Susanne Quinten: Einstellung in Bewegung. Kann Tanzkunst helfen, Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderung zu verändern?

Abstract: Eines der zentralen Ziele der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) besteht darin, einen Bewusstseinswandel in der Gesellschaft anzustoßen und voranzutreiben. Hierzu gehört auch, dass Vorurteile, negative Einstellungen und schädliche Verhaltensweisen gegenüber Menschen mit Behinderungen bekämpft werden sollen, um eine gleichberechtigte und wirksame Partizipation der Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Der vorliegende Beitrag untersucht, inwieweit tanzkünstlerische Rezeptions- und Produktionsprozesse in Tanzensembles, in denen Tänzerinnen und Tänzer mit Behinderung integriert sind, zu einem solchen Einstellungswandel beitragen können. Insbesondere Mechanismen wie die kinästhetische Empathie und die Körperresonanz sowie die spezifische Art des Kontaktes – im Medium der Bewegung, embodied, affektiv – scheinen einen Einstellungswandel zu begünstigen.

Stichwörter: fähigkeitsgemischte (mixed-abled) Tanzensembles, Einstellungs- und Vorurteilsforschung, Kontakthypothese, nonverbale Kommunikation, kinästhetische Empathie, Körperresonanz, Embodiment, Affektivität

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung
  2. Der erste Weg zum Einstellungswandel: Das Anschauen von Tanzaufführungen
  3. Der zweite Weg zum Einstellungswandel: Aktive Teilnahme an fähigkeitsgemischten Tanzensembles
  4. Zusammenfassung und Ausblick
  5. Literatur

1. Einleitung

Tanzensembles, in denen Künstlerinnen und Künstler mit und ohne Behinderung arbeiten, sind inzwischen fester Bestandteil der öffentlichen Tanzkultur. Sehgewohnheiten und bewegungsästhetische Vorlieben von Zuschauern werden bei Aufführungen nicht selten auf den Prüfstand gestellt, was zur Auseinandersetzung mit eigenen Einstellungen und Vorurteilen gegenüber Menschen mit Behinderungen anregt. Statt der gewohnten „perfekten Tanzkörper“ werden in körperlichen und/oder kognitiven Funktionen beeinträchtigte Tanzkünstlerinnen und Tanzkünstler auf der Bühne sichtbar. Doch reicht das zunehmende Mehr an künstlerischer Präsenz in der Öffentlichkeit aus, um Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderung abzubauen? Immerhin unterbrechen die Tanzensembles durch ihre öffentlichen Auftritte typische Ausgrenzungsmechanismen der westlichen Gesellschaft, die da lauten: Wer das geforderte Maß an Leistungsfähigkeit, Perfektion, Schnelligkeit oder Schönheit nicht erfüllen kann, wird ausgeschlossen (vgl. Gipser 2009, S. 137ff). Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) fordert seit langem die Bekämpfung von Vorurteilen und schädlichen Praktiken gegenüber Menschen mit Behinderungen (Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen), da diese zu den gravierendsten Barrieren für soziale Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zählen. Tanzkünstlerischen Aktivitäten wird in diesem Zusammenhang das Potenzial zugesprochen, Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderungen abbauen und Einstellungen ändern zu können. „The arts and dance in particular, provide an environment where current prejudices might be undermined and new perspectives received and explored.” (Benjamin 2002, S. 72; zit. in Zitomer & Reid 2011, S.151; vgl. Sauter Schiffbruch… in dieser Ausgabe)
Tanzensembles, in denen Menschen mit Behinderung tanzen, sind damit i.S. der UN-BRK Teil der Bildungskette, die zu einem Bewusstseins- und Einstellungswandel der Gesellschaft und damit zur Verbesserung der sozialen Teilhabechancen behinderter Menschen beitragen können. Ein solcher Einstellungswandel kann im tanzkünstlerischen Kontext über zwei Wege gefördert werden: Durch das Anschauen von Tanzaufführungen, an denen Tänzer mit Behinderung teilnehmen sowie durch die eigene aktive Teilnahme an fähigkeitsgemischten Tanzensembles.

2. Der erste Weg zum Einstellungswandel: Das Anschauen von Tanzaufführungen

Das Tanzen behinderter Menschen auf der Bühne stellt die Rezeption von Tanzstücken vor neue Herausforderungen. Es werden „neue Körper“ sichtbar, die sonst eher nicht zu sehen sind, „die Körper behinderter Menschen – Körper also, die im Tanzgeschehen neu gesehen werden können.“ (Kuppers 2003a, S. 159) Die Konfrontation mit den „neuen Körpern“ löst nicht selten eine Auseinandersetzung mit eigenen Einstellungen, insbesondere eigenen Vorurteilen gegenüber Menschen mit Behinderung aus. Exemplarisch werden im nächsten Abschnitt einige empirische Studien dargestellt, die sich mit dieser Thematik beschäftigen (Kap. 2.1). Anschließend werden mit dem Konzept der Körperresonanzen und dem der kinästhetischen Empathie zwei Mechanismen vorgestellt, die die Möglichkeit eines Einstellungswandels durch Tanzrezeption erklären helfen (Kap. 2.2).

