Abstract: Die Begriffe „Inklusion“ und „Exklusion“ haben eine lange Geschichte in der Sozialen Arbeit. Trotz der intensiven Debatten, die sich mit der Komplexität und der Problematiken dieser Begrifflichkeiten in der Sozialen Arbeit beschäftigt haben, erfreuen sie sich anhaltender Beliebtheit und werden gerne in die simple Formel gefasst, Soziale Arbeit sei eine „Inklusionstätigkeit“. Dieses Angebot an das Selbstverständnis der Sozialen Arbeit geht allerdings an den erheblichen Problemen, die mit diesem Anspruch verbunden sind, vorbei. Diese Probleme sind nicht nur von theoretischer, sondern auch von praktischer Relevanz, da sich das Vorgehen in der Praxis je nach dem Verständnis davon, wer auf welche Weise „exkludiert“ ist und was es bedeutet, zu „inkludieren“ anders gestalten wird. Der vorliegende Text nimmt am Beispiel von Luhmann und Foucault zwei verschiedene Verständnisse von Exklusion und Inklusion ein weiteres Mal auf, befragt sie auf ihren politischen Gehalt und schließlich auf ihre Bedeutung für Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit.
Stichworte: Inklusion; Exklusion; Soziale Arbeit; Luhmann; Focault
Ausgabe: 1/2013
„Exklusion“ ist parallel zu einer jahrzehntelangen Karriere in den Sozialwissenschaften auch zu einem zentralen Begriff in der Sozialen Arbeit geworden. „Soziale Exklusion“ wurde zu der Kernproblematik der Sozialen Arbeit erklärt (Sheppard 2007, 5ff.) und soziale Ungleichheits- und Ausschließungsverhältnisse zu ihrem zentralen Gegenstand (vgl. Anhorn et al. 2008, 10ff.). Trotz dieser zentralen Positionierung des Exklusionsbegriffs wurde von Anfang die Unschärfe der Begriffsverwendung und die damit einhergehende relative Beliebigkeit seiner Verwendung beklagt. In der Folge kam es zu einer Flut von Vorschlägen, Exklusion und Inklusion zu theoretisieren und für die Soziale Arbeit fruchtbar zu machen. Auch wenn die Soziale Arbeit primär praktische Interessen verfolgt, kann sie sich, wie Anhorn betonte (vgl. Anhorn 2008, 37), nicht mit einem ungefähren und theoretisch unpräzisen Verständnisses der Begrifflichkeit begnügen. Insbesondere ist bedeutsam, dass verschiedene Verständnisse von Exklusion auf dem Hintergrund ihres geschichtlich-gesellschaftlichen Entstehungskontextes verstanden werden müssen, will Soziale Arbeit nicht unreflektiert jeweils vorherrschende politische, organisationsspezifische oder auch persönliche Relevanzstrukturen reproduzieren. Mit andere Worten: Die Beschäftigung mit der Begrifflichkeit ist wesentlich, da „Exklusion“ nichts ist, was „draußen in der empirischen Wirklichkeit“ unmittelbar wahrzunehmen wäre. „Exklusionen“ drängen sich uns nicht auf oder in den Worten von Levitas: Die zentrale Frage ist nicht: „Was ist Exklusion?“. Die Frage ist vielmehr umgekehrt zu stellen: Welche Phänomene wollen wir aus welchen Gründen mit dem Begriff der „Exklusion“ auf welche Art und Weise konstruieren und als wesentlich hervorheben (vgl. Levitas 1998)? Der Begriff der Exklusion konstruiert soziale Probleme auf spezifische Weise und er konstruiert damit gleichermaßen die Möglichkeiten einer „Inklusion“ bzw. die praktischen und/oder politischen Reaktionsmöglichkeiten auf diese Probleme. Anders ausgedrückt: Verschiedene Ansätze werfen ein jeweils anderes Licht auf die soziale Welt und bieten verschiedene Verstehensweisen des Sozialen an. Der theoretische Ansatz legt fest, was und wie etwas überhaupt als empirisches Datum erscheinen kann und eröffnet in der Folge je verschiedene Perspektiven darauf, was „Exklusion“ und „Inklusion“ bedeuten soll (vgl. Farzin 2011, 21). Zentral für die Soziale Arbeit ist, dass die theoretische Klärung unmittelbar praxisrelevant ist, da sich an der Frage nach Bedingungsfaktoren und Hintergründen von Exklusion das praktische sozialpädagogische Vorgehen ausrichten wird und der jeweilige theoretische Ansatz die Verortungs- und Handlungsmöglichkeiten der Sozialen Arbeit rahmt.
Die Geschichte der Begrifflichkeit lässt sich, cum grano salis, in eine politische und akademische Debatte aufspalten, die jeweils verschiedenen Logiken, Ideologien und politischen Absichten folgt. In Deutschland findet sich der Begriff der Exklusion weniger in der politischen, als in der sozialwissenschaftlichen Debatte, wo er komplex und umstritten ist. Einigkeit besteht darüber, dass der Exklusionsbegriff notwendig auf seinen Komplementärbegriff der Inklusion verweist und ohne diesen nicht sinnvoll diskutiert werden kann und dass er räumliche Vorstellungen eines „Innen“ und „Außen“ hervorruft. Einigkeit besteht ebenfalls darüber, dass „Exklusion“ im Gegensatz zu den Kategorien der Ungleichheitsforschung, die eher statische Kategorien von „unten“ und „oben“ anbieten, Kontinuitäten und Brüche bzw. die Prozesshaftigkeit der gesellschaftlichen Verortung von Individuen und Gruppen in den Mittelpunkt gerückt wird. Schließlich wird „Exklusion“ regelmäßig als „mehrdimensional“ beschrieben. [1]D.h. die räumliche Vorstellung kann eine Gleichzeitigkeit von „Drinnen“ und „Draußen“, bezeichnen, kann ein Kontinuum von gesellschaftlicher Teilhabe und Ausgrenzung meinen, das von intervenierenden Variablen gekennzeichnet und am jeweils konkreten Fall zu analysieren ist: So sind neben dem klassischen Charakteristikum der „Armut“ als Exklusionskategorie weitere Kategorien zu bedenken, die andere als ökonomische Umstände mit einbeziehen wie z.B. Partizipationschancen auf der Grundlage von ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht oder soziale Nahbeziehungen.
Uneinigkeit besteht demgegenüber darüber, ob die verschiedenen, im Angebot befindlichen Ansätze theoretisch zusammengeführt werden können. Eine Synthese dieser Ansätze, die ihre Reichweite systematisch auswertet und zu einem einheitlichen Exklusionsbegriff führt, steht bislang aus und ist, so Farzins überzeugende Argumentation, aufgrund der damit verbundenen theoretischen Probleme weder zu erwarten noch sinnvoll. Das heißt, es sind auf Grundlage jeweils unterschiedlicher theoretischer Diskurse bzw. Problematisierungen des Sozialen verschiedene Definitionen von Exklusion zu berücksichtigen. Eine Annäherung an die Reichweite und die für die Soziale Arbeit und Sozialpädagogik zentrale praktische Relevanz des Begriffs bedeutet also im ersten Schritt, jene Theorien zu erörtern, die mit dem Begriff der Exklusion hantieren, zu zeigen, was in ihnen als „empirisches Datum“ thematisiert wird, wie sich dies wiederum auf das jeweilige Verständnis von „Exklusion“ auswirkt und welche Inklusionsstrategien daraus abgeleitet werden können. In Farzins Worten: „Was und vor allem wie soziale Exklusion theoretisiert wird, steht in direktem Zusammenhang mit den Metaphern des Sozialen, auf deren Grundlage die Ausarbeitung einer Theorie der Exklusion erfolgt“ (Farzin 2012, 25). Da das Interesse der Sozialen Arbeit der Lösung von Praxisproblemen gilt, lautet eine entscheidende Frage: Welche Theoretisierungen von Exklusion und Inklusion sind für die Praxis der Sozialen Arbeit brauchbar? Und: Wie wird die Soziale Arbeit selbst in den verschiedenen theoretischen Annäherungen verortet und welcher Platz wird ihr – implizit oder explizit - bei einer praktischen Bearbeitung von Exklusion und Inklusion zugewiesen? Schließlich kann nur ein Verständnis der jeweils relevanten theoretischen Ansätze deutlich machen, warum der Begriff der Exklusion auf völlig unterschiedliche empirische Phänomene angewandt und auf so heterogene gesellschaftliche Gruppen wie Langzeitarbeitslose, Behinderte, Migranten, Homosexuelle, Lesben, Transsexuelle oder ethnische Gruppen bezogen werden kann.
Betrachtet man die Exklusionsdebatte im Rahmen der Sozialen Arbeit in Deutschland, so besetzt die Luhmannsche Systemtheorie den prominentesten Platz und findet auch dann Eingang in die Diskussion, wenn, wie im Sammelband von Anhorn und Bettinger (wohl aus guten Gründen) der Begriff des „Ausschlusses“ anstelle des hierzulande einschlägig aufgeladene Exklusionsbegriffs verwendet wird (vgl. Anhorn/Bettinger 2008). Anhorn bescheinigt der Begriffsverwendung in der Sozialen Arbeit „empirische Unbestimmtheit“ und „universelle Einsetzbarkeit“, was ihn einerseits gerade für Praktiker/innen so attraktiv mache, andererseits aber dazu führe, dass er angefüllt sei mit „Sinn, Unsinn und Widersprüchlichkeiten“ (Anhorn 2008, 25).
