Christina Spaller: Welt ordnen – Menschen begegnen.  Über die Konstruktion und das Tun von Differenzen.

Abstract: Der Artikel geht von der Annahme aus, dass Menschen die Komplexität von Welt notwendig ordnen, um Phänomene und auch sich selbst zu begreifen. Durch diese Vereinfachung gewinnen Menschen Orientierung und Handlungsfähigkeit. Die Ordnung erscheint als natürlich und normal. Doch sie liegt nicht in der Welt, sondern wird von außen an diese herangetragen, ist konstruiert, dynamisch und damit auch veränderbar. Ein Potential für mögliche Veränderungen liegt in konkreten Begegnungen. Dort können vorgefertigte Bilder und Zuschreibungen differenziert werden und eine Erweiterung erfahren.

Stichwörter: Diversität – Konstruktion der Wirklichkeit – Zugehörigkeit (drinnen und draußen) – Macht (oben und unten) – Begegnung – Konflikt – Komplexitätserweiterung

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung
  2. Ordnen / Welt ordnen
  3. Umgang mit Verschiedenheiten
  4. Fazit
  5. Literatur

1. Einleitung

Unterschiede zwischen Menschen sind neu ins Gespräch, in die Sprache und damit in den Blick gekommen. Es interessiert u.a. die Vielfältigkeit der Unterschiede, die Zugehörigkeiten und soziale Identitäten, die Konstruktion der Anderen, die Zuschreibungen bis hin zu Stereotypisierungen und Vorurteilen. Diese Themen werden von der Frage nach einem konstruktiven und gelingenden Mit- und Nebeneinander begleitet, das als solches wiederum auf seinen Inhalt befragt werden kann. Der Umgang mit und die Wirkung von Unterschieden interessieren und stehen zur Diskussion. Wie kann angesichts der Verschiedenheiten gemeinsam Welt gestaltet werden? Wie viel Gemeinsamkeit ist notwendig und wie viel Verschiedenheit möglich?
Verschiedenheiten und damit auch die Ähnlichkeiten – so eine der Hypothesen des vorliegenden Textes – sind nicht etwas, das ist, sondern das ist, weil wir es wahrnehmen und im Wahrnehmen konstruieren. Dies benennt auch der, in Anlehnung an doing gender geänderte Begriff doing difference (vgl. Krell u.a., 2007, S. 8). Unterschiede und Ähnlichkeiten wurden und werden alltäglich gelernt, wahrgenommen und (re)produziert. So gelingt es, die komplexe und chaotische (weil ungeordnete) Wirklichkeit zu ordnen (Kosmos), begreifbar zu machen, in den Griff zu bekommen. In der so geschaffenen Weltordnung wird Leben in der Alltäglichkeit und Sinnhaftigkeit erschaffen und möglich. Diese Ordnung ist nicht statisch, sondern dynamisch und veränderbar.
Wenn nun Menschen als sozialisierte oder vergesellschaftete Wesen Verschiedenheiten und Ähnlichkeiten reproduzieren, selbst herstellen und in die erlebte Wirklichkeit einschreiben, könnten sich Fragen aufdrängen, z.B.:

Der folgende Text ist ein weiterer Versuch, die Welt der Identitäten und Unterschiede und die Rede darüber zu ordnen und besprechbar zu machen, wissend, dass jedes Ordnen (ein An-, Ein-, Nach-, Um-, Zuordnen) ein Versuch bleibt, der komplexen Wirklichkeit eine Struktur oder ein Muster zu geben, das ihr ent- und widerspricht.

2. Ordnen / Welt ordnen

Wenn Herr K. Gastfreundschaft in Anspruch nahm, ließ er seine Stube, wie er sie antraf, denn er hielt nichts davon, dass Personen ihrer Umgebung den Stempel aufdrückten. Im Gegenteil bemühte er sich, sein Wesen so zu ändern, dass es zu der Behausung passte; allerdings durfte, was er gerade vorhatte, nicht darunter leiden. Wenn Herr K. Gastfreundschaft gewährte, rückte er mindestens einen Stuhl oder einen Tisch von seinem bisherigen Platz an einen anderen, so auf seinen Gast eingehend. „Und es ist besser, ich entscheide, was zu ihm passt!“ sagte er. (Brecht, 1971, S. 32)

Verschiedenheit ist nicht etwas das ist, sondern das ist, weil wir es wahrnehmen und im Wahrnehmen konstruieren. Menschen lernen in familiären, gesellschaftlichen … Kontexten Wirklichkeit zu sehen und die vielfältigen Eindrücke zu ordnen. Beispielsweise wird ein Kind, das noch nicht gelernt hat, zwischen den Farben schwarz und dunkelblau zu unterscheiden, für beide Farben dasselbe Wort verwenden. Dies wird solange geschehen, bis das Kind aufgrund der Forderungen der Umgebung gelernt hat, die Unterschiede wahrzunehmen und den genannten Begriffen zuzuordnen. Die beiden Farben werden erkannt, weil die Unterscheidung zu sehen gelernt und Orientierung geschaffen wurde.
Dies gilt auch für all die anderen Unterschiede und Gleichheiten, die als solche wahrgenommen werden. Welt tritt Menschen ungeordnet gegenüber, in einer unüberschaubaren Vielfalt, unzähligen Reizen. Diese Eindrücke werden gefiltert, sortiert, vereinfacht und dadurch erträglich gemacht. Aus dem ursprünglichen Chaos der vielen Eindrücke wird ein geordneter und interpretierter Lebensraum geschaffen. Dieser Prozess kann erahnt werden, wenn jemand in einen fremden Bereich eintaucht. Aufgrund fehlender Ordnungsschemata erlebt man zuweilen eine Orientierungslosigkeit, die aus den vielen nicht zuordenbaren Eindrücken resultiert. Diese anfänglich befremdliche oder auch überfordernde Situation wird sich legen, wenn Interpretationsmuster und Erklärungen gefunden wurden, um Phänomene einzuordnen und die verwirrende Komplexität zu vereinfachen. Dadurch werden Strukturen sichtbar, das Chaotische geordnet und die eigene Handlungsfähigkeit ein Stück zurückgewonnen. Die Vereinfachung ermöglicht nicht nur eine Orientierung, sondern vermittelt auch Sicherheit und bindet Ängste. D.h. wenn Menschen ungefiltert Welt erleben, erklärt sich diese nicht selbst, sondern bedarf einer Interpretation. So wird eine komplexe und überfordernde Wirklichkeit durch Vereinfachung fassbar und lebbar. Oder wie Anderegg (1985, S. 39) schreibt: „Unsere Wirklichkeit, unsere Welt, ist das Resultat eines Interpretationsvorganges, einer Strukturierung, die auch anders vollzogen werden könnte und die tatsächlich zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Situationen und von verschiedenen Menschen unterschiedlich vollzogen wird.“ Dies ist ein zentraler Ausgangspunkt des vorliegenden Textes: die Welt, in der wir leben, ist immer schon ein Produkt eines vielschichtigen Ordnungs- und Interpretationsprozesses und die scheinbar natürliche Ordnung „das, was nur durch den Raster eines Blicks, einer Aufmerksamkeit, einer Sprache existiert.“ (Foucault, 1974, S. 22)
Die Aneignung der Wirklichkeit durch Interpretation ist ein lebenslanger und lebensgeschichtlicher Prozess, bei dem in Dynamiken der Vergesellschaftung[1] Ordnungsschemata und Sinnzuschreibungen übernommen, aber auch durch individuelle Erfahrungen und Irritationen herkömmliche Schemata befragt und neue Interpretationen entwickelt werden. Durch die Einübung und Aneignung vorgefundener Ordnungen aber auch eigener Erkenntnisse richten sich Menschen in der Welt ein, richten die Dinge nach ihnen hin aus oder ordnen sie nach ihrem Willen.[2] Dadurch erlangen Sie Sicherheit, Orientierung und Handlungsfähigkeit. Dieser Ordnungsprozess ist von Dauer.
Die Welt widersetzt sich diesen geschaffenen Ordnungssystemen nicht. Neues, das erfahren wird, wird eingeordnet oder macht eine Veränderung der geschaffenen und bis dorthin gültigen Ordnung notwendig. Das Ordnungssystem ist dynamisch und veränderbar.
Zu bedenken gilt weiter:

