Joachim Schroeder: Kanada kann auch anders
Vielfältige Schulangebote im „gelobten Land der Inklusion“

Abstract: Die sprachliche und kulturelle Heterogenität sowie insbesondere ethnische Diskriminierungen und markante sozio-ökonomische Ungleichheiten der kanadischen Gesellschaft machen es der Politik, Wissenschaft und Pädagogik schwer, geeignete Konzepte zur Gestaltung des Bildungssystems zu entwickeln. Demgegenüber wird in Deutschland oftmals das Bild gezeichnet, dass in Kanada die schulische Inklusion schon umfassend bewältigt ist. An Beispielen zu den Problemen der Beschulung von First Nations, sozial sehr benachteiligten Kindern und Jugendlichen, Schüler*innen mit einer Behinderung sowie von Rassismus betroffenen jungen Afrocanadians werden bildungspolitische und pädagogische Paradoxien diskutiert aber auch gelungene Beispiele präsentiert.

Stichworte: Sprachenvielfalt; soziale Exklusion; Diskriminierung; Behinderung; Kanada

Inhaltsverzeichnis

  1. Bekanntes und nicht so Bekanntes zu Kanada
  2. First Nations Schools
  3. Alternate Schools
  4. Social affairs Schools / Écoles spécialisées
  5. Controversial Schools
  6. Vielfältige Konzepte und hegemoniale Strukturen
  7. Literatur

1. Bekanntes und nicht so Bekanntes zu Kanada

Dem nordamerikanischen Land wird in der deutschen Erziehungswissenschaft relativ viel Aufmerksamkeit geschenkt. Insbesondere zum kanadischen Schulsystem werden immer wieder Forschungsberichte und Dissertationen vorgelegt. In diesen Arbeiten versucht man Erklärungen für das relativ gute Abschneiden Kanadas in den PISA-Tests zu geben, und es werden Gründe für die hohe Integrationskraft des dortigen Bildungssystems hinsichtlich zugewanderter und der Inklusionsfähigkeit in Bezug auf beeinträchtigte Schüler*innen diskutiert. Der in Deutschland verfügbare erziehungswissenschaftliche Informations- und Forschungsstand zu Kanada ist auf den ersten Blick recht umfassend und detailliert. In einer Gesamtschau der mir zugänglichen Texte fallen indes regionale, thematische und methodologische Schwerpunktsetzungen auf, die zur Bewertung des Erkenntnisstandes berücksichtigt werden müssen.  

(1) Die jüngere erziehungswissenschaftliche Berichterstattung in Deutschland über Kanada ist auf einige Regionen begrenzt: Kanada ist fast so groß wie Europa. Der föderale Staat ist in zehn Provinzen und drei Territorien gegliedert und zählte 2016 etwa 36 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. In einem so großen Land ist die ökonomische, soziale, kulturelle und sprachliche[1] Struktur außerordentlich vielfältig. Neben multikulturellen Einwanderungsmetropolen wie Toronto, Montreál und Vancouver finden sich winzige, schwer zugängliche Streusiedlungen in den subarktischen Gebieten. Das Interesse der deutschen Erziehungswissenschaft richtet sich jedoch bislang im Wesentlichen auf zwei im Osten des Landes liegende Provinzen: New Brunswick und Ontario.
New Brunswick ist eine der kleinen kanadischen Provinzen und hat angeblich „das weltweit inklusivste Schulsystem“ (Hinz 2007, S. 89). Dies erklärt vermutlich, dass insbesondere die Sonder- und Inklusionspädagogik sich dort gerne umschaut (Hinz 2006, 2007; Katzenbach & Degen 2009; Stein 2011; Köpfer 2013a, 2013b). Auch eine hessische Bildungsministerin fuhr schon nach New Brunswick ins „gelobte Land der Inklusion“ (so überschrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 16. Juni 2011 den Bericht über diese Reise), um sich dort Anregungen für ihre Schulpolitik zu holen (Trautsch 2011).
Die erziehungswissenschaftliche Befassung mit Ontario bezieht sich bei genauerer Betrachtung nicht auf die gesamte – flächenmäßig große und bevölkerungsreiche – Provinz, sondern fast ausschließlich auf Ontarios Hauptstadt Toronto. Besonders die Migrationspädagogik interessiert sich für die Millionenstadt (Polat 2008; Löser 2011; Schuett 2014; Korntheuer 2016, 2017), nicht zuletzt, seit 2008 Torontos Schulbehörde den Preis der Bertelsmann-Stiftung für Integration erhalten hat und damit die besonderen Leistungen der Stadt zur Integration von Zuwandernden gewürdigt wurden. Die ZEIT ernannte Toronto aus diesem Anlass zum „Weltmeister der Integration“ (Spiewak 2008).
Die nüchterne Bilanz ergibt somit, dass wir in Deutschland zu weiten Teilen des Landes bislang kaum pädagogisch relevante Informationen haben und zur Bildungslandschaft Kanada nicht sonderlich viel wissen.                     

(2) Die für Bildungsteilhabe und Bildungserfolg relevanten Exklusionsrisiken werden in den erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen überwiegend getrennt voneinander untersucht: Wie angedeutet, erscheinen New Brunswick und Toronto in der deutschen Berichterstattung gleichsam als Inseln sonder-/inklusions- bzw. migrations-/integrationspädagogischer Exzellenz. Solche Einzelbefunde werden dann gerne mal zu einem hervorragenden Umgang mit „Diversity“ im kanadischen Schulsystem insgesamt verallgemeinert (Löser 2011). An anderer Stelle und am Beispiel von Finnland habe ich argumentiert, dass jedoch möglichst viele Exklusionsdimensionen untersucht werden müssen – ökonomische Armut, Zugehörigkeit zu einer ethnisch, kulturell und/oder religiös diskriminierten Gruppe, eine schwere Behinderung/Beeinträchtigung sowie genderbedingte Ungleichheiten –, wenn man herausfinden möchte, ob es dem Schulsystem eines Staates gelingt, Bildungsgerechtigkeit umfassend herzustellen (Schroeder 2010). Zwar ist es legitim, die Bildungschancen einzelner sozialer Gruppen zu untersuchen, doch das Maß der erreichten Chancengleichheit in einem nationalen oder auch regionalen Schulwesen lässt sich erst in einer Gesamtschau zur Situation möglichst vieler vulnerabler Gruppen bewerten, weil Bildungssysteme nun mal dazu tendieren, manche soziale Gruppen zu bevorzugen, um den Preis der Benachteiligung anderer.
Ob das kanadische Bildungssystem erfolgreich oder gerecht ist, wissen wir nicht. Belegt ist nur, dass das Land bei PISA mehrmals gut abgeschnitten hat (Kopp 2003; Arbeitsgruppe 2007; Sliwka 2010). Nachgewiesen ist auch, dass in der Provinz New Brunswick eine wirksame sonderpädagogische Unterstützung vorgehalten wird und es in der Weltstadt Toronto relativ effektive Konzepte gibt, um sprachliche Heterogenität bei allochthonen Minderheiten zu fördern. Doch profitieren tatsächlich alle Kinder und Jugendlichen überall in Kanada von diesen Integrations- und Inklusionserfolgen?

(3) Mit politischen Widersprüchen und empirischen Ungereimtheiten geht man in der erziehungswissenschaftlichen Berichterstattung zu Kanada recht großzügig um: Die Geschichtsschreibung zur Inklusionspädagogik verweist gerne darauf, dass Kanada bereits 1982 in der Verfassung (Charter of Rights of Freedom) ein inklusives Schulsystem verankert habe (Köpfer 2012, S. 2), weshalb manche den Staat euphorisch als „Geburtsland der inklusiven Schule“ bezeichnen (Sander 2001). Andere glauben, dass einige entscheidende Passagen der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) auf Formulierungen der kanadischen Verfassung zurückgehen würden, was einen gewissen Einfluss der kanadischen Delegation bei der Erstellung des Entwurfs zum Übereinkommen belege (Malhotra 2012, S. 202). Während der Olympischen und Paralympischen Winterspiele in Vancouver hat Kanada jedenfalls am 11. März 2010 öffentlichkeitswirksam die UN-BRK ratifiziert.
Kritische Stimmen weisen jedoch darauf hin, dass „noch ein Mechanismus geschaffen werden [muss], um sicherzustellen, dass Kanada die Bestimmungen der Behindertenrechtskonvention erfüllt“ (Malhotra 2012, S. 202). Denn die Umsetzung ist den einzelnen Provinzen und Territorien überlassen, es gibt bislang keine Bundeseinrichtung, die entsprechende Aktivitäten befördert, koordiniert und kontrolliert. Alle Forderungen seitens der Behindertenverbände nach Ernennung eines Behindertenbeauftragten auf Regierungsebene, nach einem Ständigen Parlamentarischen Ausschuss oder einer unabhängigen zentralen Anlaufstelle zu Angelegenheiten in Zusammenhang mit Menschen mit Behinderung, sind bislang politisch abgeschmettert worden (Malhotra 2012, S. 203).
In diesem Zusammenhang ist auch erwähnenswert, „dass Kanada das Fakultativprotokoll der UN-BRK weder unterzeichnet noch ratifiziert hat, das Einzelpersonen wie Personengruppen das Recht einräumt, die Vertragsstaaten mithilfe des Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen für die Nichteinhaltung der UN-BRK verantwortlich zu machen“ (Malhotra 2012, S. 204). Ebenso behält sich Kanada Einschränkungen zu Artikel 12 (Rechts- und Handlungsfähigkeit) vor und möchte auch keine regelmäßigen Kontrollen der Umsetzung durch eine unabhängige Behörde (ebd.). Vor dem Hintergrund solcher Analysen behauptet  der Council of Canadians with Disabilities (CDD), „dass Kanada nicht voll hinter den der UN-BRK zugrunde liegenden Leitgedanken steht” (zit. nach ebd.).        

(4) Der erziehungswissenschaftliche Vergleich betont die Unterschiede zwischen Kanada und Deutschland und wählt überwiegend eine dichotomisierende Darstellung: Die in Deutschland vorgelegten Studien zu Kanada sind methodologisch darauf ausgelegt, die Unterschiede zwischen den Schulsystemen der beiden Staaten herauszuarbeiten. Die Auswahl der Untersuchungsregionen in Kanada erfolgt – mal mehr, mal weniger transparent dargelegt – allem Anschein nach dem Kriterium und Ziel, „best practice“ beschreiben zu können. Oftmals werden die Differenzen zwischen den beiden Ländern in entsprechenden Tabellen einander gegenüber gestellt, wobei immer Kanada die positive und wünschenswerte Spalte füllt.
Denn die Studien sind auch durchweg von der expliziten oder zumindest impliziten These geleitet, dass die beiden Staaten im Bereich der Bildung extreme Gegensätze bilden: Kanada wird als Land präsentiert, das bildungspolitisch und pädagogisch alles richtig macht, Deutschland hingegen erscheint als schulpädagogisches Entwicklungsland, das insbesondere integrations- und inklusionspolitisch nichts zustande kriegt. Dezidiertes Ziel der Reisen und Forschungsaufenthalte ist fast immer, „von Kanada zu lernen“. Alle oben genannten Texte enden folgerichtig mit Empfehlungen zur Reform des föderalen Schulsystems in Deutschland auf der Basis der in Kanada vorgefundenen Politik und Praxis. Vermutlich ist es nicht nur der Höflichkeit des reisenden Gastes geschuldet, dass in keinem einzigen Dokument erörtert wird, ob denn Kanada etwas von Deutschland lernen könnte, eine Frage, die mir vor Ort häufiger gestellt wurde, weil das deutsche Schulsystem in Kanada durchaus einen guten Ruf hat.

Mein Erkenntnisinteresse für den mehrmonatigen Aufenthalt in Kanada (Juli bis Oktober 2016) war auf einige Ähnlichkeiten gerichtet, die sich in den Entwicklungen der beiden föderalen Bildungssysteme beobachten lassen. In meinen Schulforschungen zu Deutschland befasse ich mich seit längerem mit den sozialpädagogisch konturierten Bildungseinrichtungen der Jugendhilfe. Das sind spezielle Ergänzungs- und Ersatzschulen, die sich in den zurückliegenden Jahrzehnten neben dem Regel- und dem Sonderschulsystem in beachtlicher Zahl und Formenvielfalt herausgebildet haben (Schroeder 2012). In Deutschland, so meine These, gibt es solche speziellen Schulen, weil man sich sowohl in den Regel- als auch in den Inklusions- und Sonderschulen mit der wirksamen Förderung von Kindern und Jugendlichen in extremen Lebenslagen schwer tut.

