Abstract:Unabhängig voneinander, aber fast zeitgleich haben zivilgesellschaftliche Bündnisse in Deutschland und in Österreich ihre Menschenrechtsberichte zum Stand der Umsetzung der UN-BRK in ihren jeweiligen Ländern veröffentlicht. Angemahnt wird ein Konventionsverständnis, das die menschenrechtliche Dimension ernst nimmt. Besonderes Augenmerk gilt in beiden Berichten der Umsetzung des Artikels 24, der ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen fordert. Angesichts ähnlicher struktureller Probleme im Schulbereich beider Länder kann die große Übereinstimmung in den Kritikpunkten und den Forderungen aus menschenrechtlicher Sicht nicht überraschen. Jedoch unterstreicht sie umso eindringlicher die menschenrechtlich begründete Notwendigkeit für einen bildungspolitischen Paradigmenwechsel von der Selektion, Segregation und Exklusion zur Inklusion.
Ausgabe: 1/2013
Die Zivilgesellschaft hinterfragt die nationale Politik
Beide Berichte verstehen sich als kritische, zivilgesellschaftlich organisierte Parallelberichte zu den offiziellen Staatenberichten, die die deutsche und die österreichische Bundesregierung erstmals nach der Ratifizierung dem zuständigen UN-Fachausschuss in Genf zur Umsetzung der UN-BRK vorlegen mussten. Sie werden in die Überprüfung der jeweiligen Ländersituation einbezogen, die der Fachausschuss demnächst vornehmen wird. Während die Situation für Menschen mit Behinderungen in Österreich schon im Sommer einer Prüfung unterzogen werden wird, steht der Termin für Deutschland noch nicht fest. In Deutschland koordiniert das Netzwerk Artikel 3 die 78 zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich zu der BRK- Allianz zusammengeschlossen haben, um die politische Umsetzung der Konvention zu überwachen (http:/www.netzwerk-artikel-3.de/). In Österreich haben sich zu diesem Zweck ebenfalls 78 Organisationen unter dem Dach der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (OEAR) zusammengetan (http://www.oear.or.at/).
Die Staatenverpflichtungen werden nicht eingelöst.
So lautet das Fazit in beiden Menschenrechtsberichten. Beiden Regierungen wird vorgehalten, dass sie trotz substantieller menschenrechtlicher Defizite in fast allen Bereichen in ihren Staatenberichten den irreführenden Eindruck erwecken, die UN-Konvention wäre zu einem großen Teil schon umgesetzt bzw. es bestünden in den bestehenden gesetzlichen und politischen Regelungen „vielfältige Übereinstimmungen“ mit der Konvention. Die jeweiligen Nationalen Aktionspläne zur Gewährleistung der Rechte von Menschen mit Behinderungen werden als völlig unzureichend kritisiert, weil sie mangels eindeutiger Zielsetzung rechtlich unverbindlich bleiben, im Wesentlichen Einzelmaßnahmen auflisten, sich zudem ausschließlich auf Bundesangelegenheiten konzentrieren und sich nicht zuständig sehen für die Einlösung der Verpflichtungen, die die Konvention den Ländern und Kommunen auferlegt. Außerdem wird bemängelt, dass die Beteiligungsrechte der Betroffenen bzw. ihrer Verbände bei der Erstellung der Aktionspläne nicht eingelöst wurden. Die BRK- Allianz und die OEAR fordern verbindliche gesetzgeberische Maßnahmen zur Umsetzung der UN-BRK in nationales Recht, Gesamtkonzepte von Bund und Ländern sowie massive Anstrengungen für einen gesellschaftlichen Bewusstseinswandel von einem medizinisch geprägten zu einem sozialen Verständnis von Behinderung.
Das Recht auf inklusive Bildung wird nicht umgesetzt.
Der bildungspolitische Handlungsbedarf wird in beiden Berichten als besonders groß wahrgenommen. Anstelle des notwendigen Paradigmenwechsels wird ein Verharren in der Integration konstatiert. Beide Berichte bemängeln, dass das gemeinsame Lernen von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Behinderungen lediglich als eine Möglichkeit neben der Sonderbeschulung angesehen wird. Es wird zudem durch Vorbehalte unterschiedlichster Art zusätzlich eingeschränkt, so dass der subjektive Rechtsanspruch des Kindes mit Behinderung auf inklusive Bildung auf der Strecke bleibt. Die OEAR und die BRK-Allianz fordern die Anerkennung und Verankerung des vorbehaltlosen Rechts auf inklusive Bildung in allen relevanten Gesetzen, Die OEAR plädiert zudem für einen entsprechenden Verfassungseintrag.
