Matthias Meyer: Eine gesellschaftskritische Haltung in der Inklusionsdebatte als grundlegende Voraussetzung für den Einsatz eines Instruments wie den Index für Inklusion

Abstract: Dieser Beitrag befasst sich mit der grundlegenden Fragestellung, was einem Instrument für eine inklusive Entwicklung, wie dem Index für Inklusion, vorausgehen muss. Hierzu wird auf die Integrations- und Inklusionsdebatte eingegangen und aufgezeigt, dass sowohl gesellschaftsanalytische als auch gerechtigkeitstheoretische Aspekte nicht unberücksichtigt bleiben dürfen. Für eine gelingende Inklusion sind nicht die Akteure in der pädagogischen Praxis allein verantwortlich, gesellschaftliche Fehlentwicklungen durch eine zunehmende neoliberale Ausrichtung stehen einer gelingenden Inklusion im Weg. Dies gilt es in der Inklusionsdebatte zu berücksichtigen und zu kritisieren. Der Einsatz eines Instrumentes wie dem Index für Inklusion ohne dabei auf diese gesellschaftlichen Fehlentwicklungen Bezug zu nehmen würde die falschen Zeichen setzen.

Stichworte: Capabilities Approach; Gerechtigkeitstheorie; Gesellschaftsanalyse; Index für Inklusion; Integration; Inklusion; Teilhabe

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung
  2. Zum Begriff von Integration und Inklusion
  3. Gesellschaftsanalytische Perspektive als Erweiterung der Inklusionsdebatte
  4. Die gerechtigkeitstheoretische Perspektive als konstruktive Ergänzung
  5. Auf dem Weg zu einer gesellschaftskritischen Haltung
  6. Fazit
  7. Literatur

1. Einleitung

Themenschwerpunkt dieser Ausgabe der Zeitschrift für Inklusion ist der Index für Inklusion. In der Inklusionsdebatte wird ein Aspekt oft unberücksichtigt gelassen, daher wird im Folgenden auf der Metaebene danach gefragt, was einem Instrument für eine inklusive Entwicklung, wie dem Index für Inklusion, vorausgehen muss. Ziel dieses Beitrags ist die Sensibilisierung für einen kritischen Blick ‒ für eine kritische Haltung, wie sie hier ausformuliert wird –, um eine wirkliche Teilhabe an der Gesellschaft für alle Menschen gleichermaßen zu ermöglichen. Diese kritische Haltung wird nicht nur als Voraussetzung für den Einsatz eines solchen Instruments, sondern auch als Grundlage für die Inklusionsdebatte insgesamt angesehen.
Im Folgenden wird hierzu die gesellschaftliche Perspektive, die in der Inklusionsdebatte überwiegend unberücksichtigt bleibt (vgl. Herz 2010a, 30; 2012a, 37), in den Blick genommen. In soziologischen Analysen wird deutlich, inwiefern gesellschaftliche Entwicklungen konträr zu den Forderungen nach Inklusion und wirklicher Teilhabe zu sehen sind (3). Die gesellschaftsanalytische Perspektive wird ergänzt durch eine gerechtigkeitstheoretische (4), welche für eine kritische Haltung gegenüber gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einer wirklichen Teilhabe notwendig ist (5). Diesen Erläuterungen vorangestellt ist eine Auseinandersetzung mit den Begrifflichkeiten von Integration und Inklusion; anhand der Entwicklung dieser Begriffe wird deutlich werden, dass die deutschsprachige Integrationsdebatte schon immer gesellschaftskritisch war und dies auch weiterhin sein muss (2).