Anders als in den meisten deutschen Reise- und Forschungsberichten zu Kanada suggeriert wird, gibt es dort nicht nur die in einer konsequenten Politik der Inklusion und Integration geschaffene „eine Schule für alle“, sondern zudem bemerkenswert viele „spezielle Schulen für einige“. Zur Annäherung an diese speziellen Schulen habe ich vor der Reise vier Untersuchungsfelder und -regionen[2] festgelegt:

 
Wie also lässt sich erklären, dass es ganz offensichtlich im „gelobten Land der Inklusion und Integration“ in einigen Provinzen im Bildungswesen auch Teil- und Parallelsysteme oder zumindest spezielle Bildungseinrichtungen für einzelne Zielgruppen gibt?

2. First Nations Schools

Die Provinz British Columbia liegt ganz im Westen des Landes am Pazifik. Die größte Stadt ist Vancouver, die Hauptstadt heißt Victoria. Die Anthropologie klassifiziert die zwischen Südalaska und Nordkalifornien siedelnden „indianischen Ureinwohner“ (in Kanada offiziell „First Nations“ genannt) als eine auf Walfang spezialisierte Fischerkultur, die insbesondere aufgrund ihrer hochentwickelten Holzschnitzkunst (Totempfähle, Skulpturen, Klappmasken) und dem einzigartigen „Potlatch“ (ein Geschenkverteilungsfest, bei dem die Gaben nach dem Austausch kollektiv vernichtet werden) weltberühmt ist (Lindig & Münzel 1985, S. 48-67). Dieses „kulturelle Erbe“ wird heutzutage in British Columbia sehr gehegt, überall in Stadtparks, in den Wäldern und an den Stränden stehen kunstvoll bearbeitete Zedernholzpfähle, kaum ein Schul- oder Universitätsgebäude, das nicht mit indigenen Schnitzereien verziert ist, und für den Bau der vielen anthropologischen Museen wurde sichtbar viel Geld ausgegeben.         

Aktuell gibt es in British Columbia rund 130 First Nations Schools, die meisten bieten alle  zwölf Klassenstufen des Regelschulsystems an. Auch in anderen kanadischen Provinzen, wie Alberta, Manitoba, Ontario, oder im Yukon Territory, sind solche Schulen eingerichtet worden, vornehmlich in kleineren Städten und abgelegenen Gemeinden, aber auch in Millionenstädten wie Calgary oder Toronto (vgl. Kapitel 5). In Regina, der Hauptstadt von Saskatchewan, wurde 2003 die erste First Nations University Kanadas gegründet. In den meisten Provinzen und Territorien sind diese Bildungseinrichtungen staatlich anerkannt und erhalten finanzielle Unterstützung von den lokalen School Boards (Schulverwaltungen) und der kanadischen Bundesregierung. Die First Nations Schools haben eigene Lehrpläne, Schulbücher, Unterrichtsmaterialien und Lernsoftware. In speziellen Studiengängen („Native education“, „Aborigines education“) werden an verschiedenen Universitäten die erforderlichen Lehrkräfte ausgebildet. – Das alles sieht somit nach einem anerkennungs- und menschenrechtsbasierten Umgang mit einer ethnischen Minderheit im föderalen Bildungssystem Kanadas aus, doch dieser erste Eindruck täuscht.                   

2.1 „A National Crime“ und der steinige Weg der Wiedergutmachung

Historisch wurde in Kanada mit verschiedenen Schulkonzepten experimentiert, um die „wilden Indianerkinder“ in die sich industrialisierende und modernisierende Zivilgesellschaft einzugliedern (Biegert 1979, Schroeter-Temme 1985, Maier-Mölling 1985): Missionsschulen, Reservatsschulen und Residental Schools (Internate) einte konzeptionell, dass die jeweilige indianische Sprache nicht gelehrt wurde, um den Erwerb des Englischen bzw. Französischen zu forcieren. Im Unterricht durften keinerlei alltagsweltliche oder kulturelle Themen der First Nations vermittelt werden. Als sich in den 1970er Jahren überall in Nordamerika die „American Indian Liberation Movements“ bildeten, versuchte man es in Kontraktschulen oder Survival Schools mit bilingualem Unterricht (Herkunftssprache und Englisch bzw. Französisch), einer stärkeren Selbstbestimmung der indigenen Völker über die Unterrichtsinhalte und mit Selbstverwaltungsstrukturen. Die entsprechende Forderung in Kanada lautete: „Indian Control of Indian Education“ (vgl. Pidgeon et al. 2013). In dieser Traditionslinie stehen die heutigen First Nations Schools (FNSA 2005).

Am 11. Juni 2008 entschuldigte sich der damalige Premierminister Stephan Harper bei den First Nations für das, was die kanadische Dominanzgesellschaft ihnen angetan hatte: „Heute erkennen wir an, dass diese Politik der Assimilation falsch war, großen Schaden verursacht und keinen Platz in unserem Lande hat. Die Regierung entschuldigt sich aufrichtig und bittet die Ureinwohner dieses Landes um Vergebung dafür, sie so ungemein falsch behandelt zu haben. Es tut uns leid“ (www.aadnc-aandc.gc.ca). Dennoch blieben bis 2011 die etwa 850.000 First Nations (das sind ca. vier Prozent der kanadischen Gesamtbevölkerung) vom 1977 verabschiedeten Canadian Human Rights Act ausgeschlossen, was ein grober Akt direkter Diskriminierung war. Gegenwärtig leben noch etwa 20 Prozent der First Nations in mehr als 3.000 kleinflächigen, oftmals abgelegenen und teilweise schwer erreichbaren Reservaten (durchschnittlich unter 10 km² groß), die von den sogenannten „Bands“ selbstverwaltet werden. Über 600 solcher „Bands“ sind in der Assembly of First Nations zusammengeschlossen.

Im Jahr 2011 reiste die Kommission für Wahrheit und Versöhnung (Truth and Reconciliation Commission of Canada, TRC) durch die kanadischen Provinzen und suchte Gemeinden und Reservate auf, um ehemalige Schüler*innen der Residental schools zu dort vorgefallenen Misshandlungen und Missbrauchsfällen anzuhören. Im Verlauf von etwa einhundert Jahren waren in ca. 130 solcher Schulen rund 150.000 Kinder zwangsweise verbracht und oftmals mit äußerster Brutalität umerzogen worden. Hunderte Kinder starben in den Schulen an Unterernährung, Tuberkulose, Misshandlungen und Suiziden (Milloy 1999; TRC 2015). Anlässlich der Eröffnung der ersten Schulen 1892 wurde in einem „Indian Act“ als prioritäres Erziehungsziel festgelegt, dass den Kindern ihre eigene Kultur „auszutreiben“ sei („To kill the Indian in the Child“). In mehreren, teilweise auch ins Deutsche übersetzten, autobiografischen Texten berichten ehemalige Schüler*innen über diese für sie oftmals traumatisierenden Erfahrungen (Highway 2001; Caesar 2014). Ab den 1980er Jahren wurden die zunächst in kirchlicher, dann in staatlicher Trägerschaft betriebenen Residental Schools nach und nach an die First Nations übergeben.      

Auf diese Geschichte eines „nationalen Verbrechens“ (Milloy 1999) und „kulturellen Genozids“ (TRC 2015) wurde ich in meinen Gesprächen immer verwiesen, wenn ich fragte, weshalb viele First Nations ihre Kinder nicht in die Public Schools geben wollen, sondern eigene Schulen bevorzugen. First Nations haben die staatlichen Bildungseinrichtungen Kanadas mehr als hundert Jahre lang nicht als anerkennende und wertschätzende, sondern als massiv gegen ihre Kultur gerichtete Institutionen erlebt. Etliche First Nations misstrauen diesen Bildungseinrichtungen immer noch oder fühlen sich in ihnen fremd (Pidgeon et al. 2013). Wie nachfolgend gezeigt wird, werden die First Nations auch im aktuellen inklusiven Schulsystem strukturell benachteiligt und kulturell marginalisiert.  

2.2 Zum Beispiel: British Columbia

Im Zensus von 2011 wurden für die Provinz an der Pazifikküste rund 160.000 First Nations People errechnet, die Hälfte davon Kinder und Jugendliche im schulpflichtigen Alter bis 16 Jahre (Canada Statistics 2012). Von diesen besuchen mehr als 60.000 die Public Schools und etwa 20.000 eine First Nations School (BC Ministry of Education 2014). Der folgende Kasten gibt am Beispiel der Cowichan einen Eindruck über solche indigenen Schulen.

Das lokale Bildungssystem der Cowichan

Mit rund 4.500 Mitgliedern sind die Cowichan eine der größeren indigenen Völker in British Columbia. Sie leben in der Gegend von Duncan, im südwestlichen Teil der Provinz. Das autonome Reservat setzt sich aus neun kleineren Siedlungen zusammen, die um die Distrikthauptstadt Duncan (ca. 5.000 Einwohner) gelegen sind und in denen etwa die Hälfte der Cowichan leben. Deren Sprache heißt Hul´q´umi´num´ und gehört zur Salish-Sprachfamilie. Die Landenteignungen begannen Mitte des 19. Jahrhunderts und die Konflikte um den Bodenbesitz zwischen den Cowichans und der Provinzregierung sind bis heute nicht endgültig geklärt. Die Pflege der kulturellen Tradition erfolgt im Alltagsleben der Cowchian überwiegend über die Herstellung von Kunsthandwerk (Holzschnitzereien, Webarbeiten), spirituelle Zeremonien und den mündlichen Gebrauch der Sprache. Die Selbstverwaltung wird durch einen gewählten Chief und zwölf Ratsmitglieder geleistet, mit denen u.a. die neun Siedlungen repräsentiert und die für unterschiedliche Arbeitsbereiche zuständig sind.  

Die Cowichan haben ein kollektives Finanzbudget, das sich aus Steuereinnahmen, Pachterträgen (Land das an Einkaufszentren, Fabriken und an eine Public School verpachtet wurde) und Wirtschaftsleistungen (insbesondere aus der Land- und Forstwirtschaft sowie Lachszucht) sowie einigen eigenen Betrieben (Verkauf von Kunsthandwerk, Tourismus) zusammensetzt. Das durchschnittliche jährliche Haushaltseinkommen wurde für 2015 mit 20.000 Kanadischen Dollar angegeben (das sind knapp 14.000 Euro), was deutlich unter der kanadischen Armutsgrenze (36.000 Dollar/24.000 Euro) liegt. Am Stadtrand von Duncan befindet sich das administrative Zentrum der Cowchian, in dem die Mitglieder bürokratische Fragen klären können (Rechtsberatung), eine Jobvermittlung sowie ein umfänglicher Gesundheitsservice angeboten wird, günstige Kredite zur Instandhaltung der Wohnhäuser im Reservat vergeben werden, und die gesamte soziale und kulturelle Entwicklung geplant und koordiniert wird. In der Nähe liegt ein Kulturzentrum mit Sport- und Freizeitanlagen sowie einer Versammlungsstätte.

Die Bildungsangebote beginnen mit dem Lelum´uy´lh Daycare Centre, einer Kindertagesstätte, die 100 Plätze für Kinder im Alter von zwölf Monaten bis zwölf Jahren bereitstellt. 2003 eröffnete die Quw´utsun Smuneem Elementary School, die aktuell etwa 120 Schüler*innen hat, die in sechs Gruppen an fünf Werktagen von 9 bis 15 Uhr unterrichtet werden. Der Unterricht orientiert sich an der oben skizzierten Didaktik (bilingual, bikulturell). In der Quw´utsun Hu-yi´xwule´ Middle School werden nach einem ähnlichen Curriculum (plus IT und Fachunterricht in Natur- und Sozialwissenschaften) Jugendliche im Alter von 12 bis 17 Jahren auf den Schulabschluss vorbereitet. Seit 1990 gibt es noch das Yuthuy´thut Adult Learning Centre, das Grundbildungsangebote unterbreitet (Literacy, Verbesserung der Englischkenntnisse, Life Skills) und einen nachträglichen Schulabschluss ermöglicht. Alle Cowchian über 15 Jahre können an der Jobberatung sowie an den kostenfreien Kursen zur Vermittlung vorberuflicher Kompetenzen (Führerscheine für Pkw, Lkw und Busse) teilnehmen, sich für eine Arbeitsgelegenheit des Zentrums (Bau, Schülertransport, Hausmeistertätigkeiten etc.) oder um eine Unterstützung für ein Studium an der Universität (Vorbereitungskurse, Stipendien) bewerben.

In den autonomen First Nations Schools werden zurzeit rund 500 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene gefördert, das ist etwa ein Drittel der Schulpflichtigen. Zwei Drittel besuchen eine Public School oder haben vorzeitig den Schulbesuch beendet. Im Verwaltungszentrum hängen mehrere Vermisstenanzeigen aus, in denen Jugendliche und junge Erwachsene gesucht werden, die spurlos verschwunden sind. Man erklärte mir, dass es sich hierbei zumeist um „Reservatsflucht“ in die großen Städte handle. Aber dort verbesserten sich die Bildungs- und Lebensbedingungen nicht unbedingt (vgl. BC Ministry of Education 2015, und für Vancouver die eindrückliche Studie von Saewaye et al. 2008).