 

(a) Ordnungsdimension: drinnen oder draußen
Die einen kommen jedenfalls kaum mit den anderen zusammen, und wenn sie sich einmal zufällig begegnen, schauen sie aneinander vorbei, und gar nicht absichtlich. (Handke, 2007, S. 79)
Geboren in einem konkreten Kontext lernen Menschen in der Vergesellschaftung sich als Teil diverser Gruppen (Familie, weltanschaulicher Kontext, Geschlecht, Milieu ...) und in Abgrenzung zu anderen zu verstehen und eignen sich Normen, Handlungsweisen an und bauen eine emotionale Bindung zur Gruppe auf (vgl. Nicklas, 2006, S. 112f). Es kommt zur Ausbildung einer sozialen Identität, die als „Produkt der Wechselwirkung zwischen dem Individuum und seinem sozialen Umfeld“ (Nicklas, 2006, S. 112)  gefasst werden kann. Die Gruppen, denen Menschen angehören, sind gleichsam ihre soziale Haut, durch die sie sich stabilisieren, Schutz erhalten und sich von anderen abgrenzen (vgl. Tippe, 2012, S. 27).
Ordnungssysteme basieren auf Ähnlichkeiten, die es ermöglichen, Phänomene u.a. auch Menschen in Gruppen zusammenzufassen, wissend, dass es innerhalb der Gruppen Unterschiede gibt. So sind in diese geschaffenen Gruppen immer auch Grenzfälle zu beobachten, die letztlich nicht eindeutig zuordenbar sind. D.h. in einer Gruppe, die sich über ein oder mehrere Identitätsmarker definiert oder Merkmale[4] definiert wird, gibt es eine Abstufung in der Eindeutigkeit der Zuordnung. Ähnlichkeiten können in äußeren (z.B. Haartracht, Kleidungsstil, Hautfarbe) oder inneren (z.B. Werten, Weltanschauungen, psychische Vorgänge, Erfahrungen) Merkmalen gründen, sie können an „mehr oder weniger plausiblen, realen oder auch mehr oder weniger fiktiven Merkmalen von Gruppen festgemacht“ (Schlee, 2006, S. 51) werden. Die so geordneten und zusammengefassten Menschen sind den jeweiligen Gruppen (mehr oder weniger freiwillig) zugehörig. Die Kategorie Zugehörigkeit, die ein Drinnen-und-Draußen bedingt, entspricht dem Menschen als soziales Wesen, sich zusammen mit anderen Menschen aber auch getrennt von anderen erfahren zu können (vgl. König/Schattenhofer, 2006, S. 34). Das Drinnen-und-Draußen wird durch Inklusions- oder Exklusionsstrategien geregelt, die je nach Situation und Interesse verändert werden können (vgl. Schlee, 2016, S. 40-50).
Dies gilt auch für Unterschiede, die auf biologischen Merkmalen basieren, z.B. Ethnie und Geschlecht. Nach Schlee bilden sich ethnische Gruppen auf der Basis biologischer Annahmen, „betrachten sich selbst als natürlich und zeitlich stabil wie eine biologische Spezies“ und nehmen „Bezug auf reale oder eingebildete historische Ereignisse, spezielle Bräuche und Sitten und dergleichen“ (2006, S. 127). Judith Butler argumentiert für die Konstruiertheit der Kategorie Geschlecht. Im Unterschied zur Geschlechtsidentität gilt ihr auch das biologische Geschlecht in der Dualität von Mann und Frau letztlich als diskursives, kulturelles Konstrukt. (Vgl. Butler, 1991, S. 190-218) Abgeschwächter und dennoch sehr stark bis beinahe naturgegeben erscheinen die Bereiche Nation und Religion. Im Unterschied zur Ethnie, die vorwiegend auf einem kulturellen Aspekt aufbaut und eine biologische Gemeinsamkeit entwickelt, baut Nation stärker auf einem politischen Aspekt auf und beansprucht politische Souveränität. Ähnliches im Blick auf die Konstruiertheit gilt für Religionen und religiöse Gruppierungen, die mit Hilfe der Begrifflichkeit von rein/unrein den Zugang zu Macht und die Zugehörigkeit regulieren. (vgl. Schlee, 2006, S. 94-127)
Es gibt diverse Versuche, bedeutsame Verschiedenheiten zu benennen und in ein Raster zu bringen. Beispielsweise unterscheidet Hans Nicklas (2006, S. 113) zwischen natürlichen, angeborenen und erworbenen Zugehörigkeiten, die sich darin unterscheiden, ob sie nicht, schwierig oder einfach gewechselt werden können. In ihrem vielfach verwendeten Modell für Diversity Management unterscheiden Lee Gardenswartz und Anita Rowe (vgl. Überacker, 2011, S. 221-223) vier Ebenen der Diversiät: im Zentrum steht die Idee einer ungeteilten individuellen Persönlichkeit oder eines Persönlichkeitskerns, um den herum drei Kreise gezeichnet sind, in denen der innere mit sechs „Kerndimensionen“ (z.B. Hautfarbe, Alter, physische und psychische Fähigkeiten), die äußere (z.B. Gewohnheiten, Religion, Familienstand, soziale Schicht) und organisationale (z.B. Arbeitsort, Managementstatus) Differenzkategorien benennt. Krell u.a. (2007, S. 9) schreiben in ihrer Einleitung von einer unendlich langen Liste von möglichen Diversity-Dimensionen, die z.B. in den USA im Rahmen des Diversity Management auf acht und in Deutschland auf drei Kategorien reduziert wird, um in Forschung und Praxis angewandt werden zu können. Bei dieser anfänglichen Auflistung wird deutlich, dass die Einteilung von Differenzen immer auch auf dem Entstehungs- oder Anwendungshintergrund zu lesen sind. Neben diesen formalen Einteilungen werden in Gruppen weitere Unterschiede bedeutsam, z.B. Arbeitsstil, Konfliktlösungsmuster, Ernährungsweise, Umgang mit Emotionen, Länge der Anfahrtswege. Welche Unterschiede in einer aktuellen Situation maßgeblich sind, hängt von den vorgegebenen Anforderungen, Zielen und aktuellen Interessen der beteiligten Personen ab.
