Friederike Heinzel, Annedore Prengel: Heterogenität als Grundbegriff inklusiver Pädagogik
Abstract: Mit dem Begriff der Heterogenität werden Verhältnisse zwischen Verschiedenen, die einander nicht untergeordnet sind, gefasst. Mit einer solchen sozialphilosophisch begründeten, hierarchiekritischen Zielsetzung tritt im Bildungswesen die inklusive Pädagogik an, um heterogene Lerngruppen, also Gruppen aus gleichberechtigten und verschiedenen Lernenden zu verwirklichen. Passende diagnostische und didaktische Modelle werden dazu entworfen. Empirische Studien geben Einblick in die Praxis und in die Auswirkungen heterogener Lerngruppen. Eine solche Wertschätzung von Gleichheit und Freiheit für Vielfalt wirft aber auch neue Fragen auf. Ein zentrales Problem ist die Umsetzung in der Fläche, die von einigen gewollt und von anderen abgelehnt wird.
Stichworte: Heterogenität, Gleichheit, Freiheit, Inklusion, inklusive Diagnostik, inklusive Didaktik, Inklusionsforschung
Anhand des komplexen Begriffs Heterogenität lassen sich die für inklusive Pädagogik grundlegenden Vorstellungen umreißen. Inklusive Pädagogik zeichnet sich - wie kein anderer pädagogischer Ansatz - dadurch aus, dass sie uneingeschränkt dem Modell der heterogenen Lerngruppe verpflichtet ist. Im folgenden Beitrag setzen wir uns mit dem Begriff der Heterogenität auseinander, indem wir zunächst seinen Gehalt auf sozialphilosophischer und historischer Basis erläutern (I), anschließend seine Relevanz für diagnostische und didaktische Modelle begründen (II), danach empirische Befunde aus der Untersuchung heterogener Lerngruppen vorstellen (III) und offene Fragen und Probleme transparent machen (IV).
Inhaltsverzeichnis
- Zum Begriff Heterogenität
- Bedeutung für didaktische und diagnostische Modelle
- Empirische Befunde aus der Untersuchung heterogener Lerngruppen
- Offene Fragen und Probleme
- Literatur
1. Zum Begriff Heterogenität
Mit dem Begriff der Heterogenität werden Verhältnisse zwischen Verschiedenen, die einander nicht untergeordnet sind, gefasst (für die begriffsgeschichtliche Rekonstruktion seit der Antike vgl. Horn 2012). Diese in ihrer Einfachheit überzeugende Aussage ist außerordentlich voraussetzungs- und folgenreich. Spuren einer solchen Vorstellung von einander nicht untergeordneten verschiedenen sind in den historisch und weltweit äußerst zahlreichen und vielfältigen Gerechtigkeitskonzeptionen aufzufinden (Höffe 2010). Solche, gerechtere Verhältnisse zwischen Menschen entwerfende, Denkweisen enthalten stets jeweils zeit- und kulturtypische Auseinandersetzungen mit durch Unterordnungen, also durch Ungleichheit, Gewalt und Ausbeutung bestimmten Verhältnissen. Wegen der vorherrschenden Dominanz von Ungleichheit muss dabei das Bemühen um ein Weniger an Hierarchien zugleich in irgendeiner Form mit partieller Anerkennung von Hierarchien einhergehen. Dabei ist das Ringen um Gerechtigkeit auf der Ebene des sozialen Zusammenlebens stets auch Teil gesellschaftlicher Entwicklungen auf der Ebene von Ökonomie und Produktionsweise – eine Erkenntnis, die auch für die Analyse der Inklusionspädagogik bedeutsam ist (s.u.).
Die Vorstellung von einander nicht untergeordneten Verschiedenen ist für die Entwicklung von Menschenrechts- und Demokratiemodellen zentral. Menschenrechts- und Demokratiekonzeptionen haben gemeinsam, dass sie den Prinzipien von Gleichheit, Freiheit und Solidarität verpflichtet sind (Bielefeldt 1998, 2008; Habermas 2010). Diese drei Prinzipien enthalten den Gedanken der nicht einander untergeordneten Verschiedenen, welcher dem der gleichen Freiheit entspricht. Sie stehen in engem Zusammenhang und hängen voneinander ab: „Nicht untergeordnet sein“ bedeutet gleichgestellt zu sein. „Verschieden sein können“ bedeutet frei von Vorgaben anderer zu sein. „Sich selbst und andere in ihrer Gleichheit und Freiheit anzuerkennen“ bedeutet solidarisch zu handeln. Um die Bedeutungen von Gleichheit und Freiheit nicht miss zu verstehen, ist zu betonen: demokratische Gleichheit beinhaltet nicht inhaltliches Gleichsein im Sinne von Angleichung, sondern Gleichstellung im Sinne von für alle geltenden gleichen Rechten. Freiheit wiederum bedeutet nicht konkurrente Rücksichtslosigkeit, sondern bei pluraler Anerkennung der Freiheit aller eine Lebensweise nach eigenen Wünschen zu suchen (Pauer-Studer 2000; Menke 2000).
