Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
hiermit dürfen wir Ihnen die Ausgabe 4/2014 von Inklusion-Online vorstellen, der Online-Fachzeitschrift für Inklusion. Schwerpunktthema dieser Ausgabe ist der Zusammenhang von Kunst, Kultur und Inklusion. „The Art of Inclusion“ – die Kunst der Inklusion – so lautet ein Projekt der (autistischen) Künstlerin Gee Vero, die die gesamte Gesellschaft sowie ausgewählte Persönlichkeiten aus Kultur, Politik und Wissenschaft dazu einlud, von der Künstlerin gestaltete Bilder gemeinsam zu vollenden. Dadurch wird das konkrete Bild, das im Prozess entsteht, zu einem Ort der Begegnung und zwei Bilder werden ein Gemeinsames (http://bareface.jimdo.com/). In dieser Hinsicht interessiert uns das Potenzial im Medium von Kunst und Kultur diesen ästhetischen und kreativen Prozess, diese Begegnung sowie die dabei gemachten Erfahrungen in einen Zusammenhang mit der menschenrechtlich fundierten Idee der Inklusion zu bringen. Im Medium der Kunst werden Abweichungen, Minderheitenpositionen und Eigensinnigkeiten nicht nur toleriert, sie scheinen oftmals auch unabdingbar für die Hervorbringung eines künstlerischen Werks zu sein. Kunst bringt das Selbstverständliche damit in einen neuen Wahrnehmungsrahmen.

„Aufgabe von Kunst heute ist es, Chaos in die Ordnung zu bringen.“
(Theodor W. Adorno: Minima Moralia, 143)

Welche Ordnung gerät durcheinander, wenn im Medium von Kunst und Kultur neue und andere Bilder über Behinderung geschaffen werden? Was geschieht auf der Bühne, wenn Künstlerinnen und Künstler mit einer sichtbar verkörperten Differenz eine andere Ästhetik entstehen lassen? Verändert sich dadurch die Wahrnehmung innerhalb der festgelegten Ordnung von Behinderung? Wie können ästhetische Erfahrungen im Feld von Kunst und Kultur, die Einlassungsbereitschaft beeinflussen, jenseits der üblichen Dichotomie von behindert und nicht-behindert, das Kunstwerk – und nur das Kunstwerk – als solches in den Fokus zu stellen?
Mit diesen Fragen werden nicht nur die üblichen disziplinären Zuständigkeiten für das Thema Behinderung herausgefordert und in den Kontext der Diskussion über Inklusion gestellt. Inklusion als Thema, das im Zuge der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention immer mehr an gesellschaftlichem Transformationsdruck erzeugt, ist alles andere als nur ein Thema des Bildungssystems. Es ist ein gesellschaftliches Thema, das kollektive Reflexionsanlässe entstehen lässt. Faktisch ist ein barrierefreier Zugang zu Kunst und Kultur, das legt der Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslage von Menschen mit Beeinträchtigungen offen, derzeit alles andere als selbstverständlich: Menschen mit einer Behinderung besuchen deutlich seltener kulturelle Veranstaltungen. Dennoch hat sich nicht nur in Deutschland mittlerweile eine solche Vielzahl an inklusiven Theater-, Musik,- Kultur- und Performancefestivals etabliert (beispielsweise Grenzenlos Kultur in Mainz), dass kaum mehr von einem Minderheiten- oder Randgruppenthema gesprochen werden kann. Auf dem Berliner Theatertreffen sorgte 2013 das Stück „Disabled Theater“ von Jérôme Bel für Aufsehen und nachhaltige Diskussionen, auf der Biennale 2013 wurde die so genannte Outsider Art wieder entdeckt und auch in den visuellen Künsten ist das Thema Behinderung längst mehr als nur ein Aufmerksamkeitsfänger. Sind dies Zeichen für eine Öffnung des Kunst- und Kulturbetriebs, der diskriminierungsfreien Zugänglichkeit nicht nur im Sinne der physischen, sondern auch der ästhetischen Teilhabe?

