Abstract: Im Beitrag soll einerseits ein prägnanter Vergleich wesentlicher Ausrichtungen von Diagnostik in pädagogischen Settings, wie sie in der pädagogischen Alltagspraxis wiederzufinden sind, angestellt werden. Andererseits sollen grundlegende Wesenszüge einer inklusiven Diagnostik skizziert und zur Diskussion gestellt werden.
Stichworte: Diagnostik, Inklusion, ‚klassische‘ Diagnostik, Förderdiagnostik, inklusive Diagnostik
Inhaltsverzeichnis
Ein konsequentes und ‚breites‘ pädagogisches Inklusionsverständnis (vgl. Hinz 2013) eröffnet im Kontext der Theorie und Praxis von (Schul)Pädagogik grundlegend eine Vielzahl von Möglich- aber auch Notwendigkeiten bisherige Strukturen, Konzepte, Praxen, Traditionen etc. kritisch-konstruktiv infrage zu stellen. Damit einhergehen können Unsicherheiten, Ängste, Fragen, Herausforderungen und Hoffnungen. Inklusion ist nach wie vor einer der stärksten Anreize (wenn nicht der stärkste Anreiz) für Diskussionen um tiefgreifende Veränderungen im deutschen Bildungswesen. Obgleich Inklusion – konsequent gedacht – ein extrem breites Spektrum an Veränderungen nach sich zieht, bedeutet dies jedoch nicht, dass im Rahmen des Pädagogischen das Rad neu erfunden werden muss. Zwar werden nicht alle pädagogischen Ansätze ‚inklusionstauglich‘ sein, im Umkehrschluss bedeutet Inklusion jedoch auch nicht, dass alles, was bisher als gut oder pädagogisch wertvoll galt, an Bedeutung oder Legitimation verliert. Es geht vielmehr um die Suche nach Ansätzen, die mit dem Anspruch inklusiver Pädagogik und seiner originären Tragweite zu vereinbaren sind – so auch in Bezug auf eine inklusive Diagnostik (vgl. Boban/Hinz 1998). Entsprechend dieses Grundgedankens soll in diesem Beitrag der Fokus auf Diagnostik und damit auf einem ausgewählten Aspekt pädagogischer Theorie und Praxis gelegt werden. Einerseits wird ein prägnanter Vergleich wesentlicher Ausrichtungen von Diagnostik in pädagogischen Settings, wie sie in der pädagogischen Praxis wiederzufinden sind, vorgenommen werden. Andererseits sollen Wesenszüge einer inklusiven Diagnostik skizziert werden.
Mit seiner tabellarischen Gegenüberstellung der Praxis der Integration und der Inklusion sowie ihrer jeweiligen „Blickwinkel“ und „Zielrichtungen“ hat Andreas Hinz (2002) die Umsetzung integrativer Ansätze bis zum Anfang der 2000er Jahre kritisiert und gleichsam dazu beigetragen, den Inklusionsbegriff sowie die dahinterstehende Theorie und angezielte sowie bereits tatsächlich existente Praxis von jener der Integration abzugrenzen und damit den Inklusionsdiskurs in Deutschland wesentlich voranzubringen. Auch nach über zehn Jahren verhilft Hinz‘ Gegenüberstellung dazu, dem Ansatz der Inklusion eine deutliche Kontur zu verleihen und die wesentlichen Unterschiede zur Praxis der Integration prägnant hervorzuheben. Angesichts des zum Teil widersprüchlichen und unreflektierten Inklusionsdiskurses (vgl. Hinz 2013) genießt Hinz‘ zusammenfassende Gegenüberstellung durchaus ungebrochene Aktualität. In Kreisen von Sonder-, Integrations- und Inklusionspädagog_innen wurde sich durchaus kritisch mit der hinz‘schen Abgrenzung integrativer und inklusiver Praxis auseinandergesetzt. So wurde Hinz unter anderem eine illegitime Abwertung der Integration und ein fragwürdiger, konzeptionell unbegründeter Begriffswechsel vorgeworfen (z.B. Knauer 2003, Liesen/Felder 2004, Wocken 2010). Bedeutsam