Die Geschichte der Menschenrechts- und Demokratievorstellungen ist einerseits eine Erfolgsgeschichte, denn mehr Staaten als je zuvor sind heute auf sie verpflichtet; zugleich handelt es sich aber auch um eine Misserfolgsgeschichte, denn die gleiche Freiheit ist, auch wenn man anerkennt, dass es mehr oder weniger demokratische Gesellschaften gibt (Pickett/Wilkinson 2010), nur bruchstückhaft und unvollkommen verwirklicht. Hinzu kommt, dass die Formen, in denen gleiche Freiheit angestrebt wird, häufig Gefahr laufen auf individuelle Autonomie reduziert zu werden und das menschenrechtlich-demokratische Prinzip der Solidarität zu vernachlässigen. Die Lösung aus der Unterordnung in traditionellen Kollektiven kann dann übergehen in neue Unterordnungen, die in Gestalt von Pseudogleichheit und Pseudofreiheit prekärer Arbeitsverhältnisse global wirksam werden. Solche Formen der Individualisierung können mit Isolation, Verarmung und Depressionen einhergehen (Ehrenberg 2011). Die Vorstellung von Heterogenität als eine Ausdrucksweise für das menschenrechtlich-demokratische Ideal der gleichen Freiheit zirkuliert also in einem gesellschaftlichen Feld, in dem Fortschritte von Widersprüchen geprägt sind und neue Unterordnungen hervorbringen können. Gegenwärtig bringt die verbreitete Aufmerksamkeit für die Behindertenrechtskonvention eine besondere Betonung der Freiheit für heterogene Lebensweisen mit sich, dabei sollen Assistenz und Barrierefreiheit dazu beitragen, Annäherungen an dieses Ziel allen, auch Menschen mit Behinderungen, zu ermöglichen. Die historische Einsicht in die stetes gegebene Unvollkommenheit und Widersprüchlichkeit von Reformprozessen ist für Entwicklungen im Bildungswesen zentral, denn sie macht bewusst, dass nicht mit der Realisierung idealer und widerspruchsfreier Verhältnisse zu rechnen ist, dass es vielmehr darum geht, in einem prinzipiell unabschließbaren Prozess einzelne Schritte der Demokratisierung und Ansätze wertzuschätzen, die zur Reduzierung von Hierarchien beitragen und so Verbesserungen für die hier Lernenden und Lehrenden mit sich bringen (Prengel 2011a).
Auf diesem historisch-gesellschaftlichen Hintergrund tritt im Bildungswesen die inklusive Pädagogik mit dem Ziel an, heterogene Lerngruppen, also Gruppen aus verschiedenen Lernenden, die nicht einander untergeordnet werden, zu verwirklichen. Der Inklusiven Pädagogik gehen langjährige ideen- und institutionengeschichtliche Entwicklungen voraus: Dazu gehörten im Zuge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert die Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht in einem nach Ständen, nach Behinderungsarten und weitgehend nach Geschlechtern trennenden Schulwesen, die Entwicklung avantgardistischer Möglichkeiten in Muster- und Reformschulen und mit der ersten deutschen Demokratie die Einführung der am Einheitsschulgedanken orientierten Grundschule. Nach zerstörerisch-hierarchischen Zuständen im Nationalsozialismus, die mit dem zweiten Weltkrieg endeten und nach den vor allem an assimilatorisch verstandener Gleichheit orientierten Bildungsbestrebungen in der DDR und in der westdeutschen Phase der Bildungsreform der sechziger Jahre, kam es in den siebziger Jahren zu Innovationen, für die das Ziel der Anerkennung von Heterogenität zentral war. In zunächst sieben westdeutschen (davon zwei westberliner) „integrativen“ Modellversuchen der siebziger und achtziger Jahre wurde die Konzeption der heterogenen Lerngruppe von den in multiprofessionellen Teams arbeitenden Lehrkräften entwickelt, praktiziert und ausformuliert sowie von wissenschaftlichen Begleitungen evaluiert (vgl. Deppe-Wolfinger/Prengel/Reiser 1990). Nach einer recht langsamen Verbreitung des gemeinsamen Unterrichts mit Schülerinnen und Schülern mit und ohne Behinderung während der nächsten dreißig Jahre befindet sich die Arbeit mit heterogenen Lerngruppen heute, angestoßen durch die Behindertenrechtskonvention (Vereinte Nationen 2006; Bielefeldt 2006), unter dem Label Inklusion in neuem Aufwind. Während die Anerkennung der Heterogenität der Lernenden allseits gefordert und die Schwierigkeiten das umzusetzen beklagt werden, verfügt die integrative bzw. inklusive Pädagogik über einen langjährig gesammelten und dokumentierten Erfahrungsschatz der dem Modell der heterogenen Lerngruppe verpflichteten Diagnostik und Didaktik.
