Abstract: Die Abhandlung geht von der These aus, dass nicht die Schule als solche, sondern die Selektivität der gegenwärtigen Schule in nicht mehr hinnehmbarer Weise das Kindeswohl in erheblichem Maße gefährdet. In einem ersten Schritt werden exemplarisch einige empirische Belege für die These, dass Separation krank macht und somit dem Kindeswohl schadet, zusammengetragen. An diese Tatsachenfeststellung schließen sich dann Überlegungen an, wie man sich die Gefährdung der Gesundheit von Kindern durch die Schule theoretisch erklären kann. Abschließend werden dann Konzepte und „Rezepte“ vorgeschlagen, die den psychischen Schädigungen der Kinder durch das separierende Schulsystem präventiv vorbeugen können. Im Ergebnis plädiert die Arbeit für mehr De-Allokation und mehr De-Selektion; ohne eine mäßigende Neuausrichtung von strukturellen Grundfunktionen der Schule wird der Aufbau eines inklusiven Schulsystems nicht gelingen können.
Stichwörter: Allokation; Selektion; Kindeswohl; Kinderrechte; Gesundheit; struktur-funktionale Theorie der Schule; transaktionale Stresstheorie; Schonraum-Ideologie; KIGGS-Studie; Bildungspanik; Overtraining; Zugehörigkeitsangst; Leistungsangst
„Bei allen Maßnahmen ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt,
der vorrangig zu berücksichtigen ist“ (BRK Art. 7,2)
Im Schatten der großen Inklusionsdiskussion hat ein Begriff Karriere gemacht, der bis dahin in der Bildungspolitik wie in den Bildungswissenschaften eher ein Mauerblümchendasein gefristet hat: Das Kindeswohl. Ein verwunderlicher Befund. Eigentlich sollte man doch annehmen, dass alle Erziehung und Bildung nichts anderes im Sinn haben als eben das Wohl des Kindes. Merkwürdigerweise kennen aber weder die Schulgesetze noch die Lehrpläne aller Bundesländer diesen Begriff. In den Präambeln dieser hochrangigen Dokumente kommen viele durchaus ehrenwerte Leitziele pädagogischen Handelns zur Sprache, von einem übergeordneten Richtziel Kindeswohl ist dagegen so gut wie gar nicht die Rede. Es ist daher überraschend, warum gerade jetzt in Zeiten inklusiver Bildungsreformen mit bemerkenswertem Nachdruck vom „Kindeswohl“ die Rede ist.
Nun, des Rätsels Lösung ist recht einfach. Es sind die Kontexte, in denen neuerlich das Kindeswohl als Zielgröße auftaucht. Das Kindeswohl-Argument wird in den bildungspolitischen Diskursen nämlich mehrheitlich nicht bemüht, um Inklusion positiv zu begründen. Etwa in dem Sinne: Weil es um das Wohl aller Kinder geht, sollen auch alle Kinder schulisch inkludiert werden. Im Gegenteil: Vom Kindeswohl ist vornehmlich dann und nur dann die Rede, wenn über die Grenzen der Inklusion gesprochen wird. Etwa so: Inklusion ja, aber das Wohl der behinderten wie der nichtbehinderten Kinder darf durch Inklusion nicht gefährdet werden. Die unerwartete und verblüffende These ist: Inklusion kann eine Gefährdung des Kindeswohls sein!
Exemplarisch kann diese unglückliche Verknüpfung von Inklusion und Kindeswohl am neuen Bayerischen Erziehungs- und Unterrichtsgesetz (BayEUG) aufgezeigt werden. Bis zum Jahre 2011 kannte das BayEUG den Begriff Kindeswohl nicht! Erst als im bayerischen Landtag die Anpassung des bayerischen Schulgesetzes an die Behindertenrechtskonvention anstand, wurde erstmalig des Kindeswohls gedacht. Das Kindeswohl wird bei der 2011 erfolgten Novellierung im neuen bayerischen Schulgesetz nicht als Ziel von Inklusion proklamiert, sondern im Gegenteil als Grenze von Inklusion bemüht. Eine höchst überraschende Kehrtwendung des Begründungszusammenhangs von Inklusion und Kindeswohl.
Das BayEUG enthält mit deutlichem Bezug auf das Kindeswohl folgende Regelung über den Ausschluss eines behinderten Kindes vom Besuch einer allgemeinen Schule: „Kann der individuelle sonderpädagogische Förderbedarf an der allgemeinen Schule auch unter Berücksichtigung des Gedankens der sozialen Teilhabe nach Ausschöpfung der an der Schule vorhandenen Unterstützungsmöglichkeiten sowie der Möglichkeit des Besuchs einer Schule mit dem Schulprofil ,Inklusion’ nicht hinreichend gedeckt werden und
besucht die Schülerin oder der Schüler die geeignete Förderschule.“ (Artikel 41, 5).
In ähnlicher Weise argumentiert Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, des Dachverbandes der Realschullehrer und Philologen: „Inklusion ist nur dann im Interesse des Kindeswohls, wenn begründete Aussichten bestehen, dass ein Schüler das Bildungsziel der betreffenden Schulform – durchaus auch mittels Nachteilsausgleich – erreichen kann und die Regelklasse durch die Inklusion nicht über Gebühr beeinträchtigt wird“ (Kraus 2013, 7). Mit anderen Worten: Das Kindeswohl darf das gegliederte Schulwesen nicht in Frage stellen.
Statt Inklusion positiv zu begründen, wird Kindeswohl in diesen Texten ausschließlich in defensiver Absicht in Anspruch genommen. Das Kindeswohl, vormals die letztgültige Instanz aller Pädagogik, wird nun als Grenze inklusiver Pädagogik ins Spiel gebracht. Die Diskurslage könnte kaum kontroverser sein. Während die eine Seite Inklusion als Einlösung des Kindeswohlanspruchs betrachtet (DIM 2011), bringt die andere Seite just das Kindeswohl als Grenze von Inklusion ins Spiel.
Die Streitfrage, ob das Kindeswohl Ziel oder Grenze von Inklusion ist, wird auch in der Rechtswissenschaft kontrovers erörtert. Poscher, Rux und Langer (2008) vertreten in ihrem Gutachten die Ansicht, dass es in bestimmten Fällen sogar geboten ist, Kinder mit Behinderungen separat zu unterrichten. Eine Ausnahme ergebe sich insbesondere dann, wenn andere Kinder trotz aller ergriffenen Maßnahmen immer noch gestört und gefährdet würden. Das genannte Rechtsgutachten vernachlässigt dabei allerdings den unhintergehbaren Gleichheitsgrundsatz; der ständig schreiende Schüler stört nämlich in einer Förderschule ebenso wie in einer Nicht-Förderschule (Riedel 2010). „Die BRK verbietet nun, hier eine Gewichtung zu treffen [. . .] Denn wenn ein ‚Schreikind‘ den Förderschülern zumutbar ist, muss er auch den Regelschülern zumutbar sein; ein Rangverhältnis ist nicht zulässig, und alles andere wäre eine Diskriminierung“ (Riedel 2010, 26). Es ist recht befremdlich, das Kindeswohl der nichtbehinderten und behinderten Kinder gegeneinander auszuspielen und als Problemlösung das schwächste Glied zu entfernen.
Die folgende Abhandlung geht von der Antithese aus, dass nicht Inklusion, sondern im Gegenteil die gegenwärtige, selektive Schule in nicht mehr hinnehmbarer Weise das Kindeswohl in erheblichem Maße gefährdet. In einem ersten Schritt werden exemplarisch einige empirische Belege für die These, dass Separation krank macht und somit dem Kindeswohl schadet, zusammengetragen. An diese Tatsachenfeststellung schließen sich dann Überlegungen an, wie man sich die Gefährdung der Gesundheit von Kindern durch die Schule theoretisch erklären kann. Abschließend werden dann Konzepte und „Rezepte“ vorgeschlagen, die den psychischen Schädigungen der Kinder durch das separierende Schulsystem präventiv vorbeugen können.
Die vorliegende Arbeit versteht sich weniger als eine elaborierte wissenschaftliche Abhandlung, sondern eher als ein anstößiges Essay, das gegen den Mainstream zu denken wagt. Dem gewählten Genre entspricht die Sprache des Artikels; sie ist nicht zurückhaltend und distanziert, sondern engagiert und offensiv. Die erklärte Absicht ist nicht primär eine nüchterne Beschreibung der Wirklichkeit von Schule, sondern die Anregung einer kritischen Nachdenklichkeit über das, was Schule tagaus tagein mit unhinterfragter Selbstverständlichkeit an Selektivität praktiziert. Der Leser möge sich daher auf unfrisierte und widerborstige Gedanken einstellen, die auch vor scheinbar Unmöglichem und Undenkbarem nicht zurückschrecken. Das Denken einer anderen, neuen Schule muss erlaubt sein und könnte auch einen Aufbruch zu neuen Optionen und Visionen beflügeln. Nicht die Verkündung (angeblich) unangreifbarer Wahrheiten ist das Ziel, sondern die Animation zu diskursiven Prozessen, und dann in der Folge die Ermutigung zu einem weitreichenden Wandel von Schule. Ungeachtet der Zuordnung zum Genre Essay beansprucht die Arbeit gleichwohl die Absicht, in ernsthafter Weise erste Spuren und Fundamente für eine Theorie der inklusiven Schule zu legen. Der Schwerpunkt des Artikels ist in der Tat nicht die Pathogenese der alten Schule, sondern die Salutogenese der neuen Schule.
Beginnen wir damit, ohne systematischen Anspruch einige empirische Befunde zur These, dass Selektion das Kindeswohl gefährdet, zusammenzutragen.
Die Elefanten-Kindergesundheitsstudie wurde vom Institut für Sozialforschung PROSOZ im Jahr 2011 durchgeführt. An der schriftlichen Befragung nahmen Kinder des zweiten und dritten Schuljahres teil. Die Stichprobe der Untersuchung betrug 4691 Kinder aus 11 Bundesländern. Der Fragebogen umfasste 80 Items zu den Themenblöcken „Gesundheitsbewusstsein“, „Ernährung“, „Bewegung“ und „Stress“. Im Folgenden werden nur einige relevante Ergebnisse aus dem thematischen Block „Stress“ berichtet.
Abb. 1: Häufigkeit von Stress in der Familie und in der Schule (Elefanten-Studie 2011)
Abb. 2: Stressbelastung von Schülerinnen und Schülern in verschiedenen Bundesländern (Elefanten-Studie 2011)
Der SPIEGEL nahm die Elefanten-Studie zum Anlass für eine Titelgeschichte: „Generation Stress“ (Spiegel 2013). Die Autoren der Studie sind in der Interpretation der Ergebnisse sehr zurückhaltend und lassen sie eher unkommentiert. Für den anstehenden Zusammenhang verdienen einige Befunde jedoch eine besondere Beachtung.
Die hohe Stressbelastung von sieben- und achtjährigen Grundschülern muss ernst genommen werden. Der Präsident des Gymnasial- und Realschullehrerverbandes reagierte allerdings auf den wenig schmeichelhaften Befund mit einem unfasslichen Kommentar: „Den Schülern immer nur einzureden und zu oktroyieren, wie stressig Schule in Deutschland ist, das halte ich für eine Lachnummer. Es ist ein Luxusproblem, was wir hier haben“ (Kraus 2013). Die Protagonisten des gegliederten Schulsystems schaffen den Schulstress ab, indem sie ihn verbieten.
Die „Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland“ ist ein umfängliches Forschungsvorhaben, das seit 2003 in mehreren Erhebungswellen vom Robert-Koch-Institut durchgeführt wird. In der „KIGGS-Basiserhebung“ wurden von einem interdisziplinären Forschungsteam im Zeitraum von 2003 bis 2006 17641 Kinder und Jugendlichen im Alter von 0 bis 17 Jahren hinsichtlich ihres Gesundheitszustandes ärztlich untersucht, ferner wurden deren Eltern und alle Kinder und Jugendliche ab 11 Jahren schriftlich befragt. Nachfolgend werden ausschnitthaft nur die Ergebnisse der Elternbefragung über die psychische Gesundheit und über Verhaltensauffälligkeiten berichtet.
Unter psychischen Auffälligkeiten wurden in der KiGGS-Studie emotionale Probleme (z.B. Ängste, Depressionen) sowie soziale Auffälligkeiten (z.B. aggressives, dissoziales, hyperaktives Verhalten) verstanden. Die Abbildung 3 gibt die prozentuale Prävalenz von psychischen und Verhaltensauffälligkeiten der 3- bis 17-Jährigen wieder.
Die Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen werden von den Eltern als „psychisch unauffällig“ (83 %) oder „grenzwertig auffällig“ (8%) beschrieben. Deutlich höhere Raten an Verhaltensauffälligkeiten werden für Jungen, für Kinder mit Migrationshintergrund und mit niedrigem Sozialstatus berichtet. Für den hier anstehenden Zusammenhang ist von Bedeutung, dass für die Altersgruppe der 7- bis 10-Jährigen deutlich häufiger Verhaltensauffälligkeiten angegeben werden als für Kinder im Vorschulalter und für die 14- bis 17-Jährigen. Den Zenit erreicht der Verlauf der Prävalenzraten im Alter von 10 Jahren, also im 3. Grundschuljahr (Abb. 3)!
Dieser Befund ist völlig kongruent mit den Ergebnissen der berichteten Elefant-Studie. Im „13. Kinder- und Jugendbericht“ der Bundesregierung werden die Ergebnisse zwar mitgeteilt, aber sie werden weder kommentiert noch interpretiert. Die vollständige Übereinstimmung mit der Elefant-Studie begründet und bestärkt erneut die Vermutung, dass die bevorstehende Übertrittsentscheidung im gegliederten Schulsystem als ein wesentlicher Stressor angesehen werden muss, der in Schule und Elternhaus erhöhten psychischen Druck erzeugt und sich bei den Drittklässlern als emotionale Belastung auswirkt. Auch die KiGGS-Studie stützt damit die These, dass Selektion krank macht.
Abb. 3: Stressbelastung von Kinder und Jugendlichen in verschiedenen Lebensaltern
(obere Linie = Jungen; mittlere Linie = Gesamt; untere Linie = Mädchen) (KiGGS o.J., 110)
Die fusionierten Krankenkassen BARMER und GEK legen seit 2006 einen Arztreport mit einem umfassenden Überblick über den Stand der ambulant-ärztlichen Versorgung in Deutschland vor. Der letzte Bericht aus dem Jahre 2011 enthält ein Schwerpunktkapitel ADHS. Grundlage des Arzt-Reports sind pseudonymisierte Daten von 8 Millionen Versicherten. Für den Spezialreport über ADHS wurden die Angaben zu Personen mit dem dreistelligen Diagnoseschlüssel F90 „Hyperkinetische Störungen“ ausgewertet. An dieser Stelle werden nur Ergebnisse berichtet, die für die vorliegende Fragestellung von Belang sind.