ist, dass es Hinz nicht um eine Kritik an der Theorie integrativer Pädagogik ging (wobei von der Theorie integrativer Pädagogik ohnehin keine Rede sein kann…), sondern um eine Kritik ihrer überwiegenden Praxis, sodass „die ‚bad practice‘ der Integration nicht einer ‚bad theory‘ zugeschrieben werden darf“ (Schür 2013: 50). Liesen und Felder (2004: 6) merkten dieser Vorgehensweise kritisch an, dass Hinz lediglich die nordamerikanische inklusionspädagogische Praxis jener der deutschen integrationspädagogischen gegenüberstelle. Inwiefern dies heutzutage grundlegend anders wäre, bleibt offen, da für den schulischen Bereich nach wie vor nicht verlässlich gesagt werden kann, in welchem quantitativen und qualitativen Maße von einer inklusiven Praxis die Rede sein kann (vgl. Speck 2011: 78) – von einer veränderten Sachlage ist jedoch auszugehen.
Die unten stehende tabellarische Gegenüberstellung traditioneller diagnostischer Konzepte mit dem Konzept der Förderdiagnostik und dem einer inklusiven bzw. inklusionsorientierten Diagnostik ist dennoch in derselben Weise wie Hinz‘ Gegenüberstellung der integrativen und inklusiven Praxis zu verstehen: Es geht um den Vergleich der überwiegenden Praxis von Diagnostik in pädagogischen Settings und um die Extrapolation wesentlicher Charakterzüge von Diagnostik innerhalb der pädagogischen Alltagspraxis. Demnach ist es nicht das Anliegen im Rahmen dieses Beitrages, die Vielfalt diagnostischer Ansätze (vgl. z.B. Bundschuh 2007) mitsamt ihrer Verfahren und Instrumente abzubilden und diese zu diskutieren. Es geht vielmehr um eine Zusammenfassung der kritischen Auseinandersetzung mit diagnostischer Praxis, wie sie intensiv im Zuge der Diskurse integrativer und inklusiver Pädagogik vorgenommen wurde (z.B. Feuser 1995, Belusa/Eberwein 1997, Knauer 1998, Eggert 1998, Boban/Hinz 1998, Eberwein 1999, Boban 2007, Prengel 2011, Wocken 2013, Geiling/Hinz/Simon i.E., Simon i.E.). In Bezug auf die Praxis einer inklusiven Diagnostik stößt die unten stehende Tabelle an dieselbe ‚Grenze‘ wie die Tabelle der Praxis der Integration und der Inklusion von Hinz (2002): Sie bezieht sich in Sachen inklusiver Diagnostik auf eine Praxis, die in keiner vergleichbaren Quantität vorzufinden ist, wie die der ihr gegenübergestellten Ansätze der ‚klassischen‘ Diagnostik und der Förderdiagnostik.
„Das Wort „Diagnostik“ geht zurück auf das griechische Verb „diagignóskein“, das unterschiedliche Aspekte eines kognitiven Vorganges bezeichnet“ (Fisseni 2004: 4). In seinem Abriss diagnostischer Modelle und Vorgehensweisen stellt Bundschuh (2007: 43ff.) ‚klassische‘ bzw. traditionelle diagnostische Ansätze und neuere Ansätze psychologisch-pädagogischer Diagnostik gegenüber. Zu den ‚klassischen‘ Ansätzen zählt er das medizinische Modell klinischer Diagnostik, das psychologisch-diagnostische Modell sowie die verhaltensorientierte Diagnostik. Diesen Ansätzen ist gemein, dass sie Ursachen für Störungen oder Probleme in Defiziten einer Person suchen, mit dem Ziel diese Defizite durch Interventionen zu beseitigen. Anregungen für Interventionen (und auch präventive Maßnahmen) sind die Ergebnisse diagnostischer Prozesse (vgl. Bundschuh 2007). ‚Klassische‘ Diagnostik dient dazu, „menschliches Verhalten „gründlich kennen[zu]lerne[n]“, um bei Störungen zum Zwecke einer Abhilfe „Entscheidungen“ oder gar „Beschlüsse“ herbeizuführen“ (Fisseni 2004: 4).
