Stellungnahmen der bildungspolitischen Sprecher/-innen zur UN-Konvention

Den bildungspolischen Sprecher/-innen der im österreichischen Nationalrat vertretenen Fraktionen wurden folgende Fragen gestellt:

1. Die UN-Konvention zu den Rechten von Menschen mit Behinderungen präzisiert die Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen und ihre ungehinderte Teilhabe für alle Lebensbereiche. In welchem Bereich, in welchen Bereichen sehen Sie für Österreich besonderen Entwicklungsbedarf?

2. In Artikel 24 der Konvention werden im englischen Text die Staaten zur Entwicklung eines „inclusive education system at all levels“ verpflichtet. Wie stehen Sie zu dieser Verpflichtung und welche Unterschiede sehen Sie zum „integrativen Bildungssystem“, wie es in der deutschsprachigen Übersetzung heißt?

3. Wie schätzen Sie die bisherige Entwicklung diesbezüglich ein und welche Veränderungen sehen Sie in Österreich im Hinblick auf ein inklusives Bildungssystem als besonders dringend an?

4. Welche Entwicklungen werden/würden Sie als Regierungsverantwortliche anstreben und welche Vorhaben werden/würden Sie in der gegenwärtigen bzw. in der nächsten Legislaturperiode konkret realisieren?

5. In Österreich ist im § 8a SchuPflG das Wahlrecht der Eltern auf schulische Integration ihres beeinträchtigten Kindes gesetzlich verankert. Im Nationalen Bildungsbericht wird aufgezeigt, dass dieses Wahlrecht eher Fiktion ist (Band 2, S. 88, These 7). Wie sollen ihrer Meinung nach in der Zeit bis zur Etablierung eines inklusiven Bildungssystems die Interessen der Eltern von Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigung stärker berücksichtigt werden? 

Nicht geantwortet haben: Werner Amon, ÖVP
                                               Elmar Mayer, SPÖ
                                               Dr. Walter Rosenkranz, FPÖ

 

Ursula Haubner (BZÖ)
Zu 1.:
Bedarf an Weiterentwicklung ist vor allem in der praktischen Umsetzung zu erkennen, wo oft durch technische Barrieren die Erfüllung der gesetzlichen Bestimmungen erschwert bzw. verhindert wird.

Zu  2. bis 4.:
Im Rahmen des so genannten Schulpaketes II wurde 2006 die „Schulunfähigkeit“ gestrichen. Die Vielfalt der pädagogischen Möglichkeiten bis hin zur basalen Stimulation rechtfertigten den Ausschluss behinderter Kinder von der Schulpflicht nicht mehr. Das Recht auf Schulintegration und die Wahlmöglichkeit der Eltern zwischen Integrationsklasse oder Sonderschulklasse im Pflichtschulbereich besteht seit 1993. Durch die „integrative Berufsausbildung“ wurde für behinderte Jugendliche Übergangsmöglichkeiten von der Schule in den Arbeitsmarkt geschaffen. Menschen mit Behinderung haben sehr vielfältige, heterogene Bedürfnisse, sehr unterschiedlichen Anforderungen. Es muss an der Realisierung des Anspruchs gegenüber den tatsächlichen Gegebenheiten gearbeitet werden. Die rechtlichen Voraussetzungen wären zu präzisieren und im Rahmen einer Verwaltungsreform bundeseinheitlich festzuschreiben.

Der Übergang von der Integration zur Inklusion ist auch, wenn nicht überhaupt, ein qualitativer Schritt in der didaktisch – methodischen Praxis. Inklusion im Bildungssystem bedeutet individueller Unterricht individueller Bedürfnisse. Der Aufwand geht von den verwaltungstechnischen Voraussetzungen über die notwendige gesellschaftliche Akzeptanz in den regionalen Strukturen hin zu einer Steigerung der quantitativen und qualitativen Ausbildung der Lehrerschaft.

Der Schritt von der Integration zur Inklusion wäre über eine umfassende Generalreform des österreichischen Schulsystems zu erreichen. Von der radikalen Vereinfachung der Verwaltungsstrukturen auf Landes- und Bundesebene über ein reformiertes und vereinheitlichtes Dienstrecht bis hin zu einer reformierten Lehrerausbildung mit verpflichtender Weiterbildung und einer modernen, adäquaten und leistungsbezogenen Besoldung.

Zu 5.: Die Deckelung des sonderpädagogischen Förderbedarfs auf 2,7% aller Pflichtschüler gegenüber einem tatsächlich notwendigen bundesweiten Aufwand von rund 5% führt dazu, dass die Länder in unterschiedlicher Ausprägung die Lücken zu schließen versuchen. Daher bestehen auch extreme regionale Unterschiede im Angebot. Eine bundeseinheitliche Regelung mit einer Anpassung an die tatsächlich notwendigen Gegebenheiten, die nicht über den Finanzausgleich verhandelt wird, würde bis zur Umsetzung der oben erwähnten Schulreform eine spürbare Verbesserung bringen.