2.1 Empirische Studien

Gregory (1998) ließ insgesamt 96 Probanden unterschiedlichen Alters (32 Schüler der mittleren Schule, 32 Schüler der höheren Schule, 32 Studenten eines Musikcolleges) zwei verschiedene Videoaufnahmen anschauen. Eines zeigte eine klassische Ballettaufführung, das andere eine Tanzaufführung, bei der auch Tänzer in Rollstühlen integriert waren. Gleichzeitig sollten die Probanden ihre emotionalen Reaktionen auf einer Skala mit einem negativ-positiv-Kontinuum (Continuous Response Digital Interface, CRDI) einschätzen. Lediglich das Alter (und nicht Geschlecht oder eigene Erfahrungen mit Behinderung bzw. Tanz) zeigt signifikant einen Einfluss auf das Rating. Die älteren Probanden beurteilten die fähigkeitsgemischte Tanzaufführung positiver als ihre jüngeren Kommilitonen. Dieser Befund unterstützt die Auffassung aus der Einstellungsforschung, dass die Grundlagen für eine positive Einstellung gegenüber Menschen mit Behinderung bereits in frühester Kindheit erfolgen sollte (Cloerkes 2001, S. 107). Gregory fand weiterhin, dass das wiederholte Anschauen von Tanzstücken mit behinderten Tänzern dazu führen kann, dass sich gegenüber einer bis dahin wenig bevorzugten Kunstform eine positive Haltung entwickeln kann. Besonders scheint es dazu zu führen, dass positive Einstellungen gegenüber gemeinschaftlichen Bemühungen gestärkt werden (1998, S. 282). Quinlan & Bates (2008) untersuchten die Reaktionen von Journalisten und Bloggern auf die Sendung „Dancing with the Stars“, in der Heather Mills, die Exfrau von Beatle Paul McCartney, mit einer sichtbaren Behinderung (einer Unterschenkelamputation nach einem Motorradunfall) auftrat und tanzte. Sie kristallisierten drei Themen aus den Diskussionsforen heraus:

    1. Die Wahrnehmung einer Person mit Behinderung, hier Heather Mills, als „Superkrüppel“ („supercrip“), also als jemand, „who has excelled so much in spite of his or her handicap that others who do not measure up are regarded as inadequate.“ (Nelson 1994, zit. in Quinland & Bates 2008, S. 68)
    2. Die Vorteilsverschaffung durch die Rolle als Behinderte i.S. eines Krankheitsgewinns sowie
    3. Die Sexualisierung des behinderten Körpers. Menschen mit Behinderung werden häufig auf die in dieser Untersuchung herausgefundenen Weisen wahrgenommen, was entsprechende zugrundeliegende Einstellungen der Betrachtenden vermuten lässt. Diese wirken sich folgerichtig auch auf die Tanzrezeption aus.

