André Frank Zimpel: Die Lernenden helfen einander

Abstract: Ein Problem des sonderpädagogischen Förderbedarfs besteht in folgender Paradoxie: Man will beim Lernen helfen, schafft aber die ungünstigsten Voraussetzungen für diese Hilfe, indem man eine Person als hilfsbedürftig herabstuft. Deshalb ist ein entscheidender Maßstab für das Gelingen von Inklusion, ob Menschen mit Beeinträchtigungen nur als Hilfe Empfangende gesehen oder auch als Helfende anerkannt werden. Dass wir Menschen lebenslang auf Hilfe angewiesen sind, ist eine anthropologische Konstante. Die zentrale Bedeutung der „Hilfe zur Selbsthilfe“ für die geistige Entwicklung ist experimentell gut belegt. Die Bedeutung, die das spontane Bedürfnis zu helfen für die geistige Entwicklung Heranwachsender hat, ist dagegen noch immer wissenschaftliches Neuland. Der Text geht der Frage nach: Inwieweit ist es prinzipiell möglich, in pädagogischen Prozessen Kreisläufe der gegenseitigen Hilfe und Förderung so zu organisieren, dass niemand nur Hilfe empfängt, sondern auch sich selbst als hilfreich erleben kann?

Stichwörter: Helfen, Kooperation, Lernkultur, Trisomie 21, Downsyndrom, Aufmerksamkeit, Abstraktion, Lernschwierigkeiten, Hyperzyklus, Spiegelneuronen.

»Der Helfer gibt und ist stark; der Schützling ist schwach und auf den Helfer angewiesen. Die Asymmetrie dieser Situation wird für den hilflosen Helfer zur Droge …«[1]