Individuen leben in verschiedenen Gruppen, leben mehrere Zugehörigkeiten, die zur Ausbildung ihrer sozialen Identität oder Haut beitragen. Diese Mehrfachzugehörigkeit erlaubt in verschiedenen Kontexten unterschiedliche Bündnisse oder Ausgrenzungen zu leben (vgl. z.B. Lewin, 31968c, S. 204-208). So kann zwischen den Zugehörigkeiten geswitcht werden, auch ist es möglich, innerhalb einer größeren Gruppe eine kleinere Gruppe zu bilden nach den aktuellen Bedürfnissen der Betreffenden (vgl. Primarstufenstudierenden in der Gruppe der Lehramtsstudierenden an einer Pädagogischen Hochschule OÖ bzw. eine konkrete Seminargruppe oder Teilseminargruppe, in der wiederum ein Team für eine Aufgabenstellung gebildet wurde). Bedeutsam ist, welche der Zugehörigkeiten in welchem Kontext und zu welchem Zeitpunkt aktualisiert und maßgebliche wird. (vgl. Schlee, 2006, S. 54-63)
Mehrfachzugehörigkeiten können aufgrund der durch sie bedingten Überschneidungen verschiedener Personengruppen für eine größere soziale Kohäsion hilfreich sein, müssen dies aber nicht. Im Gegenteil können gesellschaftlich oder gruppal gelebte Widersprüche einzelne Personen vor ungewollte Herausforderungen stellen bzw. erleben diese den Konflikt innerlich und sind angehalten für sich eine Balance zu finden. Bedeutsam ist hier sicher, dass nicht alle Zugehörigkeiten gleich schwer wiegen. So spricht u.a. auch Vamik Volkan in seinem Buch über Großgruppenverhalten und -identitäten, dass „das ethnische, religiöse oder nationale Identitätsgefühl von Menschen eng mit ihrer ‚Kernidentität’ verbunden ist – ihrem tiefen persönlichen Gefühl der Gleichheit, stabilen Bildern von der eigenen Geschlechtlichkeit und entsprechenden Körperbildern sowie der Kontinuität zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ (2005, S. 22). Überscheidungen in den Zugehörigkeiten ermöglichen nicht von sich aus ein gelingendes Zusammenleben. Grundsätzlich sind die Themen Gleichheit und Differenz „Rohmaterial für politische Rhetorik ..., das selektiv zum Zwecke der Inklusion oder Exklusion verwendet werden kann“ (vgl. Schlee, 2006, S. 59). Hier wird noch einmal die sprachliche Konstruiertheit der Kategorien und der damit konstruierten Verhältnisse zueinander deutlich.
Zugehörigkeiten fordern auch einen Preis. Es braucht eine Anpassung, eine Einordnung bis hin zu Unterwerfungsleistungen. „Die Teilhabe an der Überlegenheit und dem einzigartigen Charisma einer Gruppe ist gleichsam der Lohn für die Befolgung gruppenspezifischer Normen.“ (Elias/Scotson, 1993, S. 18) Wer beispielsweise als eine Frau erkennbar sein möchte, muss nach außen hin bestimmte, gesellschaftlich normierte Erwartungen wirksam verkörpern. Dies gilt auch für Angehörige von Jugendkulturen und allen anderen Gruppen. Wer Mitglied einer Familie bleiben möchte, wird gewissen Werte, Normen, Rituale beibehalten – wenigstens im Rahmen der Familientreffen. Die Trennung des Christentums vom Judentum hat sich vollzogen, als in die jüdisch-christliche Bewegung zunehmend Menschen aufgenommen wurden, die nicht zum Judentum konvertiert waren (vgl. Herweg, 2005, S. 22f). Hier wurde die Trennung einer kleinen Gruppe durch eine neue Praxis eingeleitet.
Je größer die Kohäsion (der Zusammenhalt) einer Gruppe und in dem Maß, wie sie sich von der Umwelt abzusetzen sucht, desto größer erscheint der Druck auf die Gruppenmitglieder zu sein. Elias und Scotson (1993, S. 7-56) beschreiben u.a. diese Dynamik in ihrem Buch Etablierte und Außenseiter am Beispiel einer englischen Vorortgemeinde Winston Parva, einer typischen Arbeitersiedlung: Aufgrund ökonomischer Gegebenheiten kommt es zu einem Zuzug englischer Arbeiter_innen in diese Arbeitersiedlung. Die ‚Alteingesessenen’ weisen aufgrund der längeren gemeinsamen Lebensweise, der Bekanntheiten und Verwandtschaften, vorhandener Normen und dem Stolz auf das Eigene eine größere Zusammengehörigkeit aus im Vergleich zu den neu Zugezogenen. Trotz großer ökonomischer wie auch sozialer Ähnlichkeiten erleben die Alten die Neuen als Bedrohung und schließen ihnen gegenüber die Reihen. Das Eigene wird zum Besonderen erhoben und durch ein relativ hohes Ausmaß an sozialer Kontrolle bewahrt. Die Teilhabe an der Gruppe sichern sich die Angehörigen durch eine mehr oder weniger rigide Befolgung gruppenspezifischer Normen, Verhaltensmuster, Affektkontrolle ... Wer mit den Anderen verkehrt, riskiert innerhalb der eigenen Gruppe abgewertet oder ausgeschlossen zu werden. Andererseits erleben jene, im geschilderten Beispiel die Ausgeschlossenen, aufgrund des geringen Grads an Kohäsion weniger sozialen Gruppendruck und mehr Freiheit im Denken und Handeln.