Die jährlichen F90-Diagnoseraten zeigen im gesamten Zeitraum von 2006 bis 2011 über alle Altersgruppen hinweg einen Anstieg von 49 Prozent. Bei allen Kindern und Jugendlichen von 0 bis 19 Jahren stiegen die Raten bundesweit um 42 Prozent von 2,92 Prozent im Jahre 2006 auf 4,14 Prozent Betroffene im Jahre 2011. In Auswahl soll auf einen Befund besonders aufmerksam gemacht werden:
Abb. 4: Erstmalige Diagnose von ADHS bei Kindern und Jugendlichen (Arztreport 2013)
Von besonderer Relevanz sind aus dem Arztreport die sog. Neuerkrankungsraten (Inzidenzen); diese geben an, in welchem Lebensalter bei Kindern zum ersten Mal eine ärztliche Diagnose ADHS gestellt wurde. Die höchsten Raten für Erstdiagnosen liegen dem Bericht zufolge bei einem durchschnittlichen Lebensalter von 8,75 Jahren, also einem Vierteljahr vor Vollendung des 9. Lebensjahres. Das bedeutet, dass in der zweiten Hälfte des dritten Schuljahres die meisten ADHS-Fälle erstmalig diagnostiziert werden (Abb. 4). Dieser Befund liegt damit auf der gleichen Linie wie schon die Elefanten-Studie und die KiGGS-Studie.
Die Berichte über relevante empirische Studien haben den Fokus allgemein auf die psychischen Folgen von schulischen Selektionen für alle Kinder gelegt und dabei nicht nach verschiedenen Persönlichkeitsmerkmalen differenziert. Dies könnte den falschen Eindruck erwecken, als wären alle Kinder nach Häufigkeit und Intensität gleichermaßen von Selektionsfolgen betroffen. Das ist keineswegs der Fall. Ein erhöhtes Selektionsrisiko tragen insbesondere jene Gruppen, die auch in anderen Zusammenhängen immer wieder als Benachteiligte in Erscheinung treten: Migranten, Kinder aus Armutsfamilien, Jungen und Kinder von Alleinerziehenden. Soweit die angeführten Untersuchungen nach persönlichen und sozialen Merkmalen aufgefächert sind, sollen folgend einige differenzierende Informationen nachgetragen werden:
|
Geschlecht |
Migrationsstatus |
Sozialstatus |
||||
|
Jungen |
Mädchen |
mit |
ohne |
hoch |
mittel |
niedrig |
Dissoziales Verhalten |
35 |
24 |
35 |
29 |
23 |
27 |
41 |
Hyperaktivitätsprobleme |
23 |
12 |
21 |
17 |
11 |
18 |
25 |
Ängste und Depressionen |
19 |
18 |
20 |
18 |
13 |
17 |
26 |
Probleme mit Peers |
24 |
18 |
36 |
18 |
14 |
18 |
32 |
Tabelle 1: Prozentualer Anteil psychischer und Verhaltensauffälligkeiten, differenziert nach Geschlecht, Migrations- und Sozialstatus (KiGGS o.J.)
Die angeführten Studien stimmen in hohem Maße überein; sie bekräftigen die Hypothese dieser Arbeit dass Selektion ein gesundheitsgefährdender Stressor ist und Kinder krank macht. Die Anzahl der empirischen Belege ist allerdings eher schmal. Dies kann darauf zurückgeführt werden, dass Selektion als gesundheitsgefährdender Stressor bislang nicht die notwendige Aufmerksamkeit in der empirischen Forschung gefunden hat. Auch die aktuelle UNICEF-Studie „Zur Lage der Kinder in den Industrieländern 2013“ vernachlässigt es, die empirischen Befunde zu der Dimension „Subjektives Wohlbefinden“ zu differenzieren und nach Schulformen sowie Schuljahren aufzuschlüsseln. Die Beachtung dieses wichtigen Einflussfaktors ist ein blinder Fleck der Gesundheitsforschung und sollte künftig zum Standard gehören; nicht allein die klassischen Variablen Geschlecht, Migrationshintergrund und Sozialer Status vermitteln differenzierte Erkenntnisse, sondern auch lebensentscheidende Weggabelungen und „Trennungen“ in kindlicher Biographien.
Als weiteres Desiderat ist kritisch zu vermerken, dass die gesundheitlichen und sozialemotionalen Folgen des Sitzenbleibens in der Erziehungswissenschaft kaum erforscht sind. An den Wegesrändern des Schulsystems liegen unzählige Opfer und Unfälle, die Pädagogik erachtet sie keines Blickes wert. An unzähligen Familiendramen und Leidensgeschichten, für die Pädagogik mitverantwortlich ist, schaut sie achtlos vorbei!
Warum macht Schule krank? Genauer muss die Frage lauten: Warum macht Selektion krank? Das ist nun die Frage, die nach einer Erklärung verlangt. Die Antwort auf diese Frage nimmt ihren Ausgang zunächst von der sog. struktur-funktionalen Theorie der Schule (Fend 2006), der ein Stück weit gefolgt werden soll.
Alle Gesellschaften in Geschichte und Gegenwart, in Industriekulturen wie in Agrarkulturen, müssen das Problem lösen, wie die knappen materiellen Güter und gesellschaftlichen Positionen „gerecht“ und zustimmungsfähig verteilt werden können. In vormodernen Gesellschaften wurde dieses Kernproblem aller Gesellschaften durchweg durch die Berufung auf Stand und Geburt oder auf weltanschauliche Ordnungsvorstellungen gelöst. Die Reichen und Herrschenden waren „wohl geboren“ oder „von Gottes Gnaden“. In modernen Gesellschaften hat sich durchgängig das meritokratische Prinzip durchgesetzt. Reichtum und Macht sind nicht mehr durch Geburt, Adel und göttliche Erwählung begründet, sondern werden von den Mitgliedern der Gesellschaft im Wettbewerb miteinander durch Anstrengung und Leistung erworben. Alle sind aufgerufen, bei diesem Wettbewerb mitzumachen, die einzige und notwendige Teilnahmebedingung sind lebensgeschichtlich erworbene Kompetenzen. Ansprüche auf gesellschaftliche Güter und Positionen können nur dann geltend gemacht werden, wenn die „Eignung“ durch entsprechende „Meriten“, also durch Leistungs- und Qualifikationsnachweise belegt wird. Die Gerechtigkeit einer meritokratischen Gesellschaftsordnung wird durch das Leistungsprinzip hergestellt und gewährleistet. Das ist die Grundidee der Theorie, freilich in blütenreiner Unschuld ohne jegliche Trübungen durch die reale gesellschaftliche Wirklichkeit.
In diesem Gesellschaftsspiel kommt der Schule eine bedeutende Rolle zu. Sie hat erstens die Funktion, allen Heranwachsenden in der Schulzeit die Möglichkeit zu eröffnen, sich die gesellschaftlich erwarteten Qualifikation anzueignen („Qualifikationsfunktion“). Zweitens wird der Schule darüber hinaus die entscheidende Aufgabe übertragen, die Güte der angeeigneten Kompetenzen auch nach ihrer Qualität zu bewerten und über ihre Tauglichkeit für gesellschaftliche Aufgaben und Positionen zu befinden. Weil nicht alle Bewerber gleich gut geeignet sind, muss bei der Zuordnung von Personen zu Positionen eine Auswahl (Selektion) getroffen werden; der Gütemaßstab der Selektion ist die Leistung („Allokations- und Selektionsfunktion“). Wenn das allokatorische Procedere einigermaßen gelingt, entsteht eine funktionierende und gerechte Gesellschaft: Alle Positionen sind mit den geeigneten, qualifizierten Personen besetzt, die Zuordnung von Personen zu Positionen wird dabei vorrangig durch das Leistungsprinzip legitimiert. Diejenigen, die mehr können und mehr leisten, sind verdientermaßen auch in der gesellschaftlichen Hierarchie oben und verdienen zu Recht mehr Geld, mehr Ansehen und mehr Macht („Legitimationsfunktion“) – so das proklamierte Idealbild der Leistungsgesellschaft, dem gläubig anzuhängen sich geziemt und erwartet wird („Integrationsfunktion“).
Die Gesellschaften der Moderne haben sich – mehrheitlich und unumstritten – diesem meritokratischen Prinzip verschrieben. Leistung ist das goldene Kalb der Moderne, das überall und uneingeschränkt Anerkennung und Anbetung erfährt. Die überaus großen Erfolge einer leistungsorientierten Gesellschaftsorganisation geben dem meritokratischen Prinzip in einem überwältigenden Ausmaß Recht. Die Erfolgsgeschichte der Meritokratie lässt aber auch vergessen, welche Kosten beiläufig entstehen, wie viele Verlierer selbstverständlich miterzeugt werden und welche unsäglichen Leiden die unaufhaltsame Produktion von Erfolgreichen mit sich bringt.
Diese Produktion von Erfolgreichen geht nämlich unweigerlich mit beträchtlichen Verlusten einher, mit der gleichzeitigen Herstellung von Nicht-Erfolgreichen und Versagern. Die Selektionsfunktion kann Schule nur dann erfüllen, wenn sie auch Versagen produziert. Das Bessersein der Einen verlangt gebieterisch das Schlechtersein der Anderen. In der leistungsorientierten Schule muss es immer Sieger und Verlierer geben. Die systematische Herstellung von Schulversagen ist also ein konstitutives Element eines selektiv verfassten Schulsystems. Beim Sitzenbleiben etwa handelt es sich eben nicht um bedauerliche Kollateralschäden, die leider auch mal passieren und hingenommen werden müssen. Das Schulsystem kann sich nicht damit entschuldigen, das Schulversagen von Schülern seien bedauerliche Betriebsunfälle. Diese Betriebsunfälle sind vom selektiven System gewollt! Wäre dem nicht so, käme das selektive Schulsystem seiner Aufgabe zu selektieren nicht nach und wäre nicht selektiv. Die Produktion von Schulversagen gehört damit zum ganz normalen Geschäft eines selektiven Systems. Am Ende der Bildungsskala wird fortlaufend und systematisch eine Schicht Deklassierter mitproduziert. Das Gesetz der Selektion verlangt ultimativ Opfer, es dürfen nicht alle erfolgreich sein. Das Versagen hat System, und es ist ein Versagen des Systems – theoretisch legitimiert, gesellschaftlich gewollt und pädagogisch umgesetzt.
Der Selektionsauftrag hat einen nachhaltigen, mächtigen Einfluss auf die Gestalt und den Geist der Schule aus. In welchem Maße die selektive Kultur der Schule sich in unser aller Bewusstsein eingenistet hat und von uns allen internalisiert worden ist, kann eine Episode deutlich machen, die die bayerische Lehrerin und Buchautorin Sabine Czerny (2010) in einem Vortrag geschildert hat.
Eine Grundschullehrerin, die als Kollegin an der gleichen Schule tätig war, hat ihr das eigene Kind am Tag der Einschulung mit den Worten anempfohlen: „Sehen Sie zu, dass mein Kind zu den besten Fünf der Klasse gehört!“
Diese Geschichte, die mir wohl unvergesslich bleiben wird, macht wie in einem Vergrößerungsglas deutlich, was Schule heute in Wahrheit ist. Schule ist längst nicht mehr ein Schonraum, in dem Kinder sich frei in aller Muße entfalten können; längst nicht mehr „a good place to grow up“ (Paul Goodman; von Hentig 1994), sondern von Anbeginn an ein Ort eines ernsthaften Wettbewerbs. Des Pudels Kern der Schule ist kompetitive Konkurrenz. Die neoliberale Schule macht aus Schülern Konkurrenten, und aus Konkurrenten dann Gewinner und Verlierer. Der letzte Sinn all der vielen Runden, die die Kinder auf der Wettkampfbahn Schule ziehen, ist nichts anderes als ein Platz auf dem Treppchen. Wer keine Medaillenplätze erkämpfen konnte, muss sich auf ein Leben auf Mittelmaß einrichten oder sich sogar zeitig mit der Loser-Rolle anfreunden.
Der sozialdarwinistisch anmutende Kampf ums Dasein mutiert in der Schule zu einem Kampf um die vorderen Plätze. Die wissenschaftlichen Theorien der Schule reden in spröder, teilnahmsloser Abgeklärtheit von der Selektionsfunktion der Schule. An diesem Selektionsauftrag könne und dürfe nicht gerüttelt werden; das sei nun einmal so und müsse auch so sein. Mit anderen Worten: Gesellschaft und Pädagogik akzeptieren, dass Schule ein Ort ist, an dem es immer Sieger und Verlierer gibt und geben muss. Gesellschaft, Politik und Pädagogik inszenieren wissentlich und planvoll massenhaftes Schulversagen als das innere Gesetz der Schule. Die Loser der Leistungsschule sind bekanntlich die Migranten, die armen und die behinderten Schüler. Sie werden nachweislich benachteiligt, sie bleiben nachweislich unter ihren Möglichkeiten. Zu ihrer eigenen Entlastung wird dann das Schulversagen von der Schule individualisiert und den schlechten Schülern als Alleinverantwortlichen in die Schuhe geschoben. Die nicht erfolgreichen Schüler müssen für ihre „Schwäche“ obendrein auch noch mit der Zuschreibung eines individuellen Versagens und einer persönlicher Schuld bezahlen.
Die logische Folge des Allokationsauftrages ist die Allgegenwart und Permanenz der Selektion, die wie ein Damoklesschwert vom ersten Schultag an über den Häuptern der Schülerinnen und Schüler schwebt. Schülerinnen und Schüler stehen in der Schule unter Dauerbeobachtung und Dauerbewertung. Es gibt im menschlichen Lebenslauf keine einzige Lebensphase, in der so häufig geprüft und getestet wird. Unterrichtstage, die gänzlich frei von Leistungsprüfungen und Bewährungssituationen jedweder Art wären, gibt es kaum. Durch diese Permanenz von Herausforderungen und Selektionsritualen ist Schule ein Alltagsstressor par excellence. Schule macht Stress. Durch die Allokations- und Selektionsfunktion der Schule entsteht ein mächtiger Druck. PISA und die Globalisierung tun ein Übriges, um den Leistungsdruck auf Schüler, Lehrer und Eltern zu verstärken. Durch Standards, G8 und Zentralabitur werden die Daumenschrauben noch einmal angezogen. Schule ist ein Feld mit potentiell belastenden Alltagsstressoren und wird es immer mehr. Moderne Stresstheorien können deutlich machen, warum Schülerinnen und Schüler dann psychosomatisch auffällig werden.