Helfermafia und Inklusion

In einer Meta-Studie fassen de Graaf, van Hove und Havemann[2] internationale Erfahrungen mit der Integration und Inklusion von 1970–2010 zusammen. Exemplarisch wählten sie für diese Studie Schülerinnen und Schüler mit einer Trisomie 21 aus. Ergebnis: Heranwachsende mit Trisomie 21 werden von Gleichaltrigen in Regelklassen gut akzeptiert. Davon profitieren vor allem deren Lernfähigkeit und Sprachentwicklung.
Die Ergebnisse der Studie bestätigen meine praktischen Erfahrungen und Untersuchungen in dreierlei Hinsicht:
1. Die geistige Entwicklung (einschließlich Sprach- und Lernfähigkeit) ist abhängig von der Lernkultur, deren Gewährleistung in Förderschulen an strukturelle Grenzen stößt.
2. Die Sozialbeziehungen in inklusiven Klassen bedürfen einer sensiblen pädagogischen Beobachtung und Gestaltung.
3. Sich selbst als hilfreich für andere erleben zu können ist genau so wichtig wie die Fähigkeit, Hilfe annehmen und finden zu können.
Ihren Anfang nahm die Inklusionsdiskussion in den frühen 90er-Jahren. Die Erklärung über die Inklusion als wichtigstes Ziel der internationalen Bildungspolitik war das Hauptergebnis der UNESCO-Konferenz 1994 in Salamanca. Sonderschule … Integration … Inklusion – es gibt keine Unterscheidung ohne Motiv. Was also war passiert? Wie in der Integrationsdiskussion haben wir es mit einer Kränkung eines Selbstverständnisses zu tun – nämlich des Selbstverständnisses der Helfenden.
Die gut gemeinte Hilfe in Sondereinrichtungen wurde plötzlich selbst verdächtigt, Ursache von Behinderungen zu sein. Udo Sierck und Nati Radtke prägten in den 80er-Jahren den Begriff der »Wohltätermafia«[3]. In Abwandlungen findet sich dieser Begriff in vielen Veröffentlichungen wieder. Ein Beispiel ist das Buch »Im Netz der Pflegemafia« von Claus Fussek und Gottlob Schober.[4] Man könnte hier auch gut und gern von »Helfermafia« reden.
Denken Sie nur an die Paradoxie, dass man Menschen durch Verbesonderung helfen will, ihre Defizite zu überwinden, aber auf der Metaebene Fakten schafft, um sie als defizitäre Persönlichkeiten abzustempeln. Sonderpädagogisches Handeln steht nicht zuletzt deshalb unter einem spürbaren Legitimationsdruck.
Als Gleichnis drängt sich mir die Krise der Medizin des 19. Jahrhunderts auf. Der französische Chemiker und Mikrobiologe Louis Pasteur (1822–1895) hatte eine ähnliche Paradoxie entdeckt: Ärzte, die Krankheiten heilen wollten, verbreiteten die Erreger dieser Krankheit in Wahrheit von Krankenbett zu Krankenbett. Ähnlich ist es mit der Diagnose eines sonderpädagogischen Förderbedarfs: Man will beim Lernen helfen, schafft aber die ungünstigsten Voraussetzungen für diese Hilfe, indem man eine Person als hilfsbedürftig herabstuft.
Es war sicher eine schwere Erschütterung des Selbstverständnisses der »Götter in Weiß«, als sie erfuhren, dass dieselben Hände auf dem Weg von der Pathologie in den Operationssaal die Krankheiten verbreiteten, die sie eigentlich heilen wollten. Die Entdeckung von Bakterien und Viren war aber auch gleichzeitig ein kraftvoller Neuanfang der Medizin als Wissenschaftsdisziplin. Auch heute ist das Risiko, sich mit Antibiotika-resistenten Erregern zu infizieren, in Krankenhäusern am größten. Aber dieses Problem steht im Fokus der Forschung und ist längst kein blinder Fleck mehr.
Ich wünsche mir, dass die Behindertenpädagogik die möglichen destruktiven Folgen jeder unreflektierten Hilfe ebenso ernst nehmen würde wie die Medizin die Gefahr von Resistenzen. In dieser Weise könnte sie den Legitimationsdruck auf sonderpädagogisches Handeln im Rahmen der Inklusionsdebatte als eine große gesellschaftliche – insbesondere auch schulpolitische – Herausforderung in einer Zeit zunehmender Desintegration annehmen. Ganz wird sie sich der Gefahr einer Abwertung bei der Feststellung eines Hilfebedarfs wohl nie entledigen können. Aber allein schon in der Sensibilisierung für diese Gefahr sehe ich einen großen Schritt nach vorn.