2. Zum Begriff von Integration und Inklusion

Der Begriff Inklusion im internationalen Kontext lässt sich in entwicklungsgeschichtlicher Perspektive insbesondere mit zwei Jahreszahlen als Wegmarken verbinden. Obwohl von 1990 bis 2000 drei internationale Konferenzen mit jeweiligen Positionspapieren als Ergebnis stattgefunden haben – 1990 in Jomtien (Thailand), 1994 in Salamanca (Spanien) und 2000 in Dakar (Senegal) (vgl. Deutsche UNESCO-Kommission 2010) – gilt insbesondere das Jahr 1994 als das Jahr, in dem es den „Hauptanstoß für inklusive Bildung“ (Deutsche UNESCO-Kommission 2010, 8) gab. Die Salamanca Erklärung (United Nations 1994) sorgte dafür, dass sich die Begriffe ‚Inclusion’ und ‚Inclusive Education’ „im pädagogischen Kontext von ,Special Educational Needs‘“ (Biewer 2008a, 292) schnell verbreiteten (vgl. Biewer 2008a; 2008b; 2000). Biewer spricht von einem Auftauchen der Begriffe Anfang der 1990er Jahre (vgl. Biewer 2008a); Heimlich benennt das Jahr 1994 als das Jahr der Einführung der Begriffe im internationalen Kontext (vgl. Heimlich 2011, 45). Feststeht: „From the Salamanca Statement onwards, the terms inclusion and inclusive education became part of governmental rhetoric, gaining status in schools and the mass media“ (Hodkinson 2012, 5).
Die zweite Wegmarke zum Begriff Inklusion im internationalen Kontext liegt gar nicht so weit zurück, sie lässt sich mit der „Convention on the Rights of Persons with Disabilities“ (United Nations 2006) vom 13. Dezember 2006 festmachen. Das Jahr 2009 wiederum gilt als das Jahr, in dem die UN-Konvention auch für die Bundesrepublik Deutschland bindend wurde, in diesem Jahr wurde die Konvention in der BRD ratifiziert. In der Übersetzung werden die Begriffe ‚Inclusion’ und ‚Inclusive Education System’ allerdings nicht mit Inklusion und inklusives Bildungssystem übersetzt, sondern mit Integration bzw. integratives Bildungssystem (vgl. Bundestag 2008).
In den deutschsprachigen Ländern verbreitet sich der Begriff Inklusion erst seit wenigen Jahren (vgl. Biewer 2008a; 2008b). Benkmann führt allerding an, dass die schulische Integrationsdebatte im deutschsprachigen Raum schon „seit Mitte der 1990er Jahre immer stärker durch die Diskussion um Inklusion“ (Benkmann 2012, 54) verdrängt wird. Mit Bürli lässt sich festhalten, dass der Begriff Inklusion „ungefähr seit dem Jahr 2000“ (Bürli 2009, 32) in der deutschsprachigen Fachdebatte benannt wird. Es lässt sich im Vergleich zum internationalen Kontext, wo häufig die Salamanca-Erklärung als maßgeblich angeführt wird, kein so eindeutiger Zeitpunkt für den deutschsprachigen Raum festmachen.
Eine ähnliche Uneindeutigkeit ergibt sich zudem bezüglich der Definitionen von Inklusion. Diese sind sowohl im internationalen Kontext (vgl. Dyson 2010, 116; Googman/Burton 2010) als auch im deutschsprachigen Raum (vgl. Herz 2010a, 30; Lindmeier/Lindmeier 2012, 180) nur schwer zu fassen. Im deutschsprachigen Raum lassen sich unterschiedliche Verständnisse der Begriffe Integration und Inklusion ausmachen. Mit Fachvertretern wie Sander oder Hinz wird ein Begriffsverständnis von Inklusion im Sinne einer Erweiterung und Optimierung von Integration verstanden (vgl. Benkmann 2012, 54; Reiser 2003, 308). So ist bei Sander zu lesen: „Inklusion ist in der deutschen Fachsprache ein sinnvoller Begriff, wenn man darunter optimierte und erweiterte Integration versteht“ (Sander 2003, 321). Die Begriffe werden nach diesem Verständnis nicht als Synonyme verwendet; dies verdeutlicht beispielsweise auch die tabellarische Gegenüberstellungen zu Unterschieden der Begriffe Integration und Inklusion durch Hinz (vgl. u.a. Hinz 2002, 359; 2003, 331). Mit Verweis auf Preuss-Lausitz lässt sich hingegen ein anderes Begriffsverständnis festmachen, wonach „der Inklusionsbegriff nicht über den Integrationsbegriff hinaus geht“ (Benkmann 2012, 54).
Wichtig an dieser Stelle ist die Aussage von Biewer, dass der Begriff Integration „für die Veränderungen im Denken der Heil- und Sonderpädagogik der letzten Jahrzehnte“ (Biewer 2008a, 291) stand; der Begriff Inklusion „dagegen aktuelle Veränderungen bezeichnet“ (Biewer 2008a, 291). Und dennoch lässt sich keine eindeutige Verwendung der Begriffe ausmachen. „Die jeweiligen Ausdrücke bedeuten einmal das Gleiche, einmal charakterisieren sie unterschiedliche Positionen, hin und wieder werden sie wechselseitig vertauscht verwendet“ (Bürli 2009, 28).