2. Bedeutung für didaktische und diagnostische Modelle
Für die Arbeit mit heterogenen Lerngruppen ist der Zusammenhang von Diagnostik und Didaktik zentral. Denn in der wohnortnahen Grundschule, die jedes Kind aus ihrem Einzugsbereich unabhängig von seinen Leistungsmöglichkeiten aufnimmt, kann kein einheitlicher für alle gleicher und gleichzeitig maßgeblicher Lehrplan umgesetzt werden. Stattdessen werden die sehr verschiedenen Lernausgangslagen der Lernenden erhoben, um in einem binnendifferenzierenden Unterricht passende Lernmaterialien für individuelles Lernen zu ermöglichen. Dabei stellt sich die Frage, wie die Auswahl der anzueignenden Wissensbestände und Kompetenzen zu begründen ist. Die Theorien der generationenvermittelnden Grundschule (Heinzel 2011) und der mehrperspektivischen Anerkennung im Generationenverhältnis (Prengel 2002, 2005) sind hier aufschlussreich. Auch die inklusive Pädagogik der heterogenen Lerngruppe kann die Hierarchie im Generationenverhältnis nicht ungeschehen machen und die Erwachsenen müssen ihre Verantwortung für die Auswahl eines angemessenen pädagogischen Angebots wahrnehmen. Zugleich strebt eine - der Heterogenität auch zwischen den Generationen - bewusste Pädagogik Elemente gleicher Freiheit im Generationenverhältnis an. Daraus folgt, dass Diagnostik und Didaktik sich sowohl auf die in den Lehrplänen ausformulierten Bildungsansprüche der Gesellschaft an die Kinder als auch auf die Bildungsansprüche der Kinder an die Gesellschaft beziehen sollten. Dazu gehören obligatorische Themen, wie z.B. elementare Kulturtechniken, ebenso wie die Fragen, Themen und Interessen der Kinder. Um für heterogene Lerngruppen geeignet zu sein, müssen die verbindlichen Themen für alle Leistungsniveaus stufenförmig aufgefächert werden, damit jedem Kind der heterogenen Lerngruppe, auf welchem Stand auch immer es sich befindet, ein Einstieg mit passenden Lernmaterialien angeboten werden kann, so dass jedes Kind so gut wie individuell nur möglich unter anderem lesen, schreiben und rechnen lernt. Ebenso wichtig ist es für eine der Heterogenität verpflichtete Pädagogik, Freiräume für kindlichen Eigensinn zu gewähren, die kreativen kindlichen Aktivitäten zu beobachten und den Interessen entsprechende Medien und Materialien anzubieten.
Aus der Logik der Orientierung an gleicher Freiheit folgt das Bemühen um Anerkennung des Lernens jedes Kindes in der heterogenen Lerngruppe, verbunden mit der unbedingten Vermeidung von schulüblichen Unterordnungen, das heißt von Diskriminierungen und Etikettierungen bestimmter Kinder als „schlechte Schülerin und schlechte Schüler“. Dabei kann es aber nicht darum gehen, Hierarchien zu leugnen (s.o.), sondern kontinuierlich an ihnen zu arbeiten, um ihnen nicht die Regie beim Handeln im Alltag von Schule und Unterricht zu überlassen. Dabei ist es in der menschenrechtlich-demokratischen Pädagogik Aufgabe der Lehrpersonen durch Anerkennungshandeln implizit als Vorbild in der Kindergruppe zu wirken und den Kindern auch explizit eine Haltung der Selbstachtung und der Anerkennung der anderen kontinuierlich zu vermitteln.
