Andreas Köpfer: Inclusive Unterstützungsstrukturen und Rollen am Beispiel kanadischer Schulen in den Provinzen New Brunswick, Prince Edward Island und Québec[1]

Abstract: In diesem Beitrag werden überblicksartig der Aufbau, die ethnographische Herangehensweise und ausgewählte Ergebnisse der Dissertation „Inclusion in Canada“ vorgestellt. In ihr rücken drei kanadische Provinzen in den Fokus, die bereits seit mehreren Dekaden schulische Inclusion praktizieren: New Brunswick – bisweilen als „Nordstern für Inklusion“ (Hinz 2006) bezeichnet – Prince Edward Island und Québec. Im Rahmen einer ethnographischen Feldforschung wurden Schulen dieser Provinzen hinsichtlich ihrer inclusiven Unterrichtspraktiken, Unterstützungsstrukturen und Rollen untersucht. Als Impulse für die deutschsprachige Fachdiskussion um inklusive Bildung und Erziehung können ein nonkategoriales und systemisches Verständnis von Unterstützung und neue Gestaltungsideen für schulinterne Berufsrollen und für multiprofessionelle Zusammenarbeit formuliert werden.

Stichworte: Inklusive Bildung und Erziehung; Inclusive Education; Internationale Studie; Ethnographie; Unterstützung / Support; Rollen

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung
  2. Ausgangssituation in Kanada
  3. Methodologisch-methodische Verortung und wissenschaftstheoretische Bezüge
  4. Ergebnisse
  5. Diskussion ausgewählter Ergebnisse
  6. Resümee: Gedankenanstöße für die Fachdiskussion um Inklusion in Deutschland
  7. Literatur

 

 

„Das Andere der eigenen Kultur, dem wir im Fremden begegnen,
bildet eine Herausforderung, die den Horizont der eigenen Lebensweise
transzendiert und für andere Möglichkeiten der Existenz öffnet, die eigene
Lebensweise aber auch in Frage stellt.“
(Fuchs & Berg 1993, 7)

1 Einleitung

In jeder Epoche wirkt eine Vielzahl von Strömungen und Debatten auf die Organisation, Ausstattung und Praxis von Bildungsinstitutionen ein. Wenngleich die internationale pädagogische Fachdiskussion derzeit unter den Vorzeichen von Teilhabe und Inklusion verläuft und mit der UN-Konvention (vgl. UN 2006) ein für alle ratifizierenden Staaten gleichermaßen gültiges Rechtsdokument besteht, ergeben sich variierende und bisweilen kontrastierende Ausgestaltungsformen inklusiver Bildung und Erziehung. Dies liegt zum einen darin begründet, dass jedes Land unterschiedliche politisch-ökonomische, kulturell-soziale, ökologische sowie geographische Voraussetzungen besitzt. Zum anderen – und dies zeigt sich im aktuellen Transformations- bzw. „De-Segregationsprozess“ (Hinz 2013) des Förderschulwesens in den jeweiligen deutschen Bundesländern – stellt Inklusion ein individuell-induktives Konzept dar, welches zwar durch rechtliche Bestimmungen normativ gesetzt wird, dessen Aufnahme und Praxis aber kontextbezogen vor Ort entwickelt werden muss.
Dabei gibt es unterschiedliche Forschungszugänge, um Entwicklungsimpulse zu generieren: Betrachtungsweisen von innen oder von außen auf das eigene System. Ein beliebtes Vorgehen, um Beispiele von Inklusion kennenzulernen, ist der Blick über die Landesgrenzen hinaus. Reiseziele, die in der aktuellen Fachdiskussion um Integration und Inklusion präferiert werden, sind zum Beispiel Italien, Finnland, Schweden und – seit etwa einer Dekade – Kanada. Die Gründe hierfür sind verschiedenartig, zum einen bedingt durch das gute Abschneiden Kanadas bei internationalen Vergleichsstudien oder des Weiteren durch die bildungspolitisch und -praktisch nahezu konträren Gegebenheiten im Vergleich zum deutschen Schulsystem.