Unsinn, Widersprüchlichkeiten und theoretische Undurchdringlichkeiten ergeben sich aus dem immer wieder vorfindbaren Versuch, das zu tun, was Farzin als prinzipiell nicht möglich bezeichnet, nämlich die Ansätze der Ungleichheitsforschung, Systemtheorie und des Poststrukturalismus zu einer Theorie der Exklusion zusammenzuführen. [2] Das stößt deshalb an Grenzen, da wir es mit Theoretisierungen von Exklusion und Inklusion zu tun haben, die sich zwar überschneiden und partiell verschiedene Seiten des gleichen in der Empirie wahrgenommenen Phänomens thematisieren, letztlich aber verschiedene Erklärungsangebote für unterschiedliche empirische Phänomene anbieten. Wenn im Folgenden zwei dieser Ansätze, die in der Sozialen Arbeit einen zentralen Stellenwert einnehmen, nämlich der von Niklas Luhmann und derjenige von Michel Foucault, ein weiteres Mal thematisiert werden, so nicht mit der Absicht, der Fülle an Exegesen eine weitere hinzuzufügen. Vielmehr soll die Frage der Bedeutung und Verortung der Sozialen Arbeit im Rahmen der Ansätze von Luhmann und Foucault weiter verfolgt und ihre Brauchbarkeit für eine Theoretisierung von „Exklusion“ im Rahmen der Sozialen Arbeit geprüft werden.
Die im deutschsprachigen Bereich zentralste Theorie, auf die sich Fragen von Exklusion und Inklusion im Rahmen der Sozialen Arbeit beziehen, ist Luhmanns Systemtheorie. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die im deutschen Kontext wohl komplexeste, unzugänglichste und von einigen Kritikern als esoterisch und aus logischen Gründen als problematisch bezeichnete Theorie sozialer Systeme (vgl. Obricht 2002; Sameisky 2002; Bühl 2003; z.T. auch Staub-Bernasconi 2000) , für die sog. Sozialarbeitstheorie in Deutschland zentrale Relevanz gewonnen hat – d.h., dass die „Angewandte Sozialwissenschaft“ , also eine primär an praktisch-empirischen Problemen ausgerichtete Disziplin, sich zu ihrer theoretischen Selbstbegründung einer der abstraktesten und empiriefernsten Theorien des Sozialen zu bedienen versucht. [3] Die Frage, ob die Systemtheorie Luhmannscher Prägung für Sozialpädagogik und / oder Soziale Arbeit einen geeigneten Ansatz darstellt und in der Lage dazu ist, die gesellschaftliche Position und die Problemstellungen dieser Disziplinen angemessen zu theoretisieren, kann als nach wie vor offene Frage angesehen werden – nicht zuletzt deshalb, weil zwischen Protagonisten und Gegnern der Verwendung dieser Theorie in der Sozialen Arbeit in den letzten Jahrzehnten kein nennenswerter Dialog stattgefunden hat (so blieben die Einwände von Obrecht 2002, Sameisky 2002 und Bühl 2003 - dieser nicht aus Perspektive der Sozialarbeit, sondern der Logik - weitgehend unbeantwortet). Im Folgenden soll – im Bewusstsein, dass damit eine verzweigte und hoch kontroverse Debatte notwendigerweise auf vergleichsweise einfache Formeln gebracht werden muss - der Blick verengt werden auf die für die Soziale Arbeit wesentlichsten Grundzüge der Exklusions-Argumentation.
Die „Exklusion“ der Systemtheorie hat nichts zu tun mit dem Alltagsverständnis von „Ausschluss“ oder der Nicht-Teilhabe bestimmter Gruppen aus dem gesamtgesellschaftlichen Kontext. Sie kommt im Rahmen der Systemtheorie vielmehr als Ausschluss aus den gesellschaftlichen Funktionssystemen vor. Systeme beziehen sich auf spezielle Funktionen mithilfe derer differenzierte Gesellschaften Problemlösungen vornehmen: Funktionssysteme wie das politische System, die Wirtschaft, das Rechtssystem, die Wissenschaft oder das Erziehungssystem haben die Funktion, Lösungen für gesellschaftlich wahrgenommene Problemlagen zur Verfügung zu stellen. Kommunikationen über diese Problemlagen werden innerhalb der Systeme über eine binäre Codierung geordnet, wie Macht/Nicht-Macht im politischen System, Zahlung / Nicht-Zahlung oder Profit / Nicht-Profit im Wirtschaftssystem oder Recht / Unrecht im Rechtssystem. Die Codierung der Systeme präjudiziert das, was sie gesellschaftliche Realität wahrnehmen können[4] und worüber sie kommunizieren können und begründet eine sog. „operative Geschlossenheit“ der Systeme. D.h., dass Systeme gegenüber anderen Systemen in vielfacher Hinsicht immun sind und ein System ein anderes in der Regel nicht dazu bewegen kann, sich seiner Codierung, man könnte vereinfacht auch sagen: seinen Relevanzkriterien, anzuschließen oder sie zu berücksichtigen. Anders ausgedrückt: Diese Systeme stellen verschiedene Welten dar, in denen soziale Probleme auf je spezifische Art und Weise konstruiert und bearbeitet werden: Die Politik hat nicht die Kommunikations- und damit Handlungsmacht, die Wirtschaft dazu zu veranlassen, mehr Arbeitsplätze zu schaffen; die Wissenschaft kann der Politik zwar Erkenntnisse anbieten (beispielsweise über die Gefährlichkeit von Niedrigstrahlung im Umkreis von Kernkraftwerken); das wird von der Politik kaum jemals in Handlung umgesetzt (und Luhmann kann sich hier durch empirische Erkenntnisse bestätigt sehen). [5]
Fragt man nach der Inklusion von Personen in die Gesellschaft, die, wie oben ausgeführt, als zentrale Aufgabe der Sozialen Arbeit formuliert wurde, so erfolgt sie aus Sicht der Systemtheorie in funktional differenzierten Gesellschaften im Rahmen der Funktionssysteme. Funktionssysteme interessieren sich, so die These der Luhmannschen Systemtheorie, nicht für die „ganze Person“; für sie kommt die Person nur im Rahmen der kommunikativen Logik des Systems vor, oder konkreter: Das Rechtssystem interessiert sich für die Person nur insofern, als sie in ihrem Kommunikationsmittel „Recht / Unrecht“ als bedeutsam auftaucht (klassischerweise als StraftäterIn) oder nicht. Ein Gefängnisinsasse ist somit nicht exkludiert – im Gegenteil: Er oder sie wird im Rahmen einer Haftanstalt in das Rechtssystem inkludiert, eine Bewegung, die als „inkludierende Exklusion“ beschrieben wird – allerdings denkbarerweise aus anderen Funktionssystemen exkludiert, so wenn ihm oder ihr z.B. das Wahlrecht – also die Teilnahme am Funktionssystem Politik, z.B. durch Aberkennung des Wahlrechts – entzogen wird. D.h. das funktional differenzierte Gesellschaftssystem stellt für alle wahrgenommenen bzw. beobachteten Problemlagen einen Inklusionsmechanismus zur Verfügung und ist somit auf Inklusion der Gesamtbevölkerung, also auf Vollinklusion, angelegt – wenn auch nicht als „ganze“ Person (womit sich der Inklusionsbegriff wesentlich von dem der „Integration“ unterscheidet). Inklusion ist eng an Beobachtung und Kommunikation gekoppelt: Probleme, die nicht beobachtet und kommuniziert werden können, sind weder der Wahrnehmung noch der Bearbeitung zugänglich und besitzen folglich keine soziale Realität; sie können nicht „existieren“. Und das heißt auch: Eine volle Exklusion kann es in funktional differenzierten Gesellschaften nicht geben. Exklusion kann nur beobachtet werden, wenn eine Person, die in mindestens ein Funktionssystem inkludiert, aus anderen exkludiert ist. D.h. auch in Fällen wie dem oben beschriebenen stehen die Betroffenen nicht „außerhalb“ der Gesellschaft – ihre Inklusion „nimmt nur eine andere Form an“ (Luhmann 1995, 263). Prinzipiell schließt die Logik der funktionalen Differenzierung gesellschaftliche Exklusionen aus (vgl. ebda 146). Was erlaubt dann die Differenzierung zwischen Inklusion und Exklusion? Die Antwort der Systemtheorie darauf lautet: Von Bedeutung ist die Art und Weise, in der Menschen als relevant erachtet werden. Die Funktionssysteme bestimmen jeweils das Ausmaß, in dem Personen als mitwirkungsrelevant erachtet werden und somit das Ausmaß bzw. die Art und Weise ihrer Inklusion (vgl. Luhmann 1997). Exklusion ist nicht per se als Problem anzusehen, sondern vielmehr integraler Bestandteil funktional differenzierter Gesellschaften.