Zu den neueren Ansätzen zählt Bundschuh das gesellschaftswissenschaftliche Modell, diagnostische Ansätze mit didaktischer Orientierung, den systemischen Ansatz, das epistemologische Subjekt-Modell, die Normalisierungs- und Integrationsdiagnostik sowie die Bildbarkeits- und Förder(ungs)diagnostik (vgl. Bundschuh 2007: 55ff.). Bei der nachfolgenden tabellarischen Übersicht wird die ‚klassische‘ Diagnostik mit der inklusiven Diagnostik – deren Charakter am Ende dieses Beitrages beschrieben wird – und dem Ansatz der Förderdiagnostik, als ‚prominente‘ und für die integrative Pädagogik besonders bedeutsame Vertreterin neuerer diagnostischer Ansätze gegenübergestellt. Mit dem Terminus Förderdiagnostik „sollte die Zielsetzung zum Ausdruck gebracht werden, die Aufmerksamkeit nicht, wie bislang, auf die Defizite eines Kindes im Hinblick auf schulisches Lernen zu richten, sondern zum einen die individuellen Stärken und die im Umfeld liegenden Ressourcen aufzudecken und zum anderen das schulische Angebot mit diesen Voraussetzungen zur Passung zu bringen“ (Knauer 1998: 57). Im Gegensatz zur ‚klassischen‘ Diagnostik geht es im Rahmen der Förderdiagnostik auf Grundlage einer Kind-Umfeld-Analyse (vgl. Sander 1993) um die Beschreibung von Ressourcen, Fähigkeiten und Kompetenzen des Menschen (vgl. Eggert 1998) mit dem Ziel die bestmögliche Entfaltung der Persönlichkeit zu gewährleisten, zu deren Zwecke pädagogische Angebote optimiert werden sollen (Kretschmann 2004: 181, vgl. auch Belusa/Eberwein 1997). Förderdiagnostik versteht sich also selbst als Kritik an den traditionellen Ansätzen von Diagnostik und wird daher auch direkt mit dieser und einer inklusiven Diagnostik gegenübergestellt. Trotzdem sich Förderdiagnostik als Gegenentwurf zur ‚klassischen‘ Diagnostik versteht, ist es ihr nicht gelungen, sich aus dem „Grunddilemma pädagogischer Diagnostik im administrativen Zusammenhang eines selektiven Schulwesens“ (Boban 2007: 139, vgl. auch Boban/Hinz 1998: 151ff.) zu lösen.