Es kann festgehalten werden, dass sowohl der Begriff Integration als auch Inklusion für Veränderungen im Denken der Sonder- und Heilpädagogik stand und auch immer noch steht; der Begriff Integration eher für die letzten Jahrzehnte, der Begriff Inklusion hingegen bezogen auf aktuelle Veränderungen. Wenn nun an dieser Stelle davon ausgegangen wird, dass der Begriff Inklusion quasi die Nachfolge der Integration darstellt – ob nun in synonymer oder antonymer Form –, so ist mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass die integrationspädagogische Auseinandersetzung „explizit gesellschaftskritisch und politisch motiviert“ (Herz 2010a, 29) war. Verwiesen sei hier auf die Ausführungen von Jantzen (1973) und Feuser (1982). „Integration ist nicht ein einmal erreichbarer Zustand, sondern ein gesellschaftlich-sozialer Prozeß“ (Feuser 1982, 100). Feuser verweist auf einen Artikel von 1973, indem Jantzen bereits die gesellschaftlichen Verhältnisse hervorhebt. So ist sein Text mit „Behinderung und Gesellschaft“ betitelt – schließlich hält Jantzen dort fest: „Verhaltensstörung und Lernbehinderung sind gesellschaftliche Kategorien“ (Jantzen 1973, 4, zitiert nach Feuser 2012, 10). So muss auch für den aktuellen Kontext gelten: Inklusion „hat die Realisierung von gesellschaftlichen Verhältnissen zum Ziel“ (Feuser 1982, 86). Für eine Einlösung dieser Forderung wird im aktuellen sonderpädagogischen Diskurs allerdings nur vereinzelt plädiert (vgl. u.a. Benkmann 2012; Herz 2010a; 2012a).
Dabei gilt: „Es gibt keine Pädagogik außerhalb gesellschaftlicher Wirklichkeiten und jede sich als neutral verstehende pädagogische Praxis ignoriert den an sie vermittelten gesellschaftlich-politischen Auftrag von Erziehung und Bildung“ (Lanwer 2012, 340). Erziehungs- und Bildungsprozesse sind immer beeinflusst von gesellschaftlichen Bedingungen (vgl. Liesner/Lohmann 2010, 9), so dass diese innerhalb der Inklusionsdebatte nicht ausgeklammert werden dürfen.
Es erscheint als sinnvoll neben dem Blick auf den sonderpädagogischen Diskurs auch einen Schwenk auf die erziehungswissenschaftliche Perspektive zu vollziehen. Das Heft 4/2012 der Zeitschrift Behindertenpädagogik thematisiert die kritische Auseinandersetzung des Zusammenhangs von pädagogischem Auftrag und gesellschaftlichen Vorgaben im Hinblick auf Inklusion und Teilhabe. Zwei dieser Beiträge haben einen erziehungswissenschaftlichen Fokus und werden im Folgenden kurz dargestellt.
Dammer geht in seinem Beitrag der Frage nach, inwiefern den Begriff Inklusion das gleiche Schicksal trifft wie den vorherigen Begriff der Integration, „nämlich relativ ohnmächtig gegenüber der normierenden Kraft der Gesellschaft und ihrer Schule zu sein und ihr sogar, entgegen dem eigenen Selbstverständnis, in die Hände zu arbeiten“ (Dammer 2012, 354). Er kommt bei seinen Ausführungen zu dem Schluss, „dass die Inklusionspädagogik die theoretischen Probleme der Integrationspädagogik erbt, ohne sie lösen zu können, weil die argumentativen Grundmuster dieselben bleiben und sie den historischen Irrtum der Pädagogik wiederholt“ (Dammer 2012, 375). Was meint er mit dieser Aussage? Mit dem hier angesprochen historischen Irrtum der Pädagogik ist ausgesagt, dass sozialstrukturelle Bedingungen im Rahmen von pädagogischen Reformen unberücksichtigt bleiben, die Reformen dann aber als gesellschaftliche Reformen ausgegeben werden. Das wiederum ist vergleichbar mit dem „Ablasshandel“ – wie Dammer in diesem Zusammenhang formuliert –, über den sich Schule als auch Gesellschaft legitimieren. Der Ablasshandel besteht laut Dammer darin, dass gesellschaftlich ungelöste Widersprüche an die Schule übertragen werden; die Schule behauptet, diese ungelösten Widersprüche beheben zu können, was wiederum zur Folge hat, dass bei Sichtbarwerden von Auswirkungen der übertragenen gesellschaftlichen Widersprüche auf die Schule diese als allein verantwortlich angesehen werden kann und wird (vgl. Dammer 2012, 374 ff.). Was bedeutet das nun für die Inklusionsdebatte?