3. Empirische Befunde aus der Untersuchung heterogener Lerngruppen
Die bemerkenswerte Heterogenität der Schülerschaft, die der gleichen Schulform und Klassenstufe zugeordnet sind, wird in verschiedenen Studien belegt. Schon in der SCHOLASTIK-Studie wurden erhebliche interindividuelle Unterschiede im Leseverständnis und im Rechtschreiben gefunden, die über die Grundschulzeit bestehen bleiben (Weinert/Helmke 1997). In der KILIA-Studie wird deutlich, wie groß die Leistungsunterschiede zu Beginn und am Ende des ersten Schuljahres sind; diese Leistungsheterogenität am Ende der ersten Klasse wird in erster Linie auf bereits bestehende Unterschiede am Schuljahresanfang zurückgeführt (Kammermeyer/Martschinke 2004). Ditton (2010) zeigt, dass Rangunterschiede in den Leistungen zwischen dem Ende der zweiten und dem Ende der vierten Jahrgangsstufe, obgleich sie abnehmen, dennoch zwischen Schülerinnen und Schülern wie auch zwischen Schulklassen zu einem bedeutenden Teil erhalten bleiben. Die Ergebnisse der Large-Scale-Assessment-Studien wiederum bestätigen eindrücklich die Position der Integrationspädagogik, dass es sich bei dem Ziel durch Einteilung von Jahrgangsstufen oder Ausdifferenzierung des Schulsystems eine homogene Schülerschaft zu erreichen, um eine Fiktion handelt, die keineswegs mit der Schulwirklichkeit übereinstimmt (Ehmke/Baumert 2008).
Alle genannten Forschungsergebnisse verweisen darauf, dass leistungsheterogene Lerngruppen an Schulen (nicht nur in Deutschland) eine empirische Tatsache darstellen, selbst wenn Untersuchungen zur Frage, ob Schülerinnen und Schüler in leistungshomogenen oder -heterogenen Lerngruppen günstigere Voraussetzungen für ihre Lern- und Leistungsentwicklung vorfinden, bislang kein einheitliches Bild ergeben. Befunde aus den Meta-Analysen von Kulik und Kulik (1982, 1984) vermögen leicht positive Wirkungen für leistungshomogene Lerngruppen aufzuzeigen, aber diese zeigen sich vor allem für leistungsstärkere Schülerinnen und Schüler. In der Meta-Analyse von Slavin 1990 finden sich hingegen kaum Effekte, die Argumente für eine Leistungsgruppierung liefern. Auch die Hamburger Schulleistungsstudie KESS kommt für Schülerinnen und Schüler am Ende der 6. Jahrgangsstufe zum Ergebnis, dass durch die Leistungsheterogenität innerhalb von Lerngruppen kein Nachteil für die Lernerfolge der einzelnen Schülerinnen und Schüler besteht, sondern sich zumindest tendenziell eher ein Vorteil abzeichnet (vgl. Gröhlich/Scharenberg/Bos 2009).
In einer Befragung von Lehrkräften zur Einschätzung des jahrgangsübergreifenden Unterrichts, in dem die Heterogenität der Lerngruppen bewusst erhöht ist, konnten Geiling und Thiel (2007) feststellen, dass die Chancen für soziales Lernen sehr günstig beurteilt werden, die Bedeutung des jahrgangsübergreifenden Lernens für die Leistungsentwicklung aller Kinder hingegen weniger optimistisch eingeschätzt werden. Auch Eckerth und Hanke (2009), die den Forschungsstand zum jahrgangsübergreifenden Unterricht zusammengefasst haben, können im Bereich der Schulleistungen keine deutlichen Vor- oder Nachteile für Schülerinnen und Schüler in jahrgangsübergreifenden Klassen ausmachen, aber im Bereich der sozial-emotionalen Entwicklung überwiegen positive Effekte.