Die Gegenüberstellung der Konzepte der ‚klassischen‘ Diagnostik, der Förderdiagnostik und der inklusiven Diagnostik orientiert sich nachfolgend an elf Kriterien, die einen prägnanten, unmittelbaren, systematischen Vergleich der dargestellten ‚Konzepte‘ ermöglichen und kurz beschrieben werden sollen: Das erste Kriterium sind Termini (1), die mit dem jeweiligen diagnostischen Konzept in Verbindung stehen. Diese jeweils zugeordneten Begriffe sind stets als beispielhaft zu verstehen, erheben also keinen Vollständigkeitsanspruch. Die Zielgruppe (2) beschreibt die Klientel, für die das jeweilige diagnostische Konzept seine primäre Gültigkeit beansprucht bzw. über die sich die vorgestellten Konzepte legitimieren. Des Weiteren wird zwischen dem Anlass (3) und dem unmittelbaren Zweck (4) von Diagnostik unterschieden. Mit dem Anlass ist gleichsam eine bestimmte diagnostische Haltung und Perspektive i.S. einer spezifischen Aufmerksamkeit für als diagnostisch relevant eingeschätzte ‚Phänomene‘ aber auch der Grund für das Zustandekommen diagnostischer Tätigkeiten gemeint. Der unmittelbare Zweck versucht wiederum die grundlegende Intention diagnostischen Handelns zu bestimmen. Ferner wird der Blick auf den Umgang des jeweiligen diagnostischen Konzeptes mit Vielfalt gelegt (5), wobei in Anlehnung an Weinert (1997) grundsätzlich zwischen einer passiven, substitutiven, aktiven und proaktiven Reaktionsform unterschieden werden kann. Die passive meint das überwiegende Ignorieren bspw. von Lern- und Leistungsunterschieden. Die Lehr-Lernplanung orientiert in der Konsequenz dessen an einem fiktiven Durchschnittsschüler, weshalb didaktisch-methodische Maßnahmen der Differenzierung nicht nötig erscheinen. Die substitutive Reaktionsform meint das Bestreben der Anpassung an den Kontext, was i.d.R. bedeutet, dass Unterschiede durch Maßnahmen der Homogenisierung und Anpassung reduziert werden. Praktisch kann dies im Spektrum von Prävention über Förderung/Trainings bis hin zu Selektion erfolgen. Die aktive Reaktionsform bedeutet wiederum eine teilweise Anpassung des Unterrichts an die lernrelevanten Unterschiede zwischen den Schüler_innen durch Differenzierungsmaßnahmen, vor allem durch zieldifferenzielle Lernangebote entsprechend unterschiedlicher Lernvoraussetzungen der Schüler_innen. Die proaktive Reaktionsform meint letztlich die Anpassung des Kontextes an die Bedürfnisse des einzelnen Kindes, wodurch Förderung und Individualisierung ein Anspruch für alle Kinder sind und es zu einem zielgleichen aber individualisierten Lernen kommt („ein individualisiertes Curriculum für alle“ (Hinz 2002: 359)). Ein weiteres Kriterium des Vergleichs bildet die Flexibilität der diagnostischen Ansätze (6), die das jeweilige Konzept bestimmen. Damit verbunden sind sowohl Möglichkeiten der Verwendung standardisierter und nichtstandardisierter Verfahren, als auch generell unterschiedlicher Verfahren und Instrumente bspw. im Spektrum quantitativer und qualitativer Zugänge zu Ausschnitten von respektive Annäherungen an soziale(r) Realität. Eng damit verbunden ist der Umgang mit den klassischen Hauptgütekriterien (7) der Forschung bzw. Diagnostik (z.B. Bortz/Döring 2006, Bühner 2011)[1]. Hinter dem Kriterium Erkenntnisgrad (8) verbirgt sich der (Selbst)Anspruch des jeweiligen diagnostischen Konzeptes tatsächliche ‚Wahrheiten‘ bzw. ‚wahre Aussagen‘ und damit objektive Daten zu produzieren, die es ermöglichen Ist-Aussagen zu treffen. Anschließend wird die Rolle der Diagnostiker_innen charakterisiert (9), die wiederum Rückschlüsse auf die Rolle weiterer an Diagnostik beteiligter oder von ihr mittel- und unmittelbar betroffener Personen und Personengruppen zulässt. Mit dieser Rollenbeschreibung verbunden ist auch die Charakterisierung der Interaktionen zwischen den Diagnostiker_innen und weiteren an Diagnostik beteiligten oder von ihr mittel- und unmittelbar betroffenen Personen und Personengruppen (10). Schlussendlich wird der Kern des Charakters des jeweiligen diagnostischen Ansatzes zusammen zu fassen versucht (11).
