Irmtraud Schnell: Rezension zu: Stähling, Reinhard & Barbara Wenders (2012): „Das können wir hier nicht leisten“

Wie Grundschulen doch die Inklusion schaffen können. Ein Praxisbuch zum  Umbau des Unterrichts. Hohengehren: Schneider. 274 Seiten. 19,80 €


Seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts befassen sich Wissenschaftler/innen, vor allem im Bereich der Primar- und Sonderpädagogik systematisch mit der Unterschiedlichkeit von Kindern und entwerfen entsprechende schulische und unterrichtliche Konzepte. Viele einzelne Schulen entwickeln sich dahin, dass sie die Heterogenität ihrer Schülerschaft wahrnehmen und sich um pädagogische Entsprechungen bemühen – oft im Widerspruch zu landespolitischen Vorgaben und behördlichen Regelungen. Inklusive Schulen im eigentlichen Sinne, dass sie alle Kinder aufnehmen, die im Schulbezirk wohnen, sind eher selten. Eine Brennpunktschule in Münster ermöglicht die soziale Zugehörigkeit in Erziehung und Bildung wie im Stadtteil – im sehenswerten Film der jungen Regisseurin Hella Wenders „Berg Fidel“ kann man die Schule und die Kinder kennen lernen.
Nun haben Reinhard Stähling und Barbara Wenders erneut ein Buch verfasst, das die Arbeit in der Schule Berg Fidel nachzeichnet (s. auch Stähling 2006 sowie Stähling & Wenders 2009). Viele Photographien von Donata Wenders, behutsam und mit Respekt aufgenommen, stellen die Kinder in den Mittelpunkt und zeigen die Könnerschaft der Photographin; sie illustrieren in sensibler wie gelungener und lebendiger Weise die schriftlichen Erläuterungen. Es ist insofern ein außerordentliches Buch, als es Inklusion verständlich macht, zeigt, wie das Recht auf soziale Zugehörigkeit in altersgemischten Klassen von vier Jahrgängen täglich umgesetzt werden kann – nicht nur als erfahrungsgesättigte Darstellung, sondern theoriegeleitete Begründungen für inklusive Erziehung und Bildung reflektierend und darüber hinaus gängiges, vielleicht gut gemeintes, jedoch inklusionsfeindliches Denken bei Verantwortlichen kritisch identifizierend und Alternativen aufzeigend – ein Buch, geschrieben von einer Lehrerin und einem Lehrer, die ihre Arbeit forschend und reflektierend tun und gangbare Wege für Kinder verteidigen. Die Analysen zusammen genommen, erlauben die Vorstellung einer inklusiven Grundschule, wie sie überall in Deutschland entstehen könnte, brächten denn die Beteiligten den Mut auf, ähnlich eindeutig diesem Ziel entgegen zu gehen. 
Das Buch gliedert sich in drei Teile, wovon nach der gemeinsamen ausführlichen und die Titelfrage aufnehmenden Einleitung der erste, von Stähling und Wenders verfasst, die konkrete schulische und unterrichtliche Praxis beschreibt, im zweiten von Stähling die Hürden auf dem Weg zur Inklusion identifiziert werden und der dritte, wiederum gemeinsame Teil, Interviews mit Expertinnen und Experten wiedergibt. Diese werden als Rückenstärkung erfahren und gebraucht auf dem Weg, der ein anderer ist als in Nordrhein-Westfalen bislang begangen, nämlich Integration im Gemeinsamen Unterricht mit ausgewählten behinderten Kindern bzw. als Einzelintegration.