Wesentlich für eine Beurteilung der Nutzbarmachung des theoretischen Zugangs für die Soziale Arbeit ist der Umstand, dass das, was innerhalb der Funktionssysteme als „Person“ erscheint, nicht eine Person in der Ganzheit ihrer sozialen, kulturellen oder psychologischen Aspekte ist, und auch Kategorien der Ungleichheitsforschung wie die Schichtzugehörigkeit dieser Personen irrelevant und im Rahmen dieses theoretischen Zugangs nicht thematisierbar ist. Vielmehr kommen Personen in den Systemen als sog. „soziale Adresse“ vor. „Adressabilität“ einer Person heißt, dass diese in einem Funktionssystem überhaupt eine Rolle spielt, oder anders gesagt: Adressabilität bedeutet die Herstellung der Teilnahmemöglichkeit an gesellschaftlicher Kommunikation und die soziale Adresse beschreibt den Grad der Inklusion in soziale Systeme. Innerhalb dieser Logik wird die Soziale Arbeit dann bedeutsam, wenn die Inklusion von Personen als „soziale Adressen“ in die Funktionssysteme gefährdet, eingeschränkt oder nicht vorhanden ist. Aufgabe der Sozialen Arbeit ist es demnach, das Klientel „adressabel“, also für relevante Funktionssysteme ansprechbar zu machen. Unabhängig von der ausführlich geführten Debatte, ob die Soziale Arbeit als primäres oder sekundäres Funktionssystem oder aber als Funktionssystem im Werden angesehen wird, wird Soziale Arbeit in je verschiedener Weise in Bezug zu Fragen von Inklusion und Exklusion gesetzt. Soziale Arbeit, so Bommes und Scherr, beschäftigt sich mit Individuen, die wiederkehrend von Exklusionen betroffen sind und somit Gefahr laufen, in eine Exklusionsdrift zu geraten und somit zum sozialen Problem werden können. Sie hat die Aufgabe, Exklusionsvermeidung, Inklusionsermöglichung und Exklusionsverwaltung zu betreiben (vgl. Bommes / Scherr 2000, 131f.), oder – so Fuchs aus theorieinternen Gründen abgeschwächter – die „Erzeugung bzw. Wiedererzeugung der Chance von Inklusion“[6] (Fuchs 2000, 161) – bewerkstelligen. Die Erfolgsaussichten für die Inklusionsermöglichung seitens der Sozialen Arbeit sind allerdings schlechterdings nicht kalkulierbar. Sie sind, so Baecker, eher zufällig. Denn: Da sich Soziale Arbeit auf Personen bezieht und diese „psychische Systeme“ sind, die wie jedes System (angeblich) autopoietisch funktionieren,[7] ist nicht vorhersehbar, ob dieses System anschlussfähig an Interventionen von SozialarbeiterInnen ist, so dass jegliches professionelle Handeln letztlich vertreten werden kann (vgl. Baecker 1994, 108). Ob die Soziale Arbeit überhaupt kommunikationsfähig mit ihrer Klientel ist, muss offen bleiben und hängt vom Einzelfall ab. In der Konsequenz bedeutet das, dass professionelles Handeln nicht vorhersehbar oder kalkulierbar ist: Ob ein psychisches System anschlussfähig, also offen für die Interventionen der Sozialen Arbeit ist, hängt weniger von der Qualifikation des Angebots als von der Anschlussfähigkeit des psychischen Systems ab.
Was die Funktionszuweisung an die Soziale Arbeit in der Praxis betrifft, so scheint ihre Entpolitisierung im Zuge dieses Ansatzes unvermeidbar. Auch wenn man Scherrs Forderungen ernst nimmt, sich nicht in einer defensiven Wendung gegen den systemtheoretischen Subjektbegriff zu ergehen (vgl. Scherr 2009, 172), so bleibt zu konstatieren, dass der für die Soziale Arbeit zentrale Zustand der „Hilfsbedürftigkeit“ des Subjektes hier definiert wird als kumulative Exklusion oder als Exklusionsdrift, also den fehlenden Zugang zu mehreren gesellschaftlichen Teilsystemen, die in gesellschaftlicher Irrelevanz enden. Die Funktion der Sozialen Arbeit besteht in der Folge in „Exklusionsbegrenzung, Exklusionsverwaltung und/oder Inklusionsvermittlung“ (Luhmann 1999, 194), ihre Leistung darin, für andere Funktionssysteme – Wirtschaft, Recht, Politik etc. – Unterstützungen zur Verfügung zu stellen (vgl. Baecker 1994). Da mit Inklusion – zumindest zunächst – die Inklusion indie zentralen gesellschaftlichen Funktionssysteme gemeint ist, ist die Soziale Arbeit gezwungen, sich an diesen auszurichten. D.h. selbst wenn man die prinzipielle Möglichkeit der Entwicklung eigener Relevanzkriterien, oder systemtheoretisch gesprochen, eines eigenen Codes der Sozialen Arbeit unterstellt, bleibt die Frage, in welchem Ausmaß sich Soziale Arbeit – innerhalb dieser Theorie - von den Relevanzen der Wirtschaft, des Rechts, etc. abgrenzen kann (vgl. auch ausführlich Sameisky 2002). Das gilt umso mehr, als diese im Rahmen dieses theoretischen Ansatzes keiner moralischen oder politischen Hinterfragung mehr zugänglich sind. Auf die Frage, warum es zu kumulativen Exklusionen oder Exklusionsdrifts gekommen ist, wird keine systematische Antwort mehr angeboten. In der Tendenz verlagert sich die Zuschreibung von Verantwortlichkeit oder Zuständigkeit für die Behebung in der Praxis auf das betroffene Individuum und die Soziale Arbeit. Eine Politisierung oder Skandalisierung einer so verstandenen Exklusion ist sinnlos, wenn nicht unmöglich.
Bindet man diese Funktions- bzw. Leistungszuschreibung der Sozialen Arbeit zurück an andere Überlegungen der Systemtheorie, so führt dies, wie von Obrecht und Staub-Bernasconi angemerkt, zur Deprofessionalisierung wenn nicht Selbstaufhebung der Sozialen Arbeit. Denn: Wenn Soziale Arbeit Exklusionen vermeiden und Inklusionen vollziehen soll, indem sie „an der Person“ arbeitet, greift der Umstand, dass diese als „psychische Systeme“ zu verstehen sind und ebenso wie andere Systeme autopoietisch funktionieren, also der Beeinflussung nur sehr bedingt zugänglich sind. Die Folge ist, dass die Qualifikation in diesem Bereich relativ beliebig ist, da ohnehin keine schlüssigen, die KlientInnen einigermaßen kalkulierbar beeinflussenden Lösungen angeboten werden können (vgl. Obrecht 2002, 483ff.; Sameisky 2002; Staub-Bernasconi 2000). [8]
Wiewohl die Einflussnahme auf andere psychische Systeme (z.B. in der Beratung) außerordentlich prekär ist (vgl. hierzu Hafen 2004, 218 ff; vgl. auch Fuchs 2000, 162f.) , findet sich in der an der Luhmannschen Systemtheorie orientierte Sozialarbeitstheorie die Position, dass Soziale Arbeit, wenn nicht an der Veränderung von Individuen (vgl. Fuchs 2000, 162), so doch an Personen, verstanden als „Adressen“ arbeitet, genauer: deren Adressabilität reorganisiert. Es ist allerdings schwer vorstellbar, wie sich in der Praxis Adressabilität organisieren lässt, ohne den Versuch zu machen, eine Verhaltensänderung in Individuen zu erzielen. Die empirischen Beispiele, die sich in systemtheoretisch orientierten Verortungen der Sozialen Arbeit regelmäßig finden, verweisen denn auch darauf, dass Verhaltensanpassungen impliziert sind – auch dann, wenn gleichzeitig angemerkt wird, dass im Sinne des theoretischen Ansatzes die Wirkungen von Interventionen nicht kalkulierbar seien (vgl. Lambers 2010, 175ff.). So wird reklamiert, dass die praktische Soziale Arbeit sich „auf die Person“ beziehe und etwas mit individuellen Lern- und Bildungsprozessen zu tun habe (ibid., 117). Aber: Offensichtlich können psychische Systeme nur dann inkludiert werden, wenn diese psychischen Systeme sich in welcher Weise auch immer modifizieren, so dass „Hilfekommunikation aktiv als Prozess sozialen Lernens und sozialer Bildung erforderlich wird“ (ibid., 192), wodurch wiederum Adressabilität hergestellt wird. [9]
In dieser Theoretisierung von Exklusion und Inklusion wird Gesellschaft als Bedingungszusammenhang für Adressabilität und Verhalten ausgeblendet. Ein weiteres Mal wird deutlich, dass die Soziale Arbeit entpolitisiert wird. Falls sie sich auf das Geschäft der Exklusionsvermeidung bzw. Inklusionsvermittlung durch Arbeit an sozialen Adressen einlassen will, sind soziologische oder politische Fragen nicht mehr ihr Geschäft.
An dieser Stelle fallen unvermutete Parallelen mit politischen Exklusionsdiskursen auf, die aus völlig anderen Entstehungskontexten hervorgingen und primär politisch motiviert waren. Sie nahmen in Großbritannien ihren Ausgang und sind geeignet, die versteckten politischen Implikationen der oben geschilderten Theoretisierungen unter aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen näher zu beleuchten. Die Parallelen zu den in Deutschland äußerst einflussreichen Luhmannschen Theoretisierungen von Sozialer Arbeit sind von besonderem Interesse, weil sie Eingang gefunden haben in Exklusionsverständnisse und -diskurse der Europäischen Union und von dort europaweit politischen Einfluss ausüben. In „policy papers“, die von den sog. „Social Exclusion Units“ (prestigeträchtig auf der Ebene des Premierministers angesiedelte Arbeitsgruppen) in den 1990er Jahren herausgegeben wurden, wird soziale Exklusion ebenfalls nicht als strukturelles bzw. politisch zu analysierendes Problem gefasst. Der Fokus richtet sich vielmehr auf Individuen, die als „exkludiert“ identifiziert wurden. Die Vorschläge zur Exklusionsbekämpfung, die die Social Exclusion Units machten, sind, da ebenfalls weitgehend entpolitisiert, zu vergleichen mit der Herstellung von Adressabilität. Adressabel in der Luhmannschen Terminologie werden Klient/innen der Sozialen Arbeit nach Vorstellung der Social Exclusion Units primär dann, wenn es gelingt, problematische Mentalitäten zu verändern, d.h. disziplinare oder motivationale Mängel zu beeinflussen und insgesamt eine Anpassung an die Anforderungen des Wirtschaftslebens zu erreichen. Richtet man den Blick zurück auf Luhmann, so ist die Beeinflussbarkeit von Mentalitäten bei ihm zwar hochgradig kontingent; aber: In beiden Fällen richtet sich der Blick weder auf ökonomische oder politische Prozesse, die Ausschluss erzeugen könnten, noch auf die Interessen oder die Machtkonstellationen, die die Durchsetzung spezifischer Interessen und die Aufrechterhaltung spezifischer ökonomischer oder politischer Strukturen ermöglichen, wiewohl diese Exklusionsphänomene erzeugen. „Im Unterschied zu Luhmannschen Ansätzen, die sich mit der abstrakten Feststellung begnügen, dass die „defekte Adresse“ eine kommunikative Struktur bezeichnet, die im System gebildet wird und zur Produktion von Klienten führt (vgl. Fuchs 2000, 164; Klassen 2004, 165), wird hier, jenseits Luhmannscher Abstraktionen, allerdings zugespitzt die Frage gestellt, was „Herstellung von Adressabilität“ konkret in der Praxis bedeutet und folgendermaßen beantwortet: Was verändert werden muss, sind Subjektivitäten, nicht ökonomische oder politische Strukturen. Was die Soziale Arbeit in der Folge braucht, sind Sozialtechnologien, die geeignet dazu sind, die Anpassung der Klient/innen an vorgegebene Verhältnisse zu erzielen (vgl. Social Exclusion and Cabinet Office 2001, 2). Es erstaunt nicht, dass diese Position als kritiklos und „profoundly conservative“ bezeichnet wurde (vgl. Byrne 2005, 6; a, auch Searing 2004), da sie soziale Ungleichheit verschleiere und – wiewohl nicht offen so artikuliert - in letzter Konsequenz Individuen für ihr „Versagen“ verantwortlich mache – eine Wendung, die bei Luhmann wohl eher als organisierte Verantwortungslosigkeit bezeichnet werden kann.