Tab.: Gegenüberstellung traditioneller Ansätze von Diagnostik, von Förderdiagnostik sowie inklusionsorientierter Diagnostik
|
Traditionelle |
Konzept der |
Inklusive bzw. inklusionsorientierte Diagnostik |
Termini (beispielhaft) |
‚klassische‘ Diagnostik, medizinisch-psychologische Diagnostik, Verhaltensdiagnostik |
Förderdiagnostik, Lernförderungsdiagnostik, Entwicklungsdiagnostik, pädagogisch psychologische Diagnostik |
inklusionsorientierte/ inklusive Diagnostik, pädagogische Diagnostik, willkommen heißende Diagnostik |
Zielgruppe |
Klientelspezifik: Kinder mit vermutetem und/ oder diagnostiziertem sonderpädagogischem Förderbedarf, ‚Problemkinder‘; Zwei-Gruppen-Theorie |
Klientelspezifik: Kinder mit vermutetem und/ oder diagnostiziertem sonderpädagogischem Förderbedarf, ‚Problemkinder‘; Zwei-Gruppen-Theorie |
„Support- und Serviceleistung“ für alle Kinder (Wocken 2013); Überwindung von Klientelspezifik und Zwei-Gruppen-Theorie |
Anlass/ Perspektive |
Störung/ Probleme beim/ im Kind; defizitorientiert und personenzentriert |
Störung/ Probleme beim/ im Kind, fehlende Passung zwischen Bedürfnissen und Bedingungen, Probleme der Kind-Umfeld-System-Beziehung (Sander 1993) |
Informationsgewinnung als generelle Grundlage pädagogischer Handlungsplanung und -reflexion, Fremdheitshaltung und Offenheit |
unmittelbarer Zweck |
Problemidentifikation, Intervention zur Problembehebung, Anpassung des Individuums, Legitimation von Selektionsprozessen, personengebundene Ressourcenlegitimation |
Problemidentifikation, Erstellen von Förderplänen, Planung pädagogischer Angebote, Adaption von Aufgaben und Lernumgebung, personengebundene Ressourcenlegitimation |
Erstellung von Lehr-, Lern- und Förderplänen (Prengel 2011), Planung pädagogischer Angebote, Barrieren identifizieren, mindern und beheben, Adaption von Aufgaben und Lernumgebung |
Umgang mit Vielfalt |
substitutive Reaktionsform (Weinert 1997); Separierungsmodell (Hinz 1995); Defizitorientierung, Vergleich & Stigmatisierung, Selektion & Platzierung |
eher aktive Reaktionsform (Weinert 1997); Separierungs- & Anpassungsmodell (Hinz 1995); Ressourcenorientierung, Vergleich & Stigmatisierung, Selektion & Platzierung |
proaktive Reaktionsform (Weinert 1997); Ergänzungsmodell (Hinz 1995); Prinzip der Anerkennung und Nicht-Diskriminierung (Prengel 2011, Prengel/Liebers/Geiling 2013, Simon i.E.) |
Flexibilität diagnostischer Instrumente |
nicht individualisierbar, normorientiert, überwiegend formelle, quantitative Verfahren |
z.T. individualisierbar, z.T. normorientiert, formelle und informelle, quantitative und (vermehrt) qualitative Verfahren |
individualisierbar, flexibel, formelle und informelle, quantitative und (vermehrt) qualitative Verfahren |
Hauptgütekriterien |
gelten uneingeschränkt |
gelten eingeschränkt, Notwendigkeit weiterer Gütekriterien wird diskutiert (vgl. Belusa/ Eberwein 1997) |
Gültigkeit wird in Frage gestellt; Notwendigkeit weiterer, neuer Gütekriterien |
Erkenntnisgrad |
Diagnostik bringt Erkenntnisse zu Tage, ermöglicht Ist-Aussagen |
Bewusstheit begrenzter ‚Erkenntnis‘ (Speck 2008), bringt Arbeitshypothesen hervor (Prengel 2011, Prengel/ Liebers/Geiling 2013) |