Obgleich in der Forschung und Praxis besonders die Leistungsheterogenität hervorgehoben wird, unterscheiden sich Schülerinnen und Schüler sowie Schulklassen in ihrer Zusammensetzung auch in Bezug auf weitere zentrale Heterogenitätsdimensionen wie den familialen sozioökonomischen Status, das Alter, die geschlechtsbezogene Sozialisation, die ethnische Herkunft und damit verbunden die Spracherfahrungen oder die individuelle Physis und Gesundheit. Auch zu diesen Heterogenitätsdimensionen und zu deren Verschränkung liegen interessante Forschungsergebnisse vor (vgl. z.B. Heinzel/Prengel 2002; Heinzel 2008). Außerdem richtet sich der Blick der Forschung auf den Umgang der Lehrpersonen mit Heterogenität. Als ein wesentliches Ergebnis der Evaluation der Flexiblen Eingangsstufe (FLEX) in Brandenburg formulieren Geiling u.a. (2008, 209): „Je länger die Grundschulpädagoginnen in FLEX tätig sind, desto mehr richtet sich ihr Augenmerk auf das Wahren einer ganzheitlichen Sicht auf alle ihnen anvertrauten Kinder, und auch die Verantwortung für die Prävention von Lernschwierigkeiten nimmt mit einem längeren Erfahrungszeitraum in der flexiblen Schuleingangsphase zu“. Auch eine Studie von Kopp (2007) kommt zu dem Schluss, dass das inklusive Denken im Laufe der Konfrontation mit dem Phänomen der Heterogenität zunimmt. Lang u.a. (2009) haben durch eine schriftliche Befragung von Klassenleiterinnen jahrgangsgemischter Eingangsstufen in Bayern festgestellt, dass die bewusste Erhöhung von Heterogenität durch Einführung der Jahrgangsmischung dazu führen kann, dass Lehrerinnen und Lehrer ihre Sichtweisen auf Heterogenität verändern und eine Abwendung vom ‚Homogenisierungsdenken‘ in Gang gesetzt werden kann.
Als Zwischenbilanz soll hervorgehoben werden, dass Heterogenität zunächst vor allem im Bereich der Genderforschung, der Integrationsforschung sowie der Interkulturellen Pädagogik untersucht wurde. Zudem richtete die Forschung ihren Blick auf die Leistungsheterogenität der Schülerschaft und den Einfluss des familialen Herkunftsmilieus auf den Bildungserfolg. Auch die Lehrereinstellungen zu Heterogenität und der Umgang von Lehrpersonen mit Heterogenität fanden die Aufmerksamkeit von Forscherinnen und Forschern.
Relativ wenig Beachtung fand hingegen der aktive Umgang der Kinder und Jugendlichen mit der Heterogenität ihrer Schulklasse, obgleich der Schulklasse inzwischen eine große Bedeutung für die Leistungsentwicklung und soziale Faktoren des Lernens zugesprochen wird. Es sind aber die Kinder und Jugendlichen selbst, die alltäglich damit umgehen, dass sich der Grundsatz der Gleichbehandlung und der Wunsch nach Gleichberechtigung in der Schule nur partiell realisieren lassen und in ganz unterschiedlichem Maße auch realisiert werden. Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass sich die Peergruppen im schulischen Kontext häufig geschlechts-, leistungs- und milieuhomogen zusammensetzen. Das führt dazu, dass sich Kinder in der Schulklasse und in ihren informellen Lernwelten in Peergruppen bewegen, deren Mitglieder eine hohe Kongruenz zu den Werten der Eltern aufweisen – was in der Peer-Forschung auch als sog. „Kontinuitätshypothese“bezeichnet wird (Krüger/Pfaff 2008). Forschungsergebnisse von Eckermann und Heinzel (2012) zeigen, dass der Peer-Status – worunter die soziale Stellung des Einzelnen innerhalb der Schulklasse verstanden wird – von Kindern in Grundschulklassen den Umgang mit Heterogenität bei der Schülerkooperation beeinflusst. Besonders Kinder in den Gruppierungen in Schulklassen, in denen die Mitglieder einen höheren Peer-Status aufweisen und gemeinsame Orientierungen teilen, begegnen sich mit Anerkennung und unterstützen einander. In seiner Interviewstudie mit Kindern im zweiten Schuljahr konnte Petillon (1993) zeigen, dass sich schon im Anfangsunterricht recht stabile Außenseiterpositionen der Kinder (ca. 15%) herausbilden, die von anderen Kindern abgelehnt werden, es sind die gleichen Schülerinnen und Schüler, die auch durch Lehrkräfte negativ beurteilt werden. Die Integrationsforscher Maikowski und Podlesch (2002) fassen eine Reihe einschlägiger Untersuchungen aus der Integrationsforschung der Jahre 1976-2000 zusammen. Die Ergebnisse sind widersprüchlich, denn einerseits wurde in Integrationsklassen ausgeprägte Anerkennung zwischen Kindern gefunden, andererseits konnten aber auch Ausgrenzungen zwischen Kindern belegt werden. Wenn Ablehnung vorkommt, richtet sie sich vor allem gegen Kinder mit Verhaltensproblemen und – deutlich weniger ausgeprägt – gegen Kinder mit geistiger Behinderung. Je länger die Schülerinnen und Schüler gemeinsam eine Integrationsklasse besuchen, desto besser entwickelt sich die wechselseitige Akzeptanz. Integrationsprojekte mit für Kinder mit Förderschwerpunkt emotional-soziales Lernen ausgewiesenen „Lernzugängen“ können sehr erfolgreich sein, auch für diese Gruppe (Becker 2008). Daraus folgt für die inklusive Pädagogik, dass das Zusammenstellen von Klassen mit einer heterogenen Schülerschaft zwar eine Voraussetzung für die wechselseitige Anerkennung zwischen Verschiedenen und leistungsförderliche Didaktik darstellt, das allein aber genügt nicht. Die Handlungsweisen, mit denen Kinder einander adressieren, und auch die Leistungssteigerungen sind in hohem Maße von der didaktischen Kompetenz, den Handlungsmustern der Lehrkräfte und vom Klassenklima, an dessen Etablierung sie mitwirken, abhängig. Die Beobachtungen im Anfangsunterricht des Potsdamer INTAKT-Projekts belegen, wie sehr Lernaktivitäten von Anerkennung abhängen und wie sich Kinder, wenn sie andere anerkennen oder ablehnen auch am Vorbild der Lehrerinnen und Lehrer orientieren (Prengel 2011b).