Schließlich stellt sich die Frage, wie sich das systemtheoretische Verständnis von Exklusionsvermeidung und Inklusionsvermittlung zu Wertvorstellungen verhält, die in den international geführten Debatten des Berufsfeldes zentral sind – nämlich Fragen von sozialer Gerechtigkeit, des Abbaus sozialer Ungleichheit und der Konstruktion des Berufes als „Menschenrechtsprofession“, die sowohl theoretisch als auch praktisch in den einschlägigen Berufsverbänden vorgenommen wird (vgl. Staub-Bernasconi 2008). Was die Thematisierung von Exklusion im Zusammenhang mit Ungleichheit und sozialer Gerechtigkeit bedeutet, so hat dies bekanntlich im systemtheoretischen Denken Luhmanns keinen Platz. Der Begriff der „sozialen Gerechtigkeit“ thematisiert die Genese und Aufrechterhaltung von Verteilungsfragen. Inklusions- und Exklusionsfragen haben in der Luhmannschen Systemtheorie nichts zu tun mit Verteilungsfragen. Soziale Gerechtigkeit wird ersetzt durch die Funktionsfähigkeit der Systeme, womit in der Folge weder Verteilungs- noch Gerechtigkeitsfragen im Aufgabenbereich der Sozialen Arbeit liegen (vgl. auch Obricht 2002, 490). Wie also verhalten sich Inklusion und Exklusion zu Fragen von Menschenrechten wie in der Sozialen Arbeit definiert und in das Berufsverständnis eingebaut?
Was den Stellenwert von Menschenrechten anbetrifft, so hat Luhmann zwar eine Begründung der Menschenrechte vorgelegt (Luhmann 1993). Sie ist allerdings nicht geeignet, Exklusion im Zusammenhang mit Menschenrechten zu thematisieren, oder der Sozialen Arbeit einen Platz als Menschenrechtsprofession zuzuweisen. Menschenrechte ergeben sich bei Luhmann aus den Funktionsanfordernissen des Gesellschaftssystems. D.h. Menschenrechte erfahren keine ethisch-moralische Begründung, sondern entspringen daraus, dass eine funktional differenzierte Gesellschaft im Interesse ihrer Funktionalität die Freiheit und Würde des Einzelnen fördert (vgl. Luhmann 1993). Der Einzelne ist den Funktionsanfordernissen der Systeme immer nachgeordnet und muss sich diesen Anfordernissen unterwerfen um im Gegenzug Würde und Menschenrechte zu erhalten. Menschenwürde entsteht aus der Zuteilung von Adressabilität durch Systeme bzw. deren Institutionen. Daraus lässt sich folgern, dass diejenigen, die sich diesen Bedingungen nicht unterwerfen, oder aber sich in einer Exklusionsdrift befinden, ihrer Menschenrechte verlustig gehen, oder, wie Noll zugespitzt formuliert: „Der Wert des Menschen ergibt sich in einem dergestalt konzipierten Gesellschaftssystem damit aus seiner Objekthaftigkeit: Seine Eigenschaft als Subjekt hat nur dann einen Wert, wenn dieses als Objekt der Gesellschaft für die Gesellschaft einen Nutzen hat (Noll 2006, 304). [10]
Ein weiteres Mal bliebe zu konstatieren, dass sich die daraus ergebende Auffassung von Exklusion (und Inklusion) darin erschöpft, dass sie in der Inklusion von „Adressen“ in gesellschaftliche Teilsysteme besteht und nur diese Art von Inklusion einen Zugang zu Menschenrechten verschafft. Ein menschenrechtliches Selbstverständnis der Sozialen Arbeit würde dementsprechend bedeuten, auch Menschenrechte primär in die Herstellung von Adressabilität zu verlagern und d.h. ein weiteres Mal die Anpassung der Klientel an Systemanfordernisse als einzig gangbaren Weg zu postulieren.
Während außer Zweifel steht, dass Soziale Arbeit in der Praxis in vielen Fällen keine andere Wahl hat, als sich auf eine so verstandene Herstellung von Adressabilität einzulassen, kann sie sich auf analytischer Ebene kaum damit begnügen: Was aus pragmatischen Gründen in einer bestimmten Situation unvermeidlich sein mag, muss theoretisch nicht richtig sein. Wenn sich Soziale Arbeit diese Position zu eigen macht, akzeptiert sie eine Positionszuweisung als beigeordneter Reparaturbetrieb in einem System, das die Probleme produziert, die sie dann abzuschwächen hat oder anders gesagt: Soziale Arbeit wird zur Erfüllungsgehilfin der jeweiligen herrschenden Bedingungen und ihrer jeweiligen Exklusionsdynamiken innerhalb derer mit dem Wechsel sozialpolitischer Bedingungen durchaus verschiedene Konstellationen von Adressabilität entstehen können - was aber in diesem Verständnis von Exklusion nicht mehr thematisierbar ist. Da in dieser Vorstellung eine Skandalisierung oder auch nur Infragestellung von Exklusion nicht möglich ist, ist auch eine Politisierung von Exklusion unmöglich. Exklusionsvermeidung und Inklusionsvermittlung sind unpolitische, da machtferne Unterfangen; Soziale Arbeit operiert in der Folge in einem letztlich politikleeren Raum.
Während die systemtheoretische Debatte nahezu ausschließlich die deutschsprachige Sozialarbeits-Debatte beschäftigt und, falls sie im internationalen Kontext überhaupt auftaucht, relativ schnell ad acta gelegt wird (vgl. z.B. Kielström 2012), sind Foucault und seine Vorstellungen von Exklusion in der internationalen Sozialarbeits-Diskussion zentral und, wie mittlerweile hinlänglich argumentiert, besonders relevant für die Analyse der Entwicklung des Berufsfeldes angesichts der neoliberalen Umstrukturierung des wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus, der auch die sozialen Berufe in vollem Umfang erfasst hat (vgl. z.B. Chambon 1999; Crawford 2005; Gregory/Holloway 2005; Kessl 2006; Horsell 2006; Weber/Maurer 2006; Anhorn/Bettinger/Stehr 2007; Garrity 2010; Gilbert/Powell 2010; Powell/Khan 2012).