Für Kuppers (2003b) liegt eine der größten Barrieren für eine vorurteilsfreie Tanzrezeption darin, dass die meisten Menschen schon von frühester Kindheit an mutmaßlich von einer grundsätzlichen Unterschiedlichkeit bzw. Andersartigkeit menschlicher Körper ausgehen, so gibt es beispielsweise „den fähigen“ und „den nicht fähigen“ oder „den klassischen“ und „den grotesken“ Körper. Solche Vor-Einstellungen führen Kuppers zufolge dann zu unangenehmen oder befremdlichen Gefühlen der Zuschauer gegenüber einem Tänzer mit Behinderung auf der Bühne. Whatley (2007) konnte diese Vorannahme einer Unterschiedlichkeit, sei sie bewusst oder unbewusst, in einer empirisch-qualitativen Studie (Diskussion) mit Studierenden, die über ihre Reaktionen auf eine Aufführung mit behinderten Tänzern (disability performance) berichteten, bestätigen. Auch zeigte sich, dass sich ästhetische Prioritäten und damit verbunden das sog. „Idealbild“ eines Tänzers mit der Häufigkeit des Anschauens fähigkeitsgemischter Tanzensembles allmählich verändern können. Darüber hinaus identifizierte sie fünf Strategien des Zuschauens: der ersten Strategie – „passive oppressive“ – liegt eine voyeuristischen Grundhaltung zugrunde, die den ehemaligen „Freakshows“ oder dem „medizinischen Theater“ ähnelt, in denen Menschen mit einer Behinderung quasi „ausgestellt“ und als minderwertig betrachtet werden. Werden Stücke gedeutet, so überwiegt eine bedrückende, eher beklemmende Interpretation vor. Bei der zweiten Strategie – „passive conservative“ – werden Tänzer mit einer Behinderung diskriminierend angestarrt, ohne dass es zu einem direkten Kontakt oder zur Konfrontation kommt. Stückinterpretationen basieren in der Regel auf dem klassischen, ästhetischen Ideal. Die dritte Strategie – „post-passive“ – versucht, die Behinderung des Tänzers als Beurteilungskategorie komplett zu streichen. Erst bei den folgenden beiden Strategien scheint es sich um eher vorurteilsfreie, positive Einstellungen beim Zuschauen zu handeln: „active witness“ bedeutet eine aktive engagierte Strategie des Beobachtens, bei der Behinderung als „normal“ gedeutet wird, die Stückinterpretation ist sehr offen, was einen radikalen Umschwung im Verständnis von Ästhetik mit sich bringt. Bei der letzten Strategie – „immersion“ – werden eigene verkörperte Erfahrungen des Zuschauenden aktiviert (embodiment) und diese bilden die Basis für die Interpretation des Stückes.
Welche interaktiven Prozesse ereignen sich nun zwischen Zuschauenden und den tanzenden Akteuren mit einer Behinderung, die einen Einstellungswandel bewirken, zumindest begünstigen können? Fischer-Lichte spricht davon, dass es bei einer Aufführung zur Begegnung zwischen den „Akteuren“ und den „Zuschauenden“ kommt, die eine „leibliche Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern“ (2004, S. 58) darstellt. Diese „leibliche Ko-Präsenz“ führt letztlich zu körperlichen Resonanzen der Zuschauenden in Reaktion auf die Akteure und ihre Handlungen. „Während die Akteure handeln – sich durch den Raum bewegen, Gesten ausführen, das Gesicht verziehen, Objekte manipulieren, sprechen oder singen - , nehmen die Zuschauer ihre Handlungen wahr und reagieren auf sie. Zwar mögen diese Reaktionen teilweise rein ‚innerlich ablaufen, einen ebenso wichtigen Teil stellen jedoch wahrnehmbare Reaktionen dar: Die Zuschauer lachen, juchzen, [….], weinen, […] rutschen auf dem Stuhl hin und her, lehnen sich mit gespanntem Gesichtsausdruck vor oder mit entspanntem zurück, halten den Atem an und werden beinah starr […].“ (Fischer-Lichte 2004, S. 58) Die Bewusstwerdung der eigenen Resonanzen auf die möglicherweise befremdlichen Körper- und Bewegungsbilder auf der Bühne ist der erste Schritt, um Vorurteile abzubauen. Erst hierdurch wird es möglich, „die eigenen Urteile und Bewertungen kritisch auf ihre Rationalität, ihre Gerechtigkeit und Mitmenschlichkeit zu prüfen und die möglicherweise abweichenden Perspektiven anderer einzubeziehen.“ (Bergmann 2001)
Gerade diese letztgenannte Bedingung, also die Fähigkeit zur Perspektivübernahme, ist eng verbunden mit der Fähigkeit zur kinästhetischen Einfühlung. Die kinästhetische Einfühlung oder kinästhetische Empathie stellt einen weiteren Mechanismus dar, der beim Anschauen von Tanzaufführungen wirksam wird. Er besteht darin, dass die Zuschauenden sich in die Bewegungen der Akteure einfühlen und damit Informationen über deren innere Zustände bekommen. Theoretische Erklärungen hierfür liefert das Konzept der Spiegelneurone, auf das im folgenden Abschnitt näher eingegangen wird. Die beiden Mechanismen – Wahrnehmung eigener Resonanzen auf eine Darbietung sowie die kinästhetische Einfühlung/ Empathie – sind günstige Bedingungen für einen Einstellungswandel, die in tanzkünstlerischen rezeptiven, aber auch produktiven (s.u.) Prozessen gefördert werden können. Unter welchen Bedingungen es allerdings zu einem „Bumerang-Effekt“ (Cloerkes 2001, S. 109) kommt, bei dem bestehende Vorurteile durch das Anschauen behinderter Tänzer bekräftigt werden, bleibt noch zu klären.