 

Harald Walser (Die Grünen)
Zu 1.:
Behinderten-politische Fragen als Querschnittsmaterie in sehr vielen rechtlichen Bestimmungen zersplittert, unterschiedliche Kompetenzbereiche zwischen Bund und Ländern, deshalb etwas schwierig zu beantworten, weil sich in den Bundesländern höchst unterschiedliche Entwicklungen zeigen.

Klare bildungspolitische Prioritätensetzung: Inklusion vor Segregation;
Stärkung der Kindergärten und Schule vor allem in jenen Bundesländern, in denen die Quote sehr niedrig ist; Auf- und Ausbau eines Systems persönlicher Assistenz und eines persönlichen Budgets (skandinavische Modell): im Kern sollen die Leistungen nicht mehr an die großen Träger (LH, Caritas) ausbezahlt werden und die Menschen mit Behinderung eine Sachleistung (z. B. Platz in einer Werkstätte) erhalten, sondern umgekehrt: Persönliches Budget – und der/die Betroffene wählt Träger und Leistung selbst aus. Bei kognitiven Einschränkungen à unabhängige Budgetassistenz.

Zu 2.:
Integration und Inclusion sind unterschiedliche Paradigmen: Integration basiert auf einer Zwei-Gruppen-Theorie, auf normalen Kindern und Kindern mit SPF; Inklusion – von der Wortbedeutung mit „eingeschlossen sein“ verknüpft – beschreibt ein umfassenderes Konzept: eine Schule für ALLE, eine Schule als Lebens- und Erfahrungsraum, die vielfältige Formen der Begegnung, des Dialogs und des Lernens miteinander (kooperativ), voneinander, aber auch nebeneinander (individuell) zulässt und anregt. Inklusion hieße, auf Kategorien wie Lernbehinderung zu verzichten, Schulen mit Förderstunden auszustatten und diese nicht einem einzelnen Kind zuzuteilen, Förderung nicht an Diagnosen, sondern an individuellen Bedarf zu knüpfen.

Zu 3.:
Einschätzung: Die Übernahme des gemeinsamen Unterrichts ins Regelschulsystem vor allem in der Sekundarstufe 1 hat zu einer Verwässerung der Idee und damit auch zu einer Qualitätseinbuße des Unterrichts geführt. Wichtige Bedingungen der Schulversuchszeit wurden bei der Übernahme gestrichen (bedeutend weniger Stunden für Teambesprechungen u. a.)

Notwendige Veränderungen:
Gemeinsame Schule bis 14 mit Einbeziehung der Allgemeinen Sonderschulen;

Ausstattung der Schulen mit zusätzlichen Förderstunden, FörderlehrerInnen, päd. Assistenz – und zwar nicht an individuelle Diagnosen von Kindern gebunden, sondern als Grundausstattung für Schulen zum flexiblen – und damit auch präventiven Umgang. Berichte/Monitoring, was mit diesen Stunden geschieht.

Zu 4.:
Es geht in einem ersten Schritt vor allem um Bewusstseinsbildung, dann müssen die Grundlagen für die angestrebten Reformen (LehrerInnenaus- und –Fortbildung, gemeinsame Schule, …) geschaffen werden.

Zu 5.:
Schwierig zu beantworten. Es gibt im Wesentlichen zwei Stränge, die das Wahlrecht der Eltern einschränken: die teilweise sehr viel schlechteren Rahmenbedingungen an Regelschulen (z. B. Transport in  Sonderschule geregelt, bei Integration Aufgabe der Eltern; Ganztagsbetreuung in vielen Sonderschulen, oft fehlende Mittags- und Nachmittagsbetreuung in Regelschulen, wenn, dann oft keine zusätzliche Assistenz für Kinder mit Behinderung; zu wenig Assistenzstunden bei Einzelintegration; in Sonderschulen häufig therapeutische Angebote integriert, in Regelschulen nicht usw. usf.)
2. Strang: die Steuerungsfunktion der Akteure auf allen Ebenen – vom Direktor angefangen über BSI, SPZ-Leitungen bis hin zum LSI bzw. zur Schulpolitik. Die Bedeutung dieser Steuerungsfunktion ist empirisch belegt (nicht nur Ö). Ansatzpunkt wäre: klare Prioritätensetzung, Zielvorgaben; vor allem Monitoring: Erfassen der Wünsche der Eltern – Dokumentation gelingender und nicht-gelingender Integration; fixe Installierung von IEP-Treffen (individual-educational-plan) zumindest an den Schnittstellen KIGA – VS; VS – HS;