Die folgenden Ausführungen stellen Kanada als Land ins Zentrum, welches seit nahezu drei Dekaden „Inclusion“[2] praktiziert und in den letzten Jahren bereits vielfach Bestandteil der deutschsprachigen Fachdiskussion um Inklusion war (vgl. u.a. Sander 2001; Hinz 2006; Katzenbach & Degen 2010; Stein 2011; Arbeitsgruppe Internationale Vergleichsstudie 2007; Löser 2011; Werning 2010; Reich 2012; Ratzki 2005). Dabei kann eine Konzentration auf zwei Provinzen ausgemacht werden: New Brunswick (vgl. u.a. Hinz 2006, 2008; Stein 2011) und Ontario (vgl. u.a. Reich 2012, Bertelsmann-Stiftung 2008 etc.) – wenngleich weitere kanadische Provinzen wie z. B. Alberta zunehmend in den Fokus rücken (vgl. Sliwka 2010).
Auf den ersten Blick erscheint die Inspiration durch Best-Practice-Beispiele aus dem internationalen Raum naheliegend, bei näherer Betrachtung erweist sich dies jedoch als durchaus schwieriges Unterfangen; zu unterschiedlich sind kulturelle, ethnische und sprachliche Bedingungen, zu komplex und überlagert erscheinen bildungspolitische und pädagogische Zusammenhänge in den jeweiligen Ländern. Einen gewinnbringenden Zugang und eine methodisch abgesicherte „Horizonterweiterung“ (vgl. Bürli 2009, 31) bietet hierbei eine Feldforschung im Kontext ethnographischer Bildungsforschung. Die so entstandene umfassende Dissertationsstudie zu „Inclusion in Canada“ (vgl. Köpfer 2013) schließt damit die Forschungslücke einer grundständigen ethnographischen Bearbeitung der strukturellen Rahmenbedingungen bezogen auf Unterricht, Unterstützungsstrukturen und Rollen in Kanada und wird im Folgenden überblickartig vorgestellt.

 

 

2 Ausgangssituation in Kanada

Die Nation Kanada stellt das flächenmäßig zweitgrößte Land der Erde dar. Sie ist eingeteilt in verschiedene Provinzen und Territorien, die – ähnlich wie in Deutschland – bildungsföderalistische Strukturen besitzen: „In and for each province, the legislature may exclusively make laws in relation to Education.“ (Canadian Department of Justice 1876, 93) Zwar existiert ein „Council of Minister of Education, Canada“ (CMEC), das sich auf nationaler Ebene zu Bildungsfragen berät und Empfehlungen ausspricht, dennoch haben sich aufgrund der Bildungshoheit in den Provinzen verschiedene organisatorische Strukturen mit entsprechenden pädagogischen und administrativen Institutionen herausgebildet (vgl. Köpfer 2013, 69).
Als provinzübergreifende gesetzliche Grundlage hat die Charter of Rights and Freedoms (vgl. Canadian Department of Justice 1982), die im Jahr 1982 die erste unabhängige Konstitution Kanadas besiegelt, einen erheblichen Einfluss auf die Bildungslandschaft. Mit ihr wurden Schulentwicklungsprozesse angestoßen, die die Grundlage für heutige inklusive Bildungs- und Erziehungsstrukturen bilden. Die Charter formuliert dabei in Artikel 15 (ebd.) die zentrale Vorgabe:
„Every individual is equal before and under the law and has the right to the equal protection and equal benefit of the law without discrimination and, in particular, without discrimination based on race, national or ethnic origin, colour, religion, sex, age or mental or physical disability.” 