Die Problematik der Inklusionsdebatte ist die fehlende Berücksichtigung sozialstruktureller Bedingungen in den Diskussionen um Inklusion. Sozialstrukturelle Bedingungen haben einen enormen Einfluss auf inklusive Prozesse. Diese fehlende Berücksichtigung und das Ausgeben von pädagogischen Reformen als gesellschaftliche hat zur Folge, dass die Pädagogik allein für Inklusion und Teilhabe verantwortlich gemacht werden kann und wird. Schule und Pädagogik sind aber nicht verantwortlich zu machen für bestehende gesellschaftliche Widersprüche. So weist auch Bernhard in seinem Beitrag auf die Problematik hin, dass in der Inklusionsdebatte nicht auf die gesellschaftlichen Grundlagen pädagogischer Kontexte aufmerksam gemacht wird. Wird diese Perspektive beibehalten, dann scheinen gesellschaftliche Probleme ausnahmslos pädagogisch lösbar zu sein (vgl. Bernhard 2012, 345).
Daher kritisiert Bernhard in seinem Beitrag die fehlende Einbeziehung des gesellschaftlichen Kontextes, insbesondere die neoliberale Ausrichtung der Gesellschaftspolitik, in der Pädagogik und der Inklusionsdebatte. „Der Verzicht auf die Einbindung der Diskussion um Inklusion in ein gesellschaftstheoretisches Instrumentarium, das auf gesellschaftsanalytischen Begriffen von Gesellschaft, Sozialstruktur, Herrschaft und Hegemonie aufruht, signalisiert den fehlenden Willen der Disziplin Erziehungswissenschaft, pädagogische und bildungspolitische Probleme von einer grundsätzlichen, an ihre Wurzeln gehenden Argumentationsweise her zu erschließen“ (Bernhard 2012, 349). Insbesondere soziale Ungleichheiten, die auf die Sozialstruktur zurückzuführen sind und einen erheblichen Einfluss auf die Sozialisation haben, nehmen in der Inklusionsdebatte nur eine marginale Position ein (vgl. Bernhard 2012, 342 ff.), obwohl sie maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung des Individuums haben.
Bernhard bleibt aber nicht auf der gesellschaftsanalytischen Ebene, er thematisiert den Bedarf einer „ethisch-pädagogischen Begründung“ von Inklusion. Das Fehlen einer solch ethischen Begründung birgt die Gefahr, dass Inklusion von Akteuren definiert und vereinnahmt wird, die ihre Einflussnahme im Sinne einer neoliberalen Umstrukturierung geltend machen. Als Beispiel nennt er hier die Bertelsmann-Stiftung – eine der Stiftungen, die dem neoliberalen Lager zuzuordnen sind (vgl. auch Herz 2012b, 393) –, die sich den Begriff Inklusion zu Eigen gemacht hat und energisch vertritt. Dass in diesem Fall ein gesellschaftskritischer Blick – im Sinne einer kritischen Distanzierung zu neoliberalen Tendenzen – auf Inklusion forciert wird, ist eher zu bezweifeln. Bernhard gibt hier den Hinweis, dass dies die Erziehungswissenschaft zum Nachdenken veranlassen sollte (vgl. Bernhard 2012, 346 ff.).
Was kann jetzt insbesondere auch mit Blick auf den erziehungswissenschaftlichen Diskurs festgehalten werden? In der historischen Entwicklung zur Integration und Inklusion gab es schon immer Verweise auf die Bedeutsamkeit einer Einbeziehung und Berücksichtigung gesellschaftlicher Entwicklungen. Und ob die Begriffe Integration und Inklusion nun in einem synonymen Verständnis betrachtet werden oder als aufeinander folgende Begriffe, die gesellschaftsanalytische Perspektive darf keinesfalls unberücksichtigt bleiben in der (sonder-)pädagogischen Inklusionsdebatte. Im aktuellen sonderpädagogischen Diskurs wird dies aber nur vereinzelt realisiert. Darüber hinaus wurde insbesondere durch die Ausführungen mit erziehungswissenschaftlichem Fokus deutlich, dass die gesellschaftsanalytische Perspektive um eine ethische Begründung von Inklusion ergänzt werden sollte. Ähnliche Forderungen werden auch im internationalen Kontext formuliert (vgl. u.a. Slee 2001).
Im Folgenden werden zunächst kurz aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen dargestellt. In einem zweiten Schritt wird diese Perspektive dann um eine gerechtigkeitstheoretische Perspektive im Sinne einer ethischen Begründung ergänzt.