Einerseits schafft Inklusion in Schulen den idealen Rahmen, lebendige Erfahrungen im gegenseitigen Helfen zu sammeln. Andererseits ist hier die Gefahr der Einseitigkeit der Hilfe besonders groß. In der Praxis zeigt sich immer wieder: Hilfe beim Lernen zu verkraften, kostet manchmal sogar mehr Kraft als das Helfen selbst. Helfen stärkt dagegen oft die Helfenden in ihrem Selbstwertgefühl. Auch hier könnte Helfen so etwas wie Suchtcharakter annehmen.
Ein entscheidender Maßstab für das Gelingen von Inklusion ist meiner Ansicht nach, ob Menschen mit Beeinträchtigungen nur als Hilfe Empfangende gesehen oder auch als Helfende anerkannt werden. Die zentralen Fragen, die sich aus diesen Überlegungen für mich ergeben, sind folgende: Welchen Stellenwert bei der Kompetenzentwicklung hat es, Hilfe anzunehmen und sich selbst als hilfreich für andere zu erleben? Inwieweit ist es möglich, in pädagogischen Prozessen Kreisläufe der gegenseitigen Hilfe und Förderung so zu organisieren, dass niemand nur Hilfe empfängt, sondern auch sich selbst als hilfreich erleben kann?
Sie werden sich vielleicht fragen: Wer nimmt schon den Rat einer Person an, bei der eine geistige Behinderung diagnostiziert wurde? Aber vielleicht könnten wir gerade von dieser Person lernen, wie man sich trotz Geringschätzung und gesellschaftlicher Abwertung eine unabhängige Perspektive auf die Welt bewahrt und dem Anpassungsdruck an fragwürdige Normen und Denkverbote widerstehen kann.
Wer vertraut schon auf die Unterstützung von Menschen mit herausforderndem Verhalten? Aber vielleicht ist so manche unangepasste, rücksichtslose und verletzende Äußerung von solchen Personen ehrlicher als die höflichen und wohlerzogenen Beteuerungen wider besseres Wissen anderer.
Wer scheut nicht die schwierige Konversation mit Menschen, deren Sprache von der Norm abweicht? Aber vielleicht sind es gerade diese Menschen, die sich kein Geschwafel leisten können und sich deshalb auf das Wesentliche beschränken.
Ein aktuelles Beispiel lieferten mir Studierende an der Universität Hamburg. Hier organisiere ich seit mittlerweile 19 Jahren Formen des Projektstudiums, an denen unter anderem auch Jugendliche mit einer Trisomie 21 teilnehmen. Sie kamen in die Universität, um mit Studierenden gemeinsam lesen, schreiben und rechnen zu lernen.
Damit waren die Studierenden scheinbar auf die Rolle der Helfenden festgelegt. Doch wie so oft sollte sich bald eine Gelegenheit zur Rollenumkehr ergeben. Denn einige der Jugendlichen mit Trisomie 21 forderten die Studierenden beharrlich auf, mit ihnen einen Tanzfilm »High School Musical« zu drehen. Die Studierenden stellten fest, dass es sie viel Überwindung kostete, vor einer Kamera zu tanzen. Die Jugendlichen mit Trisomie 21 zeigten dagegen keine Scheu. Damit halfen sie den Studierenden, sich auf das Tanzprojekt einzulassen, auf dessen Ergebnis sie heute zu Recht sehr stolz sind. Inklusion bedeutet eben nicht nur, beim Lernen zu helfen, sondern auch beim Helfen zu lernen.
Wobei lasse ich mir inzwischen gern von Menschen mit einer Trisomie 21 helfen? Antwort: im Kurzfassen! Mein Vorbild sind Texte der Zeitschrift Ohrenkuss. Beispiel: Der Text von Carina Kühne »Das nennt man Evolution«: »Manche Fehler können korrigiert werden, einige können tödlich enden und aus manchen Fehlern entsteht etwas Neues.«[5]