2.2 Kinästhetische Empathie und Spiegelneurone

In der Tanzforschung wurde das Konzept der kinästhetische Empathie (kinesthetic empathy) häufig herangezogen, um die Reaktion von Zuschauern beim Anschauen von Tanz zu beschreiben. „Spectators frequently report that even while sitting still, they feel they are participating in the dance they observe, experiencing movement sensations and related feelings and ideas.” (Jola et al. 2012) Tanz, als eine primär kinästhetische Kunstform, legt es nahe, die Erfahrungen von Zuschauern beim Tanz in Bezug auf ihre Reaktionen und Resonanzen auf die Bewegung zu konzeptualisieren, insbesondere eignet sich hier das Konzept der kinästhetischen Empathie (Reason & Reynolds, 2010, S. 49). Kinästhetische Empathie wird heute als Folge der Wirkung von Spiegelneuronen betrachtet. Spiegelneurone werden immer dann aktiv, wenn eine Person die Bewegungen eines anderen Menschen beobachtet. Sie imitieren im Gehirn das, was die Person sieht. „Damit wird die präzise Information über das, was wir sehen, auf unsere Motoneurone übertragen, so dass wir an den Handlungen der anderen Person teilnehmen, als ob wir sie selbst ausführen […]. Die Spiegelneuronen sorgen dafür, dass Gefühle ansteckend wirken; dank ihrer Aktivität empfinden wir mit anderen mit, synchronisieren unsere Empfindungen und können den Gang der Dinge verfolgen. Dabei ‚empfinden‘ wir die anderen im weitesten Sinne des Wortes; wir empfinden ihre Gefühle, ihre Bewegungen und ihre Emotionen, während diese in uns wirksam sind.“ (Goleman 2006, S. 67-68) Die Identifikation mit dem inneren Zustand der anderen Person erzeugt eine „gemeinsame Empfindung. Um einander zu verstehen, werden wir dadurch so wie der andere, zumindest ein Stück weit.“ (Goleman 2006, S. 69) Martin (1939, 55) spricht von „inner mimikry“ des Zuschauers einer Tanzaufführung (zit. in Reason & Reynolds 2010, S. 54). Das Hineinversetzen in den inneren Zustand einer Person wird auch als Empathie definiert. Baron-Cohen and Wheelwright definieren Empathie als „the drive or ability to attribute mental states to another person/animal, and entails an appropriate affective response in the observer to the other person’s mental state.” (2004, zit. in Jola et al. 2012, S.20)
Reason und Reynolds (2010) fanden heraus, dass es einen Zusammenhang zwischen kinästhetischer Empathie und Freude beim Betrachten eines Tanzstückes gibt. Jola et al. (2012) konnten das in einer qualitativen Studie bestätigen. Sie fanden, dass die Resonanzen von Zuschauern, denen eine Tanzaufführung gut gefiel, auch durch ein starkes kinästhetisches und empathisches Engagement geprägt waren (Jola et al 2012, S. 33).
Es bleibt weiteren Untersuchungen überlassen ausführlicher zu untersuchen, welche Konsequenzen sich aus den dargelegten Erkenntnissen für die Förderung eines Vorurteilsabbaus durch Tanzrezeption ergeben. Ansatzpunkte hierzu – im Sinne eines umfassenden Bildungsverständnisses – wären sicherlich die Förderung eigener Bewegungs- bzw., Tanzerfahrungen, eben auch bei Zuschauern, um kinästhetische Empathie zu fördern. Weiterhin wäre es wichtig, gerade bei denjenigen, die erst beginnen, sich mit fähigkeitsgemischter Tanzkunst zu beschäftigen, möglichst freud- und lustvolle Tanzstücke als Einstieg anzuschauen.

3. Der zweite Weg zum Einstellungswandel: Aktive Teilnahme an fähigkeitsgemischten Tanzensembles

Der zweite Weg, Einstellungen im Bereich der Tanzkunst zu verändern, ist die aktive Teilnahme an fähigkeitsgemischten Tanzensembles. Royston Maldoom beschreibt in seiner Biographie (2010, S. 246-247) anschaulich, wie durch ein Tanzprojekt Vorurteile von jugendlichen Schulverweigerern gegenüber Kindern mit Behinderung abgebaut und in respektvolle Einstellung umgewandelt werden konnten. Bewegungsbasierten Interaktionsprozessen in Trainings- und Aufführungssituationen scheint dabei eine bedeutende Funktion zuzukommen, indem sie helfen, gegenseitiges Vertrauen, Kooperations- und Empathiefähigkeit zu entwickeln. Auch hierzu finden sich empirische Belege. McGarry & Aubeeluck (2013) konnten zeigen, dass Teilnehmer an einem Tagestanzworkshop, an dem auch Menschen mit einer Lernbehinderung teilnahmen, ein besseres Verständnis für Themen wie Empathie, Würde, Stigmatisierung und sozialen Ausschluss haben. Eine Studie von Zitomer & Read (2011) zeigte an einer Gruppe von Kindern mit und ohne Behinderung im Alter von sechs bis neun Jahren, dass sich durch ein zehnwöchiges integratives Tanzprogramm die Wahrnehmung der tänzerischen Fähigkeiten behinderter Kinder von Kindern ohne Behinderung verbessert hat.
Es versteht sich von selbst, dass an die Leitung einer fähigkeitsgemischten Tanzgruppe besondere Anforderungen gestellt werden. Sie muss über eine Einstellung verfügen, die Vielfalt akzeptiert und wertschätzt, Fehler tolerieren und kreativ nutzen kann und Vertrauen in die Entwicklungsfähigkeit und Potenziale aller Teilnehmer hat. Weiterhin braucht sie spezifische Kompetenzen und Interventionsstrategien, um den intendierten Einstellungswandel in Tanzensembles zu vermitteln (Elin & Boswell 2004; Quinten Fähigkeitsgemischtes Tanzensemble sucht… in dieser Ausgabe).
Als Rahmentheorie zur Erklärung, wie durch aktive Teilnahme an fähigkeitsgemischten Tanzgruppen negative Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderung verändert werden können, bietet sich die Kontakttheorie an, die 1954 von Gordon Allport entwickelt und in der Folge von anderen Forschern weiter ausgestaltet worden ist (Allport 1971; vgl. Stürmer 2008) [1]. Sie gibt Hinweise auf diejenigen Bedingungen, die in zwischenmenschlichen Kontakten den Abbau von Vorurteilen erleichtern können. Tänzerische Kontakte erfolgen primär im Medium der Bewegung und verfügen damit über ganz spezifische Kontaktqualitäten. Bevor darauf näher eingegangen wird (Kapitel 3.2), werden im folgenden Abschnitt die wichtigsten theoretischen Grundlagen zum Begriff des Vorurteils und zur Kontakttheorie zusammengefasst.