Wem wie der Rezensentin die Gelegenheit zu Teil wird, die Schule über Jahre zu begleiten und die Entwicklungen der Kinder zu verfolgen, weiß, dass der Alltag so stattfindet, wie er im ersten Teil des Buches beschrieben wird. Mit der Offenlegung der Geheimnisse der Schule – gleichzeitig kompakte Einführung in Organisation, pädagogische Haltungen und Ziel – wird der Teil mit dem Titel „Wie verhindern wir Aussonderung?“ eingeleitet; Altersmischung 1-4 ermögliche individuelle Zeitdauer in der Grundschule ohne den Verlust der sozialen Gruppe und des verantwortlichen Lehrerteams aus Grundschul- und Sonderpädagoge/in. In den folgenden Kapiteln wird nicht nur über die Arbeit der Kinder, auch einzelner Kinder, sondern auch über die damit verbundenen Aufgaben der Lehrkräfte ausführlich berichtet: Bei der zentralen Unterrichtsform, dem freien Arbeiten, kann das Gefühl sozialer Zugehörigkeit entstehen, wenn zum Beispiel in der Schriftstellerstunde alle Kinder, je nach Vermögen, schreibend, malend, oder, wie Christian, kritzelnd, Geschichten verfassen oder wenn in Mathematik, mit der alle Kinder morgens beginnen, das Teilen auf verschiedenen Niveauebenen verständlich wird. Anders als bei der andernorts praktizierten freien Arbeit, bei der Kinder einzeln ihre Tages- oder Wochenpläne abarbeiten (manche nennen es verkappten Frontalunterricht) und so das Miteinander von Kindern nur zufällig entsteht, werden in der Klasse von Wenders und Stähling Strukturierungen vorgenommen – alle Kinder beginnen am Morgen mit Mathematikaufgaben – und gemeinsame Lernerfahrungen bewusst geschaffen – täglich reflektieren die Kinder im Lernklassenrat ihre Arbeit und was sie dabei (nicht) verstanden haben. Das Kapitel 2.2 im zweiten Teil des Buches „Inklusive Didaktik als Beitrag zur Lösung der Schlüsselprobleme“ greift diese Gedanken zur inklusiven Didaktik, die die freie Arbeit neu formulieren, weitergehend auf (s.u.).
Im Kapitel, das die Arbeit im FFC, dem „Freien Forscher Club“ schildert, wird deutlich, welche kognitiven und sozialen Entwicklungschancen Kinder ergreifen und welche Lebenstüchtigkeit sie dabei entwickeln, wenn sie, mit strukturierenden Hilfen wie dem Forscherheft systematisches Vorgehen erlernend, an ihren eigenen Themen arbeiten dürfen. Kinder interessierten sich für alle wesentlichen Themen ihres Lebens und ihrer Umwelt, so Wenders, wenn sie erst einmal eine Lernintention entwickelt haben, was in der altersgemischten Klasse offenbar leichter geschieht – auch die Erstklässler werden beteiligt. Ein kostbares Kapitel ist die Beschreibung der Gänge in den Wald „Regelmäßig in den Wald“; hier wird in Wort und Bild besonders deutlich, welche Bedeutung Kinder füreinander haben können, wenn Pädagoginnen die Situationen dafür schaffen. Im den ersten Teil abschließenden Kapitel wird das Vorhaben der Schule und ihrer Gremien, unterstützt durch eine Elterninitiative in Münster sowie durch Einzelpersonen, vorgestellt, sich von einer Grundschule zu einer Schule von Klasse 1 bis 13 zu entwickeln. Übergänge sind immer kritische Phasen im Leben eines Menschen, aber gerade für Kinder, deren Familien durch andere Kulturen, Sprachen und teilweise schwere Schicksale sowie durch eingeschränkte finanzielle Möglichkeiten geprägt sind, stelle der Wechsel der Schulkultur schon nach vier Jahren eine besondere Hürde dar – die Halt gebenden Strukturen und persönlichen Bindungen in der Schule, die die Sicherheit im ganzen Stadtteil erhöhten, könnten in einem Haus des Lernens von 1 bis 13, so Stähling, weiter wirken: „Die Grundschule Berg Fidel zeigt: Die Zahl der Schulversager wurde reduziert, die Zahl der Spitzenleister erhöht und der Zusammenhang von Schule und Herkunft zur Zufriedenheit der Elternschaft mehr und mehr entkoppelt. Inklusion und Begabungsförderung in derselben Schule. (…) Der inklusive Unterricht mit Kindern der Grundschule soll fortgesetzt werden. Die verlässlichen Strukturelemente (…) sind unverzichtbar: Schule ohne jede Ausgrenzung, feste multiprofessionelle Teams in jeder Klasse und Altersmischung“ (S. 84). 
Der umfangreiche zweite Teil ist „Zweifel(n), Barrieren und Gehhilfen auf dem Weg zur Inklusion“ gewidmet. Das erste Kapitel formuliert die Bedenken, nicht alle Kinder seien integrierbar und setzt dagegen den „sozialen Kredit“, den einige Kinder in besonderem Maße benötigen und der eingebettet sei in die Gelingensfaktoren Garantie von Sicherheit und Bindung (keine Aussonderung), Situationen vielfältigen sozialen und emotionalen Austausches, Vertrauen in die Entwicklung des Schülers, Anerkennung, basisdemokratische Umgangsformen mit gemeinsamen Problemlösungen, differenzierende didaktische Strukturen und Teamteaching (S. 98). Dieser soziale Kredit zeige sich den Kindern als Caring Curriculum, in der Altersmischung und dem offenen sowie im differenzierenden Unterricht. Die stetige Beobachtung der kindlichen Entwicklungen und ihrer aufmerksamen Begleitung, zum Beispiel bei der Bemessung der Schwierigkeit von Aufgaben um Erfolge zu ermöglichen, dienten der Vorbeugung von Versagenssituationen. Zugehörigkeit, Achtung vor der Würde des Kindes, Verlässlichkeit und Begleitung seien Haltungen, die Resilienzbedingungen schafften. Es scheint der soziale Kredit, der die Ruhe der Arbeit in der Schule kennzeichnet: Hospitierende Studierende staunen jeweils über die Selbständigkeit der Kinder beim Arbeiten und über die freundliche Atmosphäre in der Schule.