Inklusionsindex und Hyperzyklus

 

Katrin war der Stolz der Klasse. Mit der Diagnose einer „geistigen Behinderung“ war sie schließlich etwas ganz Besonderes. Ihr zu Helfen war Ehrensache und galt als Inbegriff des selbstlosen Handelns.
Immer wieder beobachtete ich Schülerinnen und Schüler, die ihre Freiarbeit unterbrachen, um Katrin zu helfen. Auf dem Rückweg zu ihrem Arbeitsplatz wirkten Katrins Helferinnen und Helfer auf mich immer ein wenig gerader. Offensichtlich hatten sie Freude am Helfen. Nur Katrin sank bei jeder Hilfe immer mehr in sich selbst zusammen.
Im Inklusionsindex findet man unter den Indikatoren der Dimension A »Inklusive Kulturen schaffen« schon an zweiter Stelle (nach »Jede(r) fühlt sich willkommen«) den Indikator A. 1.2  »Die SchülerInnen helfen einander«.[6] Dazu gehören 11 Fragen. Die erste lautet: »1) Bitten sich die SchülerInnen gegenseitig um Hilfe und bieten sie Hilfe an, wenn sie gebraucht wird?«[7]
Erst als letzte Frage: »5) Erhalten alle - also auch leistungsschwächere - SchülerInnen die Chance, anderen zu helfen?«[8] Meiner Ansicht nach ist diese letzte Frage nicht eine unter vielen, sondern die zentrale Frage des Gelingens von Inklusion.[9]
Dass sich Helfen jedoch auch selbst belohnen kann, zeigten experimentell Inagaki und Eisenberger von der University of California in Los Angeles. Mit bildgebenden Verfahren konnten sie nachweisen, dass Helfen Belohnungszentren tief im Innern des Gehirns aktiviert.[10] Etwas verkürzt formuliert: Helfen kann genauso glücklich machen wie unerhoffter Geldgewinn, der Genuss von Schokolade oder Sex.
Im Bildungssystem gilt: Man muss schon etwas können, um in den Genuss einer Begabungsförderung zu gelangen. Wer viel kann, dem wird geholfen; wer wenig kann, bleibt auf der Strecke.
Fairer als dieses Matthäusprinzip ist im Bildungssystem das Normalisierungsprinzip: Wer etwas nicht so gut kann, erhält sonderpädagogische Hilfe. Die Schattenseite dieses Normalisierungsprinzips ist die Orientierung an Abweichungen vom Mittelmaß.
Gibt es einen dritten Weg? Ja, den Hyperzyklus: Allen wird geholfen, alle helfen. Der Nobelpreisträger Manfred Eigen untersuchte den Hyperzyklus in Computersimulationen: Rot fördert Grün, Grün dafür Gelb, Gelb wieder Rot etc.[11]
Aber: Wird Hilfsbereitschaft nicht häufig ausgenutzt? Inklusive Lernkultur in der Praxis zeigt: Helfen stärkt die Helfenden in ihrem Selbstwertgefühl. Hilfen beim Lernen zu verkraften, kostet dagegen Energie, manchmal mehr als das Helfen selbst.
Um die volle Bedeutung des Hyperzyklus für eine inklusive Pädagogik zu verstehen, ist eine Neubewertung der Motive des gegenseitigen Helfens notwendig.[12]
Inwieweit ist es möglich, in pädagogischen Prozessen Kreisläufe der gegenseitigen Hilfe und Förderung so zu organisieren, dass niemand nur Hilfe empfängt, sondern auch sich selbst als hilfreich erleben kann? Welchen Stellenwert bei der Kompetenzentwicklung hat es, sich selbst als hilfreich für andere zu erleben?
Antworten holte ich mir in Katrins Klasse. Der Klassenlehrer ließ sich von mir überreden, einen Wettbewerb auszurufen: Wem gelingt es, Katrin zu erklären, was Zeit ist? Katrin wurde zur Schiedsrichterin ernannt und sollte bewerten, ob die Antworten ihr weiterhelfen. Damit wurde Katrin gleichzeitig zur Helferin der Lehrenden. Ihre Mitschülerinnen und -schüler liefen zu Höchstform auf. Sie unternahmen die tollsten Erklärungsversuche, wie zum Beispiel:
»Zeit, das ist das, was man mit der Uhr stoppt.« –