Im Folgenden soll eine Theorie über Entstehung, Verlauf und Folgen von Stresssituationen skizziert werden. In „Biologie der Angst“ hat Hüther (2012) ein hirnphysiologisch fundiertes Stressmodell dargestellt, auf das in besonderer Weise Bezug genommen wird. Die Abb. 5 modelliert den Ablauf eines Stressgeschehens in einem Verlaufsdiagramm.
Im alltäglichen Leben begegnen wir fortwährend unerwarteten Schwierigkeiten, neuen Aufgaben, unbekannten Problemen. Diese neuartigen Probleme und Situationen stellen die erprobten Handlungsroutinen und gewohnten Antwortmuster in Frage, sie erfordern neue Wege, angepasste Reaktionen, alternative Strategien. Diese herausfordernden Situationen werden Stressoren genannt. Am Anfang aller Stresssituationen stehen Unsicherheit und Angst, die uns aus dem Gleichgewicht bringen und in Unruhe versetzen. Die Ruhe ist dahin, der Frieden ist gestört, jetzt muss etwas passieren und gemacht werden.
„Es ist ein Gefühl, das aus dem Bauch zu kommen scheint und sich bis in die Haarwurzeln ausbreitet. Wenn es ausgelöst wird, fängt unser Herz an zu rasen und der Pulsschlag pocht in unseren Ohren. Wir bekommen feuchte Hände, müssen aufs Klo, fühlen uns schlecht, ohnmächtig, alleingelassen und hilflos. Das ist die Angst, die wir als dieses sonderbare Sammelsurium von angstbegleitenden Reaktionen erleben“ (Hüther 2012,33).
Abb. 5: Modell eines Stressverlaufs
Der Organismus antwortet mit einer komplexen Reaktion auf die Stresssituation. Der Körper ist angespannt, in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt und mobilisiert alle Abwehrkräfte. Die verängstigte Psyche äußert sich in erhöhter Aufmerksamkeit und Aufregung, die nervöse Anspannung ruft rote Halsflecken hervor. Körper, Geist und Seele befinden sich in Alarmstimmung.
„Jedes Organ versteht dieses Signal sofort. Die Nebennieren entleeren ihre Vorräte an Adrenalin, dem bekanntesten Stresshormon, in das vorbeifließende Blut. Das Herz beginnt wie wild zu schlagen, die Blutgefäße werden eng gestellt, die Muskulatur zum Sprung vorbereitet, Energiereserven der Leber mobilisiert, die Pupillen weit aufgemacht und – so man welche hat – es richten sich sogar die Haare auf, wie bei einem Hund, dem sich bei Erregung das Fell sträubt“ (Hüther 2012,34f.).
Was nun nach dieser Alarmphase einer allgemeinen Aktivierung aller Sinne und Kräfte geschieht, hängt nicht so sehr von den auslösenden Stressoren ab, sondern ist vor allem eine Sache des Kopfes. Stress ist immer anstrengend und aufregend, aber keineswegs von vorneherein immer auch bedrohlich oder schädigend. Nicht die objektive Beschaffenheit der Stressoren ist für die Stressreaktionen von Bedeutung, sondern ihre subjektive Bewertung durch die gestresste Person. Sehr treffend heißt es bei dem griechischen Philosophen Epiktet (1. Jh. n. Chr.): „Wir werden nicht so sehr von den Dingen beunruhigt als vielmehr von den Gedanken, die wir uns darum machen“ (in: Kretschmann 2012, 586). Zwischen dem Stressor und der Stressreaktion werden kognitive Bewertungsprozesse zwischengeschaltet; dies ist eine wichtige Perspektive, die durch Lazarus in die Stressforschung eingebracht wurde und als transaktionale Stresstheorie bezeichnet wird (vgl. Kretschmann 2012). Die gleichen Stresssituationen werden von verschiedenen Personen unterschiedlich erlebt und bewertet. Die Scheidung von einem Ehepartner wird von dem einen als schmerzliches Leiden, von einem anderen als Erlösung von einem Leiden erlebt. Weihnachten ist für die einen ein fröhliches Ereignis, für die anderen ein anstrengendes Ritual.
Zwischen dem Stressor und der Stressreaktion liegen zweierlei kognitive Bewertungen. Erstens wird bilanziert, ob die stressige Situation überhaupt persönlich bedeutsam ist und es sich um eine ernste Bedrohung handelt. Zweitens wird eine hypothetische Einschätzung vorgenommen, ob es ausreichende persönliche Kompetenzen, zeitliche und materielle Ressourcen gibt, um die potentielle Bedrohung abzuwehren und die bevorstehende Herausforderung zu meistern. Der Ausgang eines Stressgeschehens hängt in entscheidender Weise von diesen beiden kognitiven Prüfprozessen ab.
Wenn die eigenen Kräfte und Fähigkeiten ausreichen, die Herausforderungen zu bewältigen, eine Situation zu meisten, eine Bedrohung abzuwehren, eine Schädigung zu vermeiden oder einen Ressourcenmangel zu beheben, dann handelt es sich um eine kontrollierbare Stresssituation, Eustress genannt. Eustress ist ein gesunder Stress, der anspornt, gut tut, leistungsförderlich ist. Ohne Eustress gibt es weder Entwicklung noch persönliches Wachstum noch Lernen.
„Wenn sich eine Belastung als kontrollierbar erweist, kehrt sich plötzlich alles um, aus einer Bedrohung wird eine Herausforderung, aus Angst wird Zuversicht und Mut, aus Ohnmacht wird Wille, und am Ende, wenn wir es geschafft haben, spüren wir, wie unser Vertrauen in das, was wir wissen und können, gewachsen ist. Wir sind stolz und zufrieden, froh und ein bisschen glücklich“ (Hüther 2012, 40).
Gänzlich anders ist der Ausgang der Dinge, wenn die Stressbewältigung nicht gelingt. Der Dysstress als Folge der gescheiterten Stressbewältigung zieht psychosomatische Schädigungen nach sich: Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Bauchweh, Appetitlosigkeit, Nervosität, Ermüdung, Abgeschlagenheit. Im affektiven Bereich können depressive Verstimmungen, Mutlosigkeit und Demotivation die Folgen sein. Im kognitiven Bereich schlagen sich Versagen und Niederlagen als negatives Selbstkonzept und mangelndes Selbstvertrauen nieder. Hüther beschreibt sehr anschaulich aus hirnphysiologischer Sicht Verlauf und Verfasstheit bei einer unkontrollierbaren Stresssituation:
„Dann, wenn alle Wege blockiert oder verbaut sind, gehen zusätzlich noch zu den Alarmglocken die Sirenen an. Jetzt ist es vorbei mit aller Kontrolliertheit, und der Angstschweiß tropft uns von der Stirn. In unserem Gehirn ist der Teufel los, alles geht durcheinander. Verschaltungen, die sonst nie von dem berührt werden, was wir im gewöhnlichen Leben machen und denken, werden auf einmal auch in Erregung versetzt. Sie sondern Substanzen ab, die mit dem vorbeiströmenden Blut in eine Drüse an der Unterseite des Gehirns transportiert werden. Diese Substanzen bewirken, dass von den Zellen dieser Hirnanhangdrüse ein Hormon ausgeschüttet wird. Das gelangt mit dem vorbeifließenden Blut zu den Nebennieren, und die schütten nun große Mengen eines weiteren Stresshormons aus, das Kortisol heißt und viel tiefgreifendere und weiterreichendere Wirkungen hat als das Adrenalin. Aus der anfänglichen Angst wird Verzweiflung, Ohnmacht und Hilflosigkeit. Die im Körper ablaufende Stressreaktion ist nicht mehr aufzuhalten, sie ist unkontrollierbar geworden. … Wir sind von Selbstzweifel geplagt und merken, wie die andauernde Belastung unsere Energiereserven aufzehrt, fühlen uns müde, kraft- und mutlos. Erschöpft fallen wir abends ins Bett, um am nächsten Morgen mit dem gleichen unguten Gefühl aufzuwachen, mit diesem sonderbaren Gefühl gleichzeitiger Unruhe und Lähmung, und wir ahnen, dass etwas passieren muss, dass diese unkontrollierbare Stressreaktion irgendwann aufhört, dass wir verloren sind, wenn wir keinen Ausweg finden“ (Hüther 2012, 36f.).
Stressreaktionen sind grundsätzlich unspezifisch, d.h. unabhängig von den auslösenden Stressoren laufen immer die gleichen Mobilisierungsreaktionen und Copingprozesse ab. Leistungssituationen setzen also die gleichen Stressreaktionen und Stressverläufe wie soziale Situationen in Gang: „ Die erste einschneidenste und mit Abstand wichtigste unkontrollierbare Belastung während der Kindheit ist der Verlust von bisher vorhandenen, Sicherheit bietenden Bezugspersonen“ (Hüther 2012, 101). Die Bedeutung von sozialen Verlust-, Trennungs- und Ausgrenzungserfahrungen soll nun im folgenden Abschnitt thematisiert werden.
Die schulischen Anforderungen und Belastungen lösen nicht allein Leistungsängste aus, sondern in aller Regel auch gleichzeitig soziale Ängste. Ein gravierendes Schulversagen ist vielfach auch mit einem Verlust an Wertschätzung und Anerkennung durch die Mitschüler, die Lehrer und die Eltern verbunden. Schwache Schüler zählen selten zu den beliebten Schülern, sondern finden sich gehäuft in marginalen sozialen Rollen und Positionen. Die stetigen Misserfolge erzeugen auch soziale Ängste, die Angst davor, ausgelacht, abgewertet, gehänselt, ausgeschlossen und ausgegrenzt zu werden. Den Schulversagern droht der Verlust haltender Beziehungen und sozialer Bindungen, sie entwickeln Zugehörigkeitsangst.
Die soziale Unterstützung von Lehrern und Mitschülern kann die negativen Effekte von Schulstress abpuffern („Stresspufferhypothese“). Ein Tierexperiment kann die beruhigende und entspannende Wirkung sicherer sozialer Zugehörigkeit auf das Stresserleben recht gut veranschaulichen. Das Experiment wird hier in verkürzter Form geschildert (Hüther 2012). Ein Affe sitzt ganz allein in einem Käfig. Nun wird ein Hund in den Käfig gelassen, der knurrend und bellend im Käfig herumrennt und dem Affen gehörig Angst einjagt. Der Affe fletscht die Zähne und springt mit gesträubten Haaren aufgeregt von Ast zu Ast. Ein weiteres Mal sitzt dieser Affe mit einem anderen bekannten Affen, einem guten Freund in dem Käfig. Nun konnte der Hund bellen und toben, so viel er nur wollte, die beiden Affen zeigten keinerlei Stressreaktionen und keine Angst. In einem nächsten Versuch wurden zwei Affen zusammengesetzt, die aber unterschiedlichen Affenkolonien angehörten und sich also nicht kannten. Jetzt sind beide Affen wie in der ersten Situation völlig verstört, aufgeregt und verängstigt.
Zur Bewältigung von unkontrollierbaren Belastungen und Bedrohungen ist nicht allein der Erwerb von Kompetenzen hilfreich, sondern auch das Erleben sozialer Sicherheit und Zugehörigkeit. „Das Gefühl, dass man nicht allein ist, dass jemand da ist, den man um Rat fragen kann, der einem zur Seite steht, der zuhört, tröstet und mitfühlt, führt dazu, dass die Angst verschwindet und die Stressreaktion angehalten wird“ (Hüther 2012, 52). Der Hirnforscher Hüther zögert bei der Interpretation des Affen-Experiments nicht, „das wichtigste und effektivste Gegenmittel gegen Angst und Stress“ mit dem großen Wort Liebe zu belegen. Für eine gesunde Entwicklung brauchen junge Menschen eine schützende und wärmende „Decke aus Kompetenz und Liebe“: Kinder brauchen die verlässliche Zusicherung: „Du gehörst zu uns!“ (Stähling 2009).
Damit ist eine weitere bedeutsame Erklärung für das hohe Ausmaß psychischer Auffälligkeiten bei Grundschülern, insbesondere bei den Drittklässlern gefunden. Die Leistungsanforderungen und –prüfungen der Schule erzeugen zweierlei Ängste: Die Angst, dass es an hinreichenden Kompetenzen zur Bewältigung der stresserzeugenden Leistungssituation mangelt, und die Angst, dass ein Versagen als bittere Konsequenz den Verlust sicherer Bindungen und sozialer Wertschätzung zur Folge hat. Ausgrenzung und Aussonderung rufen Zugehörigkeitsängste hervor und schaden dem Kindeswohl.
Zur Therapie der krankmachenden selektiven Schule sollen nun vier „Rezepte“ bzw. Konzepte erörtert werden. Das erste Rezept „Schonräume“ hat in Gestalt von Sondereinrichtungen und Sonderschulen Geschichte gemacht; die Schwachen werden „aus dem Wettbewerb“ genommen und in separate Schutz- und Schonräume verbracht; der Wettbewerb selbst geht ungerührt weiter: The games must go on! Das zweite Rezept „Overtraining“ erfreut sich großer Beliebtheit und erheblicher Verbreitung; es wird versucht, mit einer Steigerung individueller Anstrengungen, mit Förderung und Therapie der Selektionsfalle zu entkommen. Beide Rezepte akzeptieren kritiklos den Wettbewerbscharakter der Schule und tragen allenthalben zur Konservierung einer ungesunden Schulkultur bei. Die beiden anderen Konzepte „De-Allokation“ und „De-Selektion“ rütteln an den Grundfesten der alten Schule, sie kalkulieren von vorneherein ein breites Unverständnis mit ein. Obwohl nur mit bescheidenen Hoffnungen auf eine marginale Realisierung und kleinschrittige Umsetzung ausgestattet, werden beide Konzepte als unumgänglich für eine Sanierung der Schule und die Gesundheit von Lehrern, Eltern und Schülern angesehen.
In der Schule – so drohen es einige Eltern ihren Kindern an – beginnt der Ernst des Lebens. In der Tat, es steht in der Schule viel auf dem Spiel, es geht um nichts Weniger als um das spätere Leben. Die überwiegende Zahl der Schülerinnen und Schüler meistern die Herausforderung Schule. Für eine nicht unerhebliche Anzahl ist indes die Schule eine ernstzunehmende Bedrohung ihrer psychischen Gesundheit und einer lebenswerten Zukunft. Sie befürchten, dass ihre Ressourcen nicht zur Bewältigung der schulischen Anforderungen ausreichen. Für sie ist Schule eine gravierende und fortdauernde Stresssituation.