Auf Basis der Prämissen der Charter of Rights and Freedoms haben die provinzialen Bildungssysteme ein menschenrechtsbasiertes Verständnis von antidiskriminierender und egalitärer Bildung in ihren Strukturen verankert. Als erstaunlich benennt Stein (2011, 97) dabei die stringente Implementierung der Vorgaben der Charter innerhalb der Schulgesetze der jeweiligen Provinzen und konstatiert, dass „in der kanadischen Diskussion die Rückbindung an das Menschenrecht des gesellschaftlichen Dazugehörens (belonging) stets verfolgt und hervorgehoben wird“.
Da in der letzten Dekade – durch die ausgezeichneten Ergebnisse Kanadas bei den PISA-Studien – ein verstärktes Interesse an der kanadischen Bildungslandschaft und deren allgemeinen Steuerungs- und Unterstützungsstrukturen erkennbar war, kann zu Überblickszwecken an dieser Stelle auf bereits bestehende Studien verwiesen werden (vgl. u.a. Arbeitsgruppe Internationale Vergleichsstudie 2007).
Im Rahmen dieses Artikels wird auf die Ergebnisse der Dissertationsstudie zu „Inclusion in Canada“ fokussiert, welche mit New Brunswick, Prince Edward Island und Québec drei Provinzen vertieft untersucht, die im Osten Kanadas gelegen sind und in den letzten drei Dekaden auf progressive Art und Weise inklusive Bildung und Erziehung im Schulsystem etabliert haben. Die Provinzen unterscheiden sich dabei in geographischer Größe, Bevölkerungsdichte und bildungspolitischer Ausgangslage und lassen einen mehrperspektivischen Blick auf Unterrichtsprozesse, Unterstützungsstrukturen und Rollen der im Feld tätigen Akteure zu (vgl. Köpfer 2013, 11 ff.).

3 Methodologisch-methodische Verortung und wissenschaftstheoretische Bezüge

Ohne an dieser Stelle ausführlich auf das Forschungsdesign und die wissenschaftstheoretischen Bezugsebenen der Arbeit eingehen zu können, soll kurz umrissen werden, welches Forschungsverständnis der Feldstudie zugrunde liegt und welche soziologischen Denkfiguren von Pierre Bourdieu und Erving Goffman bemüht werden.
Die Studie ist als ethnographische Feldforschung angelegt, welche zunehmend methodische Anerkennung findet als Zugang qualitativer Sozial- und Bildungsforschung (vgl. Breidenstein 2010, 206; Friebertshäuser & Panagiotopoulou 2009, 303). Die Forschung findet folglich im Feld statt (vgl. Beer 2008, 11), um „Einblicke in die sozialen Welten der Erforschten zu gewinnen und sich deren Weltsicht zu erschließen“ (Friebertshäuser 1997, 503). Wenngleich Feldforschung den Anspruch einer „holistischen Forschung“ (Beer 2008, 12) besitzt, die forschende Person sich für einen ausgewiesenen Zeitraum als Teil des Feldes versteht und die Strukturen und Routinen nicht nur dokumentiert, sondern erlebt und praktiziert, so bedarf es für die Zwecke einer zielgerichteten Forschung standardisierte Erhebungsmethoden. Diese fungieren als Medium zur Objektivierung der Komplexität von Erfahrenem. So wurde eine Methodentrias angelegt, bestehend aus teilnehmender Beobachtung – mithin als zentrale Methode der Feldforschung angesehen (vgl. Hauser-Schäublin 2008, 39 ff.) – (Experten)-Interviews und einem reflexiv angelegten Forschungstagebuch (vgl. Köpfer 2013, 143). Um der Notwendigkeit der Erkundung des Feldes und der sukzessiven Herausbildung einer gegenstandsbezogenen Theorie Rechnung zu tragen, wurde mit der Grounded Theory Methodology ein induktiv ausgerichteter methodologischer Zugang zur Vorbereitung, Durchführung und Auswertung gewählt, der genügend Offenheit sowie standardisierte Systematik besitzt (vgl. ebd., 127 ff.).      
Die Interpretation der durch die ausgewerteten Daten erhaltenen Untersuchungsergebnisse fand daraufhin mit Bezügen zu soziologischen Denkfiguren statt, in erster Linie zur Kapital- und Habitustheorie von Pierre Bourdieu sowie zur Interaktions- und Stigmatheorie von Erving Goffman (vgl. ebd., 45 ff.) – mit besonderem Bezug zur Theorie der Vorder- und Hinterbühne. Diese Perspektiven erwiesen sich als fruchtbar, da durch sie die Ergebniskategorien in einem theoretischen Raum diskutiert werden konnten, der sich von den Länderspezifika abhebt und eine Transformation und Interpretation der Ergebnisse auf die deutschsprachige Diskussion um inklusive Bildung und Erziehung zulässt.