Bewusstheit begrenzter ‚Erkenntnis‘ (Speck 2008), bringt Arbeitshypothesen hervor (Prengel 2011, Prengel /Liebers/Geiling 2013) |
Rolle des Diagnostikers |
Monopol der Diagnostik und ihrer Legitimation, Bezugsdisziplinen sind v.a. Medizin und Psychologie, vgl. Laienmodell nach Speck (1989) |
Diagnostik ist interdisziplinärer Prozess, vgl. Ko-Therapeutenmodell nach Speck (1989) |
Diagnostik ist multiperspektivischer, ko-konstruktiv-dialo-gischer Prozess(Boban 2007, Boban/Kruschel 2012, Simon i.E.), vgl. Kooperationsmodell nach Speck (1989) |
Charakter der Interaktion(en) |
verdinglichende Haltung ggü. Kind (und Angehörigen) (Nussbaum 2002, Honneth 2005, Simon i.E.) |
verdinglichende Haltung ggü. Kind (Nussbaum 2002, Honneth 2005, Simon i.E.) |
anerkennende Haltung (Simon i.E.) |
Disziplinärer Charakter |
Spezialdisziplin (von Medizin, Psychologie und Sonderpädagogik) im administrativen Zusammenhang |
Spezialdisziplin (v.a. von Sonderpädagogik) im administrativen Zusammenhang |
keine Spezialdisziplin (Boban 2007, Wocken 2013), ko-konstruktive Disziplin der ‚Weisheit der Vielen‘ (Boban/ Kruschel 2012), Loslösung aus administrativem Zusammenhang |
Sowohl im Rahmen der tabellarischen Gegenüberstellung als auch weiter oben wurde bereits der Versuch unternommen das Wesen ‚klassischer‘ Diagnostik, das der Förderdiagnostik und jenes der inklusiven Diagnostik zu beschreiben. Abschließend soll nun der Versuch unternommen werden das Wesen einer inklusiven Diagnostik weiter zu differenzieren. Dies erfolgt einerseits auf Grundlage des obigen tabellarischen Vergleichs der diagnostischen Ansätze und andererseits unter Rückgriff auf Beiträge zur Frage einer inklusiven Diagnostik (vgl. Boban/Hinz 1998, Boban 2007, Prengel 2011, Boban/Kruschel 2012, Gebauer/Simon 2012, Wocken 2013, Simon 2013, Simon i.E.). Das Wesen einer inklusiven Diagnostik ergibt sich aus spezifischen inklusionspädagogischen Forderungen an Diagnostik oder anders formuliert aus den Ansprüchen und Herausforderungen, die an eine inklusionsorientierte Diagnostik[2] gestellt werden. Diese Ansprüche ergeben sich letztlich wiederum aus dem konkreten zugrundeliegenden Inklusionsverständnis. Angesichts des widersprüchlichen Inklusionsdiskurses (vgl. Hinz 2013) sei daher an dieser Stelle der explizite Hinweis gegeben, dass das diesem Beitrag zugrunde liegende Inklusionsverständnis sich dem hinz’schen Inklusionsverständnis (z.B. Hinz 2002, 2013) anschließt und damit auch die Ansprüche an eine inklusive Diagnostik mitbestimmt.
Eine inklusionsorientierte bzw. inklusive Diagnostik knüpft an integrationspädagogische Diagnostik-Kritik an (vgl. z.B. Feuser 1995, Knauer 1998, Eggert 1998, Boban/Hinz 1998, Eberwein 1999), im Rahmen derer v. a. die Gefahr von Selektion, Platzierung, Zuwendung und Ressourcenverteilung sowie der (Re)Produktion von Ungleichheit(en) thematisiert und insgesamt das Grunddilemma pädagogischer Diagnostik im administrativen Zusammenhang beschrieben wird (vgl. Boban/Hinz 1998, Boban 2007), welches im Zuge integrationspädagogischer Bemühungen nicht erfolgreich überwunden werden konnte und somit eine bedeutsame Entwicklungsaufgabe von Diagnostik auf ihrem Weg zur Inklusion darstellt.