Als Abhilfe könnte erwogen werden, die Vielzahl schulischer Stressoren (Prüfungen; Mobbing; soziale Isolation; Zeitdruck usw.) zu überprüfen, zu mildern und zu mindern. Das herrschende Schulsystem zieht indes eine Änderung der schulischen Umwelt als eine systematische Problemlösung kaum in Erwägung. Die dominante Änderungsstrategie bezieht sich nicht auf die Institution Schule, sondern auf den Klienten Schüler. Schüler, die der Herausforderung nicht gewachsen sind und versagen, werden aus dem Verkehr gezogen und in besondere Reservate ausgesiedelt. Das traditionsreiche Rezept heißt: Sonderschulen als Schonräume.
Das Schonraum-Konzept soll im Folgenden am Beispiel der Pädagogik bei Lernbehinderungen aufgezeigt werden. Der Rückzug in Schonräume ist vornehmlich begründet in der psychosozialen Dramatik, die der fortwährende Misserfolg in der Regelschule zur Folge hat. Die Geschichte der Sonderpädagogik ist prall gefüllt mit einfühlsamen, mitleidserweckenden, gelegentlich gar herzzerreißenden Schilderungen über die unsäglichen Leiden und die verzweifelte Nöte behinderter Kinder in der allgemeinen Schule. Bereits Heinrich Stötzner hat in seiner Schrift aus dem Jahre 1864 in eindrücklicher Weise die verzweifelte Lage von Schulversagern dargestellt:
„Sie sind die letzten in der Klasse, selbst die im nächsten Jahre Eintretenden überflügeln sie bald. Beim besten Willen können sie ja mit den anderen nicht gleichen Schritt halten. Und dies dennoch von ihnen verlangen, hieße einen Lahmen schelten, weil er beim Wettlauf so weit hinter denen, die gesunde Beine besitzen, zurückbleibt. Erst müht sich der Lehrer rechtschaffen mit ihnen ab. Er versucht es auf jeglichen Weise, … aber es geht zu langsam vorwärts, und er kann doch um eines, zweier willen nicht die ganze Klasse aufhalten. Da wird er wohl ungeduldig und meint, mit Strafen schneller weiter zu kommen; aber nun verliert das arme Kind mit der Liebe zum Lehrer auch alles Vertrauen zu sich selbst. Es wird immer matter; vielleicht wird es gar noch stöckisch und trotzig. Und nun läßt der Lehrer das Kind fallen. – Mit Mühe und Not lernt es am Ende noch etwas lesen und schreiben, lernt endlich auch die Hauptstücke auswendig und wird nun konformiert, um später den Angehörigen oder der Gemeinde zur Last zu fallen“ (Stötzner 1963, 39).
Der „Hilfsschule“ bzw. der Sonderschule für Lernbehinderte wird seit jeher eine Entlastungsfunktion zugeschrieben. Einerseits wird die Separation der schwachen Schüler als eine Entlastung für die leistungsstärkeren Schüler verstanden, andererseits werden aber auch deutliche Entlastungseffekte für die schwachen Schüler selbst erwartet. Die Schule für Lernbehinderte ist konzeptionell durch eine „reduktive Didaktik“ (Wocken 2007) gekennzeichnet; das bedeutet insbesondere, dass die Leistungsanforderungen und –erwartungen gesenkt und an das Leistungsvermögen der schwachen Schüler angepasst werden. Die reduzierten Leistungserwartungen ermöglichen den schwachen Schülern wieder Erfolge. Die stetigen Kompetenzerfahrungen ziehen dann eine ganze Kette wünschenswerter „Nebenwirkungen“ nach sich: Die Schüler erleben sich wieder als leistungsfähig, gewinnen an Selbstvertrauen, entwickeln ein positives Selbstwertgefühl, werden zunehmend weniger leistungsängstlich und steigern Leistungsmotivation und Schulfreude. Der „Schonraum“ Sonderschule verspricht „heilpädagogische“ Wirkungen.
Dass der Schonraum Sonderschule tatsächlich die erhofften Wirkungen hervorbringen und das Wohlbefinden, die Leistungsmotivation und das Selbstwertgefühl der leistungsschwachen Schüler fördern kann, ist durchaus durch einige empirische Untersuchungen belegbar. Tent (2011) hat zwei Stichproben von Hauptschülern und Sonderschülern streng nach Alter, Geschlecht, Schulbesuchsjahre, und Intelligenz parallelisiert und hinsichtlich zahlreicher Effektvariablen miteinander verglichen, u.a. Schulleistungen, Prüfungsangst, Selbstkonzept, Arbeits- und Sozialverhalten. Den Untersuchungsergebnissen zufolge „werden leistungsschwache Schüler (sog. Lernbehinderte) trotz der objektiv besseren Lernbedingungen an der SfL nicht wirksamer gefördert, als dies an den Grund- und Hauptschulen der Fall wäre, wenn man sie dort beließe“ (2011, 207). Deutliche Vorteile zugunsten der Sonderschule zeichnen sich dagegen in anderen Untersuchungsbereichen ab: „Die homogene Lerngruppe und die größere Chance, positive Rückmeldung zu erhalten, mildern offenbar den Leistungsdruck; sie senken das Angstniveau der Schüler, fördern ihr Selbstwertgefühl und haben ein günstigeres Arbeitsverhalten im Gefolge“ (Tent 2011, 207).
Als ein weiterer empirischer Beleg soll das prominente Forschungsprojekt einer Schweizer Forschungsgruppe herangezogen werden (Haeberlin u.a. 2003; Haeberlin 2011). Untersucht wurden die Wirkungen integrierender und separierender Schulformen bei lernschwachen und „lernbehinderten“ Schülern. Die Ausgangsstichprobe umfasste annähernd 2000 Schülerinnen und Schüler des vierten und fünften Schuljahres. Die Untersuchungsgruppen wurden nach Geschlecht, Sozialschicht, Klassenstufe, Intelligenz und Schulleistungen parallelisiert. Die wichtigsten Resultate:
Soweit exemplarische Einblicke in die Wirklichkeit der Förderschule Lernen. Eine sorgsame Zusammenstellung von einschlägigen Forschungsergebnissen aus vier Jahrzehnten „Zur Wirksamkeit von Schulen für Lernbehinderte“ bietet der Band von Schnell/ Sander /Federoff (2011).
Die vorzeigbaren positiven Wirkungen des Schonraums Sonderschulen haben aber durchaus ihre Schattenseiten und sind mit einigen einschränkenden Konnotationen zu versehen:
All diese Relativierungen lassen erheblich an den erwarteten Hoffnungen, die sich an Schonräume knüpfen, zweifeln. Die sogenannten Schonräume erweisen sich bei realistischer Betrachtung eher als Sackgassen. Der Sonderschule fehlt es vor allen Dingen an nachhaltigen heilpädagogischen Wirkungen. Die Sonderschüler erleben einen unwirklichen, vergänglichen Traum, sie sitzen in einer „Schonraumfalle“ (Schumann 2007). Am Ende der Schonzeit bricht eine ungefilterte gesellschaftliche Wirklichkeit über sie herein: Arbeitslosigkeit, Randständigkeit, soziale und materielle Armut. Es erwartet sie ein Leben als „Grenzgänger“ (Hiller 1964) „am Rande der Normalität“ (Wocken 1981), und die schönen Illusionen des Schonraums zerplatzen wie Seifenblasen.
Das Rezept mit dem Kunstwort „Overtraining“ ist typischerweise nur in bestimmten gesellschaftlichen Schichten zuhause. Der Rezeptur des Overtrainings bedient man sich vorzugsweise in statusbewussten, aufstiegsorientierten, bildungsnahen und bürgerlichen Kreisen. Angehörige dieser Schichten haben die jahrzehntelang verbreitete Botschaft, dass Schule „die zentrale soziale Dirigierungsstelle und bürokratische Zuteilungsapparatur von Lebenschancen“ (Schelsky 1957, 17) ist, längst verstanden und widerspruchslos internalisiert. Sie leisten keinerlei Widerstand gegen die Monopolstellung der Schule auf dem Chancenmarkt, sondern sie krempeln die Ärmel hoch und versuchen, durch individuelle Anstrengungen den Erwartungen des Systems Schule zu entsprechen und den erstrebten „Aufstieg durch Bildung“ zu erreichen. Die Kinder sollen nicht ein Opfer schulischer Selektion werden, sondern durch akzeptierbare Leistungen sich vor dem Zugriff der Selektion in Sicherheit bringen. Die Eltern aus diesen Kreisen stellen deshalb präventiv die gesamte Kindheit ihrer Kinder ganz und gar in den Dienst von „Förderung“. Die Zukunft der Kinder soll via Overtraining gesichert und gewährleistet werden. Die neue „Förder-Kindheit“ kann mit schlaglichtartigen Beispielen veranschaulicht werden:
Das Ausmaß, in dem Kindheit heute in manchen Kreisen durch „Förderung“ verschult wird, sprengt mitunter das Vorstellungsvermögen. In den sozialen Zirkeln, in denen diese Kreise beheimatet sind, tauscht man sich regelhaft über die Entwicklungsfortschritte der Kinder aus. Der gesamte Alltag der Kinder wird evaluiert: Laufen, Sprechen, Sozialverhalten, Musikalität und körperliche Gewandtheit. Parallel dazu wird der Fördermarkt nach vielversprechenden Programmen durchforstet und in Anspruch genommen, Geld spielt keine Rolle. Durch den wechselseitigen Austausch der Eltern untereinander über den Entwicklungsstand der eigenen Kinder werden die Förderbemühungen noch einmal verstärkt und potenziert. Etwa die Feststellung, dass andere gleichalterige Kinder schon etwas besser lesen und mehr Englisch-Vokabeln können als die eigenen Kinder, löst Nervosität und Gewissensbisse aus und stimuliert die Förderanstrengungen aufs Neue. In der wissenschaftlichen Beschreibung der neuen Frühförderkultur wird gelegentlich gar von einer „Bildungspanik“ (Bude 2011) gesprochen. Freies Spielen, Treffen mit Gleichaltrigen auf der Straße, Herumtollen, eine unbeschwerte Kindheit – alles dahin. Nach der Kinderrechtskonvention hätten Kinder eigentlich „ein „Recht auf Ruhe und Freizeit, auf Spiel und altersgemäße aktive Erholung“ (KRK Art. 31). Die Schule wirft ihre Schatten voraus. Der heimliche Lehrplan der frühen Kindheit heißt Schule; die Schule erzeugt eine „verschulte“ Kindheit. Der Erfolg mag in vielen Fällen den bildungsambitionierten Eltern Recht geben. Ihre Kinder kommen mit beachtlichen Lesefertigkeiten zur Schule, manche können gar rudimentäres Englisch. Alles sieht nach einem großen Erfolg aus, die Kinder schaffen die Schule.
Und wenn es dann doch nicht klappen sollte, wenn umgekehrt die Schule die Kinder schafft? Dann wird die Dosis der Förder-Pille nun erst recht erhöht und noch mehr Nachhilfe administriert. Vormittags Schule, nachmittags Nachhilfe. Nach der Schule ist vor der Nachhilfe. So wie manche universitäre Studien allein durch den Besuch von Repetitorien bewältigt werden können, so wird die Schulzeit vieler Kinder von Nachhilfeeinrichtungen und –maßnahmen umsäumt. All diejenigen Eltern, die es sich finanziell leisten können, geben Jahr für Jahr in Deutschland 1,4 Milliarden für Nachhilfe aus (Klemm 2009). Die Nachhilfeinstitutionen a la „Schülerhilfe“ können sich über Nachfrage nicht beklagen. Der florierende Nachhilfemarkt sorgt auch dafür, dass Konstrukte wie „Legasthenie“ oder „Dyskalkulie“, die wissenschaftlich eigentlich als erledigt bzw. höchst problematisch gelten können, fröhlich Urständ feiern, weil derartige Krankheitssyndrome doch die Geschäftsgrundlage für profitable Dienste am Kind abgeben und für die Legitimation von Nachhilfeeinrichtungen und –personen unentbehrlich sind. Die „Förder-Pille“, hier mit dem Kunstwort Overtraining belegt, wird gern und reichlich genommen, nicht allerorten, sondern nur in gewissen Kreisen mit hohen Aufstiegs- und Bildungsaspirationen. Singer beschreibt das allgemeine Wettrüsten mit Kursen und Nachhilfe:
„Fast jeder vierte Schüler nimmt Nachhilfe. Und zwar nehmen nicht nur Gymnasiasten und Realschüler Nachhilfe, sondern auch ein Fünftel der Grundschüler. Sie werden für den Auslesedruck vorbereitet, um den Sprung aufs Gymnasium zu schaffen. In allen größeren Orten prangen Plakate: Schülerhilfe, Pannenhilfe, Soforthilfe, ambulante Unterrichtshilfe; es gibt Fitnesskurse zur Aufnahmeprüfung, für den Übertritt, für die Nachprüfung, den Probeunterricht, die Abschlussprüfung. … Die Eltern zahlen 10 bis 40 Euro für die Stunde an Lernberater, Hausaufgabenbetreuer, Motivationstrainer, Dyskalkulietherapeuten, mobile Lernzentren, Legastheniestudios und so fort“. (Singer 2009, 26).
Abb. 6: Jährlicher Umsatz von Ritalin durch deutsche Apotheken (13KJB 2009, 113)
Manche Kinder reagieren auf den Förderstress mit diversen psychischen Verstörungen, andere nehmen regelhaft vor der Schule leistungssteigernde Psychopharmaka ein. In den USA gibt es einen wachsenden Trend an allen Schularten (!) zur Einnahme von „Brain Boster“. Auch in Deutschland herrschen längst amerikanische Verhältnisse beim Leistungsdoping vor. „In Internet-Foren werden ‚Pillen fürs Abi‘ empfohlen: Ampakin – eigentlich nur für alte Leute mit Alzheimer – für mehr Gehirnleistung. Fluoxetin – eigentlich gegen Depressionen – für mehr Leistungsbereitschaft. Metopolol – eigentlich gegen Bluthochdruck – für weniger Prüfungsangst“ (Sußebach 2011). Die Modedroge schlechthin ist Ritalin, die eigentlich nur für die Behandlung von ADHS entwickelt wurde. Die Statistiken der deutschen Apotheken belegen eine exponentielle Steigerung des Ritalin-Umsatzes, seit dem Jahr 2000 immerhin um 300 Prozent (Abbildung 6). Zur Jahrhundertwende wurden etwa 400 Kilo Ritalin im Jahr verschrieben, heute sind es 1,4 Tonnen. Schwache und gute Schüler gleichermaßen (!) werden mit Pillen-Cocktails und Paukschulen auf Leistungsfähigkeit getrimmt. Nicht nur das Überleben in der Schule, sondern der Kampf um die vorderen Plätze muss ggf. durch Leistungsdoping gesichert werden.