(b) Ordnungskategorie: oben und unten
... weil sich dort die Zeit anders dreht in den Köpfen der Leute, dort mahlen die Mühlen der Vergeltung und der Begrenzung, der Ausgrenzung, die Leute halten die Mühlen in Gang aber die Zäune niedrig, zum Hinübergaffen, zum Über-andere-Herziehen, Herfallen. Mit den Gleichen geht es immer besser, über die Anderen zu richten. Wir waren nicht die Gleichen, immer die Anderen. Und sie sind hergefallen über uns. (Laznia, 2014, S. 16)

Entgegen der mit dem Begriff „Diversität“ latent mitgelieferten Idee von Gleichwertigkeit von Unterschieden und gegenseitiger Bereicherung ist bei der Betrachtung von Gruppen eine Hierarchisierung, formell wie informell, festzuhalten. Das Thema Macht drückt sich in der Über- und Unterordnung aus, die gelebt, gelernt, hinterfragt und auch aufrechterhalten wird. So eröffnen Zugehörigkeiten verschiedene Möglichkeiten der Teilhabe und Teilnahme an gesellschaftlichen Prozessen und damit verbunden individueller Chancen der Lebensgestaltung. Oder wie Lewin mit Blick auf die Zugehörigkeit zur jüdischen Gruppe 1935 formuliert: „Die Gruppe, der ein Einzelner angehört, ist der Boden, auf dem er steht, der ihm einen sozialen Rang gibt oder versagt, ihm Sicherheit und Hilfe gibt oder versagt.“ (31968b, S. 242) Dies betrifft sowohl Personen in angesehenen als auch in weniger angesehenen Gruppen. Letzteren wird ein entsprechend niedriger gesellschaftlicher Ort zugewiesen (z.B. arbeitslos in einer Leistungsgesellschaft, alt in einer scheinbar junggebliebenen Gesellschaft, Single in einer auf Familien ausgerichteten Umgebung). Dies hat Auswirkungen auf das Selbst der betroffenen Menschen, denn „das Selbstbild eines Menschen hängt nun wesentlich von seiner sozialen Identität und den Gruppen, denen er angehört, ab“ (Nicklas, 2006, S. 113).
Lewin beschäftigte sich ab den 30er Jahren auf dem Hintergrund des wachsenden Antisemitismus mit dem Phänomen der Intergruppenbeziehungen und beschreibt im Jahre 1939 (vgl. Lewin, 31968) am Beispiel der Juden und Jüdinnen die Funktionsweise von Mehrheiten und Minderheiten: In Unterscheidung zur Minderheit schafft die Mehrheit sich als Überlegene selbst, konstruiert sich als mit einem besonderen Charisma ausgestattet (vgl. auch Elias/Scotson, 1993, S. 7-56), grenzt sich ab und weiß Schuldige für diverse auch widersprüchliche Problemlagen zu finden (Sündenböcke). Was in den Augen der Mehrheit als ungebührlich, verwerflich etc. benannt wird, wird auf die Mitglieder der Minderheit projiziert und dort bekämpft. Dies hat massive Auswirkungen auf die Angehörigen der abgewerteten Minderheit bis hin zum Selbsthass, weil es ihnen verunmöglicht wird, die Zugehörigkeit zu wechseln und in der gesellschaftlichen Hierarchie aufzusteigen.[5] So formuliert Lewin, „dass die Probleme einer benachteiligten Minderheit in einem direkten Verhältnis zu der Lage der Mehrheit stehen“ (31968a, S. 232). Die Konstruktion einer Minderheit zugunsten der Mehrheit ist auch in der Aussage eines Rollstuhlfahrers in der Ausstellung „Fünf Wege nach Hartheim“ zu lesen. Er sagt: „Wir Behinderten sind nicht behindert, sondern wir werden behindert. ... Wir meinen mit ‚wir werden behindert’, dass wir im Laufe unseres Lebens isoliert werden. ...  Das schafft Probleme bei jedem von uns, auch psychische Probleme; das schafft, dass wir auch sonderbar – behindert – werden in der Isolation. Es gibt ein gesellschaftliches Phänomen, das eigentlich das Hauptproblem für uns ist: Angst und Angstabwehr. Das meint, es wird etwas in uns hineingelegt, das gar nicht das unsere ist. Niemand in unserer Gesellschaft hat gerne einen Unfall, niemand will krank werden, jeder hat Angst vor dem Tod. Und Behinderte werden leicht zum Symbol all dieser Dinge, die in unserer Gesellschaft nicht verarbeitet sind. ... Das wird auf uns projiziert und erzeugt das, wovor man Angst hat, nämlich behinderte Menschen. Wenn man noch weiter geht, meint diese Leidensprojektion auch, na ja, eigentlich wollen wir uns ersparen, dass dieses Thema hier überhaupt existiert bei uns. Behinderte als Symbol von Krankheit, Alter, Unfall, Tod wollen wir uns eigentlich ersparen, wir wollen auch, dass sie letztlich weg sind. ...“ (Schönwiese, 2003).