3. Gesellschaftsanalytische Perspektive als Erweiterung der Inklusionsdebatte

Bauman nennt als einen wesentlichen Umbruch der Gesellschaft den „Abbau staatlicher Sicherungssysteme gegen Schicksalsschläge und individuelles Scheitern“ (Bauman 2008, 8). Dieser Rückbau des Wohlfahrtsstaates geht einher mit einer zentralen und einschneidenden Entwicklung, die als punitive Wende gekennzeichnet werden kann. Die damit zusammenhängende und zunehmende Zuschreibung einer Eigenverantwortung des Individuums kann als ein weiteres Phänomen aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen benannt werden. Diese Entwicklungen werden im Folgenden kurz erläutert.
Der Sozialstaat legitimierte sich über „das Versprechen, sie [die Bürger, Anm. d. Verf.] gegen Arbeitslosigkeit, Ausschluß und Zurückweisung wie auch gegen unvorhersehbare Schicksalsschläge zu beschützen und abzusichern“ (Bauman 2005, 127). Dieses Versprechen kann der Staat aber nicht mehr erfüllen, die Politik ruft die Bürger dazu auf, gesellschaftlich entstandene Probleme selbst zu lösen (vgl. Bauman 2005, 127). Mögen die entstandenen Probleme und Risiken auch außerhalb des Einflussbereichs des Individuums liegen, der Einzelne wird vermehrt in die Verantwortung genommen: „Die Risiken, die jede Entscheidung mit sich bringt, mögen von Kräften verursacht werden, die jenseits des Begreifens und der Handlungsfähigkeit des Einzelnen liegen, und doch ist es das Schicksal und die Pflicht, des Einzelnen, den Preis der Risiken zu zahlen“ (Bauman 2008, 10).
Dieses Phänomen lässt sich auf den pädagogischen Kontext übertragen. Mitunter haben Kinder aus sozial benachteiligten Familien schlechtere Startbedingungen und dies bereits ab der Einschulung; scheitern sie, wird ihnen häufig selbst die Schuld hierfür zugeschrieben, die äußeren Rahmenbedingungen werden zunehmend außer Acht gelassen (vgl. Herz 2010b, 75 ff.). Böhnisch/Schröer/Thiersch pointieren diese Schuldzuschreibung auf die Differenz zwischen Kindes- und Jugendalter: das Kind, welches eine Chance auf Bildung bekommt und der Jugendliche, „der sich eine zweite Chance erst wieder verdienen soll, da er die erste Chance bereits vertan hat“ (Böhnisch/Schröer/Thiersch 2005, 141). Gesellschaftliche Rahmenbedingungen scheinen – trotz ihres durchaus bestehenden Einflusses auf individuelle Schicksalsschläge – eher eine rudimentäre Rolle zu spielen. Eine solche Tendenz, die das Individuum ungerechtfertigter Weise allein in die Verantwortung nimmt, darf in der Inklusionsdebatte nicht ignoriert werden.
In den Analysen von Sennett wird die geforderte Eigenverantwortung noch mal insofern verdeutlicht, als dass diese Zuschreibung der Eigenverantwortung bereits internalisiert wurde. Sennett stellt in zwei biographischen Analysen das Leben eines Einwanderers aus den 1970er Jahren dem Leben eines ein viertel Jahrhundert später lebenden Menschen, dem Sohn des Einwanderers, gegenüber. War das Leben des Vaters noch durch Linearität seines Lebensverlaufes geprägt, ist das zentrale Moment des Sohnes die Flexibilität, die in seinem Berufsleben deutlich wird, aber auch Auswirkungen auf sein familiäres und soziales Leben hat (vgl. Sennett 2000, 15 ff.). In der Biographie der zweiten Person lässt sich eine Verinnerlichung einer oben benannten zugeschriebenen Eigenverantwortung erkennen. Deutlich wird dies insbesondere an einem Beispiel, in dem der Sohn von einer Beendigung eines Arbeitsverhältnisses berichtet. Er formulierte nicht: „Ich wurde entlassen“ (Sennett 2000, 34), sondern: „Ich stand einer Krise gegenüber und mußte eine Entscheidung treffen“ (Sennett 2000, 34). Obwohl der Einflussbereich nicht bei ihm lag, er praktisch nichts tun konnte – so resümiert Sennett – „fühlt er sich für dieses nicht von ihm zu beeinflussende Ereignis verantwortlich; er nimmt es buchstäblich in sich hinein, als seine eigene Last“ (Sennett 2000, 35).