Die alte Schule ist heute nicht mehr denkbar ohne die gleichzeitige Existenz einer parasitären Förderkultur und –panik, die nicht das Konzept der alten Schule in Frage stellt, sondern es paradoxerweise noch bestärkt. Und wenn auch exzessive Nachhilfe nicht mehr das Mitkommen in den „höheren“ Schulen sichern kann, nehmen begüterte Kreise schließlich Zuflucht zu Privatschulen, die für gutes Geld den gewünschten Schulabschluss versprechen. Während die förderbeflissenen Eltern den Schulen lernwillige und leistungsfähige Schüler bereitstellen, geraten all diejenigen, die sich nicht an der obligaten Förderkultur beteiligen können oder wollen, noch weiter ins Hintertreffen. Die weniger erfolgreichen und leistungsschwachen Schüler und die „Schulversager“ rekrutieren sich, wie die Bildungsforschung sattsam belegen kann, aus den benachteiligten Schichten, insbesondere aus Migrantenfamilien und aus Familien in prekären Lebenslagen. Die Spaltung der Schulgesellschaft wächst weiter und weiter, nicht zuletzt dank der divergierenden Förderkulturen und Unterstützungsmöglichkeiten der Eltern. Die Spaltung der Gesellschaft bildet sich in der Schule wieder ab, und Schule reproduziert in pädagogischer Ohnmacht soziale Ungleichheit.
Das Rezept Overtraining ist insgesamt ein untaugliches Rettungsversuch bürgerlicher Schichten, wenigstens die eigenen Kinder vor schulischem Ungemach zu bewahren. Nötig sind Konzepte von Schule, die der außerschulisch verabreichten Förder-Pille nicht bedürfen. Nötig sind De-Allokation und De-Selektion.
Der tragende und haltende Haken, an dem das ganze System der alten Schule aufgehängt ist, ist die Allokationsfunktion (Fend 2006). Allokation fragt etwa: Wer darf an einer Universität studieren? Wer muss sich mit dem Besuch einer Fachhochschule begnügen? Wer kann eine mittlere Beamtenlaufbahn einschlagen? Erfüllen Bewerberinnen und Bewerber die Mindestanforderungen für das Erlernen von Handwerks- und Dienstleistungsberufen? Wissenschaft und Alltagstheorie glauben unverbrüchlich und unhinterfragt daran, dass Schule den Platzanweiser für den Eintritt in Beruf und Gesellschaft zu spielen hat. Die Allokationsfunktion der Schule scheint sakrosankt und über allen Zweifeln erhaben. Wirklich? Es gibt Veranlassungen zum Zweifeln.
Die Beispiele sind simpel, aber doch bedenkenswert. Die Allokationsleistung des Schulsystems ist äußerst bescheiden. Die Eignung von Schulabgängern für beliebige berufliche Laufbahnen oder weiterführende Studien kann aus dem Schulzeugnis mitnichten abgelesen werden. Das Schulzeugnis ist für die berufliche Allokation und für die Wahl weiterführender Studien absolut nichtssagend. Den Gipfel der Irrelevanz von Noten repräsentiert der Numerus clausus, der die Gleichgültigkeit von Zensuren gegenüber inhaltlich definierten Kompetenzen demaskiert. Für den Studiengang XYZ muss etwa ein Durchschnittswert von 2,1 vorgelegt werden, bei einem Schnitt von 2,2 werden Studienbewerber disqualifiziert und gelten als untaugliche Anwärter für eben diesen Studiengang. Erstens ist das gläubige Vertrauen, das Noten sogar hinter dem Komma geschenkt wird, unfassbar erschreckend, und zweitens ist das völlige Desinteresse daran, was sich hinter den Dezimalzahlen an inhaltlich benennbaren Kompetenzen steht, nahezu skandalös. Der Numerus clausus straft die gesamte Diskussion um Kompetenzorientierung und –raster Lügen.
Die einzige, wirklich die einzige Leistung von schulischen Abschlusszertifikaten besteht darin, in etwa den beruflichen Einstiegskorridor zu bestimmen, der Schulabgängern offensteht. Ein Hauptschüler darf nicht auf die Universität, Sparkassen und Banken verlangen als Mindestqualifikation einen Realschulabschluss, und ein Zeugnis der Förderschule Lernen reicht nicht für einen Lehrberuf. Zu jeglicher weitergehenden inhaltlichen Berufsempfehlung sind Schulzeugnisse völlig ungeeignet. Der Zusammenhang zwischen Berufswahl und Schulzeugnis schwankt bestenfalls um Null.
Die Allokationsfunktion der Schule reduziert sich in Wahrheit auf einen sehr bescheidenen Rest. Die Schule ist Platzanweiser für berufliche und gesellschaftliche Statusklassen, mehr nicht. Von beruflichen Eignungen und empfehlenswerten Lebenswegen haben schulische Zeugnisse keine Ahnung. Schule klassifiziert mögliche und zulässige Berufs- und Lebenswege nach einem gesellschaftlichen Raster, das lediglich grob zwischen Oben, Mitte und Unten unterscheidet und darunter noch einen gesellschaftlichen Sockel der Unbrauchbaren, Abgehängten und Unerwünschten ansiedelt. Ein Abitur bedeutet nicht mehr als das Recht, „irgendwas irgendwo“ zu studieren (Trautmann /Wischer 2011, 97). Dieses Recht, „irgendwas irgendwo“ studieren dürfen, nennt man „allgemeine Hochschulreife“. Ob es wirklich eine solche „universale“ Hochschulreife wirklich gibt? Man darf zweifeln, ob es ein so hoch generalisiertes und höchst zweifelhaftes Kompetenzkonstrukt wirklich gibt und das Gymnasium in der Tat wissenschaftspropädeutisch effizient ist.
Die Schwindsucht der Allokationsfunktion wird überdies unterstützt durch die Entwertung des Abiturs. Das Gymnasium ist zur Volkschule geworden und kann bei einer Quote von nahezu 50 Prozent der Schülerschaft nicht mehr Exklusivität sichern. Mit der Erweiterung der Bildungsbeteiligung sinkt auch die Bildungsrendite, das Abitur zählt immer weniger. „Die Chancenmehrung vieler bewirkt die Chancenminderung weniger“ (Bude 2011, 45). Die bildungspanischen Eltern fliehen in die Privatschulen, und die öffentlichen Schulen denaturieren zur Abraumhalde für Verlierer und Versager.
Auf die gänzlich unbefriedigende Einlösung der Allokationsfunktion reagiert die Gesellschaft mit zweierlei Verhaltensstrategien, die recht widersprüchlich sind. Einerseits wird die Allokationsfunktion der Schule nicht hinterfragt, sondern eher tabuisiert und mit bewusstlosem Starrsinn verteidigt. Den arrivierten Kreisen der Gesellschaft ist letztlich egal, was Schule inhaltlich als Bildung vermittelt, wenn sie denn wenigstens das Eine liefert, nämlich die Eintrittskarten für „höhere“ berufliche Laufbahnen und gesellschaftliche Statusgruppen. Das Gymnasium wird ja nicht allseits ob seiner pädagogischen Exzellenz geliebt, sondern vornehmlich deshalb, weil dort und nur dort die Eintrittskarten für „höhere“ berufliche und gesellschaftliche Statusklassen erhältlich sind.Die ungebremste und unaufhaltsame Nachfrage nach gymnasialer Bildung ist für das Gymnasium kaum Motiv und Ansporn, sich um pädagogische Reformen und Innovationen zu mühen. In manchen Gymnasien könnte noch heute ohne sonderliche Änderungen die „Feuerzangenbowle“ abgedreht werden. Bei der Vergabe des „Deutschen Schulpreises“ rangiert die Schulform Gymnasium abgeschlagen auf den hinteren Rängen.
Was Schule inhaltlich an Bildung vermittelt, gerät dabei völlig ins Hintertreffen. Die ausgeprägte Statusorientierung bestimmter gesellschaftlicher Kreise bestätigt also die Allokationsfunktion der Schule. Schule wird im Extremfall reduziert auf die Sicherung oder Ermöglichung des gesellschaftlichen Aufstiegs. „Schulabschlüsse dienen dazu, Gräben zu ziehen, in vielen Fällen sogar endgültige Gräben. … Wer darf einmal Jura studieren, und war sitzt bei Aldi hinter der Kasse?“ (Precht 2013, 120).Was Bildung ist und bedeutet, interessiert nicht mehr. Die Frage nach Bildungsinhalten wird obsolet, es zählen allein die Bildungszertifikate. Solchermaßen trägt die Allokationsfunktion der Schule zur Korrumpierung des Bildungsbegriffs und der Bildung bei.
Die zweite Strategie legt die desaströse Allokationsleistung der Schule offen und nimmt den Ausfall der Schule zum Anlass, kompensatorisch eigene Allokationsinstrumente und –prozeduren zu installieren. Wirtschaft und Gesellschaft vertrauen nicht mehr den blassen, nichtssagenden Auskünften von schulischen Zeugnissen. Sie installieren eigene „Assessment-Center“ und –Strategien, um für berufliche und gesellschaftliche Positionen die geeigneten Bewerber ausfindig zu machen. Auf die Abschlussprüfung der abgebenden Schule folgt unmittelbar die Aufnahmeprüfung der aufnehmenden Einrichtung – eine bezeichnende Abfolge, die den Unwert der Schulabschlüsse demaskiert und die schulischen Zertifikate zur Bedeutungslosigkeit abstuft. Die implizite Botschaft jeder Aufnahmeprüfung ist das Misstrauen und die Abwertung der Abschlussprüfung. Auch hier gilt der Refrain: Nach der Abschlussprüfung ist vor der Aufnahmeprüfung. The Tests must go on. Die Assessment-Center schießen wie Pilze aus dem Boden. Während kleinere Betriebe sich mit persönlichen Bewerbungsgesprächen begnügen und obendrein Probezeiten vereinbaren, sind größere Unternehmen regelhaft mit professionellen Assessment-Centern bestückt. Das Schulzeugnis spielt in beiden Bewerbungssettings zumeist eine untergeordnete Rolle; nach einem flüchtigen Blick auf das „Blatt“ wird es zur Seite gelegt und die wirklich berufsrelevanten Aspekte rücken in den Fokus der Aufmerksamkeit.
Der Aufbau von außer- und nachschulischen Assessments wird gerne als ein Menetekel an die Wand gemalt, wenn die Schule es wagen sollte, auf die Allokation zu verzichten. Assessments sind aber – dies sei nochmals zur Klarstellung gesagt - nicht Folge eines schulischen Verzichts auf Allokation, sondern Folge eines völligen Versagens der Schule als gesellschaftlicher Allokationsinstanz. Die Erosion der Allokationsfunktion der Schule ist längst im Gange. Und sie war bereits Wirklichkeit, bevor konservative Schulkritiker „Kuschelpädagogik“ (Bundespräsident Roman Herzog) und „Vollkasko-Abitur“ (DLV-Präsident Josef Kraus) als Verursacher für eine Destabilisierung des Schulsystems ausgemacht haben.
Die hartnäckige und zähe Verteidigung der Allokationsfunktion der Schule steht in einem krassen Widerspruch zur realen Bedeutung von schulischen Zertifikaten. Wenn man Schule als Lebensraum und Lebensetappe für persönliche Entwicklung wiedergewinnen will; wenn Schule nach der Idee Wilhelm von Humboldts (auch) ein Ort für zweckfreie Bildung sein soll; wenn Schule das Kindeswohl fördern und Schädigungen aller Art abwehren soll, dann bedarf es eines ebenso einfachen wie radikalen Rezepts. Der Nagel, an dem – wie dargestellt – das „Wesen“ der alten Schule hängt, muss gezogen werden! Schule muss sich der Allokationsfunktion entledigen oder sie doch erheblich relativieren. Das Rezept heißt deshalb: De-Allokation!
Die besorgte Frage, die nach einem derartigen Vorschlag eines Verzichts auf die Allokation durch die Schule immer und postwendend gestellt wird, lautet: Und wie sollen Wirtschaft und Gesellschaft funktionieren, wenn die Schule als omnipotenter Platzanweiser ausfällt? Ganz einfach. Die Abnehmer von Absolventen der Schule mögen sich bitte selbst darum kümmern, wen sie für spezifische berufliche Laufbahnen, wissenschaftliche Studien und gesellschaftliche Positionen geeignet halten. Mit anderen Worten: Allokation durch Assessment, nicht durch schulische Zertifikate. Das, was jetzt bereits in weiten Teilen von Wirtschaft, Universität und Gesellschaft eh schon üblich ist, wird dann zum gesellschaftlich anerkannten Regelfall. Die Abnehmer prüfen selbst die Eignung der Bewerber und Anwärter. Die Schule jedenfalls wird von der ihr zugemuteten Allokationsfunktion (weitestgehend) entlastet. Man nennt diesen Typus von Allokation „elektives System“ (Fend 2008).
Die Befreiung bzw. Entlastung der Schule von der Allokationsfunktion dürfte kaum vorstellbare positive Auswirkungen auf die Kultur von Schule haben. Das Was und das Wie des Lernens rücken wieder in den Vordergrund pädagogischen Nachdenkens und Handelns, weil der Alptraum der Allokation nicht mehr auf den Schulen und ihren Lehrern sowie auf den Eltern und ihren Kindern lastet. In den Schulen muss nicht mehr (nur) für das spätere Leben, sprich: für die Allokation im späteren Leben gelernt werden. In den Schulhäusern ist auch Zeit und Gelegenheit, eigenen Interessen nachzugehen, sich auf die Suche nach eigenen Begabungen zu begeben und die persönliche Entfaltung nicht hinter die Akkumulation von Wissensmengen zu stellen. Schule könnte wieder zu einem Ort der Muße, der Bildung werden. Und Lehrerinnen und Lehrer wären aus der Zwickmühle heraus, nicht allein Fürsprecher und Helfer heranwachsender junger Menschen, sondern zugleich Richter über künftige Lebenswege und Makler von biografischen Schicksalen zu sein. Jetzt sind Lehrer in zwitterhafter Personalunion zugleich als Anwalt und als Richter der Schüler tätig. Eine „Gewaltenteilung“ würde Lehrern und Schülern gleichermaßen gut tun.