Das Verhältnis verschiedener Gruppen zueinander findet in der Literatur neben der Rede von Mehrheiten und Minderheiten einen Ausdruck in der Rede von den dominanten und dominierten Gruppen (vgl. z.B. Fuchs, 2007, S. 23f; Krell, 2007, S. 10) oder der Rede von der in-group und out-group (vgl. z.B. Abels, 2009, S. 188-210) oder von Etablierten und Außenseiter_innen (vgl. Elias/Scotson, 1993). In diesen Differenzierungen wird die Dimension der Macht, der Machthabe in einer Gesellschaft thematisiert: Wer ist oben und wer unten? Wer hat welche Möglichkeiten und Ressourcen, Zugang zu zentralen gesellschaftlichen Bereichen, kann an gesellschaftlichen Prozessen teilnehmen und gestaltend mitwirken und wer weniger bzw. ist ausgeschlossen? Hier wird deutlich, dass Gruppen nicht in einem neutralen Raum gebildet werden und sich bewegen, sondern immer schon auf einem gesellschaftlich konstruierten und historisch gewachsenen Raum agieren. Im Unterschied zu den dominierten Gruppen sind sich die dominanten Gruppen ihrer Privilegien, die sie aus dieser, ihrer ihnen zugesprochenen Überlegenheit beziehen, meist nicht bewusst ebenso wie ihre Mitwirkung oder Mittäterschaft an Ausschließungsmechanismen und der Normenbildung und damit an der Systemstabilisierung. Die Mitglieder nehmen sich stärker in ihrer Individualität wahr, während bei Angehörigen von dominierten Gruppen die Gruppenzugehörigkeit im Vordergrund steht (vgl. die Kollegin mit türkischer Abstammung ist immer schon oder in erster Linie Türkin). Dominierte Gruppen ihrerseits sind sich der Barrieren und gläsernen Decke bewusst, erleben die Ausschließungsmechanismen (von Ressourcen, Entscheidungsmöglichkeiten, Teilnahmen) hautnah und können sich diesen oft nicht entziehen. Ihre Reaktion kann vielfältig sein: Sie können das zugedachte Fremdbild übernehmen und sich folglich mit den Augen der dominanten Mitglieder betrachten. In diesem Fall werden die Zuschreibungen in das Selbstbild übernommen. (vgl. z.B. Elias/Scotson, 1993, S. 12-15). Andere entwickeln einen Opferstatus (-mythos), leben sich dort ein und schotten sich ab. Auch passiver Boykott (sich entziehen, keine Reaktion zeigen ...) bei Nichtbeachtung der Grundbedürfnisse ist sichtbar. Eine weitere Möglichkeit besteht in einer Umwertung der zugeschriebenen Werte, d.h. Gruppen übernehmen Begriffe aus der abwertenden Fremdzuschreibung und vollziehen eine Umwertung. Sie sprechen davon stolz auf das „Anderssein“ zu sein, zeigen dies her und konfrontieren die dominanten Gruppen damit (vgl. Queer-Debatte oder die Black-Power-Bewegung).
Wenn aufgrund der Mehrfachzugehörigkeit eine Person verschiedene Diskriminierungen erfährt (z.B. dunkle Hautfarbe, Frau, mit einer körperlichen Behinderung, ökonomisch arm), wird von Intersektionalität gesprochen. (vgl. z.B. Winker/Degele, 22010; Knapp, 2014b). Es kommt zu einer Überschneidung verschiedener Diskriminierungsformen in einer Person oder eine Person ist der Schnittpunkt für verschiedene Abwertungen und Diskriminierungen.
Im Verbund mit Gruppenbildungen und Zugehörigkeiten entstehen auch Zuschreibungen. Denn wenn sich Gruppen bilden, entwickeln diese nicht nur eine spezielle Gruppenkultur und -mentalität, sie erinnern an für die Gruppe bedeutsame Erfahrungen, erzählen ihre Geschichten, wissen um Tabus, Normen ..., sondern es entsteht auch ein mehr oder weniger bewusstes Selbstbild. Mit diesem Bild können sie sich nach innen und außen hin charakterisieren, beschreiben. Im Fall einer Selbstbeschreibung werden die positiv konnotierten Bilder überwiegen (d.h. wie auch immer andere über uns denken, wir sind ...). Diese positiven Werte gehen auf alle Mitglieder der Gruppe über oder haben alle daran teil (vgl. z.B. Nicklas, 2006, S. 113; Elias/Scotson, 1993, S. 8). Demgegenüber werden andere meist nicht in demselben Grad mit positiv konnotierten Zuschreibungen bedacht. Einerseits mag das daran liegen, dass sie im Unterschied zur eigenen Gruppe als die anderen konstruiert und erlebt werden[6], andererseits dass es weniger Einblick oder Erfahrungen gibt, wie es denn dort so ist. (vgl. z.B. Benz/Widmann, 2007) Diese Zuschreibungen (Bilder, Stereotype) sind „reduktionistische Ordnungsraster“ (Erll/Gymnich, 52011, S. 72), mit denen das alltägliche Geschehen bewältigt wird. Sie lenken, beeinflussen und gestalten Kontaktnahmen zwischen Personen, machen eine Begegnung in einer bestimmten Art und Weise, quasi im Rahmen der zugeschriebenen Bilder, möglich. Fast könnte man schreiben, dass Kommunikation, die stark auf diese Zuschreibungen aufbaut, eine Kommunikation zwischen Personen und ihren Bildern von ihren Gegenübern darstellt, so als würde mit den selbstentworfenen Bildern kommuniziert. Wenn der Vorgang auch nicht in dieser Strenge zu denken ist, so sind doch die Zuschreibungen (Selbst- und Fremdzuschreibungen) bestimmend für die Begegnung. (Vgl. z.B. Marmet, 91999, S. 70-73). Man denke hier auch an klassische Vorstellrunden bzw. Erstbegegnungen, in denen überlegt wird, was man von sich erzählt, wie man sich vorstellt. Denn durch das Gesagte werden im Gegenüber Bilder aufgerufen bzw. bedient man Bilder bei den anderen.
D.h. die konstruierte Ordnung in ihrer Vorläufigkeit mit all den Zugehörigkeiten, den Hierarchien und Zuschreibungen bildet den Raster, mit dem Menschen sich und Welt wahrnehmen, wahrnehmen können, wissend, dass das, was die Begegnung mit Alltagsphänomenen erleichtert, auch ein vorläufiges Konstrukt ist, das die Welt verstellt.

