von Berlin hat sich auf Antrag von SPD und Linke zum Ziel der Inklusion bekannt und den Senat beauftragt, „ …ein Konzept vorzulegen, wie das Wahlrecht der Eltern gewährleistet und der Ausbau der gemeinsamen Erziehung umgesetzt werden kann. In diesem Zusammenhang ist darzustellen, inwieweit es mit Blick auf die optimale Förderung jedes Kindes möglich und sinnvoll ist, derzeit vorgehaltene Doppelstrukturen, insbesondere für die Kinder mit dem sonderpädagogischen Schwerpunkt ‚Lernen’, zugunsten des gemeinsamen Unterrichts schrittweise mit dem Ziel der verstärkten Integration in die Regelschule abzubauen und die sonder-pädagogischen Förderzentren zu Beratungs- und Kompetenzzentren mit Netzwerkfunktion umzubauen.“
Für Die Linke ist es zentrales Anliegen, Auslese und Ausgrenzung im Bildungssystem insgesamt zu überwinden.
Das Abgeordnetenhaus von Berlin hat maßgeblich auf unsere Initiative hin beschlossen, dass Berlin sich auf den Weg macht, das gegliederte Schulsystem zu überwinden. Wir beginnen damit, indem zunächst sowohl die Hauptschule abgeschafft wird und im Regelschulsystem die Aufteilung der Schülerinnen und Schüler auf Schulen unterschiedlicher Abschlussperspektiven überwunden wird. Alle Regelschulen nach der Grundschule werden zukünftig zu allen allgemeinbildenden Abschlüssen einschließlich des Abiturs führen. Ziel ist ein nichtauslesendes Schulsystem, das in den sich entwickelnden Berliner Gemeinschaftsschulen sein Vorbild findet.
Welche Entwicklungen streben Sie an und was werden Sie in der gegenwärtigen bzw. in der nächsten Legislaturperiode realisieren?
In den nächsten Jahren muss die o.g. Schulstrukturreform so umgesetzt werden, dass Berlin tatsächlich dem gesetzten Ziel, einem nichtauslesenden Schulsystem, entscheidend näherkommt. Zudem wollen wir die Anzahl der Gemeinschaftsschulen weiter erhöhen.
Im Zusammenhang damit muss das System der Förderung von Kindern mit Sonderpädagogischem Förderbedarf so verändert werden, dass ein qualitativer und quantitativer Ausbau der gemeinsamen Erziehung gesichert ist und der Anteil der Kinder und Jugendlichen auf Sonderpädagogischen Förderzentren zurückgeht. Hierzu muss ein Konzept entwickelt werden, wie die Regelschulen in die Lage versetzt werden können, Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf gut und individuell zu fördern. Der Senat ist beauftragt, dieses Konzept vorzulegen.
Einzelne Eltern, das erfahren wir, werden den Klageweg beschreiten, um das Individualrecht von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung bzw. ihren Eltern auf den Besuch der allgemeinen Schule durchzusetzen. Wie werden Sie in der Zeit bis zur Etablierung eines inklusiven Bildungssystems die Interessen dieser Eltern berücksichtigen?
Wir wissen, dass es unterschiedliche Einschätzungen über die direkten rechtlichen Folgen der UN-Konvention in Bezug auf einen individuellen Rechtsanspruch auf einen Platz an einer Regelschule gibt. Unabhängig davon wollen wir aber, dass alle Kinder und Jugendlichen einen Rechtsanspruch auf einen Platz an einer allgemeinen Schule haben. Einen solchen wollen wir deshalb auch landesrechtlich festschreiben. Mindestens jedoch muss die Möglichkeit ausgeschlossen werden, ein Kind gegen seinen bzw. den Willen seiner Eltern einem Sonderpädagogischem Förderzentrum zuzuweisen. Inwieweit uns dies in laufenden Gesetzgebungsverfahren gelingt, hängt nicht nur von uns, sondern auch von unserem Koalitionspartner ab.