Der Vorschlag einer De-Allokation von Schule soll begleitet werden durch eine wichtige Anregung für die dann erforderlichen nach- oder außerschulischen Assessment-Verfahren. Die besten diagnostischen Verfahren sind nicht Persönlichkeits- oder Eignungstests gleich welcher Art, sondern Probezeiten! Es gibt mit weitem, sehr weitem Abstand kein besseres Diagnostikum für berufliche und gesellschaftliche Karrieren als Probezeiten, die über ihre herausragende prognostische Qualität hinaus auch noch den Charme haben, dass sie völlig unaufwendig sind und allerorten implementiert werden können. Einige Beispiele seien illustrativ angeführt:
Schule kommt von dem griechischen Wort „scholae“ und bedeutet wortwörtlich „Muße“. Es gab einmal in der griechischen Antike eine Zeit, in der ging man aus eigenem Antrieb zur Schule, nicht um irgendwelcher Zertifikate, Leistungsnachweise oder Allolokationsscheine willen, sondern schlicht um der Bildung willen. Wenn Schule eine Stätte der Muße und der Bildung sein will oder wieder werden will, ist eine Einschränkung und Bändigung der Allokationsfunktion unverzichtbar. Die Allokationsfunktion der Schule korrumpiert ihre Bildungsfunktion, und das in einem solchen Maß, dass davon Entwicklung, Wohlbefinden und Gesundheit der Schüler beeinträchtigt werden.
Ein kurzes Fazit: Die Allokation durch die Schule ist unzuverlässig und indikationsarm, sie hält nicht das, was sie verspricht. Im völligen Kontrast zu dieser unzureichenden prognostischen Validität klammert sich das System an diese Funktion, weil das gegliederte Schulsystem ohne einen Allokationsauftrag partiell zusammenbrechen würde und seiner Legitimation verlustig ginge.
Zum Rezept „De-Selektion“ muss nun nach der Vorrede über „De-Allokation“ nicht mehr sehr viel gesagt werden. Denn Selektion ist das leibliche Kind der Allokation. Damit Allokation ins Werk gesetzt werden kann, müssen vorher Selektionen erfolgen, die dann Allokation überhaupt erst ermöglichen.
Schülerinnen und Schüler erhalten Tag für Tag, ja Stunde für Stunde Rückmeldungen über die Qualität ihres Lernens und ihrer Lernergebnisse. Dieses Feedback zum Lern- und Leistungsverhalten ist notwendig und nützlich; dies sei nachdrücklichst hervorgehoben. Nicht die Notwendigkeit von Rückmeldungen und Bewertungen steht zur Diskussion, sondern erstens die angewendeten Bezugsnormen und zweitens die folgenreichen Sanktionen. An jenen Stellen, wo die individuellen Rückmeldungen zunächst unmerklich, dann aber ungeschminkt und ostentativ in soziale Vergleiche hinüberwechseln, an diesen Stellen beginnen auch Selektionen. Alle Schüler finden sich nun entlang einer Qualitätsskala nach ihrer Wertigkeit wie die Orgelpfeifen aufgereiht.
Selektion bedeutet ja Auswahl, Auslese. Bei dem Vorgang der Selektion wird eine Grundmenge in mehrere Teilmengen aufgeteilt, die auf einer Werteskala von „gut“ bis „schlecht“ angeordnet werden können. Bei Wein und Kaffee etwa werden die guten Sorten als „Auslese“ feilgeboten, die weniger wertvollen als Standard oder 2. Wahl. „Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen“, so heißt es in Grimm’s Märchen Aschenputtel. Selektionen setzen immer Bewertungen voraus. Eine Selektion findet im pädagogischen Raum immer dann statt, wenn die Wahrnehmung von Differenzen – zunächst unmerklich und eher schleichend – in eine hierarchisierende Bewertung von Unterschieden in den Heterogenitätsdimensionen hinübergleitet und umschlägt. Mit der Folge, dass alle Versager und Verlierer aus dem Wettbewerb ausscheiden und in niedere Wettkampfligen und –arenen abgedrängt werden.
Die Schule ist durchwoben von einer schier unendlichen Anzahl von Selektionen, so sehr, dass die Tatsache als solche gelegentlich in den Hintergrund tritt. Der „Theorie der Schule“ von Fend (2006) folgend, ist es zweckmäßig, bei der Beschreibung der Selektionsrealität dreierlei Ebenen der Selektion zu unterscheiden: Die Mikroebene des Klassenzimmers (unterrichtliche Differenzierung), die Mesoebene der einzelnen Schule (intraschulische Differenzierung), und die Makroebene des gesamten Schulsystems (interschulische Differenzierung). Im Folgenden soll die Selektionsrealität der heutigen Schule entlang dieser drei Ebenen genauer beschrieben werden; daran schließen sich jeweils Vorschläge zur De-Selektion an.
Auf der Mikroebene des Systems Schule, also im Unterricht im Klassenzimmer, sind es zunächst die zahllosen Lehrer-Schüler-Interaktionen, bei denen „feine“ Unterschiede gemacht werden: Ermahnen versus Ermuntern, Lob versus Tadel, Aufmerksamkeit versus Gleichgültigkeit, freundliche Zuwendung versus despektierliche Ironie, Sympathien versus Antipathien. In den sozialen Austauschprozessen zwischen Lehrern und Schülern werden Anerkennung und Nichtanerkennung den verschiedenen Schülern dabei nicht – und das ist der Punkt – zufällig zuteil, sondern sie konzentrieren sich mehr oder minder immer auf bestimmte Schüler. Fast unmerklich entsteht eine unbewusste Spaltung einer Klasse in „gute“ und „schlechte“, „beliebte“ und „unbeliebte“, „angepasste“ und „unangepasste“ Schüler. Die Selektion nimmt dann ihren Lauf; sie beginnt in den mikrosozialen Kommunikations- und Interaktionsprozessen. So unspektakulär diese mikrosozialen Formen der Wertschätzung und Anerkennung bzw. der Geringschätzung und Zurücksetzung auch sein mögen, in der Summe resultiert über die Zeit eine recht stabile Aufteilung der Schüler auf rigide Sozialrollen und stereotype Beziehungsverhältnisse.
Diese informellen, mikrosozialen Beziehungsprozesse nehmen dann schließlich öffentliche Formen an: Vor-die-Klassentür-setzen, vom Wandertag ausschließen, Nachsitzen, Strafarbeiten oder mehrtätiger Ausschluss vom Unterricht. Diese ritualisierten Formen von Ausgrenzung sind allerorten in kodierten Verordnungen über „Maßnahmen bei Ordnungswidrigkeiten“ amtlich geregelt und damit auch staatlich sanktioniert.
Die Selektionskultur der traditionellen Schule hat sich ferner in typischen Ritualen vergegenständlicht, einige seien in Erinnerung gebracht. Schon in der Grundschule zierte alle Klassenarbeiten ein Notenspiegel, der den Eltern und Schülern deutlich vor Augen führte, wo auf der Leistungsskala das Kind steht und welchen Wert es folglich hat. In vielen Klassen aller Schulen war es gang und gäbe, die zensierten Klassenarbeiten in der Reihenfolge von 1 bis 6 vor der ganzen Klasse wieder auszuteilen. Die „letzten“ Schüler wurden bei diesem Ritual zunehmend bleicher und warteten mit ohnmächtiger Lähmung auf das unerbittliche, niederschmetternde Urteil. Und bei der Rückgabe von Leistungskontrollen brachen gelegentlich ehrgeizige Schüler, die „nur“ eine Drei erreicht hatten, in hysterische Weinkrämpfe aus.
Diese Selektionskultur fand und findet dann in allzu vielen Elternhäusern eine Fortsetzung. Für jede „1“ im Zeugnis wurden/werden zehn D-Mark/Euro ausgezahlt, für jede „2“ gab/gibt es fünf D-Mark/Euro, und für jede „3“ einfach nichts. Ich selbst habe für jede „3“ von meinem Vater immerhin Prügel bezogen. Jenseits von Dreien ist an den Zeugnistagen der Familienfrieden allemal in höchster Gefahr. Rund um die Zeugnistermine herum befinden sich hunderttausende Familien im Ausnahmezustand.
Die Ausdrucksformen einer selektiven Schul- und Lernkultur in Schule und Elternhaus mögen heutigen Tags zum Teil anders sein, an der ungebrochenen Existenz kann indes kaum gezweifelt werden. Wie durch alltägliche Selektionsszenen schon auf der Mikroebene eine Einübung in Hierarchie erfolgt, macht die folgende Schilderung deutlich:
„Boris hatte Schwierigkeiten, 12/16 so weit wie möglich zu kürzen und kam nur bis 6/8. Die Lehrerin fragte ihn ruhig, ob dies der kleinste Nenner sei. Sie schlug ihm vor, darüber nachzudenken. Viel Fingergeknipse und viele hochgestreckte Arme bei den anderen Schülern. Alle begierig, ihn zu korrigieren. Boris ziemlich unglücklich. Vermutlich intellektuell gesperrt. Die Lehrerin ruhig, geduldig, übersieht die anderen und richtet Blick und Stimme ganz auf Boris. Sie fragt: „Gibt es eine Zahl, die größer als zwei ist, mit der Du beide Seiten des Bruchs teilen kannst?“ Nach ein oder zwei Minuten beginnt sie zu drängen, aber von Boris kommt nichts. Darauf wendet sie sich schließlich der Klasse und fragt: Na gut, wer kann Boris sagen, welche Zahl es ist? Fast alle melden sich. Die Lehrerin ruft Gretchen auf. Gretchen erklärt, dass vier die Zahl sei, durch die sich Zähler und Nenner teilen lassen. -
Das Versagen von Boris hat Gretchen den Erfolg ermöglicht; seine Niedergeschlagenheit ist der Preis für ihre blendende Laune; sein Elend der Anlass ihrer Freude“ (Henry 1973, 26).
Die Szene kommt recht harmlos daher, und scheint nicht weiter des Aufhebens wert. Doch diese Szene wiederholt sich im Laufe der Wochen und Monate so oder in ähnlicher Weise immer wieder und immer wieder. Steter Tropfen höhlt den Stein, sagt ein Sprichwort. All diese Szenen vermitteln nicht allein schulische Inhalte, sondern transportieren unterschwellig einen „heimlichen Lehrplan“. Der soziale Vergleich, der in der Schule tagtäglich eingeübt wird, hält in der Folge Einzug in den Sozialcharakter der Schülerinnen und Schüler. Boris lernt, dass er ganz unten steht, dass er auf Hilfe angewiesen ist und diese in Demut und Dankbarkeit annehmen sollte. Gretchen und andere gute Schüler lernen dagegen Selbstbewusstsein, Stolz, vielleicht gar Arroganz. Konkurrenzlernen und sozialer Vergleich vermitteln als heimlichen Lehrplan die Einübung in Hierarchie, in Verbindung mit dem gegliederten Schulwesen die Einübung in die Klassengesellschaft. Die Schüler verlassen die Schule und wissen, wo ihr Platz in der Gesellschaft ist und ob sie zu den „Herren“ oder zu den „Dienern“ gehören. Selektion legitimiert Herrschaft!
Wie könnte das Programm einer De-Selektion auf der Mikroebene aussehen? Selektion beginnt wahrlich nicht erst bei institutioneller Aussonderung, sondern nimmt ihren Anfang in zwischenmenschlichen Beziehungen und Gefühlen. Was auf der mikrosozialen Ebene im Klassenzimmer zu leisten wäre, kann mit Bezug auf das „Equity Foundation Statement“ des Toronto School Board (TDSB 2000) aufgelistet werden. Das TDSB formuliert fünf Standards, an denen das Leitbild für Inklusion auszurichten ist:
Alle diese Standards betreffen das Beziehungsgeschehen im Klassenzimmer und sollten schon dort einen guten Anfang nehmen. An dieser Stelle mag es genügen, empfehlend auf die erläuternden Ausführungen von Reich (2012) zu verweisen.
Auf der nächsten Ebene ist nun der große Bereich der Leistungsmessungen und Leistungsbewertungen anzuführen, der als die eigentliche Domäne der Schule angesehen werden kann. Die real existierende Wirklichkeit von Selektionsprozeduren, die mit dem Kriterium Leistung verknüpft sind, muss nicht en Detail ausgepinselt werden, sie ist allseits bekannt: Prüfungen, Klassenarbeiten, Tests, Zensuren, Zeugnisse. Ein Schelm, wer da glauben mag, bei all diesen Prüfungen ginge es allein oder vornehmlich um ein hilfreiches, dem Lernprozess des Schülers dienliches Leistungsfeedback. Die in Mode gekommenen nationalen und internationalen empirischen Evaluationsstudien tun in unverblümter, verräterischer Sprache kund, worum es in Wahrheit geht. Das bundesdeutsche Grundschulforschungsprojekt VERA etwa ist eine Abkürzung für "VERgleichsArbeiten". Es geht bei all diesen empirischen Studien um Vergleiche; um Vergleiche der Schüler miteinander, und dann um den Vergleich der Klassen, der Schulen und der Schulformen. Und all diesen Vergleichen folgt das wertende Urteil unweigerlich auf dem Fuß: Dieser Schüler „gehört hier nicht hin“; diese Klasse ist eine Problemklasse; diese Schule verdient einen Schulpreis. Ein ungenannter Pfarrer hat in seiner Sonntagspredigt die unseligen Folgen sozialer Vergleiche einmal mit folgender Sentenz auf den Punkt gebracht: „Das Glück endet dort, wo der Vergleich beginnt.“
Der Kult der Leistung setzt sich dann in einer Vielfalt von Sieger-Ritualen fort: Urkunden, Auszeichnungen, Medaillen und Ehrentiteln. Die Schwachen werden erneut düpiert und beschämt. Irgendwelche Ehren- und Gedächtnisrituale für Verlierer sind nicht vorgesehen. „Denkmäler“ für gefallene Schüler gibt es nicht.
Was folgt daraus? Noten sind informationsarm, sie haben keinerlei pädagogischen Nährwert, und - das ist das eigentliche Ärgernis - sie kultivieren den sozialen Vergleich. Das Standardwerk „Die Fragwürdigkeit der Zensurengebung“ von Ingenkamp aus dem Jahre 1977 gilt zwar als ein Klassiker der pädagogischen Literatur, die Pädagogik selbst hat allerdings von der Grundschule bis zur Universität am wenigstens daraus gelernt. Den einzigen Profit werfen Noten für gute Schüler und ihre Eltern ab, die sich in ihrer Sonderstellung bestätigt sehen und in Exzellenz sonnen. Das Nachsehen haben die schlechten Schüler, die ostentativ beschämt und abgewertet werden. Es ist eine Mär, dass schlechte Schüler wirklich Noten wollen.