Die meisten Beiträge dieses Themenschwerpunkts der Zeitschrift für Inklusion stammen aus einem Forschungszusammenhang, der an der TU Dortmund in der Fakultät Rehabilitationswissenschaften durchgeführt wurde. Dort haben der Gastherausgeber und die beiden Gastherausgeberinnen dieser Ausgabe in den Jahren 2013 und 2014 das Projekt Arts & Abilities – Ästhetische Produktion, Repräsentation, Behinderung und Inklusion im innovativen Lehr-Lernformat des Projektstudiums durchgeführt.
Wir haben aktuelle Repräsentationen von Behinderung in den unterschiedlichen Formen der darstellenden und bildenden Kunst, in Musik und Performance in den Fokus unser Analysen gestellt. Die übliche Frage in diesen Zusammenhang wäre: Was ist in diesen Formaten der Kunst die Auseinandersetzung mit dem Thema Behinderung?
Aus der Perspektive einer kulturwissenschaftlichen Sicht auf das Feld von Behinderung, vor allem aber aus Perspektive der Disability Studies lässt sich diese Frage heute so nicht mehr stellen. Vor allem in Hinblick auf Artikel acht der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen, der das Thema Bewusstseinsbildung fokussiert, bekommen die Fragen der ästhetischen Erfahrung eine besondere Aktualität und Brisanz. Auf Grundlage der Behindertenrechtskonvention verpflichten sich die Vertragsstaaten in Artikel acht (2, ii) nämlich dazu: „eine positive Wahrnehmung von Menschen mit Behinderungen und ein größeres gesellschaftliches Bewusstsein ihnen gegenüber zu fördern.“
Attitude is Everything – es geht mithin um Haltungen, Einstellungen und Werte, um eine bessere Zugänglichkeit von Menschen mit Behinderungen zu Kunst und Kultur in mehrfacher Hinsicht. Dies macht auch ein aktueller Beitrag in Disability Arts Online deutlich, der das Projekt „The Sound of Disability“ vorstellt und über den Ansatz „Attitude is Everything“ von Suzanne Bull berichtet, die seit fast 15 Jahren am Abbau dieser Barrieren arbeitet. In diesem Kontext bekam auch der junge (und behinderte) Komponist Lloyd Colemann den Auftrag, ein Musikstück für das britische Para-Orchester zu schreiben (http://www.disabilityartsonline.org.uk/Lloyd-Coleman-the-sound-of-disability?item=2461).
Das eingangs erwähnte Zitat von Adorno kann in diesem Sinne verstanden werden, denn die gewohnten Sehweisen, Kategorien und Begriffe von Behinderung sowie die unterschiedlichen Dis-Abilities lassen sich im Medium von Kunst und Kultur kreativ, phantasievoll (und vielleicht auch nachhaltig) durcheinanderbringen. Ermöglichen lässt sich in dieser Hinsicht eine verbesserte Zugänglichkeit und auch ein neues Wahrnehmungskonzept. Dieses Konzept folgt primär ästhetischen Kriterien und versteht den Prozess der Kunstproduktion als Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Verhältnissen und persönlichen Perspektiven.

Andere Bilder über Behinderung zu generieren war lange Zeit eine Aufforderung der Disability Studies. Geschaffen im Medium von Kunst und Kultur, liegen mittlerweile eine Vielzahl anderer Bilder über Behinderung vor. Sven Sauter stellt in dem einführenden Beitrag das Forschungsprojekt Arts & Abilities vor und geht der Frage nach, welche Wirkungen diese veränderten Bilder auf die üblichen Sehweisen und vor allem auf die ästhetischen Erfahrungen haben. Anknüpfend an den Artikel acht der UN-Behindertenrechtskonvention, der die Verpflichtung zum Bewusstseinswandel formuliert, werden in diesem Beitrag außerdem Überlegungen zu einer Meta-Theorie der Inklusion angestellt.

Susanne Quinten untersucht, inwieweit tanzkünstlerische Rezeptions- und Produktionsprozesse in fähigkeitsgemischten (mixed-abled) Tanzensembles einen Einstellungswandel bewirken können. Insbesondere Mechanismen wie die kinästhetische Empathie und Körperresonanz sowie die spezifische Art des Kontaktes (im Medium der Bewegung, embodied, affektiv) scheinen einen Einstellungswandel zu begünstigen.

Viele hervorragende inklusiv arbeitende, künstlerische Projekte können nicht darüber hinwegtäuschen, dass auf den unterschiedlichsten Ebenen Barrieren existieren, die die Teilhabe aller an der (Musik-)Kultur behindern. Eva Krebber-Steinberger legt dar, dass Inklusion sich nur erfolgreich umsetzen lässt, wenn sich Haltungen und Einstellungen von Künstlern und Musikpädagogen ändern und didaktisch-methodische Kompetenzen erweitert werden.

In einem weiteren, grundlagentheoretisch ausgerichteten, Beitrag beschäftigt sich Sven Sauter im Kontext ausgewählter Ergebnisse des Projekts Arts & Abilities mit ästhetischen Erfahrungen im Hinblick auf Behinderung. Dabei werden sowohl Kunsttheorie als auch Erkenntnistheorie von John Dewey miteinander verbunden. Aufgezeigt wird, wie individuelle und gesellschaftliche Bilder über „Behinderung“ – angestoßen durch ästhetische Erfahrungen – in einen Transformationsprozess kommen können. Außerdem wird ein weit reichendes Thema für die aktuelle Ausrichtung der Kulturellen Bildung vorgeschlagen.