3.1 Theoretische Grundlagen zum Begriff des Vorurteils und zur Kontakttheorie

Unter einem Vorurteil kann eine „negative Einstellung oder Empfindung einer sozialen Gruppe und ihren Mitgliedern gegenüber“ (Turner & Hewstone 2012, S. 318) verstanden werden. Vorurteile gehen mit negativen Gefühlen (z.B. Abneigung, Furcht), negativen Überzeugungen (Stereotypen) sowie mit diskriminierenden Verhaltensabsichten wie Kontaktvermeidung oder Dominanzgebaren einher (Gerrig & Zimbardo 2008, S. 653). Dadurch bewirken sie fast immer Ausgrenzung und verhindern, dass Zuwendung und Verbindung unter Menschen entstehen können. Cloerkes (2001) hat wirksame Strategien der Einstellungsänderung gegenüber Menschen mit Behinderungen zusammengetragen [2]. Hierzu gehören beispielsweise der Einsatz von Informationsprogrammen, Simulation des Behindert-Seins bzw. Rollenspiel, das Zulassen originärer Reaktionen wie das Anstarren, die Veränderung des normativen Kontextes und nicht zuletzt Maßnahmen zur Kontaktförderung. Grundlage für die meisten kontaktfördernden Maßnahmen zur Einstellungsänderung ist die Kontakthypothese Allports, die bezogen auf Menschen mit Behinderung wie folgt lautet: „1. Personen, die über Kontakte mit Behinderten verfügen, werden günstigere Einstellungen gegenüber Behinderten zeigen als Personen, die keine derartigen Kontakte haben oder hatten. 2. Je häufiger Kontakt mit Behinderten bestanden hat, um so positiver wird die Einstellung des Betreffenden sein.“ (Cloerkes, 2001, S. 114)
Dabei kommt es besonders auf die Intensität und Qualität der Kontakte und ihre Bedingungen an: „Der positive Einfluss enger, intimer Beziehungen, insbesondere das Miteinander in einem gemeinsamen Lebensraum, ist wiederholt nachgewiesen worden. Der intensiven Beziehung müssen allerdings affektive, gefühlsmäßige Bindungen zugrunde liegen. ‚Freude am Kontakt‘ und ‚positive Gefühle‘ beim Zusammensein mit einem behinderten Menschen haben darum einen günstigen Einfluss auf die Einstellung. Kontakte mit Behinderten sollten des Weiteren freiwillig sein und die Möglichkeit eines ‚Ausweichens‘ in andere Sozialbeziehungen nicht ausschließen.“ (2001, S. 115)
Folgende Bedingungen sind zusammenfassend für eine gelingende Einstellungsänderung bedeutsam: relative Statusgleichheit aller Beteiligten, gemeinsame Ziele und Aufgaben, gemeinsame Kooperation, die Unterstützung durch Autoritäten, Freiwilligkeit, emotionale Fundierung, Erwartung einer ‚Belohnung‘ aus der sozialen Beziehung, sowie leistungsneutrales Klima (Allport 1971, Cloerkes 2001, S. 115; Stürmer 2008; zur kritischen Diskussion der Bedingungen siehe Pettigrew & Tropp 2006). Diese Kontaktbedingungen sind weitestgehend in fähigkeitsgemischten Tanzensembles mit einer überwiegend offen-kreativen Arbeitsweise vorhanden. In der Regel kommen die Ensemblemitglieder freiwillig, sie setzen sich gemeinsame Ziele und Aufgaben z.B. die Erarbeitung eines Tanzstückes oder die Vorbereitung einer Aufführung. In der Regel sind alle Mitglieder gleichberechtigt und unter Berücksichtigung ihrer Fähigkeiten und Bedürfnisse in die Kooperation eingebunden. Respekt und Wertschätzung von Verschiedenheit sowie eine sinnstiftende, von Innovation und Kreativität geprägte Haltung prägen den normativen Kontext anstelle einer, nur an Leistung orientierten, Wertestruktur.
Neue Kontakte mit Menschen mit einer Behinderung erfordern oftmals auch neue Verhaltensweisen, die den ursprünglichen Vorurteilen widersprechen (Stürmer 2008, S. 286). Sind diese neuen Erfahrungen positiver und bereichernder als die bisher gängigen Handlungsmuster, dann können sich auf dieser Basis neue Bewertungen und innere Einstellungen ausbilden. Nicht durch Druck oder Belehrungen, sondern durch neue, am eigenen Leib gemachte, also unter die Haut gehende Erfahrungen sind Einstellungsänderungen möglich (Hüther 2012). Tanzkünstlerische Aktivitäten im Miteinander stellen eine Fülle solcher Erfahrungsmöglichkeiten am eigenen Leib bereit. Unterstützt werden Veränderungsprozesse auch durch den Aufbau affektiver Bindungen. Positive Kontakterfahrungen in der Gruppe fördern Empathie und Vertrauen untereinander und helfen so, gegenseitige Vorurteile abzubauen (Stürmer 2008, S. 286). Im folgenden Abschnitt werden nun die besonderen Kontaktqualitäten von fähigkeitsgemischten Tanzensembles differenzierter untersucht.