»Zeit ist das, was meine Mutti für mich hat, auch wenn sie arbeiten gehen muss.« –
»Zeit ist Geld.« –
»Zeit ist das, was um ist, wenn wir Schulschluss haben.« usw. usf.
Es wurde viel gelacht. Doch Katrin schüttelte jedes Mal amüsiert den Kopf, wenn wir sie fragten, ob sie nun verstanden hätte, was Zeit sei. Schließlich schlug der Klassenlehrer für die Projektwoche den Titel »Alles über die Zeit« vor. Eine Gruppe baute Sanduhren, eine andere eine Sonnenuhr und eine weitere Gruppe versuchte, eine Uhr mit einem Pendel zu basteln. Darüber hinaus lasen sie das Märchen »Momo« von Michael Ende, in dem ein Mädchen gegen sogenannte Zeitdiebe kämpft, überprüften die Pünktlichkeit von Zügen auf dem Bahnhof und besuchten ein Planetarium. Bei der Auswertung des Planetariumbesuchs kam die Rede darauf, dass man mindestens zwei Bewegungen braucht, um die Zeit zu messen.
»Zwei Bewegungen«, rief Katrin überrascht, »die Zeiger! Jetzt weiß ich – ich muss die Zeiger vergleichen!«
Erst wussten wir überhaupt nicht, was sie meinte. Aber nach einigem Hin und Her wurde klar: Katrin hatte im vollen Vertrauen auf ihr Lernmaterial die Zeigerpositionen auswendig gelernt. Aber je genauer sie dabei vorging, umso mehr Zeigerpositionen fand sie vor. So hätte sie sich prinzipiell unendlich viele Zeigerpositionen einprägen können, ohne dass ihr die Bewegung der Zeiger als Einzelne klar geworden wäre. Es ist eine Sisyphosarbeit, die sie da geleistet hatte, deshalb war ihre Frage: »Was ist Zeit?« so wertvoll, nicht nur für sie selbst, sondern für uns alle.
Ich hatte gelernt, dass Hilfe zur Selbsthilfe als pädagogisches Prinzip nicht genügt. Für die Inklusion ist es sehr wichtig, dass der Fluss des Gebens und Nehmens beim Helfen nicht abreist. Die Lernenden helfen einander. Die Lehrenden helfen nicht nur, sondern lassen auch sich selbst helfen. Dadurch können sie den Fluss des Gebens und Nehmens steuern und den Hyperzyklus immer wieder schließen.[13]
Kalkulationen zur Spieltheorie des Mathematikers John Nash (1950, 1951), denen das Nash-Gleichgewicht[14] zugrunde liegt, führten zu den Experimenten der Verhaltensökonomie Fehrs[15]. Ihre Bedeutung spiegelt sich eindrucksvoll in anthropologischen Experimenten von Tomasello zur geteilten Intentionalität[16] und in der Entdeckung der Spiegelneuronen durch Rizolatti[17] wider. Diese interdisziplinären Forschungsprojekte tragen gerade dazu bei, Emotionen, wie das Gefühl für Fairness, Gemeinschaftssinn und Gegenseitigkeit, als einen verlässlichen Eigenwert menschlicher Kulturen sichtbar zu machen.
Statt Leistungsdiagnostik bräuchten wir in den Schulen viel mehr Motivationsdiagnostik und statt Leistungs-druck viel mehr Ermutigung. Der Grund ist Folgender: Führt Hilfe unter Leistungsdruck nicht zum erwünschten Erfolg, wird automatisch nach Schuldigen gesucht. Wenn die Lehrenden der Ansicht sind, alles Mögliche versucht zu haben, finden sie die Ursache natürlich in den Lernenden. Argumentationshilfe leistet hier die Gausssche Normalverteilung in der Interpretationsweise von Quetelet[18] und Galton[19].
Die Messung von Leistungsergebnissen anhand der über die Normalverteilung berechneten Standardabweichungen erfreut sich in Bildungsinstitutionen zunehmender Beliebtheit: Hier genügt es nicht, gut zu sein, um eine Prüfung zu bestehen, sondern man muss auch hoffen, dass die anderen schlecht sind. Rational gesehen ist Kooperation in einem auf Normalverteilung beruhenden Leistungsbewertungssystem kontraproduktiv.[20]