Das Erziehungssystem wird im Verwaltungszentrum koordiniert, dort werden auch die Arbeitsverträge mit dem Personal geschlossen sowie Fortbildungen organisiert. Die Schulen der Cowichan gehören der First Nations Schools Association von British Columbia an. In den Gesprächen wurde betont, dass auch der Schülertransport in eigener Regie durchgeführt wird und hierfür drei Busse zur Verfügung stünden. In der Elementarschule gehören neben sieben Lehrkräften zwei Sonderpädagoginnen sowie eine Beschäftigungstherapeutin und eine Sozialarbeiterin zum Team. In der Erwachseneneinrichtung sind es fünf Lehrkräfte und eine Sonderpädagogin. Alle Lehrkräfte haben ein abgeschlossenes Lehramtsstudium und die meisten können in Hul´q´umi´num´ unterrichten.            

2.2.1 Sprachprogramme

In British Columbia werden noch rund 30 verschiedene ‚lebende‘ indigene Sprachen gezählt, über einhundert dieser Sprachen sind bereits ‚ausgestorben‘. Anders als in den Northwest Territories, wo neben Englisch und Französisch außerdem sechs First Nations-Sprachen Amtssprachen sind, ist dies in British Columbia nicht der Fall ist. Die Zahl der Menschen, die in der Pazifikprovinz eine indigene Sprache fließend beherrschen, nimmt stetig ab, nur noch etwa zehn Prozent der First Nations kommunizieren dort täglich in ihrem Alltag in diesen Sprachen (FPLCC 2014).

Die bilingualen Bildungsprogramme der First Nation Schools in British Columbia gründen einerseits auf der Überzeugung, dass diese Sprachen „revitalisiert“ werden sollen, um indigene Wissensformen, Weltdeutungen und Lebenspraxen zu erhalten. Außerdem wird das sprachpädagogische Argument angeführt, dass jede Form von bilingualer Sozialisation nicht nur die sprachliche, sondern insgesamt die kognitive Entwicklung von Kindern optimaler fördere als Einsprachigkeit, und man sich deshalb von dem bilingualen Unterricht auch bessere Schulleistungen verspricht (FNESC 2015, S. 4-9).   

In den staatlichen Public Schools wird der Unterricht in Englisch erteilt. Ab Klasse 5 muss dann Französisch, eine Immigrantensprache (in British Columbia sind dies vor allem Mandarin und Punjabi) oder eine First Nations Sprache verpflichtend als Unterrichtsfach gewählt werden, ausgenommen sind Kinder mit einem sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf (FNESC 2015, S. 9-13). Die First Nations Verbände kritisieren, dass dieser Sprachunterricht erst ab Klasse 5 beginnt und pro Woche nur 90 Minuten (bis Klasse 7) bzw. 120 Minuten (Klasse 8 bis 12) umfasst, was in 12 Schuljahren ca. 600 Stunden ergibt. Da in den Public Schools außerdem zu wenige Lehrkräfte für die First Nations Sprachen zur Verfügung stünden, würde der Unterricht häufig ausfallen: Typisch sei, dass er an einer Schule ein Semester lang angeboten werde, im folgenden Term dann ausfalle und erst nach den langen Sommerferien fortgesetzt würde. Der in den Public Schools implementierte Submersionsansatz, also die Vermittlung der „First Nations Language“ in einem zeitlich sehr limitierten speziellen Unterrichtsfach, ist aus Sicht der Verbände ineffektiv und stellt für sie eine kulturelle Abwertung ihrer Sprache dar (FNESC 2015, S. 25-28).         

In den 130 First Nations Schools in British Columbia ist es ministeriell erlaubt, den Unterricht von der Einschulung an und in allen Fächern in der jeweiligen lokalen indigenen Sprache durchzuführen (Immersionsansatz). Dies ergibt in zwölf Schuljahren bis zu 4.000 Unterrichtsstunden. Englisch wird, ebenfalls ab der ersten Klasse, als zweite Unterrichtssprache in allen Fächern genutzt und gelehrt (Bilingualer Ansatz). In den First Nations Schools wird also eine Kombination aus Immersions- und Bilingualem Ansatz verfolgt (Intensivunterricht in First Nations Language und ebenso intensive Nutzung von Englisch), um eine Vorbereitung in die anglophone Gesellschaft British Columbias zu sichern. Auf diese Weise will man die sprachlichen Voraussetzungen der Kinder berücksichtigen, die eher Englisch sprechen und First Nations Language systematisch lernen müssen. In der Praxis sei es indes schwer, die Intensität des Unterrichts in beiden Sprachen zu garantieren und auszubalancieren (FNESC 2015, S. 32).

2.2.2 Bikultureller Unterricht

Wie in vielen anderen indigenen Bildungskonzepten Nord- und Südamerikas basiert auch die Didaktik in den First Nations Schools von British Columbia auf einem Bikulturellen Ansatz. Das ist ein Unterricht, der das Lernen fördernde Beziehungen zwischen den hegemonialen Denksystemen der modernen „okzidentalen“ Lebenswelten und den Wissensbeständen, der Weisheit, den Traditionen und kulturellen Objektivationen in den lokalen First Peoples Communities herstellen und stärken soll. Die in den Lehrplänen für die Schulen von British Columbia definierten Themen und Inhalte repräsentieren gleichsam das Wissenssystem der Dominanzgesellschaft, welches in den First Nations Schools mit dem lokalen Wissen konstruktiv zu verbinden ist. Der Unterricht soll auf indigenen Zugängen zur Welterschließung aufbauen, er soll Spiritualität mit Rationalität verbinden, er soll insbesondere verdeutlichen, dass es heiliges Wissen gibt, das man nur in bestimmten Situationen und mit Erlaubnis miteinander teilen und weitergeben darf. Die Schule soll sich, wann immer möglich, auf verschiedene lebensweltliche Kontexte beziehen (Alltagsaktivitäten, traditionelle Praktiken, Feste und Feiern, Arbeitsprozesse), und sie soll Beziehungen sowohl zu Menschen verschiedenster Lebensalter und Lebenslagen, zur kulturellen Community (Älteste, Künstler) als auch zu gesellschaftlichen Funktionsbereichen wie Industrie und Handel knüpfen (vgl. FNESC 2011, S. 9-19).

Die Stärke der bikulturellen Didaktik ist darin zu sehen, dass sie systematisch das vergleichende Denken der Schüler*innen schult, was produktive Lernprozesse befördern kann. Auch eine kritische Vergegenwärtigung verdrängter Geschichte, abgewerteten Wissens sowie banalisierter Kultur, und damit einhergehend eine notwendige Relativierung, Ergänzung und Problematisierung der Hegemonialität der dominanten gesellschaftlichen Milieus kann die Entdeckung des „heimlichen“ hinter dem „offiziellen“ Lehrplan erleichtern. Bikulturelle Didaktik stößt dann an Grenzen, wenn die „beiden“ Kulturen im Unterricht ausschließlich als zwei gegeneinander abgeschlossene und dichotome Systeme präsentiert werden, und somit der Pluralismus und die „Multikulturalität“ einer Gesellschaft wie Kanada zu kurz kommen. Zumindest in den Lehrplänen der First Nations Schools ist dies meines Erachtens nicht immer ganz überzeugend ausgewogen worden (FNESC 2011, 2014).                  

2.2.3 Sonderpädagogische Förderung

Für Schüler*innen mit einer Behinderung wurde 2001 in British Columbia in den Public Schools ein neues Special Education Program (SEP) eingeführt, in das 2003 die First Nations Schools einbezogen worden sind (vgl. auch zum Folgenden FNESC 2016). Während das SEP für die Public Schools eine konzeptionelle und organisatorische Neuausrichtung des schon lange bestehenden sonderpädagogischen Unterstützungssystems erbrachte, wurde es in den First Nations Schools mit dem Programm erstmals möglich, indigene Schüler*innen mit einer Behinderung in ihren lokalen Schulen zu fördern. Zuvor mussten beispielsweise gehörlose Kinder entweder in die „BC School for the Deaf“ in Burnaby wechseln, die einzige Einrichtung dieser Art in British Columbia. Hierfür erhielten (und erhalten) die Familien aber keine öffentliche finanzielle Unterstützung. Oder sie fanden in der Nähe ihres Wohnortes eine Public School mit entsprechenden externen Unterstützungsangeboten. In beiden Fällen konnte (kann) dann der Unterricht aber nicht mehr in der First Nations Sprache fortgeführt werden.    

Empirische Studien aus den Jahren 1992, 1999, 2007 und 2009 (vgl. Phillips 2010, S. 7f) weisen für die First Nation Schools in British Columbia einen mit durchschnittlich 30 Prozent konstant hohen Anteil von Schüler*innen mit einer Behinderung oder Beeinträchtigung aus. Das Bildungsministerium von British Columbia gibt an, dass im Schuljahr 2014/15 unter den 60.000 Aboriginals an den Public Schools rund 12.000 eine sonderpädagogische Förderung (20 Prozent) erhalten haben (BC Ministry of Education 2015). Gemessen wird dies an Kriterien wie einem mehr als zweijährigen Entwicklungsrückstand, schweren Hör- und Sehbeeinträchtigungen, Sprachstörungen, Suchtkrankheiten, körperlichen Behinderungen sowie gravierenden Lern- und Verhaltensproblemen. Erklärt werden die hohen Zahlen aus den Lebensbedingungen in den Reservaten (psycho-soziale Folgen der Armut, unzureichende medizinische Versorgung, unzulängliche Früherkennung von Entwicklungsproblemen) und mangelnden Präventions-, Interventions- und Rehabilitationsangeboten für First Nations (ebd.).     

Im Jahresbericht zu den First Nations Schools in British Columbia wird für 2014 ausgewiesen, dass das für die sonderpädagogische Unterstützung zuständige Personal insgesamt 349 Schulbesuche durchgeführt hat und es fast 4.000 Telefon- und Mail-Kontakte zwischen SEP und Schulen gab. Von den 130 First Nations Schools konnten 76 eine (externe) Dienstleistung des SEP in Anspruch nehmen (Logopädie, Frühförderung, Diagnostik, therapeutische Intervention, Assistenz, spezielle Materialien und unterstützende Technologie), und es wurden (bei einer Gesamtzahl von 20.000 Schüler*innen!) 105 Förderpläne (Individual Education Plans, IEP) fortgeführt oder neu erstellt (FNESC 2014, S. 35). Hinter diesen Zahlen verbergen sich verschiedene Probleme der Organisation und Finanzierung sonderpädagogischer Unterstützung, die seit der Einführung des Special Education Program in den First Nations Schools in British Columbia bislang nicht umfassend gelöst werden konnten:

 
Zugespitzt formuliert, müssen sich First Nations Kinder mit einer Behinderung bzw. Beeinträchtigung zwischen zwei schulischen Angeboten entscheiden: Inklusive Public Schools, an denen sie im Allgemeinen gute sonderpädagogische Unterstützungsangebote vorfinden, aber ihr kultureller Hintergrund oder ihre Sprache im Unterricht kaum berücksichtigt werden wird, oder bilinguale und bikulturelle First Nations Schools, die ihnen jedoch nur eine eher karge sonderpädagogische Förderung bieten können.     

2.2.4 Lehrerbildung

Nach längeren internen Auseinandersetzungen konnte 1974 an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der University of British Columbia (UBC) in Vancouver das „Native Indian Teacher Education Program“ (NITEP) beginnen, um in einem vierjährigen Studiengang Lehrkräfte für die First Nations Schools auszubilden. Bis 2014 haben rund 400 Studierende einen Bachelor of Education Degree sowie ein Full Teacher Certification erworben (More 2015). Die Abschlüsse berechtigen, sowohl an einer First Nations School als auch an einer Public School zu unterrichten. Das vierjährige Studium kostet 36.000 kanadische Dollar (24.000 Euro). Der inner-universitäre Widerstand gegen das Programm beruhte insbesondere auf der Sorge, dass der Studiengang nicht das gewünschte akademische Niveau erreichen wird, weil die Highschools in den ländlichen Regionen bzw. in den Reservaten nicht ausreichend gut auf das Universitätsstudium vorbereiten würden. Diese Befürchtungen haben sich jedoch nicht bestätigt, der Studiengang ist inzwischen auch innerhalb der Universität geschätzt, zumal das Institut beträchtliche Forschungsleistungen erbringt. Auch das von NITEP herausgegebene, international ausgerichtete Canadian Journal of Native Education genießt in Nord- und Südamerika sowie in Australien und Neuseeland ein hohes Renommee.