Zur selbstständigen Wahrnehmung der pädagogischen Aufgaben in inhaltlichen Fragen fordert Stähling im Folgenden auf, wenn er „Inklusive Didaktik als Beitrag zur Lösung der Schlüsselprobleme“ betrachtet und damit den Anspruch aller Kinder auf Beteiligung an hochwertiger Bildung behauptet. Er formuliert als Schlussfolgerungen für den Unterricht fünf Thesen, wobei er einerseits das Verstehen des Gegenstandes in seiner Mehrperspektivität, seiner Geschichtlichkeit, seiner Veränderbarkeit und seiner Angewiesenheit, kommunikativ aufgeschlossen zu werden, in den Mittelpunkt rückt, andererseits die Entwicklung, die der Gegenstand bei seiner Erforschung auslösen kann. Nur so werde Verstehen ermöglicht. Stähling weist hier auf das Problem hin, dass im Zuge der Individualisierung des Lernens bzw. der Differenzierung des Unterrichts – beides Ansprüche an den Grundschul- und den integrativen Unterricht seit den 70er Jahren – die gemeinsame Erschließung in den Hintergrund getreten ist, einerseits auf Kosten der Kooperation der Kinder, andererseits auf Kosten der Erschließung des Gegenstandes, die nur in Kooperation geschehen könne. Der Didaktik gemeinsamen Lernens, bislang insbesondere ausgeführt am gemeinsamen Gegenstand von Feuser und den fraktalen Strukturen von Seitz, fügen Stähling und Wenders damit neue Impulse hinzu, die die Allgemeine Didaktik wie die Inklusionspädagogik weiter beschäftigen sollten. Um über Sachverhalte kommunizieren zu können und so die Chancen kooperativen, gemeinsamen Lernens zur lerngegenstandsbezogenen Auseinandersetzung zu nutzen, eigneten sich freie Arbeitsphasen unter einem thematisch vorgegebenen Rahmen bei unterschiedlichen Zugangsweisen. Der fehlende Transfer pädagogischer Erkenntnisse in die Schulpraxis, die Kritik an unwidersprochen übernommenen Systemmechanismen wie Ziffernzensuren, Outputorientierung und Standards, die zu solcher Arbeit im Widerspruch stünden,  sollten, so Stähling,  Lehrkräfte zum handlungsorientiertem Unterrichten und zur Schulentwicklung herausfordern – „eine emotionale und ungehorsame Angelegenheit“ (S. 145). 
Weil die Rechnung ohne die Kinder gemacht werde, wenn es um den Umgang mit konflikthaften Konstellationen geht, entlarvt Stähling so genannte Win-Win-Lösungen zwischen Lehrkräften, Schulleitungen und Schulbehörden, die sich zwar als vernünftig darstellen, dennoch als  Verstoß gegen die Interessen und die Rechte von Kindern. Wenn die Aussonderung eines Kindes in eine Sonderschule vermieden werden solle, bedürfe es gemeinsamer Visionen, Strategien und guten kooperativen Strukturen in Schulen. Schulleitungen hätten eine hohe Bedeutung, wenn Aussonderung überwunden werden soll. 