Zentral für eine Foucaultsche Annäherung an Probleme der Sozialen Arbeit sind folgende Begriffe: Derjenige des „Diskurses“, derjenige der „Normalisierung“ und die sog. „Gouvernementalität“. Der Begriff des „Diskurses“ verweist auf die Analyse der Sprache, allerdings nicht verstanden als Worte, die uns Auskunft über eine vorgängige Wirklichkeit geben, sondern als Bedeutungssystem, das uns Auskunft gibt über die symbolische Ordnung, in der wir leben und die unsere Wahrnehmung strukturiert. „Die Sprache ist der Ort, wo tatsächliche und mögliche Formen sozialer Organisationen und ihre wahrscheinlichen sozialen und politischen Folgen definiert und ausgefochten werden“ (Weedon 1987, 21). D.h. die Sprache ist kein Zeichensystem, das wir benutzen, um einer „realen“ Welt Ausdruck zu verleihen – wir benutzen die Sprache nicht, um beispielsweise den Phänomenen „psychische Störung“, „Behinderung“ oder „abweichendes Verhalten“ auf die Spur zu kommen; vielmehr produzieren wir diese Phänomene auf eine bestimmte Art und Weise, in dem wir über sie reden: Bedeutungen existieren nicht vor der Sprache – sie werden vielmehr erst von ihr geschaffen. Diese Bedeutungen finden Ausdruck in „Diskursen“, d.h. historisch und gesellschaftlich kontingenten Aussagen über einen Gegenstand, der in diesen Diskursen konstituiert wird. Die Wahrheit ist nicht absolut, sie ist vielmehr, so Foucault, „von dieser Welt; in dieser wird sie aufgrund vielfältiger Zwänge produziert, verfügt sie über geregelte Machtwirkungen. Jede Gesellschaft hat ihre eigene Ordnung der Wahrheit, ihre ‚allgemeine Politik‘ der Wahrheit“ (Foucault 1978, 55). Diskurse zeigen an, was zu einem jeweiligen Zeitpunkt in einer Gesellschaft als „normal“ betrachtet wird; sie fungieren als die „wahren“ Diskurse über das Individuum und haben die Funktion, das „normale Individuum“ zu formen. Foucault stellte ins Zentrum der Normalisierungsdiskurse die Diskurse der Medizin, der Psychiatrie, der Psychologie, der Biologie oder auch der Fürsorge, die „immer mehr Kontroll- und Sanktionsgewalt übernehmen“ und auch Einfluss auf den Justizapparat, eine weitere Normalisierungsinstanz, nehmen (Foucault 1994, 395). In der Folge ist die menschliche Subjektivität selbst ein diskursives Produkt und ein diskursiver Prozess. Es hat keinen Sinn, auf eine endlose Suche nach „der menschlichen Natur“ oder „dem menschlichen Wesen“ zu gehen, denn: Ein Subjekt zu sein bedeutet nicht, bestimmte Charakteristika zu haben, es bedeutet vielmehr, im Besitz einer spezifischen, historisch kontingenten Theorie zu sein (vgl. Harré 1985, 262). Wenn wir danach fragen, was „der Mensch“ ist, so muss die Frage also sinnvoller Weise lauten: Wie ist Subjektivität jeweils theoretisch konzipiert? Welche Ausgestaltungen von Subjektivität wird von wem zu welchem Zeitpunkt favorisiert? Und: Welchen gesellschaftlichen Interessen dient eine spezifisch beschaffene Subjektivität bzw. welche Macht stützt den jeweiligen Subjektivitätsdiskurs ab? Diskurse, also systematische Aussagen über einen Gegenstand, entstehen nicht, ohne dass es ein Netz von Mächten gibt, die sie forcieren. Macht geriert sich als Wissen überall dort, wo sie einen Gegenstand des Wissens schafft, indem sie Aussagen über etwas macht und es somit der Betrachtung erst zugänglich macht, also auf diese Weise als Gegenstand des Wissens schafft. Macht ist also, wie als zentrale Erkenntnis Foucaults immer wieder hervorzuheben ist, nicht nur repressiv; sie ist vor allem produktiv, indem sie Wissen in die Welt setzt, das sich insbesondere auf die seinsollende Subjektivität konzentriert und das in Form von Gouvernementalität in gesellschaftliche Praxis umgesetzt wird.
„Gouvernementalität“ steht in Verbindung mit Foucaults Vorstellung von „Diskurs“, und „Normalisierung“ und der Herstellung von Subjektivität. „Gouvernementalität“ wird häufig übersetzt als „Regierungspraktiken“, was insofern missverständlich sein kann, als damit nicht die Praktiken von Regierungen gemeint sind, als vielmehr gesellschaftliche Prozesse der Lenkung, Leitung und Kontrolle, die Menschen dazu bringen, ein bestimmtes Verhalten sowie bestimmte Normen, Praktiken und Wissensformen als „normal“ zu akzeptieren und in ihr eigenes Verhalten und ihr Selbstverständnis, d.h. in ihre Subjektivität, einzubauen. Gouvernementalität, Normalisierung und damit Subjektivitätserzeugung kann sich auf Körper ebenso beziehen wie auf Verhalten, Anforderungen an sich selbst und andere, d.h. die gesamte Lebensgestaltung. Als zentral bei der Ausübung von Gouvernementalität nennt Foucault neben der Medizin, der Psychologie, der Erziehung und der Fürsorge auch die Sozialarbeit“ (vgl. Foucault 1994, 395; auch Kessl 2006). Soziale Pädagogik, Sozialpädagogik und Soziale Arbeit verankern Überzeugungen darüber, was das Individuum ist, was Normalität (in körperlicher und psychischer Hinsicht) ist in die Individuen und sind aktiv beteiligt an der Verbreitung von „Technologien des Selbst“, in denen die Diskurse in Praxis übersetzt werden (vgl. hierzu die „Roundtable Discussion“ mit Foucault zum Thema „Warum Soziale Arbeit?“ in Chambon et al. 1999, 83ff.). Da sich Soziale Arbeit mit dem Menschen beschäftigt, übernimmt sie nolens volens diverse Diskurse über menschliche Subjektivität, die ihre Praxis anleiten. Das Selbstverständnis mit dem sie dies tut, ist klassischer Weise ein humanistisches, das die Befriedigung allgemein menschlicher Bedürfnisse und die Herstellung menschlichen Wohlbefindens postuliert sowie soziale Gerechtigkeit, die Würde des Menschen, Selbstbestimmung und Emanzipation und die Teilhabe am materiellen und kulturellen Reichtum einer Gesellschaft betont (vgl. z.B. Staub-Bernasconi 2008; Seithe 2012).
Was aber, wenn diese Diskurse janusgesichtig sind? Was, wenn diese Diskurse möglicherweise zum Teil den Interessen der „Person“, wie sie die Soziale Arbeit verstanden haben möchte, dienen, zum andern aber Machtdiskurse sind, die der Aufrechterhaltung von Verhältnissen bzw. der Schaffung von Subjektivitäten dienen, die jene – aus Sicht der Sozialen Arbeit – inhumanen Zustände erst hervorbringen, die Klienten aus der erwünschten „Normalität“ ausschließen, um sie dann wiederum zu Objekten von (sozial-)politischen bzw. (sozial-)pädagogischen Inklusionspraktiken zu machen? [11]
Hier wird deutlich, in welchem Zusammenhang Exklusion, Inklusion und Soziale Arbeit aus Foucaultscher Sicht stehen. Wiewohl Foucault keine explizite „Exklusionstheorie“ formulierte, sind seine Ausführungen als „Analytik der Exklusion“ (Ewald 1995) und als Beschreibung bzw. Theoretisierung von Exklusionsphänomenen (Farzin 2011, 94) bezeichnet worden. Denn: Eine zentrale Funktion von Diskursen besteht in der Exklusion dessen, was an Subjektivität nicht sein soll, d.h. in der diskursiven Exklusion von körperlichen und psychischen Charakteristika, von Lebens- und Verhaltensweisen, also von Subjektivitätsausprägungen, die als „nicht normal“ konstruiert werden. Normalisierungspraktiken haben die Funktion von Exklusionspraktiken, die differenzieren zwischen krank und gesund, verrückt und „normal“, abweichend und angepasst, jung (und damit leistungsfähig und „unproblematisch“) und alt (und damit potentiell sozial problematisch) usw. und kategorisieren und hierarchisieren in diesem Prozess. In der „Geburt der Klinik“ beschreibt Foucault, wie mit der Entstehung der modernen Medizin nicht nur Kenntnisse über Krankheiten, sondern gleichermaßen Definitionen über den „normalen Körper“ produziert wurden, so dass ein „behinderter“, ansonsten aber „gesunder“ Körper der Definition von „anomal“ anheim fiel.
Mit dem neoliberalen Konsens der letzten Jahrzehnte hat insbesondere die sozialpolitische Diskursproduktion eine Richtung eingeschlagen, die nachhaltigen Einfluss auf Subjektivitätsdiskurse genommen hat, an denen die Soziale Arbeit mit Blick auf ihr Klientel beteiligt ist, die aber mittlerweile auf die Institution „Soziale Arbeit“ selbst zurückwirken. Was Diskurse über die KlientInnen der Sozialen Arbeit anbetrifft, so werden diese zunehmend im Rahmen von Subjektivitätsdiskursen wahrgenommen, die neue gesellschaftliche Exklusionsfelder schaffen. Der Eingang von „governance“-Konzeptionen und -Instrumentarien in alle Bereiche der Sozialpolitik und der Sozialen Arbeit führt zu neuen „Regierungspraktiken“ im Foucaultschen Sinne und damit zu neuen Exklusionsformen. Der Begriff von „governance“ ist schillernd und uneindeutig und seine Vor- und Nachteile für eine klientenorientierte Soziapolitik und Soziale Arbeit werden seit geraumer Zeit kontrovers diskutiert (vgl. z.B. Deutsches Jugendinstitut 20006)[12]. Einigkeit besteht allerdings hinsichtlich folgender Merkmale: Erstens, governance ist als eine Strategie institutioneller Akteure zu verstehen, die neue, institutionelle Steuerungsformen und Kooperationen zwischen staatlichen und privaten Akteuren hervorbringt; zweitens, governance bedeutet einen Rückzug des Staates aus bislang staatlich organisierten gesellschaftlichen Feldern und drittens beinhaltet governance eine betriebswirtschaftliche Komponente bzw. neue Institutionen und Praktiken der Kontrolle von Unternehmen und Institutionen. Für unsere Zwecke zentral ist schließlich, dass die Vorstellung von governance die Unterscheidung zwischen Steuerungssubjekt und –objekt aufhebt (vgl. Benz 2004, 17). D.h.: In der flächendeckenden Übernahme dieses Konzepts in Sozialpolitik und Sozialer Arbeit (vgl. hierzu Deutsches Jugendinstitut ibid.) zeigt sich - unter anderem – die systematische Übernahme von „Technologien des Selbst“ die der (aus eigenem Antrieb ausgeführten) Formierung und Entwicklung neuer Formen von Subjektivität dienen und damit neue Formen von Exklusion eröffnen. Wolf exemplifiziert dies am Beispiel der Hartz I-IV-Gesetze und ihrer Folgen wie des Einflusses sog. „neuer Steuerungsmodelle“ auf die Soziale Arbeit.