4 Ergebnisse

Als zentral für die Etablierung und Praxis inclusiver Bildung und Erziehung in den kanadischen Provinzen New Brunswick, Prince Edward Island und Québec hat sich der Umgang mit Unterstützung erwiesen. Die „Notwendigkeit flexibler, mehrschichtiger Unterstützungsstrukturen, welche systemisch angelegt sind und jedes Kind und jeden Jugendlichen im Zentrum sehen“ (Köpfer 2013, 146), wurde als bedeutsame Aufgabe erkannt, um der Heterogenität der Schüler/innenschaft auf schulorganisatorisch-personeller  Ebene Rechnung zu tragen. Durch den in den 1980er Jahren angestoßenen Umbau der provinzialen Bildungssysteme haben sich sukzessive Unterstützungssysteme und unterstützende Rollen in den Schulen herausgebildet, welche mit dem Bild einer Pyramide illustriert werden können:


Abb. 1: Stufenpyramide (vgl. Köpfer 2013, 147)
Ähnlich einer ägyptischen Djoserpyramide, die verschieden große, sich nach unten hin ausweitende Pyramidenebenen definiert, ergo in statischer Hinsicht eigenständige, sich unterstützende Ebene in sich trägt, so können im skizzierten Schaubild mehrere Unterstützungskategorien identifiziert werden, die – und daher die uneinheitliche Zeichnung der Pyramide – flexibel zugängliche Kategorien darstellen, deren Wesensmerkmale im Folgenden zusammengefasst vorgestellt werden:

 

5          Diskussion ausgewählter Ergebnisse

Da an dieser Stelle aus dem Gros der interpretierbaren Ergebnisse lediglich ein exemplarischer Ausschnitt diskutiert werden kann, wird im Folgenden auf zwei Ergebniskategorien fokussiert: die Rolle des Methods & Resource Teams als Verbindungspunkt und Reflexionsfläche und die ausgeprägten Kommunikationsstrukturen als Medium zur Organisation der schulisch-pädagogischen Hinterbühne.
Die inclusive Schulentwicklung, die in den Provinzen New Brunswick, Prince Edward Island und Quebec zu Beginn der 1980er Jahre initiiert worden ist, kann als zweischrittiger Prozess bezeichnet werden (vgl. Köpfer 2013, 156). Eine erste Phase sah die Auflösung von Sondereinrichtungen und die Etablierung einer allgemeinen, wohnortnahen Schule für alle Kinder vor – diese Phase wird von Hinz (2013) derzeit ebenso für die deutsche Schullandschaft identifiziert. Im Zuge einer zweiten Phase erfolgte daraufhin eine pragmatische wie konzeptuelle Weiterentwicklung der integrativen Strukturen hin zur Realisierung eines nonkategorialen und systemischen Inclusionsverständnisses. Als koordinatives Kernstück bildete sich sukzessive die Rolle des Methods & Resource Teams heraus. Diese ist nicht als Umgestaltung der Rolle einer Sonderpädagogin bzw. eines Sonderpädagogen zu betrachten, sondern als Kreation einer neuen schulorganisatorischen Berufsrolle, die fachlich-methodische sowie koordinative Unterstützung für die Lehrerinnen und Lehrer und das gesamte Schulkollegium leistet. Porter (1991, 110) fasst die Zielrichtung der Rolle als Unterstützung der Lehrerinnen und Lehrer zusammen:
„Methods and resource teachers are primarily responsible for providing direct and effective support to the classroom teachers, with the goal of enabling all students to be meaningfully included in learning activities in regular classrooms.“