3.2 Welche besonderen Kontaktqualitäten sind in fähigkeitsgemischten Tanzensembles vorhanden?

Wie kann man an Vorurteilen gegen jemanden festhalten, den man berührt und gehalten hat, auf den man sich körperlich eingelassen hat? (Maldoom 2010, S. 273)
Die Art und Weise, wie im fähigkeitsgemischten Tanz Kontakte gestaltet werden, wird maßgeblich von den durch die Gruppenleitung ausgewählten Methoden und der Settinggestaltung beeinflusst. In diesem Sinne beschreibt Maldoom, wie es zum Abbau von Vorurteilen in einem seiner Tanzprojekte kam: „Anfängliche Vorbehalte lösten sich nach ein paar Kennenlernspielen und einfachen Vertrauensübungen – Hebungen, Gewicht abgeben, als Paar oder Gruppe bestimmte Figuren darstellen (…).“ (Maldoom 2010, S. 248-249)
Und weiter: „Wir lernen, anderen Raum zu geben, sie zu respektieren und unseren eigenen Raum zu finden. Wir verhandeln, machen Kompromisse und arbeiten zusammen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen und dabei unsere eigene Identität nicht zu verlieren. Wir suchen gemeinsam nach kreativen Lösungen für künstlerische Herausforderungen. Wir lernen zu vertrauen, andere zu halten und zu heben und, was genauso wichtig ist, einander zu berühren. Durch das Berühren und Tragen anderer können wir uns wohler fühlen mit bestehenden Unterschieden. Das gilt vor allem in Konfliktsituationen, in denen Tanz Harmonie und Akzeptanz fördern kann. Wie kann man an Vorurteilen gegen jemanden festhalten, den man berührt und gehalten hat, auf den man sich körperlich eingelassen hat?“ (Maldoom 2010, S. 273) Zur Beantwortung dieser Frage könnten neuere Befunde aus der Embodimentforschung Anregungen geben.

3.2.1 Befunde aus der Embodimentforschung

Neuere Befunde aus der Embodimentforschung unterstützen die Annahme, dass durch bestimmte Bewegungen und Körperhaltungen Einstellungen geändert werden können (Koch 2011; Storch et al. 2010). „Embodiment-Theorien gehen davon aus, dass höhere kognitive Prozesse wie etwa Denken und Sprechen auf der Grundlage partieller Reaktivierungen von Arealen in den sensorischen, motorischen und affektiven Systemen durchgeführt werden (Wilson 2002).“ (Koch 2011, S. 52) Nachweislich wirken sich Körperhaltungen auf Affekte, auf Einstellungen und auf Gedächtnisleistungen aus. So können beispielsweise einfache Armbewegungen je nach Bewegungsrichtung – vom Körper weg oder zum Körper hin – unterschiedliche affektive Zustände und Einstellungen auslösen (Koch 2011, S. 57). „Im Rahmen der Körperfeedbackforschung gibt es den bekannten Effekt, dass Armbeugung und Armstreckung als Operationalisierung von Annäherungs- und Vermeidungsverhalten bzw. von Bewegungen zum Körper hin und vom Körper weg die Einstellungen gegenüber vorher valenzfreien chinesischen Schriftzeichen beeinflusst.“ (Koch 2011, S. 64)
Koch konnte darüber hinaus nachweisen, dass auch spezifische Bewegungsformen und Bewegungsdynamiken Einstellungen, Affekte und die Erinnerung beeinflussen. Kritisch ist allerdings anzumerken, dass die bisherigen Erkenntnisse auf recht einfachen Versuchsanordnungen unter Laborbedingungen basieren. Im Zusammenhang mit der Fragestellung des vorliegenden Beitrages wäre es interessant zu untersuchen, wie sich die – allerdings sehr komplexe – Situation des tänzerischen Miteinander-Bewegens auf die Einstellungen der beteiligen Personen auswirkt. Konkret könnte im Kontext fähigkeitsgemischter Tanzarbeit der Frage nachgegangen werden, wie sich verschiedene Formen des Miteinander-Tanzens wie beispielsweise sich synchron in Rhythmus und Form miteinander bewegen, sich heben, sich gegeneinander lehnen, sich ziehen, gegeneinander ankämpfen usw. auf Einstellungen gegenüber Menschen mit einer Behinderung auswirken.