Die ersten beiden Studienjahre werden im Wesentlichen in einem Field Centre absolviert. Diese werden für einige Jahre in verschiedenen Regionen von British Columbia an First Nations Schools, Community Centres oder Colleges eingerichtet. In den zwei Jahren werden die Studierenden in geblockten Kursen an der UBC oder an einer ihrer Außenstellen, in Online-Seminaren, mit mehrwöchigen Field Studies und in der Tätigkeit als Assistenzlehrkräfte praxisorientiert ausgebildet. Auf diese Weise können die Studierenden bei ihren Familien wohnen bzw. oftmals haben sie selbst Kinder zu versorgen. Da es für viele nicht leicht ist, die Studiengebühren aufzubringen, senken diese Field Centres beträchtlich die Kosten. Das dritte Jahr wird im Long House an der UBC studiert, die Inhalte sind nun akademisch ausgerichtet und es werden Forschungsmethoden vermittelt (vgl. nachfolgenden Kasten). Das vierte Jahr wird ebenfalls überwiegend an der UBC verbracht, um die Examina zu absolvieren und die Bachelorarbeit anzufertigen, deren empirischer Teil indes im Kontext der First Nations Schools durchgeführt werden soll. Für diese beiden Studienjahre steht ein Wohnheim auf dem Campus zur Verfügung.    

Long House, Vancouver                                                                                  

Die University of British Columbia wurde 1908 im Westen Vancouvers auf einem Grundstück gebaut, das den Maqueam weggenommen worden war, die zwangsweise umgesiedelt wurden. Weder die Web-Seite noch der Wikipedia Eintrag der Universität erwähnen diesen kolonialistischen Gründungsakt. Ein Künstler hat vor einigen Jahren an verschiedenen Stellen auf dem Campus Schilder aufgestellt, auf denen steht: „Here you are host of the Maqueam“. An anderen Plätzen sind Erinnerungstafeln angebracht, die erzählen, wofür die Maqueam diese Orte genutzt hatten: zum Wohnen, für Feste, für Versammlungen etc. Auf dem Campus stehen mehrere Totempfähle, und das Gelände wird durch das Anthropologische Museum Vancouvers abgeschlossen, in dem in einer beeindruckenden Präsentation die Geschichte, Kulturen, die Kolonisierung und aktuelle Lebensbedingungen der First Nations von British Columbia thematisiert werden.     

Der riesige Campus strahlt mit großen Institutsgebäuden, Hochhäusern, Wohnheimen, Parkhäusern, Läden, Cafés und Restaurants, kleinen Parks, Baumalleen und einem relativ großen Busbahnhof eine moderne und funktionale Atmosphäre, aber auch eine gewisse Beschaulichkeit aus, zumal man von vielen Stellen des Geländes auf den Pazifik blicken kann. NITEP gehört zur Faculty of Education (ein moderner mehrstöckiger Zweckbau), hat aber nicht weit davon entfernt ein eigenes Gebäude: das Long House. Es ist ein eingeschossiger Pavillonbau, der überwiegend aus Holz gebaut ist. Die Dachkonstruktionen des Hauptgebäudes und der angeschlossenen Bibliothek sind traditionellen indigener Bauweisen nachempfunden, ein kleiner Steingarten mit einem Wasserfall und gepflegte Grünanlagen ergeben einen freundlichen architektonischen Gesamteindruck.

Mein Eindruck ist, dass das Gebäude relativ barrierefrei gebaut ist. Das bestätigte mir ein blinder Student, der für sich hier im Gegensatz zum Fakultätsgebäude, in dem er auch Lehrveranstaltungen besuchen muss, ungehinderte räumliche Zugänglichkeit findet. Auch Seminarmaterialen aller Art würden ihm kostenlos in barrierefreien Versionen zur Verfügung gestellt. Dies sei an seiner Highschool und auch im Field Centre anders gewesen, an vielen First Nations Schools gebe es solche für ihn relativ optimale Bedingungen nicht, was es für ihn schwierig mache, sich für eine Lehrerstelle zu bewerben. Der Student schränkt aber ein, dass das Long House beispielsweise für Rollstuhlfahrer nur bedingt zugänglich sei, etliche Gänge und Türen seien zu schmal oder könnten nicht elektronisch geöffnet werden.

Mit NITEP wurde ein Programm implementiert, das einen Zugang zum Universitätsstudium ermöglichen will, der für junge First Nations früher kaum möglich war und bis heute erschwert ist (Pidgeon et al. 2013): Aufgrund der verbreiteten Armut in den Reservaten können sich viele Familien die Finanzierung eines Studiums nicht leisten. Auch ein Vollzeitstudium an einer Präsenzuniversität ist für viele Studierende nicht machbar, weil sie Familien zu versorgen haben und arbeiten müssen. Als gesellschaftlich diskriminierte Gruppe gab es zumindest früher auch an den Universitäten ihnen gegenüber erhebliche Ressentiments bis hin zu Rassismus. Der in der Großstadt und an den Universitäten erwartete soziale Habitus war ihnen oft fremd. In den Reservaten gibt es kaum Vorbilder, die bereits ein Studium erfolgreich absolviert haben. NITEP versucht mit Stipendien, mit der wohnortnahen Studienorganisation und mit einem Mentorenprogramm entsprechende Unterstützung zu sichern.          

Aktuell ist ein neues Aufgabengebiet hinzugekommen: Als eine Konsequenz aus dem erwähnten Bericht der Kommission für Wahrheit und Versöhnung (TRC 2015), der u.a. eine große Unwissenheit, Ignoranz und unzureichende Selbstreflexion der kanadischen Dominanzgesellschaft gegenüber den First Nations konstatierte, wurden in den Lehrplänen aller Provinzen und Territorien mehr verpflichtende Inhalte über Geschichte, Kultur, Politik und Lebensbedingungen der First Nations aufgenommen. Auch in die Studienpläne der Lehrerbildung sind solche Inhalte integriert worden, um die künftigen Lehrkräfte zu befähigen, diese Themen im Unterricht angemessen zu behandeln. Seit 2012 hat die Faculty of Education ein verpflichtendes Modul „Aboriginal Education” für alle Lehramtsstudierenden eingeführt, das vom NITEP verantwortet wird. Die Kurse werden im Team Teaching von den beiden Instituten gemeinsam durchgeführt.

2.3 Kulturelle Gewalt als Herausforderung für Inklusion

Nicht nur in British Columbia tun sich die kanadische Dominanzgesellschaft und die First Nations schwer, ein gemeinsames, inklusives Bildungswesen zu schaffen. Zwar hat es in Kanada, anders als in den USA und in Lateinamerika, historisch wohl keine gegen die „Aboriginals“ gerichteten Vernichtungskriege und nur sehr wenige Massaker gegeben, was das interkulturelle Verhältnis ein Stück weit entlastet. Doch auch in Kanada wurden die First Nations ihres Landes beraubt, politisch marginalisiert und mit Zwang kulturell assimiliert. Dieser Teil der kanadischen Vergangenheit macht bis heute die Gestaltung eines Schulsystems schwierig, das ganz wesentlich durch eine Geschichte „kultureller Gewalt“ (Galtung) geprägt ist, eine Geschichte, die sich nicht so einfach abschließen lässt.  
In British Columbia gibt es im Wesentlichen zwei widerstreitende schulpädagogische Strategien: Manche First Nations halten am Ansatz der 1970er Jahre fest, wollen eine bildungspolitische Selbstbestimmung („Indian Control of Indian Education“) und bevorzugen deshalb eigene First Nations Schools, die in der Primar- und Sekundarstufe regionale Parallelsysteme zum öffentlichen Bildungswesen sind, gleichwohl auf den Übergang in öffentliche Colleges und Universitäten vorbereiten. In British Columbia ist dieser Ansatz von den First Nations mit einer gewissen Hartnäckigkeit und recht breit etabliert worden.
Etliche Public Schools in British Columbia halten hingegen kompensatorisch ausgerichtete „Aboriginal Programs“ vor. Damit sollen die als Folgen sozio-ökonomischer Marginalisierung und sozio-kultureller Diskriminierung interpretierten durchschnittlich geringeren kollektiven Bildungschancen der First Nations pädagogisch ausgeglichen werden. Diese Konzepte sind vor allem in ländlichen Gegenden mit einem geringen Anteil an First Nations zu finden sowie in größeren Städten, in denen First Nations kein gemeinsames Land bewirtschaften, verstreut in verschiedenen Quartieren wohnen, die kulturelle Selbstidentität nicht mehr so stark ausgeprägt ist und die indigene Sprache kaum mehr gepflegt wird.    
Die jüngeren bildungspolitischen Entwicklungen sind von erinnerungs- und anti-diskriminierungspädagogischen Forderungen begleitet, dass sich nämlich die öffentliche Schule der in ihrer Geschichte und auch Gegenwart ausgeübten kulturellen Gewalt und dem latenten Rassismus zu stellen habe. Entsprechende Reformen der Curricula und der Lehrerbildung haben begonnen, werden wohl aber bislang erst punktuell umgesetzt (Kanu 2011).

3. Alternate Schools

Alle Schulbezirke (School District Boards, SDB), mit denen ich mich in Kanada etwas genauer befasst habe, bieten so genannte Alternate School Programs an, die meines Erachtens in ihren Zielsetzungen, Konzepten und Arbeitsformen den „Schulen der Sozialpädagogik“ in Deutschland (Schroeder 2012) sehr ähnlich sind. Die Stadt Burnaby, eine politisch selbständige Suburbvon Vancouver mit etwas mehr als 300.000 Einwohnerinnen und Einwohnern, ist ein solcher Schuldistrikt (SDB 41) in British Columbia.

3.1 Zum Beispiel: Burnaby

Ruft man die Web-Seiten des „Board of Education Burnaby School District“ auf, findet sich unter „Programes“ eine längere Liste, die im Wesentlichen nach Bildungsstufen gegliedert ist: Unter „Early Learning“ und „Elementary“ gibt es in Burnaby keine weiteren Angebote über die regulären Kindergärten und Primarschulen hinaus. Dann kommt „Secondary“, wo neben einigen „Alternate Programes“ (vgl. Kasten) noch Förderangebote in der „Aboriginal Education“ und für „Gifted students“, also Hochbegabte, sowie Kurse zu Englisch für junge Immigrantinnen und Immigranten verzeichnet sind. Unter „Special Education“ findet sich die bereits erwähnte „BC School of Deaf“ (Schule für Gehörlose) mit einem angegliederten Ressourcenzentrum, in dem die Public Schools in ganz British Columbia Beratung und Unterstützung für diese Schülergruppe nachfragen können. Ein zweites sonderpädagogisches Ressourcenzentrum in Burnaby ist auf geistige Behinderungen spezialisiert. In der Rubrik „Community und Continuing Education“ gibt es Lernangebote für benachteiligte Erwachsene: Alphabetisierung und Grundbildung (Literacy), Englisch für ältere Immigrantinnen und Immigranten, Möglichkeiten zum nachträglichen Erwerb von Schulabschlüssen für über 18-Jährige, Berufliches Training für Arbeitslose. „International Education“ informiert über strukturierte Programme des weltweiten Schüleraustauschs. Klickt man nun also die „Alternate Programes“ an, so erscheint folgende Übersicht (www.sd41.bc.ca/alternate-education/):

SECONDARY ALTERNATE PROGRAMS

Burnaby School District provides alternate programs for secondary students who might need extra academic support due to behavioral concerns, learning disabilities, social/family issues, academic challenges, school phobia/anxieties, or pregnancy/parenting. To inquire about these district programs please contact your school administrator and/or counselor. Programs include:

Able Program (Burnaby South Secondary)
for grade 9 & 10 students who have been unsuccessful in the mainstream school environment. It provides students with the opportunity to catch-up on their core subjects in an effort to fully integrate back to their grade level.

Bridge Program (Alpha Secondary)
for grade 7 & 8 students who will have difficulty transitioning to secondary school. It provides a safe and supportive environment of classroom instruction and learning opportunities to fully integrate students back into a regular classroom setting.

COOP Program (Burnaby Mountain Secondary)
for students in grades 10-12 who are struggling with academic functioning, such as moderate to severe learning disabilities or behavioral disorders. It provides them with the opportunity to be at a work placement site that corresponds to their chosen career path, fifty percent of their school day.

Royal Oak Alternate Program (Canada Way Learning Centre)
for students in grades 10-12 who have not been successful in school for a variety of reasons. It provides support academically and otherwise, allowing students to experience success and to reintegrate them back into their previous school.

Take a Hike (Canada Way Learning Centre)
for students in grades 10-12, this program engages at-risk youth through a unique combination of adventure-based learning, academics, therapy and community involvement. It is offered in partnership with the Take a Hike At-Risk Youth Foundation.

Young Parents Program (Burnaby South Secondary)

for secondary students who are teen parents. As their child attends the childcare facility at the school, this provides an opportunity for these students to learn parenting skills and work towards high school completion.