Die Aufgabenfelder des Methods & Resource Teams können – in Erweiterung zu Porter & Stone (1998, 237 ff.) – wie folgt skizziert werden. Das M&R Team fungiert als

Zusammengefasst bildet die Rolle des Methods & Resource Teams also eine schulinterne Berufsrolle, die als direkte Unterstützung für die Lehrpersonen angelegt ist und darüber hinaus als Schnittstelle zwischen Schulleitung, Administration und Lehrepersonen agiert.
Mit der Rolle des Methods & Resource Teams werden Prozesse in Gang gesetzt, welche die Ebene der Schulorganisation übersteigen und ein verändertes, die Dichotomie Regel- vs. Sonderpädagoge auflösendes Professionalitätsverständnis bergen. Die Berufsrolle kann somit als „inklusive Rolle“ (Köpfer 2013, 32) bezeichnet werden, da sie einen Betrag leistet zur „Überbrückung des scheinbaren Gegensatzes von Expert/innen und dekategorialer Herangehensweise“ (Hinz 2006, 197). Zur möglichen Implementierung dieser Rolle in der deutschen Inklusionspraxis wurden folgende Aspekte als bedeutsam herausgearbeitet (vgl. Köpfer 2013, 233 ff.):

Lehnt sich die Rollengestaltung an oben genannte strukturierende Merkmale und Eigenschaften, so kann sie der Weiterentwicklung inklusiver Strukturen an deutschen inklusiven Schulen zuträglich sein.
Als weiteres Kernelement des Unterstützungssystems an kanadischen inclusiven Schulen können die Kommunikationsstrukturen bezeichnet werden:
„Durch sie konstituiert sich eine strukturell verankerte und kommunikativ verbundene ‚Hinterbühne’ (Goffman 2010, 100), die auf indirekte Art und Weise dafür Sorge trägt, dass die Praxis auf der ‚Vorderbühne’ (ebd.) reibungslos ablaufen kann.“ (Köpfer 2013, 236)

Als qualitative Merkmale ließen sich im Rahmen der Feldforschung folgende kommunikative Strukturelemente herausarbeiten (ebd.):

Es kann also festgehalten werden, dass mit der Umgestaltung kanadischer Schulen in den Provinzen New Brunswick, Prince Edward Island und Québec im Rahmen der inklusiven Schulentwicklung eine Neuorganisation professioneller Rollen und deren Kooperation einhergegangen ist, die umfassend und flächendeckend realisiert wurde. Eine Vielzahl von Gremien und schulinternen Kommunikationsinstanzen sind implementiert worden, um interdisziplinären Austausch in multiprofessionellen Teams (beispielsweise durch das School-based Student Services Team Meeting) sicherzustellen und somit systemische Beratung fest im Unterstützungsgefüge der Schulen zu verankern (vgl. Köpfer 2013, 238 f.). Wie bedeutsam eine geregelte Kommunikationsstruktur erachtet wird, zeigt dabei die zuvor vorgestellte schulinterne Rolle des Methods & Resource Teams, die die koordinativen Aufgaben kontinuierlicher Kommunikationssicherung übernimmt und über die notwendige Flexibilität verfügt, auf kurzfristige Kommunikationsbedarfe adäquat reagieren zu können (vgl. ebd.).