3.2.2 Kontaktnahme als kreativer Prozess

Die Arbeitsweisen, die in mixed-abled Tanzensembles am häufigsten verwendet werden, entstammen dem zeitgenössischen Tanz und der Kontaktimprovisation und verwenden in der Regel offene Bewegungs- und Problemlöseaufgaben, einem Charakteristikum des kreativen Tanzes sowie der Tanzimprovisation. Die Kontaktimprovisation „basiert auf einer zwischen zwei oder mehreren Tänzern ausgeführten Bewegungstechnik des direkten, sinnenintensiven und weitflächigen Körperkontakts. Kaum kompositorisch strukturiert, entwickelt sich ein radikal demokratischer Tanzstil.“ (Huschka 2002, S. 274) „Das Tanzen, meist in Duos oder in kleinen Gruppen, initiiert ein fluktuierendes Zusammenspiel der Eigengewichte der beteiligten Tänzer, wodurch Bewegungsabläufe des gegenseitigen und miteinander ausgeführten Lehnens, Hebens, Gleitens, Rutschens, Balancierens, Sich-Verschlingens, Verhakens, Führens, Schleuderns, Ziehens usw. entstehen, entsprechend dem Können und der situativ geleisteten Aufmerksamkeit der Tänzer.“ (ebd.)
Daniel Stern hebt als wesentliches Kennzeichen der Kontaktimprovisation hervor, dass die Tanzaktionen „in erster Linie die Dynamik der Herstellung und Unterbrechung des körperlichen Kontakts zwischen zwei in spontaner Bewegung begriffenen Körpern betrifft […]. Man weiß nicht, was als nächstes passieren wird; jede Aktion wird quasi an Ort und Stelle von beiden Beteiligten gemeinsam hervorgebracht und hängt von dem unmittelbar vorangegangenen Geschehen ab.“ (Stern 2011, S.115) Wesentlich richtet sich die Kontaktgestaltung also nach den Fähigkeiten und Bedürfnissen der jeweils beteiligten Tänzer in der spezifischen Situation. Dies ist sicherlich mit einer der Hauptgründe, weshalb sich die Arbeitsweisen der Kontaktimprovisation in fähigkeitsgemischten Ensembles wiederfinden, explizit beispielsweise in dem Konzept DanceAbility. Die Verwendung offener Bewegungsaufgaben, deren Wurzeln bis in den Ausdruckstanz des 20. Jahrhunderts zurückreichen, ermöglichen ebenfalls eine am Subjekt orientierte, für die jeweiligen Fähigkeiten und Bedürfnisse stimmige und kreative Form des Miteinander zu finden (vgl. Quinten 2013). Das bedeutet: Kontaktgestaltung im fähigkeitsgemischten Tanz ermöglicht größtmöglichen Einbezug sämtlicher physischer und psychischer Fähigkeiten und Bedürfnisse aller Gruppenteilnehmer und deren Transformation in kreative-tänzerische Begegnungsmomente und/ oder bleibende tänzerische Gestaltungen.

3.2.3 Kontakt im Medium Bewegung

Die Kontakte im Tanz sind nonverbal, überwiegend im Medium der Bewegung. Das hat verschiedene Auswirkungen auf die Qualität der Kontakte und was durch sie bewirkt werden kann. Alle, besonders die frühkindlichen Beziehungserfahrungen, werden einschließlich den dabei gemachten, emotionalen Erfahrungen im impliziten Beziehungsgedächtnis abgespeichert. In der Regel sind diese unbewusst (vgl. Wöller & Kruse 2007). Es kann vermutet werden, dass durch die Stimulierung einer positiven Beziehungserfahrung durch das Tanzen ein ganzes Netzwerk an Ressourcen und Kompetenzen aktiviert und fehlende Kompetenzen nachentwickelt werden können (vgl. Wöller & Kruse 2007, S. 18). Arbeitsblockaden und Rückzug aus der gemeinsamen Arbeit ließen sich hiermit ebenfalls erklären.

3.2.3.1 Kontaktnahme durch Kinästhetische Einfühlung

Neben Improvisation und dem Einsatz offener Bewegungsaufgaben werden in fähigkeitsgemischten Tanzensembles auch Methoden eingesetzt, die auf der Nachahmung basieren (Imitation) und bei denen neue, von anderen Teilnehmern oder vom Leiter der Gruppe vorgeschlagene Bewegungen gelernt werden. Die eigene Aufmerksamkeit, der Blick, richtet sich auf die sich bewegende Person, man versucht, ihre Bewegungen zu erfassen und sich diesen anzuähneln, im Sinne der weiter oben beschriebenen „inner mimikry“. Diese Vorgänge gründen zu weiten Teilen auf den Mechanismen der Spiegelneurone und erfordern kinästhetische Einfühlung bzw. Empathie, wie bereits weiter oben ausführlicher beschrieben (Kap. 2.2). Auch Methoden wie das Führen und Folgen, aber auch Partner- und Gruppenimprovisationen gründen letztlich auf den Prozessen von kinästhetischer Einfühlung; denn um jemandem auszuweichen oder in Kontrast zu der Bewegung eines Mittänzers zu gehen oder auf ein Berührungsangebot zu reagieren ist es erforderlich, sich in den inneren Zustand des anderen zu versetzen. Nur so kann man dann schlussfolgern, wie dieser sich bewegen wird und entsprechend reagieren. All diese meist unbewussten, implizit ablaufenden Vorgänge fördern die kinästhetische Empathie und damit bilden sie eine wichtige Voraussetzung für Einstellungsänderungen.