In der Praxis ist es jedoch derzeit nach unserer Kenntnis nicht so, dass Kinder gegen ihren bzw. den Willen ihrer Eltern dem Sonderschulsystem zugewiesen werden. Zumindest gibt es nach Auskunft der Verwaltung keine anhängigen Klagen und alle, die auf einem Platz auf allgemeinen Schulen bestehen, bekommen diesen auch am Ende. Ich gehe davon aus, dass mindestens dies auch weiterhin gilt.
Das Problem ist eher, dass durch die Deckelung der Ressourcen die Ausstattung für den gemeinsamen Unterricht so ist, dass für viele Eltern ein Platz an einer Regelschule nicht attraktiv erscheint. Und sie werden mitunter auch so beraten, dass sie eher die Sonderschule wählen. Insbesondere wird dadurch ein Umdenken in Richtung des Inklusionsprinzips sowohl bei den Eltern als auch an den Schulen nicht ausreichend unterstützt und zum Teil gar konterkariert.
Auch deshalb ist es so wichtig, dass eine Systemveränderung in oben genanntem Sinne stattfindet.
Sascha Steuer,
Bildungspolitischer Sprecher der
CDU-Fraktion
zu 1.
Die UN-Konvention zu den Rechten von Menschen mit Behinderungen präzisiert die Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen und ihre ungehinderte Teilhabe für alle Lebensbereiche. In welchem Bereich, in welchen Bereichen sehen Sie für Deutschland besonderen Entwicklungsbedarf?
Die Abkehr von einer Behindertenpolitik, die primär auf Fürsorge und Ausgleich vermeintlicher Defizite abzielt ist in der Bundesrepublik durch die positive Entwicklung der Beteiligung von Einzelpersonen, Gruppen oder Gemeinschaften am Arbeitsmarkt, beim Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen, der Mobilität im ÖPNV, der Beteilung am Sport, der Kultur und der Bildung deutlich erkennbar. Mit der Vorlage eines Gesetzes „Rechte für Menschen mit Behinderung“ hat die Bundesregierung als fünftes Land der Europäischen Gemeinschaft die Voraussetzungen für die am 24. Februar 2009 erfolgte Ratifizierung der UN-Konvention zur Inklusion geschaffen. Durch die neue Gesetzgebung erhält der Artikel 3 Absatz 3 Satz des Grundgesetzes: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“, ein modernes Gesicht.
zu 2.
In Artikel 24 der Konvention werden im englischen Text20 die Staaten zur Entwicklung eines „inclusive education system at all levels“ verpflichtet. Wie stehen Sie zu dieser Verpflichtung und welche Unterschiede sehen Sie zum „integrativen Bildungssystem“, wie es in der deutschsprachigen Übersetzung heißt?
In den Begriffserklärungen der UN-Konvention wird Inklusion im weitesten Sinne als Verhinderung von Ausgrenzung (exclusion) dargestellt. Da in Deutschland das Wort „Integration“ die Teilhabe beinhaltet und den Abbau von Ausgrenzung meint, widerspiegelt der Begriff „Integration“ nicht nur die derzeitige Praxis sondern auch das Ziel der Konvention. Da eine rechtskräftige Abgrenzung des Begriffs „Inklusion“ weit aus schwieriger erscheint ist zudem mehr Rechtssicherheit durch die Wortwahl „Integration“ für die Betroffenen gegeben.“
zu 3.
Wie schätzen Sie die bisherige Entwicklung diesbezüglich ein und welche Veränderungen sehen Sie in Ihrem (Bundes-)Land im Hinblick auf ein inklusives Bildungssystem als besonders dringend an?
Gemäß § 4 Abs. 3 Berliner Schulgesetz soll die Förderung der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf vorrangig im gemeinsamen Unterricht erfolgen. Dieser bestehende Bildungs- und Erziehungsauftrag zur besseren Integration von Menschen mit Behinderung ist damit Berlin formal und rechtlich positiv geregelt. Doch mangelt es in den meisten Fällen immer noch an der notwendigen finanziellen und personellen Unterstützung durch den Senat.
zu 4.