Zwei Kapitel, die weiteres Nachdenken auslösen sollten, nehmen eine selbstverständliche Behauptung, die weit verbreitete Rede („das Märchen“ S. 174 ff.) von der „guten Mischung“ aufs Korn – eine bemerkenswerte wie konsequente Analyse dieser Behauptung, die sowohl das behördliche Handeln bestimmt als auch die Vorstellung von Heterogenität im wissenschaftlichen Diskurs. Sie richte sich gegen Inklusion. Heterogenität, „gute Mischung“ könne nur dann positive Wirkung entfalten, wenn die Unterschiedlichkeit auch unterrichtlich genutzt werde, dazu sei aber nur etwa ein Drittel der Lehrkräfte in der Lage, wie Studien ergeben hätten. Andererseits erforderte die Herstellung einer so genannten guten Mischung in Schulen, Kinder aus ihrer Umgebung herauszureißen. In Berg Fidel bilde der Stadtteil keine „gute Mischung“ ab, dennoch sei es möglich, inklusiv zu arbeiten, wenn die entsprechenden unterrichtlichen und organisatorischen Bedingungen geschaffen und der Schule das erforderliche Personal zur Verfügung gestellt werde. Modellrechnungen, die sich an durchschnittlichen Quoten sonderpädagogischen Förderbedarfs orientieren, entsendeten Sonderpädagoginnen und –pädagogen an Schulen, die dies nicht nötig hätten, andernorts fehlten sie dann. Eine historische Analyse zeigt zuvor, dass die „gute Mischung“ als Rechtfertigung für Ausgrenzungsstrategien missbraucht wurde – umfänglich Behinderte sind bei der Rede von der „guten Mischung“ ohnehin selten einbezogen. An Beispielen wird erläutert, wie der Glaube an die „gute Mischung“ zu bildungspolitischen Zwangsbeglückungen führe, die mit Inklusion nichts zu tun haben. Im Fazit dieses zweiten Teils des Buches fasst Stähling Schritte zusammen, die jetzt zu tun seien, um „das Schulsystem zu einem inklusiven umzubauen“ (S.198 f.), von Brennpunktschulen ausgehend über die Einbeziehung des Lehrernachwuchses und der Gesamtschulen bis hin zur Abschaffung der „Abschulung“ und zum längeren gemeinsamen Lernen. „Im Mittelpunkt sollte die wohnortnahe Beschulung aller Schüler stehen“ und die Klippe zwischen Grund- und weiterführender Schule sei zu schließen (S. 199).
Im dritten Teil begegnet der Leser/ die Leserin Menschen, die in der Integrations- bzw. Inklusionspädagogik bedeutende Rollen einnahmen und –nehmen. Die authentischen Antworten auf die zunächst an alle Interviewpartner/innen gerichtete Frage nach den Wurzeln bzw. Quellen des Engagements bringen Erkenntnisse zu Tage, die für die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrer durchaus wichtige Hinweise geben – scheinen doch Diskrepanzerlebnisse, die als Verletzung des eigenen Freiheitsgefühls und des Gerechtigkeitsgefühls empfunden werden, wertvolle Bausteine zur Entwicklung pädagogischer Persönlichkeiten beizutragen. Die meist gegen Widerstände errungenen, lebendig beschriebenen Wege zur Arbeit für Integration/Inklusion lassen Schrifttum und Leben durchsichtig  werden und können so zum eigenen Engagement, zum Ungehorsam gegen unsinnige, nicht an Kindern orientierten Regelungen und zum Widerstand herausfordern.
Fazit: Das Buch macht deutlich, dass Lehrkräfte sich als Personen nicht entziehen und nicht aufhören können, sich zu entwickeln, wenn sie im Sinne der Inklusion pädagogisch erfolgreich arbeiten wollen. Es zeigt aber auch, welchen Gewinn Kinder, Eltern und der ganze Stadtteil und die Lehrkräfte selbst davon tragen, wenn sie sich mit ihrer Arbeit identifizieren können.  
Die Herausgeberin der Reihe, Astrid Kaiser, führt unter dem Titel „Inklusion: Differenzierte Kinderschule in Praxis und Theorie“ in das Buch ein und fasst damit zusammen, was den Leser/ die Leserin erwartet – die Vorstellung einer reflektierenden, sich an der wissenschaftlichen Diskussion messenden Pädagogik einer Schule, deren Praxis wiederum, forschend an den Lern- und Entwicklungsständen der Kinder orientiert, ihrerseits der Wissenschaft wesentliche Impulse zu geben vermag. Es ist Lehrkräften aller Schularten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, in Aus- und Fortbildung von Lehrkräften Lehrenden, Eltern, in Schulverwaltung Tätigen sowie Bildungspolitikerinnen und –politikern dringend zu empfehlen, besonders aber denen, die immer noch der Überzeugung sind, dass vor allem Kinder mit Lern- und sozialen Schwierigkeiten und mit Migrationsgeschichten in einer Sonderschule besser gefördert werden könnten als unter inklusiven Bedingungen sozialer Zugehörigkeit. Berg Fidel sei eine  Schule, in der Kinder die Chance bekämen, zur vollkommensten Version ihrer selbst zu werden, heißt es in einer Kritik zum Film „Berg Fidel“ (vgl. Vahabzadeh, SZ 14.9.2012).