Die künstlerische Arbeit in fähigkeitsgemischten Tanzensembles zeichnet sich fast durchgängig durch eine beeindruckende Kreativität bei größter Verschiedenheit von Fähigkeiten und Bedürfnissen aller Beteiligten aus. Susanne Quinten (unter Mitarbeit von Julia Brinkmann und Lisa Gramke) zeigt auf, welche vielschichtigen Anforderungen sich an die Tanzkünstler, Choreographen oder Tanzpädagogen, die diese Gruppen leiten, stellen.

Susanne Quinten und Heike Schwiertz geben einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand im Bereich des fähigkeitsgemischten Tanzes. Dabei werden insbesondere empirische Forschungsstudien zur Thematik vorgestellt. Das Spektrum der vorgestellten Studien reicht von Untersuchungen zur Konstruktion fähigkeitsgemischter Settings über Talentförderung und professionelle Entwicklung behinderter Tänzer bis hin zur Frage, ob und inwieweit durch produktive und rezeptive Tanzaktivitäten Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderungen verändert werden können.

Außerdem haben wir zwei Interviews mit Künstlern, die am Projekt Arts & Abilities beteiligt waren, geführt: Wir haben folgerichtig nicht über, sondern mit den Kulturschaffenden über ihre Motive, Erfahrungen und ihr Kunstverständnis gesprochen. Thorsten Graf, Musiker (u.a. bei der Band Station 17) berichtet im Interview mit Lis Maria Diehl und Eva Krebber-Steinberger, wo er die schrägen Töne beim Musikmachen toleriert und was ihm Musik bedeutet. Und der Filmregisseur und Fotokünstler Niko von Glasow zeigt sich im Interview mit Sven Sauter als eigensinniger und autonomer Künstler, der die Kunst des sinnvollen und schönen Lebens in den Fokus seiner Arbeit stellt.

Mit der Rezeption des kontrovers diskutierten Theaterstücks Disabled Theater vonJérôme Bel beschäftigt sich Amelie Damschen. Sie untersucht ausgewählte Zeitungsberichte zu diesem Tanztheater aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive und fragt nach dem Bild von Behinderung, das in der Diskussion dieser außergewöhnlichen künstlerischen Produktion gezeichnet wird.

Kristin Langer stellt Ergebnisse einer qualitativen Studie vor, die sich mit Änderungen der Wahrnehmung und mit der gesellschaftlichen Akzeptanz von Menschen mit Behinderung im Kontext inklusiver Musiktheaterproduktionen befasst.

Juliane Schmidt-Gerland zeigt die Bedeutung der Teilhabe an musikalisch-künstlerischen Prozessen für die De-und Neukonstruktion von Wahrnehmungsstereotypen in Bildungskontexten auf. Konkret geht es um die Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie die zugeschriebene Leistungsfähigkeit von Förderschülern, die ein Instrument bzw. kein Instrument spielen.

Kunst übernimmt als ein „Medium der Entgrenzung“ eine Brückenfunktion zwischen den Erlebniswelten von Menschen mit sehr unterschiedlichen Biografien und Lebenserfahrungen. Dieses Kunstverständnis bildet die Folie, auf der Frederik Poppe und Saskia Schuppener über das europäische Projekt ART FOR ALL berichten. Sie beschreiben, welche Zugangswege zur Kunst für Menschen mit zugewiesener geistiger Behinderung aktuell vorhanden sind und welche Möglichkeiten der künstlerischen Aus-, Fort- und Weiterbildung es für Menschen mit Assistenzbedarf gibt. Im Fokus steht die Ermittlung, inwiefern der Zugang zu Kunst und Kultur für alle verbessert werden kann, außerdem werden Beispiele guter Praxis gelingender Kunstproduktion und -rezeption vorgestellt.

Im Fokus des Beitrags von Ute Ritterfeld, Matthias Hastall und Alexander Röhm stehen Unterhaltungsmedien wie Filme oder TV-Serien. Denn diese beeinflussen in starkem Maße das öffentliche Bild von Personen mit Krankheiten oder Behinderungen. Wie werden Menschen mit Krankheit oder Behinderung in diesen Medien dargestellt? Im Beitrag wird der Forschungsstand zum Potenzial unterhaltsamer Medienangebote zur Stigmatisierung oder auch Destigmatisierung von Menschen mit Krankheit und Behinderung systematisierend dargestellt. Außerdem diskutieren die Autorin und die Autoren bedeutsame Grundannahmen sowie Wirkungsmechanismen für derartige Medieneffekte und geben einen Einblick in die Ergebnisse eigener Untersuchungen.

Eine inspirierende Lektüre wünschen Ihnen
Eva Krebber-Steinberger, Susanne Quinten und Sven Sauter