Welche Entwicklungen streben Sie an und was werden Sie in der gegenwärtigen bzw. in der nächsten Legislaturperiode realisieren?
Die besehenden Eingliederungsangebote müssen finanziell besser abgesichert werden. In der Lehreraus- und -fortbildung müssen die Belange von Menschen mit Behinderung stärkere Berücksichtigung finden. Der sukzessive Ausbau eines qualitativ guten integrativen und leistungsstarken Bildungssystems wird Priorität erhalten.
zu 5.
Einzelne Eltern, das erfahren wir, werden den Klageweg beschreiten, um das Individualrecht von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung bzw. ihren Eltern auf den Besuch der allgemeinen Schule durchzusetzen. Wie werden Sie in der Zeit bis zur Etablierung eines inklusiven Bildungssystems die Interessen dieser Eltern berücksichtigen?
Wo Eltern eine Ausgrenzung und Benachteiligung ihrer Kinder feststellen und nachweisen, müssen die Barrieren abgebaut sowie alle möglichen und erforderlichen Maßnahmen zur bestmöglichen Entwicklung der Kinder geschaffen werden.
Özcan Mutlu,
bildungspolitischer Sprecher Mitglied des Ausschusses für Bildung, Jugend und Familie Mitglied des Ausschusses für Europa- und Bundesangelegenheiten, Berlin-Brandenburg und Medien Bündnis 90 / Die Grünen im Abgeordnetenhaus von Berlin
Zu 1-3:
Die 2006 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossene und von Deutschland im März 2007 ratifizierte Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen verbietet sowie bürgerliche, politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte garantiert, muss auch in Berlin umgesetzt werden. Um das Menschenrecht auf Bildung für alle zu gewährleisten, Diskriminierung zu beenden sowie Chancengerechtigkeit zu verwirklichen, muss auch das integrative Bildungssystem in Berlin neu strukturiert werden. Aussondernde "Förderschulen" für Kinder mit Behinderungen sind in diesem Zusammenhang kontraproduktiv. Sie gewährleisten keine Chancengerechtigkeit, sondern reproduzieren soziale Ungleichheit. Das deutsche Förderschulwesen segregiert und schädigt Kinder für ihr Leben. Prägungen in diesen jungen Jahren determinieren Lebensläufe und zerstören so Perspektiven der Teilhabe in unserer Gesellschaft.
Nach der innerstaatlichen Gesetzeskraft der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und dem darin enthaltenen Art. 24, der die "full inclusion" der Schüler/innen mit Behinderungen innerhalb der allgemeinen Schulen verlangt, und angesichts des im Berliner Schulgesetz (§ 4 Abs. 3) formulierten Vorrangs des gemeinsamen Unterrichts (GU), sind die gegenwärtigen personellen Ressourcen des Landes Berlin im Bereich der sonderpädagogischen Förderung und die entsprechenden Parallelstrukturen mit dem Ziel einer flächendeckenden, also landesweiten Umsetzung des GU unter Verzicht auf die Sonderschulen im Bereich Lernen, emotionale und soziale Entwicklung sowie Sprache neu zu strukturieren. Statt den Schulen Mittel im Zuge der Einzeldiagnostik bereitzustellen, soll eine pauschale Zuweisung von 6 Prozent für die Bereiche Lernen, emotionale und soziale Entwicklung sowie Sprache erfolgen.
Bei der geplanten neuen Schulstruktur in Berlin und bei der Umsetzung des Investitionsprogramms im Bereich der Schulen ist darauf zu achten, dass alle neuen integrativen Sekundarschulen Raumbedarf für den Bereich der individuellen, auch sonderpädagogischen Förderung haben. Zugleich ist zu prüfen, ob modernisierte Sonderschulgebäude für integrative Sekundarschulen geeignet sind.
Berlin hat mit dem Schulgesetz und dem darin enthaltenen Vorrang der GU einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung getan. Nun müssen weitere Schritte folgen.
Zu 4.