3. Umgang mit Verschiedenheiten

„Die Anwesenheit eines anderen ist immer auch eine Frage, und ich verfüge über die Mittel, ihm Antworten zu geben, egal um welche Form der Zuwendung es dabei geht. Es ist keine Pflicht, es ist unser Wesen. Wir werden gefordert, Antworten zu geben, und wir verfügen über die Mittel. Wir müssen sie nicht erwerben. Das Leben stellt sie uns zur Verfügung, und in dem Maße, wie wir antworten, erschließt sich unsere Individualität. Die Barmherzigkeit mag aus der Fähigkeit des Mitleids und Mitgefühls entstehen, doch erst in der Verantwortung, in der Tat mache ich mich erkennbar. ... Das Gesicht eines anderen ist immer eine Frage an mich. Die Barmherzigkeit ist die Antwort. Jene Antwort, die das Leben erträglich macht.“ (Dinev, 2010, S. 13f)

(a) Vom alltäglichen Leben
Auch wenn die Verschiedenheiten neu ins Gespräch gekommen sind, ist das Leben mit Unterschieden nichts Neues sondern Teil des Alltagslebens. Menschen wachsen mit der Idee des Eigenen und Anderen, der Fremden und Bekannten auf und entwickeln individuelle Einstellungs- und Begegnungsmuster, die im Tun Wirklichkeit schaffen. Diese Prozesse des Erkennens und Zuschreibens laufen halb- oder unbewusst ab und bieten eine relativ rasche Orientierung für aktuelles Handeln, machen in einer gewissen Weise (im Rahmen der interpretierten Welt) handlungsfähig. Wiederholt ist zu beobachten, dass ein ähnliches Umfeld Sicherheit vermittelt, man sich schneller zu Hause und verstanden fühlt, wohingegen mit dem Grad der Verschiedenheit das Unverständnis steigt oder zu steigen scheint. Die Begegnung mit anderen fordert heraus, weil die Selbstverständlichkeit im Tun und Verstehen (von Begriffen, Gesten, Symbolen ...) nicht gegeben ist (vgl. Milowitz, 2005). So ist es naheliegend, dass der Umgang mit Gleichen entspannter und konfliktfreier erlebt wird als jener mit Angehörigen anderer Gruppen und sich viele Menschen in ihnen bekannten Feldern und Räumen bewegen. Dennoch können Missverständnisse auch hier nicht vermieden werden, wenn sie auch im bekannten Umfeld weniger häufig erlebt werden.
Missverständnisse können sich auch im Bemühen um ein interkulturelles Verständnis ergeben. So berichtet Gesche Keding (52011) von einem westlichen, interkulturell gebildeten Manager in Afrika, der versucht die Verspätung einer afrikanischen Mitarbeiterin als kulturelles Moment zu verstehen und zu ertragen. Nachdem ihn das jedoch zunehmend erzürnt, kommt es zu einem verbalen Ausbruch seiner Genervtheit in ihrer Abwesenheit. Woraufhin ein Mitarbeiter überrascht von seinem Nichtwissen den Manager über den wahren Grund der Verspätung aufklärt. Die Wohnsituation der Mitarbeiterin und die Mühe sich täglich durch einen Stau in die Arbeit zu bewegen waren Anlass für die wiederholten Verspätungen. Die scheinbar kulturell naheliegende Erklärung hat den Blick des interkulturell sensiblen Managers auf die soziale Verschiedenheit und die daraus resultierende Anstrengung der Arbeitnehmerin verstellt. Er hat für seine Erklärung den kulturellen aber nicht den sozioökonomischen Aspekt bedient. Die vermutete und gut gemeinte Zuschreibung passte nicht bzw. die Wirklichkeit passte nicht in die geordnete Vorstellung und führte zu einem Missverständnis, einem Versehen. Durch ein Offenlegen der Zuschreibungen, das Deklarieren der Emotionen und den anfänglichen Konflikt wird eine Klärung der Situation herbeigeführt, die zu einem erweiterten Verständnis der konstruierten Wirklichkeit führt. D.h. die anfängliche Vereinfachung erfährt eine Komplexitätserweiterung, die integriert werden kann.

(b) Bewusst neue Wege gehen
Dieses Beispiel leitet zum abschließenden Punkt über. Einige Momente werden benannt, die m.E. für diverse Begegnungen bedeutsam sind.

Eine weitere Herausforderung liegt in konkreten Kontakten und Begegnungen, da nur im alltäglichen Handeln die Ordnungen und Muster deutlich und schlagend werden. Doch in Begegnung zu gehen ist immer auch Wagnis, weil es gilt genau zu schauen, auf die eigenen Empfindungen zu achten, sich einzulassen und Grenzen zu setzen. Auch hält ein dialogisches Handeln Überraschungen bereit, weil man Abstand nimmt von herkömmlichen Handlungsmustern und neue Anpassungsleistungen erforderlich sind. „Kommunikation heißt im Fall interkultureller Kommunikation, dass die gegenseitige Wahrnehmung ausgehandelt werden kann, also alle Beteiligten das Recht und die Möglichkeit haben, Wahrnehmungen zu korrigieren.“ (Keding, 52011, S. 346) Da gilt es Position zu beziehen, was für Schulz von Thun in seinem Gespräch mit Pörksen zur Qualität der Kommunikation gehört. So formuliert er: „Vertrete dein eigenes Credo so rein und aufrichtig wie möglich, sprich dabei mit Herz und mit Feuereifer – vermeide es aber, die Überzeugungen deines Gegenübers in abfälliger, entwertender oder anprangernder Weise zu charakterisieren, im Gegenteil: Versuche mit Interesse, Empathie und Aufgeschlossenheit zu ergründen, warum ihm sein Credo ‚heilig‘ ist. Und mach klar, was du verstanden hast, mach aber auch klar, dass ‚Verstehen‘ nicht ‚Einverstandensein‘ bedeutet.“ (Pörksen/Schulz von Thun, 2014, S. 183)
In diesem Punkt sei noch einmal explizit auf die Zugehörigkeit zu verschiedenen hierarchisch geordneten Gruppen verwiesen. Für Angehörige von dominanten Gruppen gilt es hellhörig und aufmerksam zu sein, ihre Selbstverständlichkeit hinterfragen zu lassen, sich nicht umgehend zu verteidigen und dadurch die Dominanz fortzuschreiben. Dies ist nicht immer einfach, v.a. wenn man hört, wie Angehörige von dominierten Gruppen Diskriminierung(en) durch Angehörige von dominanten Gruppen erleben. Es ist angesagt, zu hören und zu verstehen, auch wenn es um die Auswirkungen des eigenen Handelns oder des Handelns der dominierten Gruppe geht.
Für Angehörige einer dominierten Gruppe sind solche Auseinandersetzungen ambivalent. Sie sollen sich erklären (vgl. ein muslimischer Student erklärt der nicht-muslimischen Mehrheit ...) und für das Verstehen der Mehrheit das eigene Erleben zur Verfügung zu stellen. Das ist eine sehr persönliche Sache, durch die sie sich angreifbar machen. So ein Gespräch setzt ein Klima des Vertrauens voraus: erzählen sie, kann es sein, dass die Diskriminierung fortgeschrieben wird; weichen sie aus, könnte sie der Vorwurf treffen, sich zu entziehen ...

Die vereinfachte Sicht auf Welt erfährt in Auseinandersetzungen und Klärungen von Standpunkten eine Erweiterung. Neues und Differenziertes wird sichtbar und kann in Folge berücksichtigt werden. Im Verstehen und Erdulden wäre nichts dergleichen passiert. Im Gegenteil ist zu vermuten, dass Emotionen sich aufgestaut und Annahmen sich verfestigten hätten. Eine Eskalation in Folge wäre naheliegend. Daher ist es ratsam, Konflikte in niederschwelliger Intensität zu erkennen und eine Form zu finden, sie in der Zeit zu benennen. Doch Konflikte können nur dann benannt werden, wenn das Gegenüber nicht ausweicht oder verschwindet. Konfliktbegrüßend zu arbeiten meint, das Knirschen und die Widersprüche frühzeitig sehen zu lernen und Mut zu fassen, diese anzusprechen bzw. wenn sie von anderer Seite angesprochen werden, diesen nicht auszuweichen, sondern Position zu beziehen und sich für eine Klärung zur Verfügung zu stellen. Hier sei auf die gängige Praxis verwiesen, dass Ärger mit jemanden oft in der Vermeidung der Person und im Sprechen über diese einen Ausdruck findet.
Nicht jeder Konflikt endet in einem neuen Verstehen. Kontakte können auch enden, z.B. weil es nicht mehr möglich ist sich zu verständigen, Zuschreibungen verfestigt wurden und nicht mehr hinterfragbar sind, Machtwünsche mitschwingen oder das Interesse am Gegenüber aufhört zu bestehen. Aber solange es Konflikte gibt, sind diese ein Ringen um eine Klärung, um eine Beziehung ... und setzt eine Wertschätzung und gemeinsames Wollen voraus.