6 Resümee: Gedankenanstöße für die Fachdiskussion um Inklusion in Deutschland

Der kurze Einblick in die Ergebnisse der Dissertationsstudie „Inclusion in Canada“ hat bereits darauf hingedeutet, dass die Qualität der provinzialen inclusiven Schulsysteme in den genannten kanadischen Provinzen in der Implementierung und Etablierung umfassender Unterstützungsstrukturen liegt. Betrachtet man das Pyramidenschaubild (s. o.), so wird deutlich, dass der Versuch unternommen wurde, den heterogenen Bedürfnissen und Bildungsvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler auf personeller und struktureller Ebene Rechnung zu tragen, um – insbesondere für die Lehrpersonen – ein Gleichgewicht zwischen Anforderung und Unterstützungsleistung zu schaffen (Köpfer 2013, 242). Transferiert auf die deutsche Inklusionspraxis wird hier eine Diskrepanz deutlich. Nicht selten wird der derzeitige Transformationsprozess hin zu einem integrativen und schließlich inklusiven Schulsystem von den Lehrpersonen als mühsam empfunden und die dafür zur Verfügung stehenden Ressourcen und Unterstützungen als zu gering.
Eine mögliche Ursache besteht in dem stringent aufrecht erhaltenen Förderverständnis in der deutschen Fachdiskussion. Hier überlagern sich bildungspolitische und sonderpädagogische Argumentationslinien, die zumeist dafür plädieren, an der diagnostizierten Erhebung von Förderbedarf festzuhalten. Dies erhält wiederum das sogenannte „Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma“ (vgl. hierzu Wocken et. al) aufrecht, was nicht zuletzt die höchst fragwürdige Diskussion um die „Inkludierbarkeit“ von Kindern bestimmter Förderschwerpunkte schürt, die dem Konzept der Inklusion diametral entgegensteht.
Dem stellt das kanadische inclusive Modell den Weg der nonkategorialen und systemischen Unterstützung entgegen, welches in der andiskutierten Rolle des Methods & Resource Teams eine erste Rollenausprägung findet. Diese stellt einen Gegenentwurf zur in deutschsprachigen Kontexten vorherrschenden Profession der Sonderpädagogin bzw. des Sonderpädagogen dar, da sie sich „nicht über eine speziell auszuweisende Klientel, sondern über ihr spezifisches Wissen und KnowHow […]“ (Katzenbach 2007) definiert, welches die willkürliche Definitionsgrenze der Komposita mit „Sonder-“ obsolet macht.
Es stellt also den Versuch dar, ein durch das Methods & Resource Team koordiniertes, weites Verständnis von Unterstützung bzw. „Support“ zu realisieren (vgl. Köpfer 2013a, 1), das nicht im Sinne unidirektionaler Förderung auf Kinder mit Special Educational Needs ausgerichtet ist, sondern die Schulgemeinschaft und die Peers als reziproke Unterstützungsquellen definiert. Eine erforderliche Diskussion über das konzeptionelle sowie terminologische Verhältnis von Unterstützung und Förderung kann an dieser Stelle nicht geführt werden (vgl. Köpfer 2013, 243 f.), erscheint aber für den weiteren Verlauf der Fachdiskussion überaus fruchtbar.
Abschließend kann darüber hinaus konstatiert werden, dass organisierte, systemisch wie reflexiv angelegte Kommunikation als zentrales Element der schulorganisatorischen „Hinterbühne“ einen Beitrag dafür leisten kann, dass das ambivalente und bisweilen widersprüchliche Verhältnis von inklusionsorientiertem Anspruch und unzulänglicher Praxis reflektiert wird und ein expliziter und zielgerichteter Austausch über Inklusionsverständnisse und Umsetzungsmöglichkeiten geführt werden kann.

7 Literatur

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[1] Der vorliegende Artikel basiert inhaltlich auf der Dissertation: Köpfer, Andreas (2013): Inclusion in Canada – Analyse inclusiver Unterrichtsprozesse, Unterstützungsstrukturen und Rollen am Beispiel kanadischer Schulen in den Provinzen New Brunswick, Prince Edward Island und Québec. Bad Heilbrunn: Klinkhardt; zugl. Dissertation, Universität zu Köln.

[2] Zur terminologischen Diskussion und begrifflichen Präzisierung von „Inclusion“ vgl. Köpfer 2012.