4. Offene Fragen und Probleme
Menschenrechtlich fundierte Normen postulieren das Modell der inklusiven Pädagogik mit ihrem Grundbegriff „Heterogenität“ als ein wegweisendes Modell gegenwärtig anstehender Bildungsreformen. Sozial- und bildungsphilosophische Theorien sowie empirische Befunde machen deutlich, dass die mit Inklusion verbundenen Innovationen - wie Demokratisierungsansätze in anderen gesellschaftlichen Bereichen - sowohl bedeutende Erfolge aufweisen als auch von Widersprüchen gekennzeichnet sind. Dem Wunsch nach egalitärer wechselseitiger Anerkennung der gleichen Freiheit im Sinne des Begriffs der Heterogenität wird auch in inklusiven Settings in unterschiedlichem Maße und in unterschiedlichen Aspekten entsprochen. Wenn Inklusion auf der institutionellen Ebene mit der Zusammensetzung heterogener Lerngruppen stattfindet, beginnt erst die Entwicklungsarbeit, die Schritte zu mehr didaktischer Passung, wechselseitiger Anerkennung und Partizipation verwirklicht. Dafür werden sowohl vertiefte theoretische Reflexionen als auch detaillierte empirische Studien gebraucht. Ein zentrales aktuelles Problem bildet dabei die von einzelnen Leuchtturmschulen mit ihren hochengagierten Teams ausgehende Ausweitung inklusiver Pädagogik in der Fläche (Siegert 2005; Stähling 2006), in der an vielen Schulen Menschen arbeiten, die ihre Vorstellung vom gleichschrittigen Lernen in einem separierenden Bildungswesen nicht aufgeben wollen und denen Heterogenität auch nach langjährigen Debatten um diesen Begriff fremd geblieben ist. Dass Lernen in heterogenen Gruppen und wechselseitige Anerkennung zwischen Kindern in einem genügend guten Maße möglich ist, haben zahlreiche Schulen seit den Modellversuchen der siebziger Jahre gezeigt; dazu, ob und wie ein Ausstrahlen auf das ganze Bildungswesen möglich ist, fehlen Forschungsvorhaben und Forschungsbefunde.
5. Literatur
Becker, Ulrike (2008): Lernzugänge. Integrative Pädagogik mit benachteiligten Schülern, Wiesbaden: VS-Verlag
Bielefeldt, Heiner (1998): Philosophie der Menschenrechte, Darmstadt: Primus
Bielefeldt, Heiner (2006): Essay: Zum Innovationspotenzial der UN Behindertenrechtskonvention.