Youth Hub
for secondary students who have disengaged or withdrawn from school. It provides wraparound support to help students in any domain, which includes: academically, socially, emotionally, etc. in an effort to help them be successful in school.

Bei einem Gespräch in der Schulverwaltung erläuterte mir der Direktor, dass man für etwa 46.000 Schüler*innen in exakt 50 Schulen der Elementary (Grade 1-7) und Secondary Education (8-12) zuständig sei. Im Unterschied zu anderen kanadischen Provinzen, gebe es in British Columbia traditionell nur wenige Privatschulen, in Burnaby sei dies genauso. Etwa ein Viertel der Schülerschaft in Burnaby, nämlich rund 10.000 Kinder und Jugendliche, würden im School Board als „vulnerable students“ erfasst. Deren Familien lebten beispielsweise in sozio-ökonomisch angespannten Verhältnissen. Solche Schüler*innen würden bei den Transportkosten zur Schule (Bus, Metro) unterstützt oder/und erhielten kostenlose Verpflegung in der Schule. Allein für diese „Basisstufe“ des „Vulnerability Programs“ gebe der Schuldistrikt jährlich etwa fünf Millionen kanadische Dollar aus.     

Durchschnittlich für etwa vier Prozent der vulnerablen Kinder und Jugendlichen (das sind jährlich ca. 400 schulpflichtige Minderjährige) wird ein behördliches Verfahren eingeleitet, weil sie durch intensiven und länger andauernden Schulabsentismus oder durch schwieriges Verhalten (Gewalthandlungen gegen Mitschüler und/der die Lehrkräfte, Drogenkonsum oder Drogenhandel in der Schule, Strafanzeigen usw.) aufgefallen und aus Sicht der Schulen in den Bildungseinrichtungen nicht mehr tragbar sind. Die Schulverwaltung versucht zunächst, mit den Eltern und der Jugendhilfe (die den Sozialbehörden angegliedert ist) eine zusätzliche außerschulische Unterstützung zu organisieren, um die Kinder und Jugendlichen sozial einzubinden bzw. zu stabilisieren, und auf diesem Weg den „drop out“ möglichst zu verhindern – für etwa Dreiviertel gelänge dies auch. Ein Viertel wechselt jährlich aus den Public Schools in eine so genannte „Alt School“, eine Bildungseinrichtung desAlternate School Program. Die meisten dieser ca. einhundert Kinder und Jugendlichen könnten in ihren Familien verbleiben, etwa 15 pro Jahr würden in ein Heim (Public Youth Care) kommen, die entweder im Familienansatz von Hauseltern oder im Wohngruppenkonzept von Sozialarbeitern geführt würden.
Wie die Übersicht zu dem in Burnaby vorgehaltenen Angebot zeigt (Kasten), haben die meisten Projekte nicht nur einen speziellen Alters- bzw. Stufenbezug, sondern sie unterscheiden sich insbesondere in ihren konzeptionellen Schwerpunktsetzungen: Abschlussorientierung (Able, Royal Oak), Sicherung des Übergangs von der Elementary in die Secondary Education (Bridge) bzw. von der Secondary in den Job (COOP), Einbindung der Jugendlichen in soziale Projekte der Community (Youth Hub), Unterstützung für junge Eltern (Young Parents Program) oder „Out door“ Pädagogik (Take a Hike). Letzteres sei mit Kosten von jährlich 300.000 kanadischen Dollar das teuerste Projekt und werde von einer Stiftung finanziert. Etliche „Alternativschulen“ sind regulären Secondary Schools angegliedert, sind aber eigenständige Bildungsgänge, die konzeptionell mit der Secondary School verbunden sein können (Able, Bridge) oder die lediglich die Räumlichkeiten der Public School nutzen (COOP, Young Parents Program). Einzelne Projekte sind eigenständige Einrichtungen in Trägerschaft der Jugendhilfe (Royal Oak, Youth Hub, Take a Hike).
Alle Schulprojekte, so wird mir im School Board erklärt, orientierten sich am offiziellen Schulcurriculum, allerdings gebe es flexible Unterrichtszeiten, sehr kleine Gruppen (maximal acht Jugendliche) und eine nicht so rigide Handhabung der Anwesenheitspflicht. Für alle Jugendlichen werde ein Individueller Förderplan (IEP) erstellt. Wie es auch im offiziellen Bildungsprogramm vorgesehen sei, absolvierten die Jugendlichen in der Sekundarstufe mindestens ein Berufspraktikum, wenn man für sie einen Praktikumsplatz finden könne, was aufgrund des geringen Angebots und der Vorbehalte in den Firmen nicht immer möglich sei. Eine systematische berufliche Orientierung, Vorbereitung oder gar Qualifizierung fände jedoch weder in der Public noch in den Alternate Schools statt, der Fokus liege auf der Vermittlung von Allgemeinbildung. In allen Schulprojekten würden ausschließlich Lehrer*innen unterrichten, die als „Alternate Teachers“ bezeichnet würden und dasselbe verdienten wie die Lehrkräfte an den Public Schools. Es gebe zumindest in British Columbia in solchen Schulprojekten (wie überhaupt an Public Schools) keine sozialpädagogischen Fachkräfte, weil die Lehrergewerkschaften dies aus professionspolitischen Erwägungen (Schutz des Unterrichtsmonopols bzw. der Lehrbefugnis und der damit verknüpften Bezahlung) ablehnten.
Auf der Homepage des School District Burnaby wird nicht erwähnt, dass dort eines der drei Jugendgefängnisse von British Columbia ist, in dem bis zu 30 junge weibliche und männliche Straffällige eine Jugendstrafe verbüßen. In der Gefängnisschule, die den unauffälligen Namen „Fraser Secondary School“ trägt, unterrichten zehn Lehrkräfte, die beim School Board angestellt sind. Anders als in den USA, wo in manchen Bundestaaten (z.B. in Kalifornien) inhaftierte Jugendliche eine Public School besuchen können, wenn sie im Unterricht eine Fußfessel tragen (vgl. Basendowski 2014), gebe es solche Beschulungsformen in Kanada nicht – so jedenfalls die Auskunft in Burnaby.

3.2 Typische Zielgruppen und Programme in British Columbia

Was an Burnaby beschrieben wurde, soll nun – für British Columbia – systematisch in Bezug auf einzelne Problemlagen diskutiert werden, die Kindern und Jugendlichen einen Schulbesuch in den Public Schools nicht mehr möglich machen. Das Erziehungsministerium der Provinz definiert die Alternate Schools „as programs that meet the special requirements of students who may be unable to adjust to the requirements of regular schools (for example timetables, schedules, or traditional classroom environment)” (zitiert nach The McCreary 2008, S. 7). Man geht also in British Columbia davon aus, dass es den Public Schools nicht gelingen kann, Organisationsformen und Bildungskonzepte zu entwickeln, die für alle Schüler*innen akzeptabel und bewältigbar sind. In der Provinz wurde bereits in den 1960er Jahren mit der Erprobung von Alternate School Programes begonnen. In einer Studie von 2008 wurden 29 Projekte in ganz British Columbia evaluiert und 340 ehemalige Teilnehmende befragt. Die Untersuchung behauptet, dass in einem Zeitraum von fast 50 Jahren in den „Alt Schools“ die Zielgruppen relativ ähnlich geblieben seien und sich auch die Arbeitsansätze nur wenig geändert hätten (The McCreary 2008, S. 7).

Youth Researchers

Das McCreary Centre ist ein privates Institut der Jugendforschung, das empirische Studien für British Columbia durchführt und sich aus staatlichen Mitteln, Stiftungsgeldern, eingeworbenen Mitteln sowie Auftragsstudien finanziert. Ein Schwerpunkt der Arbeit ist eine Jugendstudie (BC Adolescent Survey), für die rund 30.000 Jugendliche in den Klassenstufen 9 bis 12 in Public Schools fast aller 50 Schulbezirke der Provinz zu verschiedenen Aspekten ihrer Lebenslage (Familie, Freunde, Wohnsituation, Gesundheit etc.), zur Bewertung ihrer persönlichen Lebenssituation und ihrer Zukunftsvorstellungen schriftlich befragt werden. Die erste Studie wurde 1992 herausgegeben, die fünfte und bislang letzte 2013 erhoben (McCreary 2014), die nächste Befragung ist für 2018 geplant. Die Daten werden als Provinzsurvey sowie nach Distrikten aufgeschlüsselt publiziert.

Obwohl mit diesen Studien sehr viele Jugendliche in British Columbia erreicht werden können, bleiben die exkludierten Heranwachsenden dennoch eher außen vor: Den englischsprachigen schriftlichen Fragebogen können jene Jugendlichen nicht bearbeiten, die nicht die dafür erforderlichen Englischkenntnisse haben, funktionale Analphabeten sind, gar nicht mehr zur Schule gehen oder eine „Alt School“ besuchen, die nicht in die Studie einbezogen werden. Auf Basis der quantitativen Datengrundlage des Survey werden deshalb beispielsweise mittels Einzel- oder Gruppeninterviews mit exkludierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen weitere, thematisch orientierte qualitative Studien zu Obdachlosigkeit, Jugendarbeitslosigkeit, Drogenverhalten, First Nations, Erfahrungen im Jugendheim und/oder Jugendgefängnis etc. erarbeitet.

Aufgrund sehr positiver Erfahrungen im Feldzugang und in der Beteiligung der jungen Leute wurde 1998 begonnen, die empirischen Daten „youth-friendly“ in Broschüren, auf Plakaten und in Videoclips als didaktisches Material für Schulen oder für die Jugendarbeit in den Communities aufzubereiten. Dieser Ansatz wurde mit den Jahren zu ausgereiften Workshop-Konzepten und Praxisprojekten weiterentwickelt. So schreibt McCreary jährlich acht Finanzierungen aus, in denen Jugendgruppen bis zu 2.000 kanadische Dollar erhalten können, um zu einem spezifischen Thema, das sie in Auseinandersetzung mit den empirischen Daten des Surveys ausgewählt haben, ein eigenes Projekt in ihrer Community durchführen zu können (McCreary 2016a).

Wiederum aufgrund der guten Resultate mit diesen „youth-led projects“ wurde dann begonnen, exkludierte Jugendliche und junge Erwachsene auszubilden, bei den Erhebungen, der Datenaufbereitung, Analyse und Interpretation des Jugendsurveys mitzuarbeiten, die Ergebnisse „youth-friendly“ zu gestalten oder auch selbst kleinere Studien durchzuführen. In einer zehnmonatigen Qualifizierung, die die neun festangestellten Forscherinnen und Forscher des McCreary konzipiert haben und auch selbst umsetzen, durchlaufen die jungen Leute fünf Tätigkeiten: Quantitative Analyse, Qualitative Analyse, Report Writing, Dissemination Design und Facilitation. Diejenigen, die dieses Training erfolgreich absolviert haben, können dann im Institut in Teilzeit- und Projektjobs angestellt werden (McCreary 2016b). So konnte ich mich kurz mit einer 19-jährigen jungen Frau unterhalten, die nach mehrjährigem Straßenleben und Drogenentzug an einer „Alt School“ den High School Abschluss nachholt, und nun als „youth researcher“ jobbt, um sich somit den Schulbesuch überwiegend eigenständig finanzieren zu können. Sie kann sich eine solche Tätigkeit auch gut als Zukunftsperspektive vorstellen.              

Schulpolitisch werden die „vulnerablen“ Jugendlichen in zwei Gruppen unterteilt: „At risk youth“ sind von einer gravierenden individuellen Problemlage betroffen (Missbrauch, Alkohol- oder Drogenkonsum, schwere psychische Erkrankung, Leben auf der Straße, Bullying oder Diskriminierungserfahrungen). „High-risk youth“ haben zudem die Verbindung zu ihrer Herkunftsfamilie, zu ihrer Stammschule und/oder zur Community verloren (The McCreary 2008, S. 8). Die Studie belegt, dass der Übergang von der einen in die andere Gruppe – mithin der „drop out“ – mehrheitlich ab Klasse 7 erfolgt (ebd., S. 8 und S. 37). Während die kleinen und familiären Elementary Schools es noch schaffen würden, etliche vulnerable Kinder zu halten, fühlten sich manche Jugendliche in den deutlich größeren, anonymeren, sehr leistungs- und curriculumbezogenen Secondary Schools hingegen „verloren“ (ebd., S. 37). Diese Aversionen führten zusammen mit familiären Konflikten, Alltagsproblemen oder Erkrankungen schließlich zum Bruch mit der Schule.