Im Sollen liegen eine Verallgemeinerung und ein Anspruch auf Richtigkeit, der im Konkreten als solcher oder in Abwandlungen wirksam wird. Wie auch immer diese moralischen Ansprüche entstehen und stabilisiert werden, sie können für das Sein (für konkrete Situationen) richtungsleitend aber letztlich nicht bestimmend sein. So gilt es für die je aktuell Beteiligten passende Lösungen für konkrete Situationen (ihre zugängliche Welt) zu schaffen und nicht der Versuchung eines Rezepts zu erliegen.
Im Konkreten begegnen einander Menschen und dort ist der Stoff (Bedürfnisse, Wünsche, Möglichkeiten, Ressourcen, Machtverhältnisse …), aus dem gemeinsam Welt gestaltet wird.

4. Fazit

Wirklichkeit ist immer schon Produkt eines Interpretationsprozesses, der dazu dient, komplexe Phänomene zu ordnen und in den Griff zu bekommen. Dies gilt auch für den vorliegenden Artikel. Im Ringen um einen Umgang mit Differenzen und Identitäten werden zwei Momente konstruiert und miteinander verbunden: (1) die Annahme einer gesellschaftlich und individuell konstruierten Wirklichkeit unter dem Titel „Welt ordnen“ und (2) konkrete Begegnungen, in denen diese Ordnung lebendig wird und sich manifestiert. Liegt in den Begegnungen eine Offenheit dem Geschehen gegenüber, kann es sein, dass die der Ordnung eigenen vorläufigen Bilder und Annahmen gestört werden und Erweiterungen erfahren. Diese Erweiterungen oder dadurch mögliche differenziertere Sichtweisen hinterfragen angenommene Eindeutigkeiten, beugen Verhärtungen vor und sind m.E. bedeutsam für demokratische Prozesse.

5. Literatur

Abels, Heinz (2009). Wirklichkeit. Über Wissen und andere Definitionen der Wirklichkeit, über uns und Andere, Fremde und Vorurteile. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.
Anderegg, Johannes (1985). Sprache und Verwandlung. Zur literarischen Ästhetik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Benz, Wolfgang/Widmann, Peter (2007). Langlebige Feindschaften – Vom Nutzen der Vorurteilsforschung für den Umgang mit sozialer Vielfalt (S. 39-48). In: Krell, Gertraude u.a. (Hg.). Diversity Studies. Grundlagen und disziplinäre Ansätze. Frankfurt am Main: Campus Verlag.
Brecht, Bertolt (1971). Geschichten vom Herrn Keuner. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
Butler, Judith (1990). Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag.
Dimitri Dinev (2010). Barmherzigkeit. Unruhe bewahren. St. Pölten/Salzburg: Residenz Verlag.
Elias, Norbert/Scotson, John L. (1993). Etablierte und Außenseiter. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag.
Erll, Astrid & Gymnich, Marion (52011). Interkulturelle Kompetenzen. Erfolgreich kommunizieren zwischen den Kulturen. Stuttgart: Klett Verlag.
Foucault, Michel (1974). Die Ordnung der Dinge. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag.
Fuchs, Martin (2007). Diversity und Differenz – Konzeptionelle Überlegungen. In: Krell, Gertraude u.a. (Hg.). Diversity Studies. Grundlagen und disziplinäre Ansätze. (S. 17-34). Frankfurt am Main: Campus Verlag.
Handke, Peter (2007). Kali. Eine Vorwintergeschichte. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
Haug, Frigga (1990). Erinnerungsarbeit. Hamburg: Argument-Verlag.
Herweg, Rahel (2005). Jesus aus jüdischer Sicht. Zur Begründung einer Trennungsgeschichte. Welt und Umwelt der Bibel, 10 (4), S. 16-23.
Keding, Gesche (52011). Der falsche Wohnort ... Zur Bedeutung von Macht und Struktur in der interkulturellen Begegnung (S. 336-346). In: Kumbier, Dagmar/Schulz von Thun, Friedemann (Hg.). Interkulturelle Kommunikation. Methoden, Modelle, Beispiele. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag.
Knapp, Gudrun-Axeli (2014a). „Diversity“ and Beyond. Vom praktischen Nutzen feministischer Theorie (S. 161-188) In dies. Arbeiten am Unterschied. Eingriffe feministischer Theorie. Innsbruck/Wien/Bozen: Studienverlag.
Knapp, Gudrun-Axeli (2014b). „Intersectionality“ – ein neues Paradigma der Geschlechterforschung? (S. 127-143) In dies. Arbeiten am Unterschied. Eingriffe feministischer Theorie. Innsbruck/Wien/Bozen: Studienverlag.
König, Oliver/Schattenhofer, Karl (2006). Einführung in die Gruppendynamik. Heidelberg: Carl-Auer-Verlag.
Krell, Gertraude u.a. (Hg.) (2007). Diversity Studies. Grundlagen und disziplinäre Ansätze. Frankfurt am Main: Campus Verlag.
Krell, Gertraude u.a. (2007). Einleitung – Diversity Studies als integrierende Forschungsrichtung. In: Krell, Gertraude u.a. (Hg.). Diversity Studies. Grundlagen und disziplinäre Ansätze (S. 7-16). Frankfurt am Main: Campus Verlag.
Kumbier, Dagmar/Schultz von Thun, Friedemann (52011). Interkulturelle Kommunikation aus kommunikationspsychologischer Perspektive (S. 9-27). In: Kumbier, Dagmar/Schulz von Thun, Friedemann (Hg.). Interkulturelle Kommunikation. Methoden, Modelle, Beispiele. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag.
Laznia, Elke (2014). Kindheitswald. Salzburg, Wien, Berlin: Müry Salzmann Verlag.
Lewin, Kurt (31968a). Angesichts von Gefahr (S. 222-235). Ders. Die Lösung sozialer Konflikte. Ausgewählte Abhandlungen über Gruppendynamik. Bad Nauheim: Christian-Verlag.
Lewin, Kurt (31968b). Die Erziehung des jüdischen Kindes (S. 236-257). Ders. Die Lösung sozialer Konflikte. Ausgewählte Abhandlungen über Gruppendynamik. Bad Nauheim: Christian-Verlag.
Lewin, Kurt (31968c). Psychologische Probleme einer Minderheitengruppe (S. 204-221). Ders. Die Lösung sozialer Konflikte. Ausgewählte Abhandlungen über Gruppendynamik. Bad Nauheim: Christian-Verlag.
Luft, Joseph (1972). Einführung in die Gruppendynamik. Stuttgart: Ernst Klett Verlag.
Marmet, Otto (91999). Ich und du und so weiter. Kleine Einführung in die Sozialpsychologie. Weinheim/Basel: Beltz Verlag.
Milowitz, Walter (2005). Das Fremde ist immer und überall ... (S. 153-165). In: Hartmann, Gabriella/Judy, Michaela (Hg.). Unterschiede machen. Managing Gender § Diversity in Organisationen und Gesellschaft. Wien: Edition Volkshochschule.
Nicklas, Hans (2006). Klammern kollektiver Identität. Zur Funktion von Vorurteilen. In: ders./Müller, Burkhard/Kordes, Hagen (Hg.). Interkulturell denken und handeln. Theoretische Grundlagen und gesellschaftliche Praxis (S.109-116) . Frankfurt/New York: Campus Verlag.
Pörksen, Bernhard & Schulz von Thun, Friedemann (2014). Kommunikation als Lebenskunst. Philosophie und Praxis des Miteinander-Redens. Heidelberg: Carl-Auer Verlag.
Schlee, Günther (2006). Wie Feindbilder entstehen. Eine Theorie religiöser und ethnischer Konflikte. München: Verlag C.H. Beck.
Schönwiese, Volker (2003). Aus: Ausstellung „Wert des Lebens“. Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim. Einstimmungsbereich (unveröffentlicht).
Tippe, Andrea (2012). Großgruppen erkunden und gestalten (S. 24-29). Feedback . Zeitschrift für Gruppentherapie und Beratung 3&4, Wien: ÖAGG Eigenverlag.
Überacker, Jutta (2011). Aushandeln von Kulturunterschieden im 30 Minuten-Takt. Kulturelle Öffnung an der Schnittstelle mit Kunden und Kundinnen. Gruppendynamik & Organisationsberatung, 42 (3), S. 215-235.
Volkan, Vlamik D. (2005). Blindes Vertrauen. Großgruppen und ihre Führer in Zeiten der Krise und des Terrors. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Watzlawick, Paul ( 102003). Vom Unsinn des Sinns oder vom Sinn des Unsinns. München/Zürich: Piper Verlag.