www.2.institutfuer-menschenrechte.de/ webcom/show_article.php?wc_c=552&wc_id=2 [Eingesehen am: 01.09.2011]
Bielefeldt, Heiner (2008): Menschenwürde. Der Grund der Menschenrechte, Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte
Deppe-Wolfinger, Helga/Prengel, Annedore/Reiser, Helmut (1990): Integrative Pädagogik in der Grundschule. Bilanz und Perspektiven der Integration behinderter Kinder in der Bundesrepublik Deutschland 1976-1988, München: Reinhardt
Ditton, Hartmut (2010): Differentielle Leistungsentwicklung in der zweiten Hälfte der Grundschulzeit. In: Zeitschrift für Grundschulforschung. Bildung im Elementar- und Primarbereich, 3(1), S. 83-98
Eckermann, Torsten/Heinzel, Friederike (2012): Etablierte und Außenseiter - Wie Kinder beim kooperativen Lernen mit Heterogenität umgehen. Erscheint in: Budde, Jürgen (Hrsg.), Unscharfe Einsätze - (Re-)Produktion von Heterogenität im schulischen Feld. Wiesbaden: VS-Verlag
Eckerth, Melanie/Hanke, Petra (2009): Jahrgangsübergreifender Unterricht: Ein Überblick über den nationalen und internationalen Forschungsstand. In: Zeitschrift für Grundschulforschung. Bildung im Elementar- und Primarbereich, 2(1), S. 7-19
Ehmke, Timo/Baumert, Jürgen (2008): Soziale Disparitäten des Kompetenzerwerbs und der Bildungsbeteiligung in den Ländern: Vergleiche zwischen PISA 2000 und 2006. In: Prenzel, Manfred u. a. (Hrsg.), PISA 2006 in Deutschland. Die Kompetenzen der Jugendlichen im dritten Ländervergleich. Münster: Waxmann, S. 319-342
Ehrenberg, Alain (2011): Das Unbehagen in der Gesellschaft, Berlin: Suhrkamp
Geiling, Ute/Geiling, Tina/Schnitzer, Anna/Skale, Nadja/Thiel, Maren (2008): Evaluation der Wirkungen der förderdiagnostischen Begleitung und der systemischen Auswirkungen auf Grund- und Förderschulen. In: Liebers, Katrin; Prengel, Annedore & Bieber, Götz (Hrsg.), Die flexible Schuleingangsphase. Weinheim: Beltz, S. 163-247
Geiling, Ute/Thiel, Maren (2007): Wie bewerten Lehrerinnen und Lehrer das Lernen in jahrgangsgemischten Gruppen? Ergebnisse aus einer quantitativen Studie zur Flexiblen Schuleingangsphase Brandenburgs. In: De Boer, Heike; Burk, Karlheinz & Heinzel, Friederike (Hrsg.), Leben und Lernen in jahrgangsgemischten Klassen. Beiträge zur Reform der Grundschule – Band 123. Frankfurt am Main: Grundschulverband – Arbeitskreis Grundschule e.V., S. 297-308
Gröhlich, Carola/Scharenberg, Katja/Bos, Wilfried (2009): Wirkt sich Leistungsheterogenität in Schulklassen auf den individuellen Lernerfolg in der Sekundarstufe aus? In: Journal für Bildungsforschung Online, 1(1), S. 86-105
Habermas, Jürgen (2010): Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 58(3), S. 343-357
Heinzel, Friederike (2011): Generationenvermittlung in der Grundschule. Ende der Kindgemäßheit?, Bad Heilbrunn: Klinkhardt
Heinzel, Friederike (2008): Umgang mit Heterogenität in der Grundschule. In: Ramseger, Jörg & Wagener, Matthea (Hrsg.), Chancenungleichheit in der Grundschule. Wiesbaden: VS Verlag, S. 133-138
Heinzel, Friederike/Prengel, Annedore (Hrsg.) (2002): Heterogenität, Integration und Differenzierung in der Primarstufe. Jahrbuch Grundschulforschung, Band 6, Opladen: Lesek+ Budrich
Höffe, Ottfried (2010): Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung, München: Beck
Horn, Dorit (2012): Zur Herkunft und Bedeutung der Begriffe heterogen und Heterogenität. Ergebnisse einer Recherche in Wörterbüchern und philosophischen Lexika zu einem inklusionsrelevanten Begriff. In: Prengel, Anndore & Schmitt, Hanno (Hrsg.), Netzpublikationen des Arbeitskreises Menschenrechtsbildung in der Rochow-Akademie für historische und zeitdiagnostische Forschung an der Universität Potsdam: Reckahn
Kammermeyer, Gisela/Martschinke, Sabine (2004): KILIA – Selbstkonzept und Leistungsentwicklung im Anfangsunterricht. In: Faust, Gabriele u. a. (Hrsg.), Anschlussfähige Bildungsprozesse im Elementar und Primarbereich. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 204-217