3.2.1 Jugendarbeitslosigkeit

Canada Statistics gibt für das Land und den Zeitraum 2006 bis 2016 eine Arbeitslosenquote von etwa sieben Prozent jährlich an, bei jungen Erwachsenen zwischen 15 und 24 Jahren ist sie durchschnittlich doppelt so hoch (13 Prozent), mit einer über die Jahre relativ stabilen Tendenz. Die höchste Jugendarbeitslosigkeit verzeichnet Toronto (bis zu 17 Prozent), in British Columbia liegt sie mit ca. 11 Prozent leicht unter dem kanadischen Durchschnitt (alle Angaben unter „Labour“ in www.statcan.gc.ca).
In einer 2014 durchgeführten Befragung von 127 jungen Erwachsenen im Alter von 15 bis 29 Jahren aus zwölf Distrikten der Provinz, die in 17 verschiedenen Programmangeboten für erwerbslose Jugendliche waren (BC Centre 2014) ergaben sich erwartbare Profile prekärer Lebenslagen: Mehr als die Hälfte hatten ihre Herkunftsfamilien frühzeitig verlassen, lebten zeitweise auf der Straße oder in einem Heim bzw. in einer Wohngemeinschaft der Jugendhilfe, waren bereits im Gefängnis gewesen. Für 60 Prozent wurden gravierende gesundheitliche Beeinträchtigung(en) oder eine Behinderung diagnostiziert, insbesondere schwere Depressionen und Suchterkrankungen. 61 Prozent hatten die Schule frühzeitig verlassen, zumeist während der Sekundarstufe. Die meisten lebten von Mischfinanzierungen aus familiären Zuschüssen, öffentlichen Leistungen, finanzieller Unterstützung durch die Programme, Gelegenheitsjobs und „illegal activities“. 84 Prozent gaben an, mindestens einen längeren Kontakt (ein Jahr und mehr) zum Arbeitsmarkt gehabt zu haben, in diesen Jobs konnten sie indes überwiegend lediglich zwischen 13 und 20 Stunden pro Woche arbeiten. Etwa die Hälfte der Befragten erhielt den gesetzlichen Mindestlohn oder auch weniger (ebd., S. 10-14). Die jungen Erwachsenen nannten verschiedene Probleme bei der Jobsuche (ebd. S. 15-30):

Die 17 evaluierten Employment Programes haben ähnliche Konzepte (ebd., S. 43-52): Die jungen Erwachsenen erhalten durchschnittlich monatlich 150 kanadische Dollar und wenn erforderlich das Fahrgeld. Job Coaches erarbeiten berufliche Vorstellungen mit den jungen Teilnehmenden und machen Bewerbungstrainings. Wenn möglich wird in bezahlte Langzeitpraktika vermittelt mit der Aussicht, in der Firma eine Festanstellung zu erhalten. Die Projekte bieten auf den kommunalen Arbeitsmarkt abgestimmte Trainingsprogramme und ermöglichen den Erwerb eines Führerscheins. Alle Projekte versuchen, das Bildungs-, Beschäftigungs- und Unterstützungssystem zu verknüpfen, und sie machen spezielle Angebote bei spezifischen Beeinträchtigungen (insbesondere bei psychischen Problemen). Einige bieten assistierte und niedrigschwellige Beschäftigung, um beispielsweise Suchtkranke überhaupt an regelmäßige Arbeit heranzuführen. Eine Unterstützung bei der Kinderbetreuung, bei der Wohnungssuche und beim Zugang zum Gesundheitssystem sowie die Vermittlung von Alltagskompetenzen (Life Skills) sind ebenso feste Bestandteile der Konzepte.      

3.2.2 Teenager Mütter, Teenager Eltern                        

Gut neun Prozent der in einer Studie befragten Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines alternativen Bildungsangebots nannten frühe Schwangerschaft bzw. Vaterschaft als Ursache für einen vorzeitigen Schulabbruch; bei jungen First Nations lag der Anteil etwas höher. Dreiviertel der jungen Mütter bzw. Väter gaben an, dass sie mit den Kindern zusammenleben (The McCreary 2008, S. 19). Eine Teenager Elternschaft wird vor allem für solche Jugendliche zu einem Risiko, die nicht mehr in ihren Herkunftsfamilien leben und somit – nicht zuletzt bei der Kinderbetreuung – keine Unterstützung haben. Und für jene, die sich in prekären ökonomischen Verhältnissen befinden, weil dann die Betreuung insbesondere der Säuglinge nicht mehr gesichert ist. Denn Kitas sind teuer und nehmen oftmals keine sehr kleinen Kinder auf:

„Stakeholders spoke of how becoming a parent can be especially challenging for youth who are disconnected from their family, and discussed how young mothers wanting to continue their education are often forced to stay home because many day-care centres do not accept infants, or the youth cannot afford the fees” (The McCreary 2008, S. 19).

Die „Alt Schools” bieten vor allem dies: eine unterrichtsbegleitende Kinderbetreuung (TheMc Creary 2008, S. 20). Außerdem ermöglichen sie einen Teilzeitschulbesuch, sodass die jungen Eltern ihre Kinder leichter selbst versorgen können (vgl. auch zum Folgenden ebd., S. 67). Etliche Angebote können bis zu drei Jahre lang in Anspruch genommen werden. Ein Einstieg in die Projekte ist zumeist monatlich möglich, auch dies sehen reguläre Public Schools nicht vor. Man könne sich für eine solche Schule selbst bewerben oder werde von Sozialarbeitern vorgeschlagen. Der Unterricht biete sowohl akademische Fächer, Vermittlung von Alltagskompetenzen als auch eine berufliche Orientierung, außerdem würden Erziehungskompetenzen (parenting skills) vermittelt – wie das genau abläuft, konnte ich leider nicht herausfinden.

Public Schools bieten oftmals keine Betreuung für die Kinder ihrer Schüler*innen an, die Burnaby South Secondary ist da eine große Ausnahme, auch in British Columbia. Und doch führt diese Schule ihr „Young Parents Program“ ebenfalls in einem speziellen Bildungsgang durch. Die Jugendlichen sagten mir, dass sie aufgrund ihrer Kinder nicht mehr so richtig in die Regelklassen passen würden, sie hätten andere Alltagsprobleme zu lösen, hätten andere Themen, die sie beschäftigen als Mitschüler ohne eigene Kinder, und sie bräuchten auch teilweise flexiblere Unterrichtszeiten, beispielsweise um die Säuglinge zu stillen oder um länger schlafen zu können. Besonders unterstützend finden die jungen Leute, dass sie durch das Projekt andere junge Eltern kennenlernen konnten, sich mit diesen teilweise in der Freizeit treffen und sich abends bei der Kinderbetreuung abwechseln, um mal ins Kino zu gehen oder am Wochenende etwas zu unternehmen. 

3.2.3 Sucht, Prostitution, Obdachlosigkeit

Für viele Touristen ist es ein Schock, wenn sie vom Sightseeing in Vancouvers beschaulicher Chinatown oder im gentrifizierten alten Hafenviertel Gastown unvermittelt in der East Hasting Street auf hunderte junge, ältere und auch alte Menschen treffen, die dort auf den Gehsteigen schlafen oder in Gruppen auf der Straße zusammensitzen, die in Einkaufswagen, Rucksäcken und Plastiktüten ihr Hab und Gut umhertragen, sich Drogen spritzen, Schnaps und Bier trinken, die versuchen, irgendwie zu überleben. Solche „offenen Szenen“ sieht man in den Vorstädten Vancouvers selten, im Zentrum stranden Menschen aus der gesamten Provinz. Nach Pressemeldungen gab es im ersten Halbjahr 2016 in Vancouver bereits 600 Drogentote, was einen markanten Anstieg gegenüber den Vorjahren bedeutete. 
In einer Studie von 2015 wurden knapp 700 junge Leute im Alter zwischen 12 und 19 Jahren insbesondere im Großraum Vancouver befragt, die obdachlos (homeless) sind und auf der Straße leben (street involved). Mehrheitlich geraten Jugendliche in British Columbia im Alter von 13 und 14 Jahren auf die Straße, fast ein Viertel ist indes jünger (Smith et al. 2015, S. 8). In diesem Alter beginnt dann auch der regelmäßige Drogenkonsum (ebd., S. 41ff). Über die Hälfte sind First Nations, Jungen und Mädchen sind etwa gleich vertreten, vier Prozent sind Immigrants vor allem aus Mittelamerika und der Karibik, zwei Prozent sind Transgender (ebd., 14). Rund elf Prozent haben mindestens ein eigenes Kind, von denen mehr als die Hälfte fremduntergebracht sind (Verwandte, Heim, Adoption) (ebd., S. 17). Viele jüngere Kinder sind obdachlos geworden, weil ihre Mütter oder Väter die Wohnung verloren haben, manche Kinder versuchen dann, sich selbst durchzuschlagen. Andere sind zu Hause rausgeflogen oder haben die Herkunftsfamilie wegen Gewalt- und Missbrauchserfahrungen verlassen. Mehr als die Hälfte war irgendwann einmal in einem staatlichen Heim oder in einer betreuten Wohngemeinschaft untergebracht, die jedoch ebenfalls überwiegend vorzeitig verlassen wurden, etliche haben auch Gefängniserfahrungen (ebd., S. 19ff). Die jungen Leute schlafen in leerstehenden Häusern, Billighotels, Zelten oder in Autos auf Schrottplätzen, sie betreiben „couch surfing“ bei Bekannten oder Freiern, im Sommer halten sie sich nachts auf der Straße und in Parks auf, im Winter in Obdachlosenhäusern, Containern und Notunterkünften. Über die Hälfte sorgen für ein Tier, vor allem Hunde (ebd., S. 18). 
Drogenkonsum ist einer der wichtigsten Gründe, aus der Public School ausgeschlossen zu werden (Smith et al. 2015, S. 48). Über die Hälfte der Befragten verließ vor oder in der zehnten Klasse die Schule. Fast alle der 700 befragten Jugendlichen hatten Konsumerfahrungen und sind deswegen mit der Schule in Konflikt geraten. Aber auch Schulleistungen wurden davon beeinträchtigt: „When drinking and drugging is more frequent than eating, the youth is not going to be very successful in school“ (ebd.). So überrascht, dass fast 70 Prozent der Befragten, die auf der Straße leben, zur Schule gehen – der Großteil besucht eine „Alt School“ und ein geringerer Teil ist in einer Online-Schule angemeldet (ebd.). Interessant auch, dass diejenigen, die schon länger als sieben Monate auf der Straße leben, weitaus häufiger (wieder) zur Schule gehen und auch klarere Vorstellungen haben, was sie mit dem Schulbesuch erreichen wollen, als solche Jugendliche, die erst kürzere Zeit obdachlos sind (ebd.). Am seltensten sind „couch surfer“ in der Schule, also Jugendliche, die mal hier, mal da schlafen.    

„Among youth who were currently attending school, the majority felt connected to school. There are positive associations with being connected to school. For example, youth who felt like a part of their school and felt happy to be at school are more likely than their peers who did feel this way to rate their mental health and current life circumstances as good or excellent. 80 % of youth who had teachers who cared about them planned to finish high school or go to post-secondary compared to 60% who did not feel teachers cared” (ebd., S. 49).

Die Jugendlichen nehmen auf der Straße vor allem Gesundheitsdienste (street nurses), Tafeln,  (food banks), Suppenküchen (soup kitchen) und Straßenhospitäler (street clinics) in Anspruch und halten sich insbesondere in den offenen Straßenprojekten (youth centres) auf, wo sie sich aufwärmen, duschen und ihre Kleider waschen können. In speziellen ambulanten Projekten (day treatment programs), die oftmals nur zehn Plätze haben und deshalb Teilnehmende in einem Bewerbungsverfahren aufnehmen, werden neben der Entgiftung auch Familiengespräche und Beratung angeboten, Freizeitaktivitäten und individuelle Bildungsangebote (academic courses), die von Lehrkräften und Sozialarbeitern durchgeführt werden (ebd., S. 63). Nach Ansicht der Befragten gebe es zu wenige Angebote, insbesondere fordern die Jugendlichen mehr Möglichkeiten für sicheres Wohnen, Kinderbetreuung sowie Job Training (ebd., S. 65).     

3.2.4 Delinquenz

Die Zahl der jungen Inhaftierten in British Columbia ist in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen, durchschnittlich sitzen in den drei Jugendgefängnissen (Youth Custody Services) der Provinz insgesamt etwa einhundert männliche und weibliche Jugendliche ein (Smith et al. 2014, S. 5). In seltenen Extremfällen sind hier 12-Jährige, die 16- bis 18-Jährigen bilden indes die Hauptgruppe. Das Gefängnis in Prince George hat sich auf junge First Nations in Haft spezialisiert und bietet in einem kulturellen Ansatz traditionelle Freizeitaktivitäten wie Trommeln, Malerei, Holzschnitzerei und Rauchzeremonien (smudging), sowie insbesondere intensive Gespräche mit den Ältesten der lokalen First Nation Community, mit denen sich die Jugendlichen alle zwei Wochen im Gefängnis treffen, gemeinsam essen und über ihre Zukunft reden können. Auf diese Weise soll ein „reconnecting“, eine Wiederanbindung an die Community angebahnt werden.
Das Gefängnis in der Provinzhauptstadt Victoria zeichnet sich durch ein relativ systematisches „Übergangsmanagement“ aus, um die Jugendlichen auf die Zeit nach der Haft vorzubereiten und die soziale Reintegration zu sichern. In Burnaby befindet sich das einzige Gefängnis für junge Frauen sowie eine Art „forensische Abteilung“ für junge Männer mit einem intensiven therapeutischen Ansatz (vgl. Smith et al. 2014). In einem der bereits erwähnten Jugendstudien der McCreary Centre Society werden die jungen Inhaftieren immer wieder über ihre Erfahrungen und Wünsche zu den „Next Steps“ befragt.