Lebenslang auf Hilfe angewiesen

 

          Timo, ein 15 Jahre alter Junge mit freier Trisomie 21 (Down-Syndrom), ist begeisterter Schwimmer. Im letzten Jahr legte er in Hamburg erfolgreich die praktischen und theoretischen Rettungsschwimmprüfungen ab. Die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft e. V. – eine gemeinnützige und selbstständige Wasserrettungs- und Hilfsorganisation – ist die einzige Organisation in Deutschland, die berechtigt ist, Prüfungen zum DLRG-Jugendretter abzunehmen.[21]
Oft werden Menschen mit Trisomie 21  als hilfsbedürftig charakterisiert. Man spricht zum Beispiel mit vorgehaltener Hand davon, dass sie wohl ein Leben lang auf Hilfe angewiesen sein werden. Wie schrecklich – aber Moment mal! Wie ist das eigentlich mit uns selbst? Gilt das nicht für alle anderen Menschen auch?
Die Definition des Begriffs »geistige Behinderung« aus dem Jahr 1974 des Deutschen Bildungsrats lautet: »Geistig behindert ist, wer infolge einer organisch-genetischen oder anderweitigen Schädigung in seiner psychischen Gesamtentwicklung und seiner Lernfähigkeit so beeinträchtigt ist, dass er voraussichtlich lebenslanger sozialer und pädagogischer Hilfen bedarf.«[22]
»Die Tatsache, dass diese Aussage zum Zentrum der Definition von Menschen mit geistiger Behinderung gewählt wurde, zeigt die Verdrängung dieses allgemein menschlichen kulturellen Bedarfs, aus dem die Bedürfnisse später erst hervorgehen, in unserer Zeit, zeigt das Klischee eines modernen Individuums bar jeder sozialen Einbindungen.«[23]
Wenn schon für Individuen der frühen Jäger- und Sammlervölker das nackte Leben von gegenseitiger Hilfe abhing, gilt das für uns Menschen im postindustriellen Zeitalter erst recht. Während wir den postmodernen Traum von der größtmöglichen Unabhängigkeit des Individuums träumen, ist im 21. Jahrhundert die Arbeitsteilung global so weit fortgeschritten, dass viele Menschen selbst in den elementarsten Fragen der Notdurft, Ernährung und Kleidung auf Hilfe anderer angewiesen sind.
Wer baut in Deutschland heute schon noch seine Toilette selbst, wer webt die Stoffe für seine Kleidung und ernährt sich ausschließlich aus eigenem Anbau? Und übrigens: Haben wir die Zahlen, die Schrift, die Fahrzeuge und modernen Medien selbst erfunden? Natürlich nicht. Bei allen kulturellen Errungenschaften, die zur Bildung gehören, handelt es sich um Gemeinschaftswerke, die nur durch gegenseitige Hilfe der Menschen untereinander gelingen können.
Dies ist jedoch offensichtlich ein blinder Fleck, wenn wir unsere Autonomie genießen und mitleidig auf die Hilflosigkeit von Menschen mit schweren Beeinträchtigungen herabblicken. Hilfsbedürftig sind wir alle, auch wenn wir das oft ausblenden. Das selektive Schulsystem zieht immer Einzelpersonen in das Licht der Prüfung. Das Beziehungsgefüge, in das Einzelpersonen eingebunden sind, bleibt im Schatten.
Im Jahre 2002, bei einem Besuch im MRI (Mental Research Institut) in Palo Alto, sagte der Kommunikationstheoretiker Paul Watzlawick (1921–2007) zu mir: »Für mich gibt es keine Einzelpersonen, nur Beziehungen.« Das hat einen tiefen Eindruck in mir hinterlassen.
Wer weiß schon, auf welche Art der Hilfe er oder sie in welcher Situation einmal angewiesen sein wird? Vorurteile gegen Hilfsbedürftigkeit zu überwinden, darin sehe ich eine der wichtigsten Aufgaben moderner Bildung, wenn nicht die wichtigste überhaupt. Unsere eindimensionalen Vorstellungen von helfenden Tätigkeiten gehören wohl zum härtesten Kern eines voreingenommenen Schubladendenkens, das gewöhnlich entweder moralinsauer oder kraftmeierisch daherkommt.
Alle pädagogischen Berufe gehören im weitesten Sinne zu den helfenden Berufen. Doch was bedeutet es für Lehrende, wenn ihre Hilfe bei Lernenden nicht fruchtet oder von ihnen abgelehnt wird? Müssten sie dann nicht eigentlich ihre Art des Helfens infrage stellen? Nicht unbedingt. Ihnen steht ein Werkzeugkasten unterschiedlichster gesellschaftlich anerkannter Diagnosen zur Verfügung, mit denen sie die Schuld für eine nicht fruchtende oder abgelehnte Hilfe den Lernenden selbst zuschieben können: Medienverwahrlosung, ADHS, Legasthenie, Dyskalkulie usw.
Inklusion verlangt keine Diagnostik, die ein Gestell liefert, um Kinder nach der Art ihres Hilfebedarfs in Schubladen einzuordnen. Vielmehr sollte Diagnostik eine Art Gewebe aus wertschätzenden und Kompetenz zuschreibenden Beobachtungen bilden. Lernende mit ihren Problemen ernst zu nehmen erfordert, sie selbst in die Evaluation von Hilfen einzubeziehen und organisch wachsende Räume für eigenständige Entwicklung zu schaffen.