Aber zurück zum nicht mehr einlösbaren Versprechen des Sozialstaates die Zukunftsunsicherheiten zu minimieren, wie es von Bauman analysiert wurde. Es muss eine Alternative gefunden werden: „Die dringendste Anforderung, der sich jede Regierung zu stellen hat, die den Abbau und das Hinscheiden des Sozialstaates verwaltet, besteht [...] im Finden oder Erfinden einer neuen ‚Legitimationsformel‘, mit der sich die Durchsetzung staatlicher Autorität und die Forderung nach Disziplin begründen lassen“ (Bauman 2005, 128). An die Stelle der Zukunftsunsicherheit, der nicht mehr viel entgegengesetzt werden kann, tritt die Angst „um die persönliche Sicherheit“ (Bauman 2005, 128), die der Staat durchaus bekräftigen kann. Ein Beispiel hierfür ist die „’Null-Toleranz-Politik’ gegenüber vermeintlichen ‚Kriminellen in der Entwicklungsphase‘“ (Bauman 2005, 130).
Auch in den soziologischen Analysen Wacquants wird deutlich, dass der Rückbau des Sozial- oder auch Wohlfahrtsstaates einhergeht mit einem neu auflebenden strafenden Staat, der sich zunehmend mehr als Rechts- und Ordnungshüter versteht. „Soziale Deregulierung, die Zunahme sozial unabgesicherter Arbeitsverhältnisse […] und die Wiederkehr eines strafenden Staates alter Prägung gehen Hand in Hand“ (Wacquant 2006, 144). Wenn hier von einem Rückbau des Staates, einem zurückgezogenen Staat die Rede ist, ist damit keinesfalls gemeint, dass der Staat keine Rolle mehr im Leben des Einzelnen spielt. Der Staat übernimmt weniger die Aufgabe der sozialen Absicherung, er sieht seine Aufgabe vielmehr als eine disziplinierende Aufgabe: „Der keynesianische Staat als historisches Medium der Solidarität, dessen Aufgabe es war, den negativen Folgen und Konjunkturschwankungen des Marktes entgegenzuwirken, die kollektive Wohlfahrt zu sichern und Ungleichheiten zu verringern, wird von einem darwinistischen Staat abgelöst, der Konkurrenz vergötzt, individuelle Verantwortung feiert (deren Pendant kollektive Verantwortungslosigkeit ist) und sich auf seine königliche Aufgaben von ‚Recht und Ordnung‘ beschränkt, die er ihrerseits übermäßig aufbläht“ (Wacquant 2006, 149).
Diese neue strafende Ausrichtung des Staates betrifft allerdings laut Wacquant nicht die gesamte Gesellschaft. So beschreibt er die Gegenpole liberal und paternalistisch-strafend: liberal gegenüber der oberen Hälfte der Gesellschaft, paternalistisch-strafend gegenüber der unteren Hälfte (vgl. Wacquant 2006, 146). Dies verdeutlicht auch folgende Aussage: „Die Bevölkerungsgruppen, die vom Umbau des Arbeitsmartes [sic!] und der Reform staatlicher Unterstützung am stärksten betroffen sind, erweisen sich auch als diejenigen, die am häufigsten der Strafverfolgung ausgesetzt sind“ (Wacquant 2011, 97 f.). Sozioökonomisch benachteiligte Menschen sind also einem erhöhten Risiko ausgesetzt, verdächtigt und angeklagt zu werden. Ihnen wird aufgrund ihrer sozialen Lage, wie beispielsweise Armut, eher ein Grund für kriminelles Verhalten zugeschrieben, sie werden schneller unter Verdacht gestellt (vgl. Stehr 2008, 321). Eine bestimmte Gruppe von Menschen, in diesem Fall abgestempelt als Kriminelle, werden nicht mehr als gleichberechtigt teilhabend an der Gesellschaft aufgefasst. Anhand der Kriminalpolitik verdeutlichen sich die Analysen von Bauman und Bude zu den „Ausgeschlossenen“ (Bude 2008) oder den Überflüssigen, die Bauman mit Begriffen wie ‚menschlicher Abfall’ oder ‚nutzlose Menschen’ als Nebenerscheinung der Modernisierung umschreibt (vgl. Bauman 2005, 12). „Für die Exkludierten gilt der meritokratische Grundsatz ‚Leistung gegen Teilhabe’ nicht mehr. Was sie können, braucht keiner, was sie denken, schätzt keiner, und was sie fühlen, kümmert keinen“ (Bude 2008, 14 f.).
Anhand dieser kurzen Ausführungen zur gesellschaftsanalytischen Perspektive wird deutlich, warum eine Einbeziehung in die Inklusionsdebatte unerlässlich ist, wie auch von einigen gefordert wird (vgl. Herz 2010a; Benkmann 2012; Bernhard 2012; Dammer 2012). Bestimmte Personengruppen werden ansonsten in der Inklusion nicht mehr berücksichtigt – Inklusion ist dann ein exklusives Unterfangen. Um die Argumentation dahingehend zu untermauern, jedes Individuum in den Blick zu nehmen, dabei aber gleichzeitig nicht die äußeren Rahmenbedingungen außer Acht zu lassen, erscheint es als sinnvoll, die Inklusionsdebatte zusätzlich um eine gerechtigkeitstheoretische Perspektive zu ergänzen.