[1] Der Begriff stammt von Frigga Haug (1990). Im Unterschied zum eher passiv gedachten Begriff Sozialisation beinhaltet Vergesellschaftung sowohl ein aktives als auch passives Moment. Man wird vergesellschaftet (geprägt und eingeordnet), aber man vergesellschaftet sich auch selbst (übernimmt aktiv Normen, Werte, eignet sich Verhaltensweisen und Rollen an ...) und als auch anderer Personen.

[2] Vgl. Michel Foucault zitiert in seinem Vorwort eine Aufzählung von Tiergruppen einer chinesischen Enzyklopädie, die für europäische Ohren kaum nachvollziehbar ist. So ist zu lesen: „a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen.“ (1974, S. 17) Durch diese Nicht-Nachvollziehbarkeit wird die Konstruiertheit der chinesischen aber auch der europäischen Ordnung deutlich. In Folge geht er in seinem Buch Die Ordnung der Dinge der Frage nach, wie in einem ausgewählten Bereich konkretes Wissen und damit Wirklichkeit produziert wird.

[3] Vgl. Paul Watzlawick (102003, S. 23f) erzählt von der Schwierigkeit zweier Personen (einem Nord- und einem Südamerikaner), die in einem gemeinsamen Gespräch bemüht sind, die ihnen je eigene und als normal erlebte Körperdistanz einzunehmen. Letztlich fällt jener mit der größeren Normaldistanz im Bemühen, diese immer wieder einzunehmen, rücklings über die Veranda.

[4] vgl. Schlee (vgl. 2006, S. 91-93) unterscheidet zwischen „Merkmalen und Kulturzügen“ und „Identitätsmarkern und Emblemen“. Erstere werden von Personen verwendet, die als unbeteiligte Beobachter_innen von außen versuchen, Vorkommnisse zu beschreiben (z.B. Anthropolog_innen). Wenn untersuchte Personen sich selbst beschreiben, spricht er von Identitätsmarkern und Emblemen. Er macht damit den Unterschied zwischen einer Fremd- und Selbstbeschreibung deutlich.

[5] „Man muss sich darüber klar sein, dass jede benachteiligte Minderheitengruppe nicht nur durch die Kräfte des Zusammenhangs unter ihren Mitgliedern zusammengehalten wird, sondern auch durch die Grenze, die die Mehrheit gegen ein Übertreten eines Einzelnen aus der Minderheitengruppe in die Mehrheitengruppe errichtet. Es liegt im Interesse der Mehrheit, die Minderheit in einem benachteiligten Zustand zu erhalten. Es gibt Minderheiten, die fast völlig durch eine solche Wand um sie herum zusammengehalten werden. Die Angehörigen dieser Minderheiten weisen gewisse typische Kennzeichen auf, die sich aus dieser Lage ergeben. Jeder Mensch hat den Wunsch, an sozialem Rang zu gewinnen. Daher wird der Angehörige einer benachteiligten Gruppe den Versuch machen, sie zu Gunsten der stärker bevorrechtigten Mehrheit zu verlassen. ... Es wäre eine leichte Lösung des Minderheitenproblems, wenn es sich durch individuelle Assimilation beseitigen ließe. Tatsächlich jedoch ist eine solche Lösung für jede benachteiligte Gruppe unmöglich.“ (Lewin, 31968, S. 228f)

[6] „Unter den Aspekten des Vorurteils sind diejenigen besonders grundlegend, die individuelle und kollektive Identität stützen. Beide Identitätsformen hängen zusammen, weil Menschen einen Teil ihres Selbstwertgefühls aus ihrer Gruppenzugehörigkeit beziehen. Dabei neigen sie dazu, die eigene Gruppe zu idealisieren und sie als anderen Gruppen überlegen zu betrachten. Dämonisierung der Fremd- und Idealisierung der Eigengruppe sind
dabei zwei Seiten einer Medaille.“ (Benz/Widmann, 2007, S. 39f) Bzw. „Gemeinsam ist all diesen Fällen, dass die mächtigere Gruppe sich selbst als die „besseren“ Menschen ansieht, ausgestattet mit einem Gruppencharisma, einem spezifischen Wert, an dem ihre sämtlichen Mitglieder teilhaben und der den anderen abgeht. Und mehr noch: In all diesen Fällen können die Machtstärkeren die Machtschwächeren selbst immer wieder zu der Überzeugung bringen, dass ihnen die Begnadung fehle – dass sie schimpfliche, minderwertige Menschen seien.“ (Elias/Scotson, 1993, S. 8)