Jegliche (vorgebliche) Toleranz von Heterogenität ist halbherzig, nur bedingt und unaufrichtig, wenn sie an irgendwelche Normalitätserwartungen gleich welcher Art geknüpft ist und die Normerfüllung zugleich mit der Androhung sozialen Ausschlusses flankiert wird. Wertschätzung von Vielfalt und diversifizierende Unterscheidung mit Noten passen nicht zusammen. „Unterschiede anerkennen: Das kann nur gelingen, wenn Leistungen nicht an normierten Maßstäben gemessen werden“ (Groeben /Rieger 1991, 262). Noten sind eben nicht ein Ausdruck der Wertschätzung von Vielfalt, sondern im Gegenteil eine förmliche Diskriminierung, d.h. eine Unterscheidung von „gut“ und „schlecht“. Kinder werden in ihrem Sosein, und das heißt auch in ihrem „Schlechtsein“ nicht angenommen und wertgeschätzt. Und diese Nicht-Akzeptanz wird interaktional – bewusst oder unbewusst, ohne jegliche böse Absicht oder auch mit klarer Distanzierung – mitgeteilt. Aussonderung und Ausgrenzung sind vor aller institutionellen Selektion zunächst ein emotionaler und sozialer Akt zwischen Menschen. Auf diesem Feld der sozial-emotionalen Ausgrenzung müssen wir nicht auf bildungspolitische Reformen warten, hier sollten Schule und Pädagogen schon jetzt mehr Inklusion praktizieren.
Die Konsequenz des Notenelends ist klar: Eine gute Schule, die dem Kindeswohl aller (!) Schüler dienen will, ist eine notenfreie Schule. Schule sollte eine notenfreie Republik sein. Eltern kommen in der Erziehung ihrer Kinder ohne Noten aus; das sollte auch der Schule gelingen. Die Abschaffung der Prügelstrafe in öffentlichen Schulen in den 70er Jahren hat der Schulpädagogik wahrlich nicht geschadet. Der nächste Meilenstein einer kindgerechten Schule wäre die Abschaffung der Noten und all jener Leistungsprüfungen, die dem sozialen Vergleich verpflichtet sind.
Weitere Möglichkeiten einer De-Selektion auf der Mesoebene sind das „Führerscheinprinzip“ und die „Zweite Chance“. Beim „Führerscheinprinzip“ schreiben nicht alle Schüler zur gleichen Zeit einen Test oder eine Klassenarbeit, sondern sie melden sich selbst zur Prüfung, wenn sie sich hierfür vorbereitet und gerüstet fühlen. Haben Schüler eine Arbeit „in den Sand gesetzt“, räumt ihnen das Recht auf eine „Zweite Chance“ die Möglichkeit ein, nach bemessener Zeit die Prüfung zu wiederholen und es besser zu machen.
De-Selektion intendiert auf der Mesoebene auch einen weitest gehenden Verzicht auf Sitzenbleiben. Auf der Mesoebene der Schule ist das Sitzenbleiben die dominierende und prominenteste Form selektiver Maßnahmen. Der Schüler gehört zwar weiterhin der gleichen Schule an, muss aber die angestammte Lerngruppe verlassen und wird degradiert, in eine Klasse tiefer eingestuft. Jedes Jahr produzieren alle Schulen zusammen weit über 200.000 Sitzenbleiber. In der bunten Presse outen sich in regelmäßigen Abständen immer wieder Promis und VIPs, dass auch sie eine „Ehrenrunde“ gedreht haben, die ihnen aber – angeblich - nicht geschadet habe. Die Verniedlichung als „Ehrenrunde“ legitimiert die massenhaften schulischen Selektionen als eine legitime und notwendige Maßnahme von Schulen. Von all denjenigen aber, die gelitten haben, denen das Sitzenbleiben geschadet oder gar das Genick gebrochen hat, ist in der Regenbogenpresse nicht die Rede. „Die im Dunkeln sieht man nicht“, heißt es in der „Dreigroschenoper“ von Berthold Brecht. Wann wird die Erziehungswissenschaft je eine Geschichte der Schule aus der Sicht von Schulversagern schreiben? Wer den Rasen verstehen will, muss ihn sich auch einmal von unten aus der Perspektive des Maulwurfs ansehen.
Dass De-Selektion, also eine Minderung der selektiven Maßnahmen, das gegliederte Schulwesen ins Mark trifft, hat jüngst die aufgeregte Debatte um das Sitzenbleiben belegt. Die rot-grüne Landesregierung in Niedersachsen plante 2013 bei der Regierungsübernahme, sukzessive in bestimmten Schulstufen und Schulformen das Sitzenbleiben auszusetzen, und löste mit diesem Vorhaben ein äußerst kontroverses öffentliches Echo aus. Der bayerische Kultusminister sprach von „blankem Unsinn“. Der Vorsitzende des rechtskonservativen „Lehrerbundes“, der Dachorganisation der Philologen- und Realschullehrerverbandes, spöttelte über das „Vollkasko-Abitur“. Der Generalsekretär der CSU ironisierte die Reform als „Einser-Abitur für alle!“ Die Wirtschaftswoche wähnte die Schule „auf dem Weg ins Schlaraffenland“. Und der Arbeitgeberpräsident lobte die „disziplinierende Wirkung“ des Sitzenbleibens: Leistungsverweigerung darf nicht belohnt werden! Die „herrschenden“ Kreise und das rechtskonservative Lager polemisierten einträchtig gegen „Kuschelpädagogik“ und „Weicheier-Pädagogik“.
Der Befund des australischen Unterrichtsforschers Hattie (2013), der dem Sitzenbleiben jeglichen Nutzen abspricht und ihm sogar eine negative Effizienz attestiert, wird in den erbittert geführten Debatten geflissentlich übersehen. Stattdessen beruft sich der öffentliche Diskurs gerne auf Meinungsforschungsinstitute, etwa auf eine Allensbacher Studie, die eine hohe Zustimmung zum Sitzenbleiben bei Lehrern, Schülern und Eltern ermittelt hat. Immer dann, wenn’s gerade nicht in das eigene Weltbild passt, wird Wissenschaft durch platten Populismus ersetzt.
Auf der Makroebene geht es um jene selektiven Maßnahmen, die die Aufnahme und den Abgang von Schülern zum Gegenstand haben und so den Schülerverkehr zwischen den verschiedenen Schulformen regeln. Hierzu gehören: Überweisung an die Sonderschule, Schulreifeprüfungen, Zurückstellungen, Aufnahme- und Eignungsprüfungen für die weiterführenden Schulen, Schulverweise, Aus- und Abschulungen. Das System regelt die Zugehörigkeit zu einer Schulform nicht ein für alle Mal, sondern ist in einem nennenswerten Umfang mit ständigen Korrekturen der Eingruppierungen befasst. Bei den Nachbesserungen dominiert mit großem Abstand die Abwärtsmobilität. Jedes Jahr werden 15 Prozent aller Schüler ausgegliedert und an die nächst niedrigere Stufe im hierarchisch gegliederten Schulsystem weitergereicht (Tillmann 2004; 2008).
Die gesamte Selektionsmaschinerie gleicht einem gigantischen „Rüttelsieb“, das aus mehreren, übereinander angeordneten Schalen mit unterschiedlicher Maschengröße besteht. Die „Großkopferten“ bleiben oben hängen, andere fallen von Raster zu Raster immer tiefer, manche Verlierer dürfen auf ein haltendes soziales Netz hoffen, Schüler mit Behinderungen landen in großer Zahl im „Bildungskeller“ (Hiller 1994) des Systems. Die Hoffnung, durch fortgesetztes „Aussieben“ auch homogene Schülerkohorten zu gewinnen, die jeweils über „schulformspezifische“ Begabungsprofile verfügen, erfüllt sich trotz alledem nicht. Die PISA-Studien etwa belegen, dass sich die Leistungsprofile von Hauptschule, Realschule und Gymnasium stark überlappen; ungefähr ein Drittel aller Schüler ist allen Homogenisierungsbemühungen und Selektionsmaßnahmen zum Trotz in der „falschen“ Schule. Die Fassade einer „begabungsgerecht gegliederten“ Schule wird aber allen empirischen Evidenzen zum Trotz voll aufrechterhalten.
Abb. 7: Verteilung der Leseleistungen nach Schulformen (PISA 2000, 121)
Die alte Schule selektiert sich zu Tode. Auf der Strecke bleiben Lehrer, Eltern und Kinder, die alle Krankheitssymptome von Ausgrenzung, Ausschluss, Diskriminierung, Beschämung und Schulverweis mit sich herumtragen. Und auf der Strecke bleibt auch die Bildung – sofern man denn darunter (auch) verstehen darf, dass Bildung nicht Nürnberger Trichter und Bulimie bedeutet, sondern die Ermächtigung jedes Individuums, die vielfältigen, jedem Menschen innewohnenden Begabungen in „Muße“, d. h. in der Schule zu entdecken und zur Entfaltung zu bringen, und dann die Möglichkeit und die Verpflichtung, dank dieser individuellen Begabungen nutzbringend einen wertvollen Beitrag zum Wohle der Gesellschaft zu leisten.
Das bildungspolitische und pädagogische Programm einer De-Selektion schulischer Bildung auf der Makroebene muss wahrlich nicht neu erfunden werden, es liegt auf der Hand. Einige Vorschläge können genügen, weitergehende Ideen sind willkommen.
Alle (weiterführenden) Schulen, die ein Kind - evtl. nach einer Probezeit - aufgenommen haben, sind verpflichtet, diesen Schüler bis zum Abschluss der eingeschlagenen Schullaufbahn zu behalten und Jahr für Jahr mitzunehmen. Jegliche Ab- und Ausschulung ist verboten! Eine Inklusion auf Widerruf, Inklusion unter Vorbehalt, Inklusion auf Probe sollte es nicht geben. Inklusion verträgt kein Vielleicht, Inklusion verlangt garantierte Zugehörigkeit! Allein die Gewissheit einer unverbrüchlichen Zugehörigkeit vermittelt die Freiheit, „ohne Angst verschieden sein“ (Adorno 1944, 113) zu dürfen. Inklusion so verstanden heißt Lernen in sicheren Bindungen. Hierin ähnelt Inklusion der Liebe. Beide wurzeln in einem abgrundtiefen Vertrauen auf Zugehörigkeit.
Auf mittelfristige Sicht verlangt eine De-Selektion auf der Makroebene eine zunehmende Verschiebung des Selektionszeitpunktes. Ungeachtet des schmerzlichen Hamburger „Volksentscheides“ gegen die sechsjährige Grundschule müssen Maß und Zeitpunkt der institutionellen Selektion in der Sekundarstufe I zunehmend zurückgenommen werden, mit dem längerfristigen Ziel der Aufhebung getrennter Schulformen zugunsten einer gemeinsamen Sekundarstufenschule.
Die vorliegende Arbeit plädiert für De-Allokation und De-Selektion, also für eine Minderung, Bändigung, Abschwächung, Zähmung der Allokation und Selektion. Das mag die Frage aufwerfen, warum Inklusion sich mit einer so bescheidenen Forderung begnügt und nicht radikal die vollständige Abschaffung von Allokation und Selektion anstrebt. Diese Frage führt uns auf die Hinterbühne des Geschehens, dort liegt der Schlüssel, worum es bei dem Streit zwischen dem Kind auf der einen und der Gesellschaft auf der anderen Seite geht.
Nehmen wir noch einmal den Faden von der „struktur-funktionalen Theorie der Schule“ (Fend 2006) auf. Die Theorie kann auf den ersten Blick durch ihre logische Stringenz überzeugen und beeindrucken. Alle gesellschaftlichen Prozesse sind konsequent auf das allumfassende, große Ziel „Gesellschaftswohl“ ausgerichtet: Die Gesellschaft muss funktionieren! Der Gesellschaft und ihrem Wohlergehen werden alle anderen gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse, alle Organisationen, Institutionen, Subsysteme, Gruppen und Personen unter- und nachgeordnet - auch die Schule und auch die Kinder. Diese Theorie der Schule denkt eben nicht „vom Kinde aus“, sondern denkt soziologisch auf die Gesellschaft hin. Die gesellschaftlichen Subsysteme und –organe sind funktional auf das gesellschaftliche Ganze ausgerichtet, sie erweisen ihre Daseinsberechtigung vor allem durch ihre spezifischen Leistungen bzw. „Funktionen“ für das große System. Ein Eigenleben und ein Eigenwert aber kommen all den nach- und untergeordneten Institutionen, Organisationen, Systemen und Personen allenfalls erst in zweiter Linie zu, erst dann, wenn sie ihre „Funktion“ erfüllt und - der Abgabe von Steuern vergleichbar - ihre Gesellschaftspflicht erfüllt haben. Sofern die Subsysteme außerhalb ihrer Funktionspflicht dann doch ein ureigenes Binnenleben entfalten sollten, dürfen diese subsystemische Prozesse nicht im Widerspruch zum gesamtgesellschaftlichen Zielen stehen, ansonsten werden sie als „dysfunktional“ gekennzeichnet und gegebenenfalls mit ordnungspolitischen Maßnahmen des Systems auf Kurs gebracht.
Die Verpflichtung des Subsystems Schule auf bloße Zubringerdienste für die Gesellschaft und insbesondere die despektierliche Herabsetzung und weitgehende Entrechtung der schulischen Akteure muss Widerspruch hervorrufen. In der pädagogischen Tradition wurde etwa seit Jean Jacques Rousseau („Emile“) und Jean Paul der Kindheit eine eigene Dignität zugesprochen. Kindheit ist eben nicht allein Vorbereitung auf das Erwachsenenleben, sondern besitzt auch einen eigenständigen Sinn und einen unvergleichlichen Eigenwert, die durch nichts Anderes, auch nicht durch spätere Tage und Zeiten aufgefangen werden können. Wert und Würde der Kindheit können einzig und allein durch die Kindheit selbst, durch das Leben und Ausleben eben dieser Kindheit eingelöst werden. Statt den Eigenwert gegen Übergriffe zu verteidigen, wirkt aber heutige Schule an der „Enteignung der Kindheit“ (Blüm 2012, 5) aktiv mit.
In jüngerer Zeit hat zum Beispiel Janus Korczak (2005, 40) wie kein anderer mit durchaus zugespitzter, provokanter Brillanz den Eigenwert der Kindheit als einen unveräußerlichen Rechtsanspruch formuliert. Nach Korczak verfügen alle Kinder über drei Rechte:
1. Das Recht des Kindes, so zu sein wie es ist.
(Schutz vor normierten Erwartungen und Anpassungsforderungen)
2. Das Recht des Kindes auf seinen eigenen Tod.
(Schutz vor Überbehütung und Überforderung)
3. Das Recht des Kindes auf den heutigen Tag.
(Schutz vor Verfrühung und Indienstnahme).