Hinter dem Begriff „neuer Steuerungsmodelle“ steckt, auf eine kurze Formel gebracht, die Idee, dass die Implementierung managerialer Verfahren und die Durchsetzung von Konkurrenzmechanismen gleichzeitig zu einer Qualitätssteigerung und Kostensenkung von sozialen Dienstleistungen führen würde (vgl. Wolf 2007, 1166). „Neue Steuerungsmodelle“ zwingen die Soziale Arbeit in die Herstellung einer „Reproduktionsnormalität“ hinein, d.h. setzen die Herstellung von Nutzbarmachung von Individuen für den Arbeitsmarkt als oberstes Postulat und setzen auf diese Weise neue Selektions- bzw. Ausgrenzungsprozesse in Gang. Soziale Arbeit bestimmt somit ihre Aufgaben nicht autonom, sondern wird instrumentalisiert von den für die jeweils verfolgte Sozialpolitik relevanten politisch-administrativen Strukturen und den dafür nützlichen Normen (vgl. ibid. 1158). In diesem Prozess wird aber Soziale Arbeit selbst zum Objekt von Disziplinierung, indem sie selbst dem Primat der Ökonomie nachgeordnet und SozialarbeiterInnen betrieblichen Effizienzkriterien unterworfen werden. Anpassungsdruck bzw. Angst vor Ausgrenzung – z.B. etikettiert zu werden als eine Sozialarbeiterin, die nicht den herrschenden Anforderungen entspricht – können somit auch ein normgerechtes Verhalten im Berufsfeld erzwingen.
Foucault stellte in seiner Untersuchung der Entwicklung von Subjektivitätsformen seit dem 18. Jahrhundert fest, dass diese von Anfang an eng an den ökonomischen Nutzen gebunden waren bzw. der effizienten Konstituierung von Arbeitskraft dienten und folglich Exklusion und Inklusion in gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge (bzw. anerkannte und abgewertete Subjektivitätsformen) ebenfalls nicht ohne Blick auf die Arbeitsleistung bzw. die ökonomische Verwertbarkeit zu verstehen sind (vgl. Foucault 1994, 37; 176f.). Neoliberale Subjektivitätsformen stellen, wie inzwischen hinlänglich bekannt, einen qualitativen Sprung hinsichtlich der Herstellung des marktorientierten und vermarktbaren, des allseitig flexibel einsatzfähigen und sich als selbstunternehmerisch verstehenden Arbeitssubjekts dar. Die Logik des Marktes wird entgrenzt um über die Wirtschaft hinaus ein Modell für sämtliche gesellschaftliche Teilbereiche zu werden und Subjektivierungsformen zu erzeugen, die um den tauschenden und nutzenmaximierenden Homo Oeconomicus kreisen und auch die privatesten und intimsten Bereiche erfassen (vgl. Gertenbach 2010).
Als Beispiel hierfür mag ein neueres, die Soziale Arbeit betreffendes Beispiel dienen, nämlich das aktuell neu diskutierte Prostitutionsgesetz aus dem Jahre 2002, das von der Politik, von Teilen der Betroffenen und auch von Teilen der Sozialen Arbeit als bedeutsamer Schritt in Richtung „Empowerment“ und Selbstbestimmung für Prostituierte gefeiert wurde. Ist das Konzept des „Empowerments“ schon eine ambivalente Vorstellung, die sich relativ umstandslos in neoliberale Zielsetzungen einfügen lässt, so zeigt der kritiklose Versuch der Umsetzung des Prostitutionsgesetzes in der Sozialen Arbeit einen erstaunlichen Reflexionsmangel darüber, was eine derartige „Konstruktion der Prostituierten“ für Subjektivitätsdiskurse (in diesem Fall genderspezifischer Art) in der Gesamtgesellschaft und für einzelne Betroffenengruppen bedeutet. Ohne Reflexion darüber, wie die Nachfrage nach sexuellen Dienstleistungen eigentlich gesellschaftlich und ökonomisch generiert und gesteuert wird (vgl. hierzu Grenz 2009; Gerheim 2012), wird der Verkauf des Körpers, der eben nicht der Verkauf einer Ware wie jeder anderen ist (ein kurzer Blick auf Marx müsste dafür eigentlich schon genügen; vgl. dazu auch Scarry 1992) als Erwerbsmöglichkeit wie jede andere konstruiert, die – ganz in neoliberaler Manier – besser ist als gar kein Gelderwerb. Ebenso wie die sexuelle Nachfrage als unhinterfragbar gegeben hingenommen wird, geht man von einem metaphysisch „freien Willen“ und einer „freien Entscheidung“ der Prostituierten zum ebenso „freien“ Verkauf der Ware „Körper“ aus,[13] die in diesem Fall eben deswegen über viele ideologische Grenzen akzeptabel erscheint, weil sie sich ganz im Rahmen der hegemonial konstruierten Subjektivitäts- und Sexualitätsdiskurse befindet.
Diese Subjektivitätsdiskurse, die das angeblich „autonome Individuum“ als das Maß aller Dinge konstruieren, haben sich (da, wie bereits erwähnt, die Unterscheidung zwischen Steuerungssubjekt und –objekt aufgehoben ist) auch auf SozialarbeiterInnen selbst ausgedehnt. Während sie als Ökonomisierung und Marktorientierung des Bereichs deutlich werden (vgl. Seithe 2012; Schattenblick 2012), treten sie in Maurers Worten an die Betroffenen selbst zunächst als „Verheißungen“[14] heran, die eine Illusion von Emanzipation und Gestaltungsspielräumen mit sich führen - so die „Verheißung der Freiheit“ durch das Versprechen größerer Autonomie im Arbeitsumfeld; damit verbunden das „Versprechen der Selbstbestimmung“ und schließlich die Bereitstellung größerer Flexibilität, die vermeintlich zum Aufbrechen verfestigter Strukturen führt. Schließlich die Verheißung größerer Qualität durch die Einführung neuer Verfahrensweisen und Evaluationen (vgl. Maurer 2006, 241). Hier zeigt sich ein weiteres Mal die Konstituierung von Menschen gleichermaßen als Subjekt und Objekt von Diskursen (oder „Governance“) und die damit einhergehende Einbindung in Machtdiskurse: Denjenigen, die im sozialen Hilfebereich tätig sind, werden im Prozess dieser „Verheißung“ Forderungen aufoktroyiert, die dem Bereich bislang fremd waren und deren Folgen zu bedenken sind: Seithe nennt hier ein betriebswirtschaftliches Verständnis sozialer Strukturen; eine Auffassung sozialer Strukturen und Prozesse als kurzfristig steuerbar und sozialtechnologisch mechanisierbar; Kontraktmanagement und outputorientierte Finanzierung, „best practice“ anstelle von fachlicher Reflexion; eine positivistische „Evidenzbasierung“ und Checklisten anstelle von Theorie[15] (vgl. Seithe 2012, 10 ff.). Diese Machtergreifung unternehmerischer Prinzipien unterläuft offensichtlich die Hoffnungen auf Autonomie und Entscheidungsfreiheit, die sich in den „Verheißungen“ angekündigt haben.
Während die im Sozialbereich Tätigen einerseits Objekte dieser Politiken sind, werden sie andererseits zu Subjekten dieser Diskurse, da diese Forderungen in Form von Selbsttechnologien in sie selbst hinein verlagert werden: Gerade weil sie als „Verheißungen“ auftreten, werden sie häufig verinnerlicht und freiwillig zum Maßstab des eigenen Tuns gemacht, das nach vorgegebenen (und wie Seithe meint, häufig nicht mehr reflektierten) Kriterien überprüft, examiniert und evaluiert wird (vgl. hierzu auch die Praxis-Beobachtungen von Seithe 2012). Wenn auf diese Weise Prozesse von neoliberaler Exklusion und Inklusion in die Profession selbst hinein verlagert und zur Grundlage der eigenen Aktivitäten gemacht werden, ist nicht mehr zu erwarten, dass gegenüber den Folgen dieses Tuns hinsichtlich der Klientel eine kritische Reflexion entwickelt wird. Die neuen, ökonomisch motivierten Ideen von „Professionalisierung“ werden hier zum Disziplinarmechanismus im Sinne von Foucault, in dem spezifische Praktiken mit spezifischen professionellen Subjektivitäten bzw. Identitäten verbunden werden, die das professionelle Verhalten durch Selbstmanagement regulieren. Beide, SozialarbeiterInnen wie KlientInnen werden überwacht, examiniert und evaluiert, wobei die Art und Weise dieser Überwachung und Evaluierung bestimmte Diskurse forciert, die bestimmte Subjektivitäten in die Welt setzen (vgl. auch Powell/Khan 2012, 134 ff.). Die Betroffenen üben Macht aus bzw. werden dazu gezwungen, dies zu tun – und tun dies zunehmend überzeugt und „freiwillig“ - indem sie das Verhalten der Klientel nach vorgegebenen Kriterien überwachen, protokollieren und dokumentieren; andererseits sind sie gleichzeitig der Macht unterworfen, da eben dies auch für die eigene Tätigkeit gilt: Sie sind somit gleichzeitig Objekte und Subjekte von Exklusionen und Inklusionen. Exkludiert (z.B. von Leistungen) werden Klienten, die sich den Anforderungen nicht beugen; aber auch für die „ÜberwacherInnen“ gibt es keinen Ausstieg aus diesen Sozialtechnologien, da die Weigerung an diesen Technologien teilzuhaben in der Praxis kaum eine ernsthafte (biographische) Option darstellt. Die Effizienz dieser Verfahrensweisen - also von zeitraubenden Prozessen von Monitoring, Protokollierung, Dokumentation und Evaluation - in Hinblick auf ein Qualitätsmanagement wird bekanntlich nachhaltig bezweifelt. Denn: Es findet statt in einem Feld das letztlich ökonomisch und nicht fachlich kontrolliert wird - was mehr Regulierungsbedarf produziert, der die Bandbreite angeblich „autonomer Entscheidungen“ restringiert und Alltagspraktiken zu weiten Teilen vorherbestimmt. Wenn dann die fachlichen Resultate keineswegs von „guter Qualität“ sind (wie im Pflegebereich seit langer Zeit skandalisiert), bietet dieser Diskurs die Möglichkeit, die Verantwortung dafür auf die betroffenen „autonomen sozialen Dienstleister“ abzuwälzen (vgl. Maurer 2006, 233ff.; Hoehne 2006, 187 ff.). Die Verbetriebswirtschaftlichung und Quantifizierung von Arbeitsleistungen und damit einhergehend die Schaffung von unternehmerischen Identitäten, die sich selbst mehr oder weniger freiwillig in die vorgegebenen Verwertbarkeitsschemata einfügen, liefert keinen Beitrag zur Gestaltung einer Umwelt, die im Selbstverständnis der Profession läge, die zu sozialer Gerechtigkeit beitragen und soziale Rechte, Wirtschaftsrechte und Partizipationsrechte befördern will (vgl. Staub-Bernasconi 2008).