Next Steps I – III

Seit 2007 werden bereits im dritten Durchgang interaktive Workshops mit etwa 50 inhaftieren Jugendlichen in den drei Jugendgefängnissen von British Columbia durchgeführt. Ziel ist es, die „Voices from the Inside“ hörbar zu machen: mit den Jugendlichen werden ihre Wege und die Ursachen in die Kriminalität diskutiert, um Vorschläge zur Prävention zu erarbeiten. Ausführlich wird über ihre Erfahrungen in den drei Gefängnissen gesprochen sowie über die Bewertung der angebotenen Programme, um Wünsche nach Verbesserung und Ausweitung von „good practice“ zu sammeln. Und es wird über geeignete Unterstützungsangebote für die Reintegration nach der Haft beraten. Die Dokumentationen werden in den Gefängnissen sehr ernst genommen, zum Beispiel entstanden die oben skizzierten verschiedenen Programmschwerpunkte in den drei Jugendgefängnissen aus solchen Workshops. Nicht alle Jugendlichen wollen an den „Next Steps“-Workshops teilnehmen, manche können nicht, weil sie andere Termine haben oder dürfen nicht, weil sie gerade sanktioniert werden. Nicht alle Themen können angesprochen werden, weil es Spannungen zwischen den Jugendlichen gibt. Manche Jugendlichen sind intellektuell oder sprachlich überfordert und können den Diskussionen kaum folgen. Trotz dieser Grenzen ist die Reaktion der Jugendlichen auf das Programm sehr positiv, nicht zuletzt, weil sie tatsächlich das Gefühl haben, gehört zu werden und an der Gestaltung der Haft ein Stück weit mitwirken zu können. Für die Sozialarbeiter und Lehrkräfte und für das Haftpersonal liefern die Workshops wichtige Rückmeldungen und Handlungsansätze.      

Eines der größten Probleme der Jugendlichen ist es, einen Zugang zum Gesundheitssystem zu finden, obwohl Kanada schon lange eine obligatorische Krankenversicherung eingeführt hat. Bei Erkrankungen beispielsweise aufgrund von Drogenkonsum werden die jungen Leute in den Krankenhäusern abgewiesen oder sie wissen nicht, wie sie eine medizinische Versorgung in Anspruch nehmen können (Smith et al. 2014, S. 16). Die Jugendlichen müssen aufgrund der Delinquenz mit Diskriminierung in ihren Communities rechnen und mit einem sehr erschwerten Zugang zum Beschäftigungssystem (ebd., S. 17). Auch eine Reintegration in eine Public School findet nur sehr selten statt, weil die Bildungseinrichtungen dies ablehnen. Obwohl die Jugendlichen mehrheitlich eine reguläre Schule bevorzugen würden, bleiben sie auf „Alt Schools“ angewiesen, die es jedoch insbesondere in den ländlichen Regionen nicht gibt (ebd., S. 19). Etliche Jugendliche wünschen sich, dass das Besuchsrecht nicht nur auf die engsten (erwachsenen) Familienangehörigen beschränkt bleibt, sondern auch auf die minderjährigen Geschwister, weitläufige Verwandtschaft und auf Peers ausgeweitet wird, weil diese alle für die soziale Einbindung wichtig seien, der Kontakt während der Haft jedoch oftmals verloren ginge (ebd., S. 31).
Die drei Gefängnisschulen werden überwiegend positiv bewertet, sie würden ein individualisiertes Lernen ermöglichen, das in dieser Weise in der Public School nicht üblich sei (ebd., S. 19/20 und S. 38). Insbesondere die Vermittlung in einen Job sei von zentraler Bedeutung, hierfür seien mehr Berufsberatung und Bewerbungstrainings, eine größere Bandbreite und intensivere Vorbereitung in der Haft in einem Berufsfeld, Angebote, um den Führerschein in der Haft zu erwerben, Unterstützung, einen Job für die Zeit danach zu finden notwendig (ebd., S. 23 und S. 37). Moniert wird insgesamt, dass sich die Jugendlichen nicht gut eingebunden fühlen in ihre Resozialisierungspläne (release planning) (ebd., S. 37). Jugendliche, die schon einmal inhaftiert waren, berichten, man hätte ihnen lediglich mitgeteilt, wo sie hingehen sollen, manchen seien darüber erst einen Tag vor der Entlassung informiert worden. Andere behaupten, man habe ihnen überhaupt nichts gesagt, wie es mit ihnen weitergehen könne (ebd., S. 36). Manche hätten durch diesen Planungsprozess indes einen Job, eine Wohnung und/oder ein Bildungsangebot gefunden (ebd., S. 37).

 

3.3 Stärken und Schwächen der „Alt Schools”

Sozial, kulturell, ökonomisch oder aufgrund einer Behinderung bzw. einer schweren Krankheit benachteiligte Jugendliche müssen zumindest in British Columbia dieselben Barrieren zur Erlangung gesellschaftlicher Teilhabe überwinden wie junge Menschen in Deutschland. Es mag im Detail spezifische Hindernisse geben – beispielsweise der in Kanada etwas schwierigere Zugang zu einer Krankenversicherung und damit zur Gesundheitsversorgung –, doch stehen die jungen Leute beider Länder vor vergleichbaren Problemen. Folglich müssen in beiden Staaten in den Bildungs- und Jugendhilfesystemen rechtliche Instrumente, organisatorische Lösungen und inhaltliche Konzepte entwickelt werden, um solchen jungen Menschen bessere Teilhabechancen zu eröffnen. In British Columbia, so mein Eindruck, macht man zwar vielfältige, letztlich jedoch dieselben Angebote, wie es sie auch in Deutschland gibt, jedenfalls habe ich keine Konzepte gefunden, die mir wirklich neu erschienen wären.
Auch in British Columbia stoßen die inklusiven Public Schools an Grenzen ihrer Integrationskraft von in diesem Kapitel beschriebenen Zielgruppen. Auch dort hat man spätestens ab Klasse 8 mit einem quantitativ markanten Schulabsentismus zu kämpfen, ebenso führen eine frühe Schwangerschaft, eine massive Suchtproblematik oder eine kriminelle Handlung (wie in Deutschland) sehr häufig zur Exklusion aus dem Bildungssystem. Dann kommen – wie in der Bundesrepublik – die sozialpädagogischen „Alt Schools“ ins Spiel, denen es (auch dies ist vergleichbar mit Deutschland) oftmals gelingt, zu einer „Bildungsalternative“ für die Jugendlichen zu werden. Nur ein geringer Teil der Schüler*innen besucht lediglich zeitweise ein Alternate Programe und kehrt dann in die Stammschule zurück. Die meisten bleiben in den Projekten bis sie einen Bildungsabschluss erworben oder einen Job gefunden haben. Ist die Volljährigkeit erreicht, sind die staatlichen School Boards für die Bildung der Heranwachsenden nicht mehr zuständig – dann geht es für exkludierte junge Menschen überhaupt nur noch in „Alt Schools“ weiter.
Die Stärken der „Alt Schools“ werden in Evaluierungen exakt genau so beschrieben, wie ich es für Deutschland bilanziert habe (Schroeder 2012, S. 275ff): Kleine Gruppen, intensive Beziehungsarbeit, Orientierung der Bildungsinhalte an den Erfordernissen der jeweiligen prekären Lebenslagen. In der räumlichen Anbindung und architektonischen Gestaltung darf nichts an Schule erinnern, wenn solche jungen Menschen erreicht werden sollen: „If it looks like school and smells like school they won’t come” (The McCreary 2008, S. 48).   

„Alternative education programs in the province are designed to assist youth to reconnect and remain engaged with their education, despite other challenges they may be facing in their lives. Low teacher-to-student ratios and the additional supports of teaching assistants and youth care workers allow alternative education programs’ staff to gain an indepth knowledge of youth, assess their educational, emotional and practical needs, build positive relationships, identify their optimum learning style, and offer additional supports as required. It also ensures programs can offer flexibility in their delivery methods, with both teacher-directed learning and self-paced courses. Finally, the diverse range of alternative education programs ensures that youth are offered a supportive atmosphere and the chance to meet other young people with similar experiences. Examples include programs for pregnant and parenting youth, programs for Aboriginal youth, intensive behaviour intervention programs, and programs for youth on probation” (The McCreary 2008, S. 40).

Was in Deutschland als „Übergangspädagogik“ von der Schule in die Arbeitswelt bezeichnet wird (Thielen 2011), gibt es in British Columbia in den Secondary Schools so gut wie gar nicht und auch in den „Alt Schools“ wird dies nicht immer sonderlich intensiv angeboten. Es sind eher einzelne Projekte, die dezidiert auf die Begleitung des beruflichen Übergangs fokussieren. Regel- wie Alternativschulen sind überwiegend auf allgemeine Bildung ausgerichtet und auf einen Schulabschluss hin orientiert – was die einzelnen Jugendlichen danach damit anfangen können, liegt in ihrer eigenen Verantwortung. In den Gesprächen in den School Boards gestand man ein, dass man sich intensiver mit der Problemstellung befassen müsse, was Schulen tun könnten, um benachteiligten Jugendlichen sichere Anschlüsse in das Beschäftigungssystem zu ermöglichen – nicht zuletzt, weil die jungen Erwachsenen selbst dies von den Bildungsprogrammen erwarteten.   

4. Social affairs Schools / Écoles spécialisées

Die lange Zeit zweisprachige Provinz Québec hat 1977 das Französische als alleinige Amtssprache bestimmt. Mit diesem Gesetz wollte man die separatistischen Bewegungen befrieden. Auch der Schulunterricht sollte fortan ausschließlich in Französisch erteilt werden. Dies ließ sich aber nicht durchsetzen, sondern Québec hat vier sprachlich markierte Teilsysteme: Die meisten Schüler*innen sind in den Schulen mit Französisch als durchgängiger Unterrichtssprache und Englisch als erster „Fremdsprache“. Dann gibt es English School Boards, die für die anglophonen Schulen zuständig sind und in denen Französisch als Fach verpflichtend belegt werden muss. Im Katavik School Board wird der Unterricht in einer im Norden der Provinz Québec gesprochenen Inuitsprache gehalten, die insgesamt zehn Primar- und Sekundarschulen haben zudem jeweils einen „English sector“ und einen „Secteur française“, zwischen denen die Schüler*innen wählen können. Das First Nations School Board umfasst einige Schulen für die Québecer Aboriginals (Cree, Kahnawake, Kanehsatake und Naskapis), ebenfalls mit zwei Fremdsprachen-Abteilungen. In manchen Regionen der Provinz sind die einzelnen Teilsysteme kongruent mit den Grenzen eines Schulbezirks, vor allem in den größeren Städten gibt es jedoch häufig zwei parallele Boards. So in Montréal, das offiziell zweisprachig ist und deshalb die englische Bezeichnung Montreal gleichrangig zu verwenden ist. Mein Interesse an der Provinz Québec war indes auf die sonderpädagogische Förderung gerichtet, denn diese Nachbarprovinz des „inklusiven“ New Brunswick (vgl. Einleitung in diesem Text) hält unbeirrt an ihren Sonderschulen fest.             

4.1 Zum Beispiel: Montréal/Montreal

Die größte Stadt der Provinz Québec hat eine Wohnbevölkerung von mehr als zwei Millionen Menschen, von denen beim letzten Zensus 2011 insgesamt 66 Prozent das kanadische Französisch und 12 Prozent das kanadische Englisch als ihre „Muttersprache“ angaben, 22 Prozent nannten eine andere als diese beiden Sprachen (www.12.statcan.gc.ca). Es gibt ein English Montreal School Board (EMSB), das etwa 75 Bildungsstätten von den Vorschulen bis zu Highschools und Colleges sowie eine öffentliche englischsprachige Universität (McGill University) vorhält, und eine Commission Scolaire de Montréal (CSDM) mit mehreren hundert Schulen aller Formen mit Französisch als Unterrichtssprache sowie zwei frankophonen Universitäten (Université de Montréal, Université du Québec à Montréal). Eine englischsprachige Schule dürfen nur diejenigen Kinder und Jugendlichen besuchen, deren Eltern auch in einer anglophonen Bildungseinrichtung waren. Junge Immigranten müssen, selbst wenn sie englischsprachig aufgewachsen sind, in eine Schule des französischsprachigen Teilsystems gehen, ausgenommen sind lediglich eingewanderte Schüler*innen mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf, die auch eine englischsprachige Sonderschule wählen können. 