Das Elternwahlrecht wird missbraucht für den Erhalt des Sonderschulsystems.
Die BRK-Allianz verurteilt scharf, dass „das Elternwahlrecht politisch dazu missbraucht wird, das vorrangige Recht auf inklusive Bildung in der wohnortnahen Regelschule zu relativieren“. „Durch ungenügende Ausstattung der Regelschulen wird die Elternwahl hin zur Sonderschule gelenkt und unter Berufung auf das Wahlrecht das breite Sonderschulsystem aufrechterhalten. Das bindet Ressourcen, die für inklusive Bildung gebraucht werden“, so die Kritik der BRK-Allianz. Sie stellt fest, dass unter den derzeitigen Bedingungen des Doppelsystems trotz steigender Integrationsraten die Zahl der Schülerinnen und Schüler in den Sonderschulen nicht signifikant sinkt, da immer mehr Schülerinnen und Schüler einen sonderpädagogischen Bedarf an Unterstützung bescheinigt bekommen. Die OEAR kann in ihrem Bericht nachweisen, dass trotz des schon seit 1993 geltenden Elternwahlrechts in Österreich sich das Sonderschulsystem insgesamt erhalten hat, auch wenn es je nach Bundesland in seinem Umfang erheblich variiert. Auch hier ist ein Anstieg der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf zu verzeichnen. Mit einer bevorzugten Ausstattung der Sonderschulen werde das Wahlrecht der Eltern in Österreich handfest gesteuert. Hinzu komme, dass Eltern ohne Kenntnis ihrer Rechte oftmals einseitig beraten würden. Zudem zeige die österreichische Entwicklung, dass die Perspektive eines inklusiven Schulsystems mit einem Doppelsystem nicht erreichbar sei. Belegt wird dies mit der bundesweiten Integrationsrate, die seit Jahren bei 50 % stagniert.
Die Rahmenbedingungen entsprechen nicht den Qualitätsstandards der UN-BRK.
Die OEAR stellt in ihrem Bericht fest, dass die personelle Unterstützung für Schüler/innen mit Behinderung in integrierten Klassen sich deutlich verschlechtert hat. Zudem habe es verbindliche Standards für das Konzept des gemeinsamen Lernens bedauerlicherweise in Österreich nie gegeben. Die BRK- Allianz sieht mit Sorge, dass Veränderungen, die als inklusive Schulbildung deklariert werden, kostenneutral oder sogar kostensparend umgesetzt werden. Dabei würden sogar bisherige Integrationsstandards zum Teil erheblich unterschritten. Sie fordert daher vom Bund, sich nicht länger mit Verweis auf das Kooperationsverbot seiner völkerrechtlichen Verpflichtung zur finanziellen Beteiligung zu entziehen.
Das selektive Schulsystem steht der Inklusion entgegen.
Warum es mit der Inklusion sowohl im deutschen als auch im österreichischen Schulsystem schlecht bestellt ist, beantworten die beiden Menschenrechtsberichte mit dem Verweis auf die jeweiligen selektiven, segregierenden Schulsysteme in Deutschland und Österreich. Mit großem Nachdruck stellt die BRK-Allianz dazu fest, dass das Selektionsprinzip heterogenitätsfeindlich ist und das Lernen in homogenen Gruppen sowie eine norm- und zensurorientierte Schulpraxis fördert. Sie nimmt bewusst Bezug zu der Kritik des UN-Sonderberichterstatters Vernor Munoz, der nach seinem Besuch in Deutschland 2006 befand, dass das deutsche Bildungssystem äußerst selektiv ist und zu Ungerechtigkeiten zulasten von sozial benachteiligten Menschen, Menschen mit Migrationshintergrund und Menschen mit Behinderungen führt. Sie wirft der KMK vor, die Widersprüche zwischen der strukturellen Auslese im gegliederten und einem inklusiven Schulsystem zu leugnen. „Damit schmälert die KMK mit dieser Position das Recht von Schülern mit Behinderung auf inklusive Bildung in der Regelschule erheblich und setzt sich so in Widerspruch zu Art. 24 BRK.“