Kopp, Bärbel (2007): Inklusives Denken und Selbstwirksamkeitserwartungen als Voraussetzungen für den Umgang mit Heterogenität. In: Hanke, Petra & Möller, Kornelia (Hrsg.), Qualität von Grundschulunterricht entwickeln, erfassen, bewerten. Wiesbaden: VS Verlag, S. 119-122
Krüger, Heinz-Hermann/Pfaff, Nicole (2008): Peerbeziehungen und schulische Bildungsbiographien – Einleitung. In: Krüger, Heinz-Hermann u. a. (Hrsg.), Kinder und ihre Peers. Freundschaftsbeziehungen und schulische Bildungsbiographien. Opladen: Leske + Budrich, S. 11-32
Kulik, Chen-Lin/Kulik, James A. (1982): Effects of ability grouping on secondary school students: A meta-analysis of evaluation findings. American Educational Research Journal, 19(5), pp. 415-428
Kulik, Chen-Lin/Kulik, James A. (1984): Effects of ability grouping on elementary school pupils: A meta-analysis. Paper presented at the Annual Meeting of the American Psychological Association: Toronto, Ontario, Canada
Lang, Eva/Grittner, Frauke/Rehle, Cornelia/Hartinger, Andreas (2009): Das Heterogenitätsverständnis von Lehrkräften im jahrgangsgemischten Unterricht der Grundschule. In: Hagedorn, Jörg; Schurt, Verena; Steber, Corinna & Waburg, Wiebke
(Hrsg.), Ethnizität, Geschlecht, Familie und Schule. Heterogenität als erziehungswissenschaftliche Herausforderung. Wiesbaden: VS-Verlag, S. 315-331
Maikowski, Rainer/Podlesch, Wolfgang (2002): Zur Sozialentwicklung von Kindern mit und ohne Behinderung. In: Eberwein, Hans & Knauer, Sabine (Hrsg.), Integrationspädagogik. Kinder mit und ohne Beeinträchtigung lernen gemeinsam. Ein Handbuch, 6. Auflage. Weinheim und Basel: Beltz, S. 226-238
Menke, Christoph (2000): Spiegelungen der Gleichheit, Berlin: Akademie-Verlag
Pauer-Studer, Herlinde (2000): Autonom Leben. Reflexionen über Freiheit und Gleichheit, Frankfurt am Main: Suhrkamp
Petillon, Hanns (1993): Das Sozialleben des Schulanfängers, Weinheim: Psychologie Verlagsunion
Pickett, Kate/Wilkinson, Richard (2010): Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind, Berlin: Tolkemit bei Zweitausendeins
Prengel, Annedore (2011a): Zwischen Heterogenität und Hierarchie in der Bildung – Studien zur Unvollendbarkeit der Demokratie. In: Ludwig, Luise u.a. (Hrsg.), Bildung in der Demokratie. Opladen: Leske + Budrich, S. 83-94
Prengel, Annedore (2011b): Heterogenität oder Lesarten von Gleichheit und Freiheit in der Bildung. (Vortrag gehalten während der Jahrestagung der DGfE-Kommission Bildungs- undErziehungsphilosophie zum Thema "Heterogentität - Zur Konjunktur eines pädagogischenKonzepts", 28. bis 30. September 2011 in Berlin.)
Prengel, Annedore (2005): Anerkennung von Anfang an – Egalität, Heterogenität und Hierarchie im Anfangsunterricht und darüber hinaus. In: Geiling, Ute & Hinz, Andreas (Hrsg.), Integrationspädagogik im Diskurs. Auf dem Weg zu einer inklusiven Pädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 15-34
Prengel, Annedore (2002): „Ohne Angst verschieden sein?“ – Mehrperspektivistische Anerkennung von Schulleistungen in einer Pädagogik der Vielfalt. In: Hafeneger, Benno; Henkenborg, Peter & Scherr, Albert (Hrsg.), Pädagogik der Anerkennung – Grundlagen, Konzepte, Praxisfelder. Schwalbach/Taunus: Wochenschau-Verlag, S. 203-221
Siegert, Hubertus (2005): Klassenleben. Dokumentarfilm, Berlin: good!movies [u.a.]
Slavin, Robert E. (1990): Achievement effects of ability grouping in secondary schools: A best evidence synthesis. Review of educational research, 60(3), pp. 471−499
Stähling, Reinhard (2006): „Du gehörst zu uns“ Inklusive Grundschule. Ein Praxisbuch für den Umbau der Grundschule, Hohengehren: Schneider Verlag
Vereinte Nationen – UN (2006): Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.
files.institut-fuer-menschenrechte.de/437/Behindertenrechtskonvention.pdf [Eingesehen am: 10.08.2009]
Weinert, Franz Emanuel/Helmke, Andreas (Hrsg.) (1997): Entwicklung im Grundschulalter, Weinheim: Psychologie Verlagsunion