Bindet man diese Überlegungen zurück an die Frage von Exklusion und Inklusion, so hat es die Soziale Arbeit im Zuge neoliberaler Subjektivitätsdiskurse und ihrer Auswirkungen auf den sozialen Sektor zum einen mit den Exklusionswirkungen dieser Diskurse auf ihre Klientel zu tun. Dabei geht es über einen Ausschluss aus gesellschaftlichen Ressourcen und Anerkennungsstrukturen hinaus, um den Ausschluss von Subjektivitätsformen, die dem neoliberalen Projekt zuwider laufen und an denen Soziale Arbeit aufgefordert wird, mitzuwirken. Diese Komplizität, so Bettinger, wird immer wieder bereitwillig geliefert, z.B. mithilfe der gutwilligen Dramatisierung von Armut, Arbeitslosigkeit, Unterprivilegierung als Ursachen für Kriminalität und der Übersetzung von strukturellen Faktoren in individuelle Defizite (vgl. Bettinger 2011). Auch an dieser Stelle ist Staub-Bernasconis Einwurf über die „Selbstaufhebung der Sozialen Arbeit als Profession“ aufzunehmen, da man auch hier zu dem Schluss kommen muss, dass sich im vorgegebenen sozio-ökonomischen Rahmen Soziale Arbeit professionell und akademisch selbst aufhebt – und dies in einem Prozess tut, der als Effizienzsteigerung, Qualitätskontrolle und Professionalisierung angeboten wird.
An dieser Stelle mag der Eindruck entstehen, dass die theoretischen Annäherungen, die eine Foucaultsche Analyses erlaubt, die Soziale Arbeit in eine politisch ähnlich aussichtslose Rolle bringen, wie die Luhmannsche Systemtheorie. Die Foucaultsche Theorie allerdings beinhaltet sehr wohl die Möglichkeit (und vermutlich sogar die Notwendigkeit) der Politisierung und Entwicklung von Widerständigkeit in der Sozialen Arbeit. „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand“ (Foucault 1983, 116), so einer von Foucaults bekanntesten Sätzen. Möglichkeiten, widerständig zu sein und sich den herrschenden Diskursen zu widersetzen sind prinzipiell überall vorhanden. Dabei geht es nicht notwendigerweise darum, eine „große Strategie“ gegen die Macht zu entwickeln. Widerstand kann in der alltäglichen Praxis in Form von „Mikromächten“ ausgeübt werden, die schrittweise die Handlungsspielräume ausdehnen und die dominanten Diskurse untergraben. Diese Möglichkeit wurde von Foucault selbst als Möglichkeit der Sozialen Arbeit gesehen, so wenn er feststellte, dass es kontraproduktiv wäre, die Soziale Arbeit pauschal der Unterwerfung unter herrschende Diskurse zu bezichtigen. Soziale Arbeit sei Widersprüchlichkeiten und Dilemmata ausgesetzt – und dies umso mehr, je kritischer die Perspektiven und Standpunkte sind, die sie bezieht. Gerade in der Wahrnehmung der Widersprüchlichkeit und Ambivalenz der eigenen Tätigkeit und in den Selbstzweifeln der Sozialen Arbeit sei der erste Schritt in Richtung Widerständigkeit zu sehen, da die Selbstzweifel zeigen, dass ein Bewusstsein der Dilemmata vorhanden ist und Soziale Arbeit sich nicht gegenüber den sozialen Machtverhältnissen immunisiert. Während Soziale Arbeit einerseits ihre praktische Arbeit innerhalb herrschender Verhältnisse einrichten muss, könne sie andererseits dennoch Kritik üben, ihr Alltagshandeln problematisieren und die Auswirkungen gesellschaftlicher Machtverhältnisse in sozialpädagogischen Institutionen kritisieren, ohne sich selbst handlungsunfähig zu machen. Es geht darum, Raum für Bewegung und Widerstand innerhalb von Machtbeziehungen zu eröffnen, aus denen auch die Soziale Arbeit ebenso wenig wie andere Institutionen oder Individuen einen Seitenausstieg vollziehen kann (vgl. auch Rabinow/Rose 2003, 22f.).
Im Kielwasser dieser Überlegungen ist Dannenbeck und Dorrance (2009) zuzustimmen, dass Inklusion weder ein kurzfristiges Unternehmen ist noch mit der schlichten, sozialtechnologischen Anwendung sozialpädagogischer Verfahrensweisen erzielt werden kann. Es gibt keine erlernbaren „Methoden der Inklusion“ oder der Exklusionsvermeidung, die ohne kritische Reflexion praktizierbar wären (vgl. ibid.; auch Waldschmidt 2007). Stattdessen muss eine kritische Soziale Arbeit um die Machtkonstellationen wissen, innerhalb derer sie sich jeweils bewegt, sie muss sich vergewissern, wo sie diese überschreiten oder verschieben kann und dazu muss sie sich innerhalb der beweglichen Machtfelder politisch flexibel positionieren und jeweils adäquate Praktiken anwenden. „Adäquat“ bezieht sich darauf, was im jeweiligen Handlungsraum möglich und sinnvoll ist und auch hier ist wieder zu betonen, dass das, was praktisch machbar und sinnvoll ist, zu einem gegebenen Zeitpunkt nicht theoretisch und politisch „richtig“ sein muss.
Kritisch orientierten SozialarbeiterInnen sind daher wohl am ehesten flexible Guerilla-Taktiken des Vorgehens zu empfehlen. Schlichte Rezepte, Methoden mechanische Verfahren zur Inklusion gibt es nicht; Soziale Arbeit bewegt sich in theoretischen und politischen Widersprüchlichkeiten, Dilemmata und Paradoxien. Inklusion ernst zu nehmen, bedeutet notwendiger Weise ständig Kritik an gesellschaftlichen und institutionellen Rahmenbedingungen zu üben und somit die Politisierung der eigenen Tätigkeit ernst zu nehmen.
Schließlich soll am Ende die Ausgangsfrage nochmals aufgenommen werden, die lautete: Welche Theoretisierung von Inklusion und Exklusion erscheint für die Praxis der Sozialen Selbstverständnis entspricht? Aus Sicht der an Luhmann orientierten Theoretisierungen mag Soziale Arbeit als Funktionssystem (z.B. Baecker 1994), als Funktionssystem im Werden (z.B. Merten 2000; Hafen 2004) oder als Nicht-System, sondern nachgeordneter Beruf (vgl. Stichweh 2000; auch Bommes/Scherr 2000; Scherr 2002; 2006; 2008) verstanden werden. Selbst dann, wenn ihr der Status eines Systems oder eines Systems im Werden zugeschrieben wird, kann nach wie vor als ungeklärt gelten, welchen „Code“ Soziale Arbeit verfolgt, in welcher Weise sie sich auf andere Funktionssysteme bezieht und wie (bzw. ob überhaupt) ein Selbstverständnis als Menschenrechtsprofession in diese Vorstellung eingebaut werden kann. Eine kritische Sozialarbeit hat schon deshalb keinen Platz in dieser Vorstellung, weil dies unvereinbar ist mit der Idee der Autopoiesis von Systemen. Gesellschaftskritik kann von den Adressaten dieser Kritik nur sehr bedingt (wenn überhaupt) aufgenommen werden und ist letztlich nicht mehr als ein „Rauschen in der Umwelt“ der Systeme. Schließlich stellt sich die Frage, wie die Soziale Arbeit dazu kommt, sich selbst als humanistisch orientiertes Unternehmen und als Menschenrechtsprofession wahrzunehmen und zu positionieren. Im Rahmen dieser Theoretisierungen scheint dies ein gigantisches Selbst-Missverständnis zu sein. Eine Erklärung, wie es zu diesem historisch anhaltenden und international flächendeckenden Missverständnis kommen konnte, steht aus.
Foucault andererseits macht es der Sozialen Arbeit nicht einfach. Eine effiziente Wahrnehmung der selbst formulierten Aufgaben und ein sinnvolles Arbeiten mit den Kategorien „Exklusion und Inklusion“ kann nur durch die Einnahme einer permanenten kritischen Position erzielt werden. Diese kritische Position erfordert theoretisches Reflexionsvermögen, was mitunter nicht unbedingt der Neigung von PraktikerInnen entspricht. Nichtsdestotrotz scheint dieses Reflexions- und Kritikvermögen unerlässlich, will Soziale Arbeit ein theoretisch und praktisch sinnvolles Verständnis von Exklusion und Inklusion entwickeln und – darüber hinaus gehend – will sie nicht, wie von Obrecht, Staub-Bernasconi, Bettinger, Seithe u.a. befürchtet, aktiv an ihrer eigenen Trivialisierung und Deprofessionalisierung mitarbeiten. Die Politisierung der Sozialen Arbeit ist demnach nicht nur eine moralische Forderung im Sinne der Klientel, sondern notwendig für das Überleben des Berufsfeldes, sofern es sich als Profession definieren will.