4. Die gerechtigkeitstheoretische Perspektive als konstruktive Ergänzung

Die Erforderlichkeit einer ethischen Begründung von Inklusion klang bereits oben mit Bernhard (2012) an. Die Auseinandersetzung mit gerechtigkeitstheoretischen Aspekten – insbesondere in Bezug auf den Capabilities Approach – findet in der Sonderpädagogik seit einiger Zeit immer mehr Anklang (vgl. u.a. Lindmeier 2011a, 2011b; Vehmas 2010; Terzi 2007), auch die Erziehungswissenschaft und die Sozialpädagogik berücksichtigt diesen Ansatz immer mehr (vgl. u.a. Ziegler 2011; Otto/Ziegler 2008; Schrödter 2007). Zwei Aspekte sind bei diesem Ansatz von besonderer Relevanz. Zum einen die Fokussierung auf das Individuum, zum anderen die gleichzeitige Berücksichtigung von gesellschaftlichen Aspekten – von äußeren Rahmenbedingungen. Inwiefern eine individuelle Sicht möglich wird, ohne der Gefahr einer neoliberalen Ausrichtung ausgesetzt zu sein und oben beschriebene Aspekte einer Privatisierung des individuellen Risikos zu forcieren, soll im Folgenden erläutert werden.
Verweist Slee (2001) im Rahmen einer Einbeziehung von gerechtigkeitstheoretischen Überlegungen in die sonderpädagogische Diskussion auf das Grundlagenwerk „A Theory of Justice“ von Rawls (1972) – erfährt die Gerechtigkeitstheorie Rawlscher Prägung inzwischen durch den Capabilities Approach von Sen und Nussbaum eine Erweiterung – wobei sich Nussbaum durchaus an Rawls orientiert und dessen Ansatz erweitert (vgl. Nussbaum 2010, 17).
Die zentrale Frage, die der Capabilities Approach fokussiert, lautet folgendermaßen: „What is each person able to do and to be?“ (Nussbaum 2011, 18). Weiter heißt es bei Nussbaum: „In other words, the approach takes each person as an end, asking not just about the total or average well-being but about the opportunities available to each person“ (Nussbaum 2011, 18). Es geht nicht um eine utilitaristische Perspektive, mit der lediglich die Maximierung des Gesamtnutzens verfolgt wird; hier – im Sinne des Capabilities Approach – ist jedes Individuum als solches von Bedeutung. Von Interesse ist, was jedem Individuum ermöglicht wird, zu tun oder zu sein. Die bereits angedeutete kombinierte Sicht sowohl auf individuelle als auch auf gesellschaftliche Aspekte stellen einen zentralen Gewinn des Ansatzes dar (vgl. Morris 2001). Vor allem weil Nussbaum auch von kombinierten Befähigungen spricht, die sich aus internen Fähigkeiten und externen Bedingungen zusammensetzen (vgl. Nussbaum 2011, 21 f.; 2002, 29; 1999, 63). Die Bedeutsamkeit einer gleichzeitigen Betrachtung sowohl interner Fähigkeiten als auch externer Bedingungen ist in folgendem Beispiel dargestellt: Eine Person hat die Fähigkeit erworben, zu sprechen – dies stellt die interne Fähigkeit dar – um jetzt aber auch in der Öffentlichkeit frei sprechen zu können, also die Redefreiheit ausüben zu können, bedarf es einer staatlichen Zusicherung der freien Meinungsäußerung – als externer Bedingung (vgl. Nussbaum 2011, 21 f.).
In der gleichzeitigen Betrachtung sowohl gesellschaftlicher als auch individueller Aspekte besteht ein großes Potenzial des Ansatzes, um eine fundierte Kritik an neoliberalen Entwicklungen zu üben, insbesondere bezogen auf eine verkürzte Sicht der alleinigen Eigenverantwortung des Individuums. Individuelle als auch gesellschaftliche Aspekte werden gleichermaßen wichtig. Es sind stets solche kombinierten Befähigungen, von denen Nussbaum spricht. Es reicht nicht aus, lediglich interne Fähigkeiten eines Menschen herauszubilden, es bedarf auch immer einer angemessenen Umgebung, um diese Fähigkeiten ausüben zu können (vgl. Nussbaum 2002, 29).
Im Zusammenhang mit der kombinierten Berücksichtigung individueller und gesellschaftlicher Aspekte steht die Sichtweise, dass eine Gleichverteilung von Ressourcen nicht erstrebenswert ist. Da der individuelle Bedarf an Gütern und Ressourcen für jeden Menschen verschieden ist, muss die jeweilige Wirkung der Ressourcen berücksichtigt werden. Eine Gleichverteilung von Ressourcen schafft nicht zwingend gleiche Ergebnisse, da die individuellen Voraussetzungen unterschiedlich sind. Nussbaum plädiert dafür, darauf zu schauen, welche Auswirkungen die Verteilung von Ressourcen auf das Leben eines jeden Einzelnen hat (vgl. Nussbaum 1999, 36 ff.). Es wird nicht dafür plädiert, jedem gleichviel Ressourcen zu geben, sondern jedem das Gleiche zu ermöglichen. „Denn Menschen haben unterschiedliche Möglichkeiten, die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel zur Verwirklichung ihrer Bedürfnisse zu nutzen. Diese Verwirklichungsmöglichkeiten werden zum einen durch große Unterschiede in der körperlichen und geistigen Konstitution bestimmt [...] und zum anderen können die jeweiligen natürlichen und sozialen Umweltbedingungen die Verwirklichungsmöglichkeiten beeinflussen“ (Schrödter 2007, 13). Der Capabilities Approach plädiert für eine Ergebnisorientierung, erst in einem zweiten Schritt ist der Prozess von Bedeutung. Der Prozess wird wiederum daran gemessen, inwiefern er das Ergebnis befördert (vgl. Nussbaum 2010, 120 f.).
Nussbaums Intention ist es aber nicht, Menschen vorzuschreiben, wie sie ihr Leben zu leben haben, das Individuum soll nicht dazu genötigt werden, die Befähigung auch anzuwenden, diese Entscheidung liegt beim Individuum selbst (vgl. Nussbaum 2002, 36). Allerdings soll es jedem möglich sein, sich auch wirklich entscheiden zu können. Dies wiederum setzt eine Befähigung auch im Sinne einer Ermöglichung durch äußere Rahmenbedingungen voraus – erinnert sei an das Beispiel der Redefreiheit.
Nach Nussbaums Auffassung stellen die von ihr zusammengestellten Fähigkeiten einen überlappenden Konsens der Vorstellungen über das gute Leben dar: „The capabilities, I argue, can become the object of an overlapping consensus among people who otherwise have very different comprehensive conceptions of the good“ (Nussbaum 2007, 70). Auf eine kritische Auseinandersetzung zu Nussbaums Fähigkeiten-Liste soll hier nicht näher eingegangen werden, dies ist bereits an anderer Stelle geschehen (vgl. u.a. Müller 2003; Kallhoff 2001; Scherer 1993) und würde hier zu weit führen. Es kann aber festgehalten werden, dass Nussbaum die Liste mit den zentralen menschlichen Fähigkeiten nicht als endgültig abgeschlossen ansieht, zudem sind die Elemente der Liste so allgemein gehalten, dass sie genügend Raum für Spezifizierungen lassen (vgl. Nussbaum 2007, 78 ff.; Nussbaum 2010, 115 ff.). Die aktuelle Liste umfasst folgende Aspekte: Leben; körperliche Gesundheit; körperliche Integrität; Sinne, Vorstellungskraft und Denken; Gefühle; Praktische Vernunft; Zugehörigkeit; Andere Spezies; Spiel; Kontrolle über die eigene Umwelt (vgl. Nussbaum 2010, 112 ff.; siehe auch Nussbaum 2011, 33 f.). Nussbaums Liste von zentralen menschlichen Fähigkeiten stellt eine „starke vage Konzeption“ (Nussbaum 1999, 28) dar, sie umfasst eine inhaltsreiche Bestimmung des guten Lebens und dennoch ist sie aufgrund der Wahlmöglichkeiten des Menschen „als formal zu betrachten“ (Steckmann 2008, 112). Bei aller von Nussbaum dargelegten Offenheit und Vorläufigkeit der Liste im Sinne einer nicht endgültigen Fassung (vgl. u.a. Nussbaum 2010, 232; 1999, 56), bietet der Capabilities Approach eine gute Diskussionsgrundlage, um sich darüber zu verständigen, was Menschen eigentlich in der Lage sein sollten zu tun und zu sein.