Nachfolgend werden zehn zentrale Wesenszüge einer inklusiven Diagnostik angeführt (ein ‚Dekalog inklusiver Diagnostik‘), die als Diskussionsgrundlage und als generell erweiterbar zu betrachten sind.
Im Konkreten bedeutet dies, dass im Rahmen von Diagnostik: erstens nicht über Kinder verfügt wird, als könne über sie verfügt werden wie über ein Ding; zweitens Kinder nicht instrumentalisiert werden, zum Beispiel zum Aufrechterhalten unterschiedlicher Professionen durch klientelspezifische Abgrenzung; drittens Kinder nicht ihrer Autonomie beraubt werden, indem ihr freier Wille und ihr Recht gehört zu werden nicht geachtet werden; Kinder viertens nicht als handlungsunfähig betrachtet, sondern als Professionelle ihrer selbst wahr- und ernstgenommen werden; Kinder fünftens nicht als austauschbar erachtet oder behandelt werden, was Selektions- und Platzierungsprozesse nach dem Motto „für jedes Kind die passende Schule“ ausschließt; sechstens das Verletzen (egal ob seelisch oder physisch) von Kindern nicht in Kaufgenommen oder ignoriert wird, so wie es in Schule mitunter der Regelfall ist (vgl. Simon/Kruschel 2013, Simon 2013a, Wocken 2013a); siebtens nicht mit Kindern umgegangen wird, als wären sie ein Besitztum, was mit der uneingeschränkten Achtung ihrer Selbstbestimmung und generellen Handlungsfähigkeit (ungeachtet der Quali- und Quantität derselben) und mit Enthierarchisierungsprozessen einhergeht.
Als Wesenszüge einer inklusiven Diagnostik wurden bis hier folgende Punkte zusammengetragen: Eine inklusive Diagnostik…
Inklusive Diagnostik als „Serviceleistung“ für alle Kinder ist ein Instrument zur Suche nach passenden pädagogischen Angeboten und Inszenierungen und damit verbundenen Adaptionsleistungen des Settings an jedes einzelne Kind (vgl. Gebauer/Simon 2012), die mit einer kritischen Überprüfung von Institutionen und Konzeptionen auf ihre ‚Inklusionsfähigkeit‘ hin verbunden ist. Es geht bei ihr „um keine neue oder spezielle Diagnostik, sondern um eine Zusammenstellung von Verfahren, die mit deren [inklusionspädagogischen; d. A.] Anliegen konform gehen.“ (Boban/Hinz 1998: 151).
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Wocken, H. (2013): Zum Haus der inklusiven Schule. Ansichten – Zugänge – Wege. Hamburg: Feldhaus Verlag
Wocken, H. (2013a): Über die Gefährdung des Kindeswohls durch die Schule. Ein unmögliches Essay zur Therapie einer krankmachenden Institution. In: Zeitschrift für Inklusion, Nr. 2/2013. URL: http://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion/article/view/225/200
[2] Während Annedore Prengel (2011) inklusive Diagnostik und pädagogische Diagnostik synonym verwendet und Ines Boban (2007) von „willkommen heißender Diagnostik“ schreibt, werden in diesem Beitrag die Begrifflichkeiten „inklusive“ bzw. „inklusionsorientierte Diagnostik“ verwendet.
[3] Auf sprachlicher Ebene gab es mit den Begriffen der „Pädagnostik“ (vgl. Kretschmann 2004) und „didaktische Diagnostik“ (vgl. Geiling/Prengel 2007) Versuche Diagnostik zu entpathologisieren. Der Begriff „Di(d)agnostik“ manifestiert nach Simon (i.E.) auf sprachlicher Ebene die Synergie zwischen Didaktik und Diagnostik in inklusiven bzw. inklusionsorientierten Settings.