Um die UN-Konvention über die Rechte von Behinderten vom 13.12.2006 auf Landesebene umzusetzen, haben wir den Senat aufgefordert, inklusiven Unterricht auch in der Tat und in der Fläche Vorrang in den Schulen einzuräumen. Hierzu sind modellhaft in mehreren geeigneten Bezirken die Parallelstrukturen von Förderzentren und Integrationsschulen aufzubrechen und neu zu strukturieren.
Außerdem fordern wir, die Finanzierung der integrativen Beschulung in den Modellbezirken in folgender Weise umzustrukturieren:
Die bisherige Form der Lehrerstundenzuweisung nach Einzeldiagnostik wird ersetzt durch eine pauschale Lehrer/Stundenkontingentzuweisung von 6 Prozent, die sich nach der Gesamtzahl der Schüler/-innen pro Schule richtet und der Schule zur Förderung für die Bereiche Lernen, Verhalten, emotionale und soziale Entwicklung sowie Sprache zur Verfügung gestellt wird.
Das Globalbudget bildet sich aus den bisherigen Mitteln, die im Rahmen der Organisationsrichtlinienzuweisung Integration und aus zwei Dritteln der Mittel, die den Förderzentren bisher zur Verfügung standen.
Die Förderzentren in ihrer bisherigen Form als schulische Einrichtung ändern ihren Charakter und werden zu Kompetenzzentren weiterentwickelt. Ein Drittel des Gesamtbudgets für Förderzentren bleibt den Einrichtungen erhalten und wird zur Aus- und Fortbildung des Lehrpersonals der Inklusionsschulen verwendet.
Im Rahmen der regionalen Aus- und Weiterbildung wird die Schulaufsicht in den Modellbezirken damit beauftragt, entsprechende Fortbildungspläne für die allgemeinbildenden Schulen gemeinsam mit den Schulen und den nun neuen Förderkompetenzzentren zu entwickeln.
Im Rahmen des bezirklichen Modellversuchs werden die Fördercurricula und die Förderlehrpläne entweder aufgehoben oder verschmelzen mit den Rahmenlehrplänen der allgemeinbildenden Schule. Dieser Prozess wird über eine Arbeitsgruppe beim LISUM zu Beginn der bezirklichen Modellversuche eingeleitet und im Rahmen des Umstrukturierungs-prozesses der Förderzentren und der bezirklichen allgemeinbildenden Schulen als Grundlage der anzustrebenden Lernkompetenzen und als Musterrahmen für Lehr- und Lerninhalte für den Unterricht zugrunde gelegt.
Bewilligte Therapieleistungen können im Rahmen der Ganztagsbeschulung künftig von entsprechendem medizinischen und therapeutischen Personal auf dem Schulgelände und im Schulgebäude durchgeführt werden. Dazu entwickelt die Schulverwaltung entsprechende Mustervereinbarungen, die von den Schulen als Vorlage für Vertragsschließungen über räumliche und zeitliche Regelungen und Ausstattungen verwendet werden können. Dies trifft auf alle Formen der Einschränkungen von Kindern zu (geistige Behinderung, Konzentrationsschwäche, Lese-Rechtschreibschwäche, ADHS, Legasthenie, Dyskalkulie, Sinnesbehinderung, Einschränkung im emotionalen und sozialen Verhalten, Körperbehinderung, Essstörungen).
Zur Realisierung dieser Ziele werden wir uns weiterhin mit aller Kraft einsetzen.
zu 5.
Wir werden die Eltern unterstützen, ihr Recht auf Bildung zu erhalten. Viele Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf werden aufgrund mangelnder Finanzierung keine Schulhelfer erhalten. Bisher stehen nur acht Millionen Euro für diese Honorarkräfte zur Verfügung, nötig wären aber 9,5 Millionen Euro, wie die Bildungsverwaltung bestätigte und schon lange bekannt ist. Einige dieser Kinder müssen deshalb sogar zu Hause bleiben. Das darf nicht akzeptiert werden. Wir fordern, die Bewilligung von Schulhelferstunden rechtzeitig verbindlich zu regeln und entsprechend der aktuellen Bedarfszahlen zu finanzieren. Inklusion muss die Regel sein, nicht die Ausnahme!