5. Auf dem Weg zu einer gesellschaftskritischen Haltung

Wenn eine kritische Haltung beinhaltet, die äußeren, gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in den Blick zu nehmen – und nicht lediglich auf die individuelle Verantwortung zu setzen –, dann kann der Capabilities Approach als ein fruchtbarer Ansatz für eine solche Haltung angesehen werden. Nussbaum nimmt unter anderem auch auf die Integration von Menschen mit Beeinträchtigungen Bezug: „Kurz gesagt handelt es sich bei der Aufgabe, Menschen mit Beeinträchtigungen zu integrieren, um eine öffentliche Aufgabe, die öffentliche Planung und den Einsatz öffentlicher Ressourcen verlangt. Die entscheidende Frage lautet hier nicht, wie viel Geld Menschen mit Beeinträchtigungen haben sollten, sondern, was sie tatsächlich zu tun und zu sein in der Lage sein sollten. Und wenn wir hier zu einer Antwort gekommen sind, stellt sich die weitere Frage, welche Hindernisse der Realisierung ihrer Fähigkeiten in Tätigkeiten zumindest bis zu einem angemessenen Schwellenwert im Wege stehen“ (Nussbaum 2010, 234).
Zusätzlich zu der Aussage, dass Inklusion auch eine öffentliche Aufgabe darstellt, ist bei Nussbaum noch ein weiterer wichtiger Hinweis zu finden. Es muss zuerst darum gehen, die Zielperspektive der Betroffenen ins Visier zu nehmen. Wohin soll es gehen, was soll erreicht werden? Es geht also im ersten Schritt darum, zu klären, welche gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für eine Sozialisation förderlich sind (vgl. Herz 2010a, 39). Gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die eben nicht von einem ‚schlanken’ Staat gekennzeichnet sind, die nicht das Leistungsprinzip und die Privatisierung des individuellen Risikos propagieren und damit eine Reduzierung des sozialen Sicherungssystems sowie prekäre Lebenslagen befördern. Der Capabilities Approach bietet hier einen Rahmen, den es zu konkretisieren gilt, um eine Vorstellung davon zu erhalten, wie gesellschaftliche Rahmenbedingungen für eine gelingende Inklusion aussehen sollten und was getan werden muss, um diese zu realisieren. Es gilt „jedem Bürger die materiellen, institutionellen und pädagogischen Bedingungen zur Verfügung zu stellen, die ihm einen Zugang zum guten menschlichen Leben eröffnen und ihn in die Lage versetzen, sich für ein gutes Leben und Handeln zu entscheiden“ (Nussbaum 1999, 42).
Pädagogik kann hier Möglichkeitsräume gestalten. Sie kann und muss sich aber auch immer wieder in Erinnerung rufen, dass es äußere Rahmenbedingungen gibt, die es kritisch zu hinterfragen gilt.

6. Fazit

Ziel dieses Beitrages ist es, für eine kritische Haltung gegenüber gesellschaftlichen Phänomenen innerhalb der Inklusionsdebatte zu sensibilisieren. Eine solche gesellschaftskritische Haltung wird als Voraussetzung dafür angesehen, ein Instrument für eine inklusive Entwicklung, wie den Index für Inklusion, in die Praxis zu implementieren. Die Auseinandersetzung mit den Begriffen Integration und Inklusion hat gezeigt, dass die Integrationsdebatte schon immer die gesellschaftliche Dimension mit einbezogen hat und dass das Plädoyer hier nur lauten kann, die gesellschaftliche Dimension auch in der Inklusionsdebatte mit zu berücksichtigen. Dies geschieht nur vereinzelt im sonderpädagogischen Diskurs (vgl. Herz 2010a; 2012a; Benkmann 2012). Pädagogik ist nicht verantwortlich für gesellschaftliche Widersprüche, eine Nichtthematisierung gesellschaftlicher Phänomene innerhalb der (Sonder-)Pädagogik und der Inklusionsdebatte würde dies aber suggerieren (vgl. Bernhard 2012; Dammer 2012). Wie der Beitrag von Bernhard zeigte, müssen nicht nur sozialstrukturelle Bedingungen berücksichtigt werden, es bedarf auch einer ethischen Begründung von Inklusion, damit Inklusion nicht im Sinne neoliberaler Tendenzen zu einer Billiglösung wird.
Diese beiden Perspektiven, die gesellschaftsanalytische als auch die gerechtigkeitstheoretische, wurden hier kurz erläutert. Der Abbau des Sozialstaates, die zunehmende Forderung nach einer Eigenverantwortung des Individuums, die Suche des Staates nach einer neuen Rechtfertigungsgrundlage – der Angst um die eigene Sicherheit – führen letztlich dazu, dass der Abbau des Sozialstaates einhergeht mit einem neu aufkommenden strafenden Staat. Wacquant stellt hierzu Folgendes fest: „Soziale Deregulierung, die Zunahme sozial unabgesicherter Arbeitsverhältnisse […] und die Wiederkehr eines strafenden Staates alter Prägung gehen Hand in Hand“ (Wacquant 2006, 144) – strafend wohlgemerkt an der unteren Hälfte der Gesellschaft. Diejenigen die also ohnehin schon unter sozialstrukturellen Bedingungen leiden, sind so in zweifacher Weise gestraft. Diese gesellschaftlichen Bedingungen nicht in der Inklusionsdebatte zu berücksichtigen, kann doch nur als das bezeichnet werden, was es ist – eine eklatante Missachtung von Vorstellungen sozialer Gerechtigkeit. Die Bedeutsamkeit einer Einbeziehung auch von gerechtigkeitstheoretischen Vorstellungen wurde deutlich in Anlehnung an den Capabilities Approach, dessen zentrale Stärke es ist, nicht allein die Befähigung für ein gutes Leben beim Individuum zu verorten, sondern vielmehr die äußeren, gesellschaftlichen Bedingungen hierfür mit zu beachten. Sowohl die gesellschaftsanalytische als auch die gerechtigkeitstheoretische Perspektive müssen in der Inklusionsdebatte Berücksichtigung finden.
Dieser Beitrag soll aufzeigen, dass der Einsatz eines Instruments wie dem Index für Inklusion gesellschaftlicher Veränderungen bedarf. Die Verantwortung für eine gelingende Inklusion liegt zudem nicht allein und ausschließlich bei den beteiligten Akteuren in der pädagogischen Praxis – es bedarf sowohl materieller, institutioneller als auch pädagogischer Bedingungen. Die (Sonder-)Pädagogik gestaltet Möglichkeitsräume, die Politik aber verantwortet das Gelingen von Inklusion durch das Bereitstellen von materiellen und institutionellen Voraussetzungen. Genau das wird derzeit aber durch neoliberale Tendenzen verhindert.

 

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