Treffen wir nicht alle ständig auf geistige Barrieren? Sind wir nicht deshalb alle auf lebenslange soziale und pädagogische Hilfe angewiesen?
»Sein eigener Stirnknochen verlegt ihm den Weg, an seiner eigenen Stirn schlägt er sich die Stirn blutig.«[24] So charakterisierte in den Wintermonaten des Jahres 1920 der Schriftsteller Franz Kafka seine quälenden und schonungslosen Denkexperimente, mit denen er die geistigen Grenzen einsamen Denkens auslotete. Es ist sehr schwierig, eine Grenze zu ziehen zwischen der allgemeinmenschlichen Begrenztheit geistiger Entwicklung und dem, was als »geistige Behinderung« gilt.
Im Zusammenhang mit Beeinträchtigungen redet man gern von »den Schwachen« in unserer Gesellschaft. Doch: Wer ist schwach und wer stark? Wenn ein Mensch mit einer Beeinträchtigung die gleiche Leistung vollbringt wie ein Mensch ohne Beeinträchtigung, wer ist dann schwächer und wer stärker? Gehören nicht gerade die zu den Starken, die ihr Leben mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen meistern?
Erinnern wir uns an Timo, den eingangs erwähnten 15-Jährigen, bei dem eine freie Trisomie 21 diagnostiziert wurde: Was musste er für seine Rettungsschwimmerprüfung leisten?
Die praktischen Prüfungsanforderungen sind: 100 Meter Schwimmen ohne Unterbrechung, davon je 25 Meter Kraul-, Rückenkraul-, Brust- und Rückenschwimmen mit Grätschschwung, 25 Meter Schleppen im Achselgriff, kombinierte Selbstrettungsübung in leichter Freizeitbekleidung ohne Pause (Sprung ins Wasser, Schwebelage einnehmen, 4 Minuten Schweben an der Wasseroberfläche in Rückenlage mit Paddelbewegungen, 6 Minuten langsames Schwimmen, jedoch mindestens viermal die Körperlage wechseln und Ausziehen der Kleidungsstücke im tiefen Wasser), kombinierte Fremdrettungsübung ohne Pause (15 Meter zu einem Partner in Bauchlage schwimmen, nach halber Strecke auf 2 Meter Tiefe abtauchen und zwei kleine Tauchringe heraufholen, diese anschließend fallen lassen und das Anschwimmen fortsetzen, auf dem Rückweg 15 Meter Schleppen eines Partners mit Achselgriff, danach Sichern des Geretteten durch Festhalten am Ufer).
Die Theorieprüfung erfordert sichere Kenntnisse über Maßnahmen der Selbstrettung, Fremdrettung, Grundverhalten für die Fremdrettung und elementare Kenntnisse über Erste Hilfe.
Hat Timo mehr geleistet als die anderen Prüflinge? Ich meine ja! Beispielsweise zeigen Experimente, dass eine Trisomie 21 mit einer Einengung des Aufmerksamkeitsumfangs auf weniger als 3 Objekte zur selben Zeit einhergeht.[25]
Bei Menschen ohne Trisomie 21 ist in der Regel, ein Aufmerksamkeitsumfang von weniger als 5 Objekten zur selben Zeit zu erwarten. Deshalb sind Menschen mit einer Trisomie 21 beim Lernen kognitiv dazu gezwungen, stärkere Bündelungs- und Abstraktionsleistungen zu vollbringen. Außerdem müssen sie mit einer etwas hypotoneren Muskulatur fertig werden usw.
Wie das Beispiel Timo zeigt, umfasst Leistung mindestens drei Dimensionen: Möglichkeit, Wollen und Können. Alle drei Dimensionen setzen immer schon ein soziales Beziehungsgefüge zwischen Menschen voraus, das Möglichkeiten schafft, dem Willen einen Gegenstand liefert und dem Können Maßstäbe gibt. Ohne ein Beziehungsgefüge, das eine Person konstituiert, besitzen diese drei Dimensionen überhaupt keinen Sinn.
Einen Möglichkeitsraum kann man einer Person zu- oder absprechen. Immer stößt man damit eine nicht-lineare Dynamik von Kaskaden sich selbst erfüllender oder sich selbst widerlegender Prophezeiungen aus. Die Leistung einer Person ist immer das Ergebnis einer Lern- und Beziehungsgeschichte, deren Lernkultur gewisse Leistungen behindern und befördern kann.
Dass wir Menschen ein lebenslang auf Hilfe angewiesen sind, ist eine anthropologische Konstante. Die zentrale Bedeutung der »Hilfe zur Selbsthilfe« für die geistige Entwicklung des Kindes ist ein Kerngedanke der Reformpädagogik der Ärztin Maria Montessori (1870–1952). Der russische Psychologe Lev Vygotskij (1896–1934) erkannte als erster die große Bedeutung der Nutzung sozialer Hilfen für die geistige Entwicklung: Fähigkeiten, die ein Kind heute mit Hilfe zeigt, bieten einen Ausblick auf seine Fähigkeiten von morgen (Zone der nächsten Entwicklung). Die Bedeutung, die das spontane Bedürfnis zu helfen für die geistige Entwicklung Heranwachsender hat, ist dagegen noch immer wissenschaftliches Neuland.