3.2.3.2 Kontaktgestaltung mit Affektbeteiligung

Ein weiteres Merkmal der Kontaktgestaltung bei Tanzaktivitäten ist deren große Nähe zur Affektivität. Im Tanzen werden häufig freudvolle, lustbetonte Erfahrungen gemacht. Es kann vermutet werden, dass durch die nonverbalen, spielerisch-experimentellen Tanzaktivitäten frühkindliche positive Bewegungs- und Interaktionserfahrungen aus dem Körpergedächtnis stimuliert werden. Und dass damit verbunden ein ganzes Netzwerk an Ressourcen und Kompetenzen aktiviert wird (vgl. Wöller & Kruse 2007, S. 18). Eine spezielle Situation im Rahmen der tänzerischen Kontaktgestaltung stellen Annäherungen und Distanzierungen von zwei oder mehreren Tanzenden dar. Die Regulierung von Distanz und Nähe im Kontakt ist dabei in der Regel eng mit dem Affektausdruck verbunden (Downing 2006, S. 334). Für die vorliegende Frage, inwieweit Tanzkontexte günstige Kontaktbedingungen für Einstellungsänderung bieten, sind die Stimulierung frühkindlicher positiver Interaktionserfahrungen sowie der Zusammenhang von Nähe-Distanzregulierung und Affektausdruck von Bedeutung. Positive Gestimmtheit ist eine günstige Voraussetzung für Veränderungsprozesse, also auch für Einstellungsänderung. In Bezug auf Tanz schreiben Zitomer & Reid: „Enjoying the context in which the contact situation occurs is imperative for the contact to be effective in re-evaluating in-group and out-group norms […]. Dance as an enjoyable activity was reflected in all children’s responses as they used the word ‚fun‘ repeatedly in various discussion phases.“ (Zitomer & Reid 2011, S. 147) Ebenfalls bedeutsam sind die Überlegungen zur Nähe-Distanz-Regulierung im Tanz, denn in dem Moment, indem negative Affekte entstehen, sind die Voraussetzungen für Einstellungsänderung im Tanzkontext eher schlecht.

4. Zusammenfassung und Ausblick

Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) fordert seit langem die Bekämpfung von Vorurteilen und schädlichen Praktiken gegenüber Menschen mit Behinderungen, da diese zu den gravierendsten Barrieren für soziale Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zählen. Tanzkünstlerischen Aktivitäten wird hier das Potenzial zugesprochen, Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderungen abbauen und Einstellungen ändern zu können. Tanzensembles, in denen Menschen mit Behinderung tanzen, sind damit i.S. der UN-BRK Teil der Bildungskette, die zu einem Bewusstseins- und Einstellungswandel der Gesellschaft und damit zur Verbesserung der sozialen Teilhabechancen behinderter Menschen beitragen können. Ein solcher Einstellungswandel kann im tanzkünstlerischen Kontext über zwei Wege gefördert werden: Durch das Anschauen von Tanzaufführungen, an denen Tänzer mit Behinderung teilnehmen sowie durch die eigene aktive Teilnahme an fähigkeitsgemischten Tanzensembles. Im Zusammenhang mit der Tanzrezeption wurden die Konzepte der kinästhetischen Empathie und der Körperresonanz auf ihr einstellungsänderndes Potenzial hin näher beschrieben. Die hier dargestellten Erklärungsansätze könnten als Grundlage dienen, um Maßnahmen für eine Einstellungsänderung und für einen Vorurteilsabbau durch Tanzrezeption zu konzipieren. Ansatzpunkte hierzu könnten in der Motivierung von Zuschauern bestehen, selbst eigene Tanzerfahrungen zu sammeln, um die kinästhetische Einfühlung und damit Empathie zu fördern. Weiterhin wäre es wichtig, gerade bei denjenigen, die erst beginnen, sich mit fähigkeitsgemischter Tanzkunst zu beschäftigen, möglichst freud- und lustvolle Tanzstücke als Einstieg auszuwählen.
Im Rahmen der aktiven Teilnahme an fähigkeitsgemischten Tanzgruppen wurde die spezifische Art des Kontaktes – im Medium der Bewegung, embodied, affektiv – untersucht und ebenfalls mit Blick auf einstellungsänderndes Potenzial diskutiert. Zukünftige Forschung könnte hier untersuchen, ob spezifische Formen des Miteinander-Bewegens Einstellungsänderungen bewirken können.
Letztlich soll nicht unerwähnt bleiben, dass es Menschen zu geben scheint, die ein hohes Maß an Vorurteilsfreiheit besitzen (Gerrig & Zimbardo 2008, S. 654-655) und es kann vermutet werden, dass die Mitglieder von mixed-abled Tanzgruppen zu jenen Menschen gehören, die ein hohes Maß an Vorurteilsfreiheit auszeichnet – was ebenfalls empirisch zu überprüfen wäre.

5. Literatur

Allport, G.W. (1971). Die Natur des Vorurteils. Köln u. Berlin: Kiepenheuer & Witsch.
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[1] „Dance can provide an appropriate environment to explore Allport’s conditions to reduce prejudice. Moreover, exposure to integrated dance may positively impact perceptions of dance ability and disability regardless of participants‘ previous contact experiences (Kremer2005).” (Zitomer & Reid 2001, S. 140)
[2] Cloerkes zufolge sollten die Änderungsstrategien bereits in der Kindheit beginnen und „in ein Gesamtkonzept zur Förderung mitmenschlicher Toleranz eingebunden sein.“ (Cloerkes 2001, S. 106) – auf Seiten der Menschen mit Behinderungen werden die Stärkung deren Handlungskompetenz und Selbstwertgefühl als hilfreich für den Vorurteilsabbau genannt (Cloerkes 2001, S. 121; Prengel, zit. in Gipser 2009, S. 141).