Diese Kinderrechte haben in einer struktur-funktionalen Theorie der Schule wohl kaum einen Platz; sie verweisen je für sich und miteinander auf die Eigenwürdigkeit der Kindheit, die sich einer „Funktionalisierung“ für die Gesellschaft verweigert. Diese kinderrechtliche Fundierung wird gestützt durch eine allgemeine ethische Maxime, die Immanuel Kant in seiner Schrift „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (2008, 63) begründet: „Der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen.“ Sinn und Ziel individueller Existenz liegen nicht außerhalb der eigenen Person, sondern sind in der ureigenen, persönlichen Bestimmung jedes Menschen verortet. Der unverfügbare Selbstbesitz jedes Menschen, auch jedes Kindes, begründet also, dass das Kind nicht fraglos „funktionalisiert“ und jedwedem gesellschaftlichen Ansinnen unterworfen werden darf; jedes Kind hat ein unverfügbares Recht auf seine Kindheit. Jedes Kind hat ein Recht auf sein „Kindeswohl“! Die Ermächtigung zum Selbstsein ist konditional nicht an die Erfüllung irgendwelcher Voraussetzungen gebunden. Das Recht auf Selbstsein-dürfen muss nicht erworben und verdient werden, auch nicht durch gesellschaftsgefällige schulische Leistungen.
Schule und Gesellschaft folgen unterschiedlichen Logiken und Imperativen. Die Schule dient zuvörderst und zunächst dem Wohl des je einzelnen Kindes, die Gesellschaft hat ein legitimes Interesse an Selbsterhaltung und Reproduktion. Schule muss beiden „Herren“ gleichermaßen dienen. Schule dient nicht nur und ausschließlich dem Wohl der einzelnen Kindes, sondern zugleich dem Wohl der Gesellschaft. Die inklusive Schule existiert nicht in einem gesellschaftsfreien Raum, sondern ist mit der Gesellschaft funktional, das heißt: durch Aufgaben verknüpft. Zu den gesellschaftlichen Kernaufgaben gehört die Verteilung knapper Güter und begehrter sozialer Positionen. Die inklusive Schule kann keine „asoziale“ Schule sein und kann sich nicht vor dieser Verpflichtung, zur Reproduktion der Gesellschaft einen bedeutsamen Beitrag zu leisten, davonstehlen. Auch die inklusive Schule hat eine Bringschuld gegenüber der Gesellschaft, von der sie alimentiert wird. Weil keine Gesellschaft, die sich nicht selbst aufgeben will, darauf verzichten kann, dass die sozialen Positionen möglichst von geeigneten Personen besetzt werden, sind Allokation und Selektion unverzichtbare und legitime Aufgaben, denen jede Schule, auch die inklusive Schule, sich stellen muss. Die Botschaft dieser Abhandlung lautet daher ganz ausdrücklich nicht, dass Inklusion sich aus der Gesellschaft ausklinken will und die Allokations- bzw. Selektionsaufgabe gänzlich ablehnt und verweigert. Die Forderung inklusiver Pädagogik ist nicht die vollständige Abschaffung von Allokation und Selektion; dies ist weder möglich noch legitim. Es geht nicht um Liquidierung und Negation von Allokation und Selektion, sondern um eine Minderung und temporale Verzögerung dieser gesellschaftlichen Kernaufgaben.
Der Vorschlag einer De-Allokation und De-Selektion zielt also nicht auf eine radikale und ultimative Verneinung des Allokations- und Selektionsauftrages, sondern auf eine nennenswerte Minderung und Auslagerung der Allokation sowie auf eine Minderung und Verzögerung der Selektion. Diese Klarstellungen sollten deutlich machen, dass die Theorie einer inklusiven Schule sich nicht in irrwitzige Träumereien jenseits gesellschaftlicher Realität verliert, sondern mit beiden Beinen auf dem Boden dieser Gesellschaft steht und sich zur Einbindung in gesellschaftliche Funktionszusammenhänge bekennt. Die ausdrückliche Zusicherung einer gesellschaftlichen Dienstbarkeit der inklusiven Schule darf nicht indes nicht so verstanden werden, dass damit auch die gegenwärtige Ausgestaltung der Allokations- und Selektionsaufgabe im selektiven deutschen Schulsystem einfach kritiklos akzeptiert werden muss. Wie viel Allokation und Selektion durch Schule unabdingbar sein muss oder doch verzichtbar ist, darf und muss Gegenstand gesellschaftlicher Diskurse und Übereinkünfte sein. Die inklusive Schule - dies ist die feste Überzeugung dieser Schrift – braucht deutlich weniger Allokation und Selektion als bisher, andernfalls nehmen fundamentale Grundideen der Inklusion – Wertschätzung von Vielfalt und von Gemeinsamkeit – einen so erheblichen Schaden, dass die inklusive Idee unkenntlich wird und verkommt.
Zusammenfassend: De-Allokation und De-Selektion können und wollen nicht Non-Allokation und Non-Selektion bedeuten. Allokation und Selektion sind auch in einer vollständig inklusiven Gesellschaft nicht aufhebbar. Es steht daher nicht die Frage im Raum, ob Allokation und Selektion notwendig oder verzichtbar sind, sondern zur Diskussion steht erstens die offene, diskussionswürdige Frage, wer (welche gesellschaftliche Institution) zu welchem Zeitpunkt selektiv tätig wird. Ist es richtig, die Allokations- und Selektionsfunktion erstens relativ einseitig an die Schule zu adressieren, und zweitens die unverzichtbaren gesellschaftlichen Funktionen schon sehr früh, nach der Grundschule im Alter von zehn Jahren zu bedienen? Beide Anfragen, sowohl das Ob als auch das Wann, können mit Blick auf internationale Verhältnisse eindeutig als kontingent gelten. Kontingent heißt: Es geht auch anders und könnte auch anders sein, weil frühe Selektion und dominante Allokation durch die Schule weder Gottes Gebot sind noch in überzeugender Weise argumentativ und evidenzbasiert eingefordert werden können.
Mit dem Kindeswohl hat nun ein zweiter Spieler die Hinterbühne betreten. Das Kindeswohl macht als Gegenspieler dem Gesellschaftswohl das Alleinvertretungsrecht streitig und fordert wohl begründet Anerkennung und Beachtung. Darf das gesellschaftliche Erfordernis nach Allokation und Selektion durch die Schule über Ansprüche des Kindes auf Wohlbefinden und Eigensein hinweggehen, oder müssen sich berechtigte Notwendigkeiten für die Gestaltung eines funktionierenden Schul- und Gesellschaftssystems im Angesicht unabweisbarer Kinderrechte Einschränkungen und Grenzziehungen gefallen lassen? Wie kann und soll das gehen, dass beide Kontrahenten, sowohl das Kind als auch die Gesellschaft, „Recht“ haben und Recht beanspruchen können? Wäre vielleicht eine ausgewogene Balance zwischen beiden Rechtspositionen ein guter Ausweg, ein akzeptabler Kompromiss?
Zur Beantwortung dieser strittigen Frage kann das sog. „Wertequadrat“ als methodisches Hilfsmittel gute Dienste leisten. Das methodische Hilfsmittel „Wertequadrat“ basiert auf der Grundannahme, dass Unwerte nicht das Gegenteil von Werten sind, sind ihre Entartung und Übertreibung. Geiz ist die Übertreibung von Sparsamkeit und Verschwendungssucht ist die Übertreibung von Großzügigkeit. Alle Werte existieren nicht als einsame Solisten, sondern befinden sich mit einem Gegenwert in einer dialektischen Spannung. So sind Sparsamkeit und Großzügigkeit ein „Geschwisterpaar“; keiner der beiden Werte ist für sich allein richtig und gut, sondern erst aus der ausgewogenen Balance der beiden Geschwisterwerte ergibt sich ein stimmiger Wert, der nicht in Extreme und Radikalisierungen abgleitet (Wocken 2013).
Abb. 8: Wertequadrat „Kindeswohl“ versus „Gesellschaftswohl“
Das bedeutet nun: Kindeswohl und Gesellschaftswohl sind beide gleichermaßen wohl begründete Werte, kein Wert ist grundsätzlich besser und wertvoller als der andere. Kindeswohl und Gesellschaftswohl sind Geschwisterwerte, die beide zugleich in ausgewogener Weise berücksichtigt werden sollen. Wird in einer Problemsituation ein Wert über die Maßen zur Geltung und der andere Wert „unter seinem Wert“ behandelt, gerät die Wertebalance aus den Fugen und es kommt zu ungerechtfertigten und falschen Wertpräferenzen. Wird etwa einseitig das Kindeswohl beachtet, verweigert sich eine solche falsch verstandene „Pädagogik vom Kinde aus“ allen gesellschaftlichen Anforderungen. Die Überakzentuierung des Kindeswohls hat eine „Emeritierung“ des Kindes, eine Entpflichtung von gesellschaftlichen Erwartungen und Forderungen zur Folge. Andererseits zieht eine vorrangige und übermäßige Berücksichtigung des Gesellschaftswohls eine partielle „Enteignung der Kindheit“ (Blüm 2012) nach sich, die im Extremfall zu einer totalitären Unterwerfung führen kann. Das Wertequadrat empfiehlt eine ausgewogene, spannungsreiche Balance der verschwisterten Werte.
Das illustrierte Lösungsmodell des Wertequadrates legt für den anstehenden Problemzusammenhang folgenreiche Einsichten nahe. Schule ist eine pädagogische und eine gesellschaftliche Einrichtung; dies sind die beiden Seiten einer einzigen Medaille. Dieser Doppelcharakter gilt auch für die inklusive Schule. Als pädagogische Einrichtung dient Schule dem Wohl des Kindes, als gesellschaftliche Einrichtung dient Schule dem Wohl der Gesellschaft. Kindeswohl und Gesellschaftswohl sind sich wechselseitig verpflichtet. Von der Gesellschaft darf und muss erwartet werden, dass sie das Recht des Kindes auf sein eigenes Leben achtet; jedes Menschenkind hat den Anspruch auf einen eigenwürdigen Selbstzweck. Aber auch die Gesellschaft kann Wert und Würde für sich beanspruchen, weil sie die unverzichtbare Existenzgrundlage aller Mitglieder ist. Die Existenz der Gesellschaft ist davon abhängig, dass alle nach ihrem Vermögen zum Wohle des gesellschaftlichen Ganzen beitragen. Von jedem Kind darf und muss daher umgekehrt jede Gesellschaft erwarten, dass es sich mit all seinen Kräften und Begabungen in die Gesellschaft nutzbringend einbringt.
Wäre also die skizzierte Balance zwischen Kindeswohl und Gesellschaftswohl eine gute, kompromissfähige Lösung? Gegen die Balance-Lösung sprechen zweierlei Einwände, nämlich erstens die unbalancierte empirische Realität und zweitens der theoretisch einzufordernde Primat des Kindeswohls.
Zunächst: Die Fürsprache für eine mußevolle Bildung aller Kinder durch gemeinsame Lernsituationen sind das treibende Motiv der Forderungen nach De-Allokation und De-Selektion. Leitend ist die subjektive Gewissheit, dass die Balance zwischen legitimen gesellschaftlichen Erwartungen und ebenfalls legitimen Ansprüchen der Kinder auf freie und gemeinsame Bildungsprozesse heute aus dem Lot geraten ist. Es fehlt das Maß! Gewiss: Damit die Gesellschaft funktioniert, muss die Schule der Theorie folgend Schülerinnen und Schüler vorbereitend selektieren und allokieren. Aber dieser Auftrag, auf das Leben vorzubereiten, wird von der heutigen Schule einseitig interpretiert als Vorbereitung auf eine neoliberale Konkurrenzgesellschaft. Die Ideologie der Marktwirtschaft hat sich längst der Schule übergriffig bemächtigt und Schule zu einem Ort der Konkurrenz umgestaltet. Inklusion darf und sollte sich der unaufhebbaren Einbindung in gesellschaftliche Zusammenhänge und daraus erwachsenden Notwendigkeiten nicht verschließen. Eine Unterwerfung von Bildung und Inklusion unter neoliberale, marktwirtschaftliche Prinzipien, die via Standardisierung, usw. der inklusiven Schule zugemutet wird, darf und muss als unzulässig abgelehnt werden. Schule und Inklusion in Beugehaft zu nehmen und dem Joch gesellschaftlicher Erwartungen zu unterwerfen, darf und muss in Anwaltschaft der Kinder von der Schule, insbesondere von der inklusiven Schule zurückgewiesen werden. Angesichts dieser Problemlage hat Inklusion das Recht und die Pflicht, im Interesse gemeinsamer Erziehung und Bildung sich gegen eine gesellschaftliche Vereinnahmung der Kindheit für die gesellschaftlich unabdingbaren Aufgaben der Allokation und Selektion zu wehren und eine weitest gehende Mäßigung und Entlastung einzufordern. Das meint De-Allokation und De-Selektion. Pädagogik und Inklusion haben das Recht und die Pflicht, sich für das Wohl der Kinder auszusprechen und diesen Primat des Kindeswohls in den Diskurs mit der Gesellschaft einzubringen. Auch wenn es ein Kampf David gegen Goliath sein mag, Inklusion wagt einen Zwischenruf, die Eigengesetzlichkeit und Eigenwürdigkeit beider Lebensbereiche zu achten. Inklusion weigert sich, lediglich Zuträger und Lieferant für eine neoliberale Konkurrenzgesellschaft zu sein. Inklusion nimmt Partei für das Recht aller jungen Menschen auf ein eigenwürdiges Leben, wenn es nottut, auch gegen den Markt und gegen Sozialdarwinismus (Wocken 2012).
Sodann der grundsätzliche theoretische Vorbehalt: In dem Wettstreit zwischen Kind und Gesellschaft um Ansprüche und Rechte gehört letztlich dem Kind der unbedingte Primat, weil jeder Mensch und jedes Kind unverfügbar sind und den Sinn und Zweck ihrer Existenz in sich selbst tragen. Die Gesellschaft ist nicht der Vormund des Kindes. Das Balance-Theorem hat letztlich vor der Kinder- und Behindertenrechtskonvention keinen Bestand. Die Kindeswohl-Artikel in der Kinderrechts- und Behindertenrechtskonvention begründen in letzter Instanz einen klaren Primat des je einzelnen Kindes vor allen Erwartungen und Anforderungen der Gesellschaft. „Bei allen Maßnahmen ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist“ (BRK Art. 7,2). Wenn dieser Satz vom Vorrang (!) des Kindeswohls keine Leerformel und wortwörtlich zu nehmen ist, dann darf und muss Pädagogik sich auf die Seite des Kindes stellen, dann darf und muss Pädagogik Gesellschaft auf den zweiten Platz verweisen. Inklusive Pädagogik muss auf der Seite des Kindes stehen, wenn nötig – dem Beispiel Korczaks folgend – bis zur letzten Konsequenz. Inklusion muss eine Chance haben. Die notwendigen Chancen eröffnen De-Allokation und De-Selektion.
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[1] Dieser Beitrag wird der Landesarbeitsgemeinschaft Bayern „Gemeinsam leben. Gemeinsam lernen“ zum 20. Geburtstag gewidmet.