 

[1] Schmidbauer, W. (2007): Das Helfersyndrom. Hilfe für Helfer. Reinbek, S. 24.

[2] De Graaf, G., van Hove, G., & Heveman, M. (2012): Effects of Regular Versus Special School Placement on Students with Down Syndrom: A Systematic Review of Studies. In: van den Bosch, A., & Dubois, E. (Hg.): New Developments in Down Syndrom Research. Hauppauge, New York: Nova Publishers, S. 45-86.

[3] Sierck, U. und Radtke, N. (1989): Die Wohltäter-Mafia. Vom Erbgesundheitsgericht zur Humangenetischen Beratung. 5. Auflage, Frankfurt a. M.

[4] Fussek,  C. und Schober  G. (2009): Im Netz der Pflegemafia: Wie mit menschenunwürdiger Pflege Geschäfte gemacht werden. München.

[5] Kühne, C. (2009): Das nennt man Evolution. In: Ohrenkuss ...darein, daraus, Nr. 23 - Paradies. [http://ohrenkuss.de/ausgaben/paradies/fehler-charles-darwin/, letzter Aufruf am 10.02.2012 ]

[6] Booth, T. & Ainscow, M. (2003): Index für Inklusion. Lernen und Teilhabe in der Schule der Vielfalt entwickeln. Halle, S. 50.

[7] Ebenda, S. 54.

[8] Ebenda.

[9] Zimpel, A. F. (2012): Einander helfen: Der Weg zur inklusiven Lernkultur. Göttingen, S. 116-125.

[10] Inagaki, T. K. und Eisenberger, N. I. (2012): Neural Correlates of Giving Support to a Loved One. In: Psychosomatic Medicine 74(1), S. 3-7.

[11] Eigen, M., und & Winkler, R. (1985): Das Spiel. Naturgesetze steuern den Zufall. 9. Auflage, München, S. 111-115 und S. 260-265. Zimpel, A. F. (2013): Zwischen Neurobiologie und Bildung. 2. Auflage, Göttingen, S. 41-43.

[12] Zimpel, A. F. (2012): Einander helfen: Der Weg zur inklusiven Lernkultur. Göttingen, S. 119-123.

[13] Ebenda, S. 125.

[14] Nash, J. (1950): Equilibrium points in n-person games. In: Proceedings of the National Academy of Sciences 36(1), S. 48-49. Nash, J. (1951): Non-Cooperative Games. In: The Annals of Mathematics 54(2), S. 286-295.

[15] Fehr, E., Nowak, M. A., und Sigmund, K. (2002): Teilen und Helfen - Ursprünge sozialen Verhaltens. In: Spektrum der Wissenschaft 3, S. 52-55.

[16] Tomasello, M. (2010): Warum wir kooperieren. Berlin: Suhrkamp, S. 26.

[17] Rizolatti, G., und Sinigaglia (2008): Empathie und Spiegelneurone. Die biologische Basis des Mitgefühls. Frankfurt am Main.

[18] Zimpel, A. F. (2012): Der zählende Mensch. 2. Auflage, Göttingen, S. 93-97. Desrosières, A. (2005): Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise. Berlin, 84-88.

[19] Zimpel, A. F. (2013): Zwischen Neurobiologie und Bildung. 2. Auflage, Göttingen, S. 27-32. Desrosières, A. (2005): Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise. Berlin, 127-137.

[20] Zimpel, A. F. (2012): Einander helfen: Der Weg zur inklusiven Lernkultur. Göttingen, S. 115-116.

[21] Hampel, C. (2012): Timo ist Jugendretter. In: Kids 26, S. 18.

[22] Deutscher Bildungsrat (1974): Empfehlung der Bildungskommission: Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher. In: Sonderpädagogik 3, Studien der Bildungskommission Band 34, Stuttgart, S.13.

[23] Rödler, P. (2000): Geistig behindert: Menschen lebenslang auf Hilfe anderer angewiesen? Grundlagen einer basalen Pädagogik. 2. Auflage, Berlin, S. 29.

[24] Kafka, F. (1931): Er. Aufzeichnungen aus dem Jahre 1920. In: Brod, M. &  Schoeps, J. (Hg.): Beim Bau der Chinesischen Mauer. Berlin.

[25] Zimpel, A. F. (2013): Studien zur Verbesserung des Verständnisses von Lernschwierigkeiten bei Trisomie 21 - Bericht über die Ergebnisse einer Voruntersuchung. In: Zeitschrift für Neuropsychologie 24 (1), S. 35-47.