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[2] Dies scheint Scherr in seiner Diskussion verschiedener Exklusionsbegriffe in der Tendenz anzustreben, wiewohl der Hinweis darauf, dass „für die theoretische Fundierung von Sozialer Arbeit und Sozialpolitik letztlich empirisch fundierte theoretische Klärungen“ anzustreben sind, auf die Problematik eines solchen Unterfangens verweist (vgl. Scherr 2008). Insgesamt zeigt sich in einem umfassenden Versuch, Exklusion und Soziale Arbeit zu thematisieren, die von Farzin hervorgehobene Heterogenität der Ansätze, die nicht in einen synthetisierenden Exklusionsbegriff gefasst werden können. Während Anhorn die Ansicht vertritt, dass der Exklusionsbegriff nur im Rahmen einer klassentheoretischen Fassung thematisiert werden kann (vgl. Anhorn 2008, 41), bezieht er sich für Scherr nicht nur auf ungerechte Verteilungen bzw. ungerechten Zugang zu materiellen Ressourcen, sondern zu verschiedenen sozialen Bereichen und Kontexten (vgl. Scherr 2008, 100 f.) und muss notwendigerweise empirisch beschrieben und geklärt werden. Winkler hingegen argumentiert, Exklusion sei nicht messbar, entziehe sich des empirischen Zugriffs weitgehend und müsse als diskursive Praxis verstanden werden. Zum Versuch der Zusammenführung verschiedener Exklusionsbegriffe vgl. auch Lambers 2010, der den Anspruch erhebt, in der Systemtheorie könnten auch die für die Soziale Arbeit zentralen Themen der Ungleichheit aufgehoben werden. Vgl. insbesondere 110 ff.
[3] Die vermutlichen Gründe für diese ungewöhnliche Allianz können an dieser Stelle nur kurz angerissen werden. Sie liegen offenbar darin begründet, dass „Sozialarbeitstheoretiker“ unterstellten, dass eine die Soziale Arbeit im Luhmannschen Sinne als „System“ theoretisiert werden kann, dass dieses System einen eigenen Gegenstandsbereich im Sinne einer Definition von „Wissenschaft“ begründen kann und auf dieser Basis „Soziale Arbeit“ als eigenständige Wissenschaft zu etablieren ist. Über den Erfolg dieser Bemühungen besteht nach wie vor Uneinigkeit.
[4] Das gilt auch für die Systemtheorie, die im Kontext der Wissenschaft die Gesellschaft beobachtet (vgl. Maaß 200, 29).
[5] An dieser Stelle kann nur darauf verwiesen werden, dass die Behauptung, dass gesellschaftliche (und psychische) Systeme per se autopoietisch seien, hochgradig strittig ist.
[6] Die Idee der „Chance von Inklusion“ erinnert - wohl nicht von ungefähr - an die neoliberale Ideologie der „Chancengleichheit“, die die Idee sozialer Gerechtigkeit ersetzen soll. Die Nähe dieser Überlegungen zu neoliberalen Subjektivitätsvorstellungen ist offensichtlich.
[7] Dass diese Argumentation wohl kaum durchzuhalten ist, ist von verschiedenen Autoren angemerkt worden. Vgl. z.B. Noll 2006.
[8] Interessanterweise wurde dieses Problem nur in den Theoretisierungen der Sozialen Arbeit angesprochen. Ähnliches dürfte für die Psychologie als Praxis gelten, die sich dies allerdings weniger zum Problem gemacht hat als die Soziale Arbeit.
[9] Ein weiteres, hier auftretendes theoretisches Problem wurde von Farzin ausgeführt: Das Arbeiten mit Beispielen und Illustrationen bezieht seine Überzeugungskraft aus der suggestiven Kraft einer scheinbar allen zugänglichen Wahrnehmung und soll dazu dienen, eine abstrakte Aussage unmittelbar einleuchtend zu machen. D.h. Beispiele sollen die Theorie plausibilisieren – was allerdings davon ablenkt, dass man eigentlich keine erkenntnisproduzierende Brücke zwischen Abstraktion und Konkretion schlagen kann. Denn: Nicht eine empirische Wahrnehmung wird theoretisch gerahmt, sondern umgekehrt: Es wird die fragwürdige Operation unternommen, eine Theorie durch selektive Beispiele zu plausibilisieren (vgl. Farzin 2012, 46f.). Wenn also im Zuge der Luhmann-Rezeption in der Sozialen Arbeit an Praktiker appelliert wird, die Scheu vor schwierigen systemtheoretischen Texten abzulegen (so Hafen 2004), so liegt möglicherweise das Problem nicht (nur) auf Seiten der Praktiker, sondern darin, dass die Argumentationsweise davon ablenkt, dass es keine Brücke gibt zwischen einer Abstraktion, die Exklusion als primär logisches System fasst, und der Konkretion, also dem, was dennoch immer wieder als „empirische Evidenz“ auftaucht, gibt – was (nicht nur) PraktikerInnen verwirrt und mit eigenen empirischen Beobachtungen in Konflikt bringt (vgl. ebda.; vgl. auch Kronauer 2010, 133).
[10] Noll verweist an dieser Stelle auf die Nähe dieser Gedankengänge zu faschistoiden Gesellschaftskonzeptionen, da die Würde des Einzelnen aus dem Kollektiv abgeleitet und auf seine oder ihre gesellschaftliche Rolle reduziert wird: Das Individuum muss gewissermaßen seinen gesellschaftlichen Nutzen zur Schau tragen bzw. sich der Gesellschaft fraglos unterwerfen, damit es seine Würde nicht verliert. Vgl. Noll 2006, 304f.; vgl. auch Nullmeier, der feststellt, dass die Frage, „was die Funktionsfähigkeit von Systemen mit mir als Einzelnem zu tun hat, insbesondere im Fall der Nicht-Teilhabe an bestimmten Systemen“ nicht zu vermeiden ist, insbesondere was die Teilhabe an „Menschenwürde“ anbelangt (vgl. 2010, 14f.).
[11]Diese Vorstellung ist zu kontrastieren mt der des „doppelten Mandats“ der Sozialen Arbeit, die besagt, dass Hilfe und Kontrolle zwei Seiten einer Medaille sind und dieses Spannungsverhältnis konstitutiv für Soziale Arbeit ist. Dennoch wurde, wie Kessl ausführt, seit den 70er Jahren der Anspruch erhoben, dass sich Soziale Arbeit von der Kontrollfunktion emanzipieren könne. Die Foucaultsche Betrachtung zeigt weiteres Mal, dass dieses Dilemma nicht auflösbar ist: Soziale Arbeit muss sich notwendiger Weise der Subjektivitätsdiskurse bedienen, in die ebenso notwendiger Weise Machtdiskurse eingebaut sind. D.h. allerdings keineswegs, dass sich SozialarbeiterInnen fatalistisch in diesen Machtverhältnissen einrichten müssen. Vielmehr ist in jeden Machtdiskurs die Möglichkeit der Widerständigkeit in gleichem Maße eingebaut (vgl. Kessl 2006; Foucault 1994).
[12] So verweist Seithe darauf, dass der Ökonomisierungsgedanke, der als Teilbereich des Governance-Konzepts anzusehen ist, von vielen Vertretern der Sozialen Arbeit begrüßt wurde, da sie sich die Lösung mancher Problematiken, den Abbau von Hierarchien und Bürokratisierung und eine stärkere Betonung des Dienstleistungsgedankens sowie mehr Bürgerbeteiligung erhofften. Sie schreibt die Kritiklosigkeit dem geringen Selbstbewusstsein der Akteure zu, was es leicht machte „sich die Definitionsgewalt innerhalb der Profession anzueignen und wie ein Besatzer Wege und Ziele von außen zu bestimmen…“ (Seithe 2012, 8).
[13] Die Unterstellung der freien Entscheidung wird alleine durch die vorliegenden Zahlen ad absurdum geführt: So wurde im Jahre 2007 davon ausgegangen, dass 50-75% der Prostituierten in Deutschland Ausländerinnen ohne Aufenthaltstitel oder Zwangsprostituierte waren (vgl. EMMA Januar/Februar 2007). Diese Zahlen sind seither eher noch gestiegen.
[14] Der Verheißungsgedanke wird auch von Seithe angesprochen, wenn sie sagt, dass die „neoliberale aktivierende Soziale Arbeit (…) die Ziele und Begriffe der Lebensweltorientierung (aufgreift) und versucht den Eindruck zu erwecken, sie käme, um die Soziale Arbeit zu retten und ihr endlich zu ermöglichen, ihre eigenen Ziele umzusetzen“ (Seithe 2012, 8).
[15] Die oben beschriebene Haltung von Teilen der Sozialen Arbeit gegenüber dem Prostitutionsgesetz von 2002 mag ein Beispiel für die verheerenden Folgen dieses Theoriemangels zugunsten eines reflexionslosen Hinnehmens einer vorgegebenen Praxis und ihrer vermeintlich emanzipatorischen Handhabung sein. Damit ist mitnichten gesagt, dass ein pragmatisches Umgehen mit dem Phänomenen „Prostitution“ im Sinne von empathischer Beratung und Unterstützung der Prostituierten zu einem gegebenen Zeitpunkt „falsch“ ist. Allerdings bleibt ein weiteres Mal zu betonen, dass das, was pragmatisch unvermeidbar und richtig sein kann, nicht gleichzeitig politisch und theoretisch vertretbar ist. Die Problematik liegt in der mangelnden Differenzierung dieser beiden Perspektiven.