In der Stadt werden keine „Aboriginal Programes“ angeboten, aber es gibt eine universitäre Lehrerbildung in „First Nations and Inuit Education“ (McGill University). Das französische und das englische Teilsystem haben etliche „Alternative Schools“[3], die in etwa das anbieten, was bereits für Burnaby beschrieben worden ist (vgl. Abschnitt 3). Die Sonderschulen –   „Social affairs schools“ bzw. „Écoles spécialisées“ genannt – fokussieren einzelne Behinderungsformen. Bevor dieses Einrichtungen beschrieben werden, möchte ich knapp die städtische Politik zur Förderung von „students with handicaps, social maladjustments or learning disabilities“ (EMSB 2000) bzw. der „élèves handicapés ou en difficulté d’adaptation ou d’apprentissage“ (CSDM 2003) skizzieren.

4.1.1 Das System sonderpädagogischer Förderung        

Zwei nicht text-, aber inhaltsidentische Dokumente (EMSB 2000; CSDM 2003) erläutern die amtlichen Regelungen. Grundsätzlich gilt, dass Schüler*innen mit einer Behinderung (handicap, handicapés), mit einer Verhaltensauffälligkeit (social maladjustment, difficulté d’adaptation) oder mit einer Lernbeeinträchtigung (learning disability, difficulté d’apprentissage) an einer regulären Schule unterrichtet werden. Hierzu muss der sonderpädagogische Förderstatus amtlich festgestellt werden. Dies geschieht auf der Grundlage eines Diagnoseprozesses, in dem medizinische, psychologische und pädagogische Gutachten eingeholt und mehrere Gespräche mit Eltern, Lehrkräften und der Schulverwaltung geführt werden. Liegt der Förderstatus fest, leitet sich daraus der Rechtsanspruch ab, dass die Schulpflicht für Jugendliche mit einer Behinderung bis zum 21. Lebensjahr verlängert werden kann, während sie für die beiden anderen Gruppen indes nur bis zum 18. Lebensjahr besteht. Für Schüler*innen mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf ist jährlich ein individueller Förderplan zu erstellen, zu evaluieren und fortzuschreiben. 

4. Guiding Principles

4.1 The Board shall endorse the fundamental right of every child to receive quality educational services which foster his or her overall development and promote the realization of his or her full potential.

4.2 The Board shall make every effort to ensure that the appropriate resources are in place to promote the integration of students with special needs in a regular class in a setting as close as possible to their place of residence when such integration would facilitate the students’ learning and social integration and would not impose an excessive constraint or significantly undermine the rights of other students. Thus, the Board shall endorse the “principle of inclusion” wherein every student is accepted and belongs in the regular classroom. Inclusion involves the students’ membership in a general education classroom with chronological age-appropriate classmates, having individualized and relevant learning goals, and being provided with the support necessary to learn.

4.3 If integration into a regular class is deemed to be inappropriate by the in-school and Student Services Department personnel, in consultation with the student’s parents (and the student, if applicable), and any other individuals as deemed appropriate (e.g. external professionals), then an alternative educational setting (e.g. self-contained class, special education school), shall be recommended.

In: EMSB (2000). Im französischsprachigen Dokument (CSDM 2003) finden sich entsprechende Bestimmungen unter Article 6.

Wie an den drei Leitprinzipien deutlich wird, hat Montréal/Montreal ein integratives Schulsystem aus Regelschulen, Sonderklassen und Sonderschulen. In den Regelschulen erhalten die Schüler*innen – allerdings mit Finanzvorbehalt – zusätzliche individuelle Förderung und Unterstützung, die von Gebärdendolmetschern, Spezialgeräten und Nachteilsausgleichen über modifizierte oder behinderungsadaptierte Lernmaterialen, „Ressource Teacher“ und Lernbegleitung bis zu therapeutischen Interventionen (z.B. Logopädie) bzw. sozialpädagogischer Betreuung reichen können. Auch die Einrichtung von Sonderklassen in der Regelschule ist möglich. Kann die wohnortnahe Regelschule die erforderlichen Bedingungen nicht bieten oder können diese aufgrund von Finanzvorbehalten nicht geschaffen werden, kann der Schüler/die Schülerin in der Regelschule nicht angemessen gefördert werden, beeinträchtigt er/sie das Lernen der Mitschülerinnen und Mitschüler, oder wenn die Eltern bzw. der/die Schüler/in es wünschen, erfolgt die Aufnahme in eine Sonderschule. In weiteren Bestimmungen wird noch ergänzt, dass dies eine zeitlich vorübergehende Maßnahme mit dem Ziel der Reintegration in die Regelschule sein soll.

4.1.2 Die vorhandenen Sonderschulen

Das Angebot umfasst in etwa diejenigen Sonderschulformen, die es in Deutschland auch gibt. Die Einrichtungen sind entweder englisch- oder französischsprachig, einzelne halten beide Sprachzüge vor. Im folgenden Kasten sind die Sonderschulen des English School Boards in Montreal aufgelistet. Die Kurzbeschreibungen beruhen auf Informationen, die ich bei meinen Schulbesuchen erhalten habe. Im französischen Teilsystem Montréals werden die gleichen Sonderschulen angeboten, wobei die frankophone Blindenschule für die gesamte Provinz Québec nicht in der Stadt selbst, sondern im unweit gelegenen Longueuil ist.

 

SOCIAL AFFAIRS SCHOOLS (Montreal)

Klinikschule (Montreal Children’s Hospital)

Schulpflichtige Kinder und Jugendliche werden hier während ihres teilweise längeren Hospitalaufenthalts unterrichtet, sofern ihr gesundheitlicher Zustand dies zulässt. Zwei englisch- und drei französischsprachige Vollzeitlehrkräfte führen den Unterricht durch. Es wird überwiegend Einzelunterricht im Umfang von täglich ca. einer Stunde pro Kind erteilt. Ziel ist es, den Anschluss an die Regelschule zu sichern. Hierfür mailen die Lehrkräfte der Stammschulen Aufgaben und Arbeitsblätter zu, über Skype wird Kontakt zur Stammschule und insbesondere zu den Mitschülern gehalten. Der Schulunterricht im Krankenhaus bringt überdies Struktur und eine gewisse Normalität in den Hospitalalltag. Nach der Entlassung aus der Klinik wird der Unterricht solange zuhause fortgesetzt, bis wieder die Regelschule besucht werden kann (Homebound teaching). Mit dem Konzept „Transition back to school“ wird insbesondere bei Schüler*innen, die sehr lange den Schulbesuch unterbrechen mussten, die Rückkehr in das Regelsystem intensiv vorbereitet.

Schule in der Kinder- und Jugendpsychiatrie (Sir Mortimer B. Davis School)     

Auf die ambulante und stationäre psychiatrische Behandlung von Kindern und Jugendlichen hat sich in Montreal das Jewish General Hospital spezialisiert. Die Klinik – und auch die Schule – verstehen sich als multikulturelle und mehrsprachige Einrichtungen, die indes auf der Grundlage jüdischer Werte arbeiten und auch insbesondere mit jüdischen Jugendhilfe- und Familieneinrichtungen (Batshaw Youth and Family Centres) kooperieren. Jährlich werden hier etwa 300 junge Menschen behandelt, die durchschnittlich sechs Monate in der Klinik sind. Hinzu kommen etwa 200 ambulante Behandlungen. Das Schulkonzept ist dem der oben beschriebenen Klinikschule sehr ähnlich.    

Gehörlosen- und Körperbehindertenschule (Mackay Centre School)

Die Einrichtung wurde bereits 1869 von einem englischen Einwanderer gegründet, das Geld gab Joseph Mackay. 1977 wurde die private in eine öffentliche Schule umgewandelt und wird seitdem vom School Board finanziert. Es ist die einzige anglophone Sonderschule für Gehörlose oder körperbehinderte Schüler*innen in der Stadt. Etwa 30 ausgebildete Sonderschullehrkräfte arbeiten in der Mackay Centre School, welche ca. 120 Schüler*innen im Alter von vier bis 21 Jahren hat, die alle zuhause wohnen und täglich kostenlos mit dem Schulbus gebracht werden. An zwei regulären High Schools stehen für gehörlose bzw. körperbehinderte Jugendliche der Mackay Centre School so genannte „Satellite Classes“ zur Verfügung, in denen ein Schulabschluss erlangt werden kann. Diese Jugendlichen bleiben Schüler des „Mackay“ und werden von so genannten Itinerant teachers regelmäßig in der Highschool besucht und unterstützt. Gehörlose Jugendliche haben in den „Satellite Classes“ eine/n persönlichen Gebärdendolmetscher/in für die gesamte Unterrichtszeit zur Verfügung, für körperbehinderte Jugendliche gibt es eine Assistenz („Shadow“). Die Einrichtung hat außerdem ein großes Rehabilitationszentrum, das eine medizinische, therapeutische und alltagsorientierte – aber keinerlei arbeitsweltbezogene – Förderung sowie intensive Beratungsarbeit für Eltern und Integrationsschulen anbietet.

Blindenschule (Philip E. Layton School)

Die Montreal Association for the Blind (MAB) wurden 1908 von Philip E. Layton gegründet. Zunächst bot sie einen Social Club und eine Bibliothek mit Texten in Braille-Schrift an. 1912 wurde eine Internatsschule eingerichtet, um Kinder und Jugendliche in Vor-, Primar- und Sekundarstufen so vorzubereiten, dass sie dann in eine reguläre High School wechseln können. Dieses Konzept wird bis heute umgesetzt. „Layton“ ist eine der drei verbliebenen Blindenschulen in Kanada (die anderen sind in Longueuil, Québec und in Brantford, Ontario). Die Schule hat ca. 35 Schüler*innen, von denen einige nach dem regulären Lehrplan unterrichtet werden, ergänzt durch ein blindenspezifisches Curriculum (z.B. Erlernen von Braille, Mobilitätstraining, Erwerb alltagspraktischer Kompetenzen, Freizeitgestaltung). An zwei Highschools gibt es „Satellite Classes“, in denen aber nur wenige Jugendliche lernen. Für andere mit zusätzlichen geistigen oder körperlichen Einschränkungen werden, auch in Kooperation mit dem Rehabilitationszentrum, individualisierte sensomotorische Förderangebote vorgehalten. Als Ressourcenzentrum unterstützt „Layton“ die Regelschulen des English School Boards der Provinz Québec in der Einrichtung adaptiver Lernumgebungen für sehbeeinträchtigte und blinde Schüler*innen. Hierfür stehen drei Lehrkräfte (Itinerant teachers) zur Verfügung. Angebote beruflicher Rehabilitation hat die Schule nicht.

Jugendschulen (Mountainview School mit acht Standorten)  

In der Vorschule und in der Primarstufe gibt es in Montreal/Montréal keine Lernbehindertenschulen, in beiden Teilsystemen sind  lernbeeinträchtigte Kinder zumindest in den ersten vier Schuljahren in die Regelklassen integriert. In der Stadt gibt es allerdings mehrere private und relativ teure Schulen für Kinder und Jugendliche mit einer Lernbehinderung (z. B. die bilinguale Vanguard School), die auch eine Primarstufe anbieten.
Die ausschließlich englischsprachige Mountainview School mit acht Standorten in verschiedenen Stadtteilen, die vernetzt sind und eine gemeinsame Schulleitung haben, adressiert mit vier verschiedenen Bildungsgängen schulisch erfolglose Jugendliche zwischen 12 und 18 Jahren: (1) In den „Secondary Studies“ orientiert sich der Unterricht an den offiziellen Lehrplänen, gearbeitet wird mit sehr kleinen Lerngruppen, Einzelförderung und lerntherapeutischen Ansätzen. (2) Der „Work-oriented Training Path“ (WOTP) ist für jene, die den Schulabschluss nicht anstreben oder nicht schaffen werden. Es werden vorberufliche Kompetenzen vermittelt, beispielsweise in Betriebspraktika, und es wird eng mit dem Centre Jeunesse Emploi (CJE) zusammengearbeitet, um die Jugendlichen in einen Job zu vermitteln. (3) Stärker abschlussorientiert ist das „15+ Program“, das ebenfalls arbeitsweltbezogene Inhalte bietet (Praktika), außerdem muss sich jede/r Jugendliche in einem Sozialprojekt oder in einem kulturell-künstlerischen Feld engagieren. (4) „Transition Studies“ bereitet erfolglose Primarschüler auf den Übergang in die Sekundarschule (Regelform) oder in eines der drei anderen Programme vor.        

Schule im Jugendgefängnis und Erziehungsheim (Cité des Prairies)

Das Centre de accueil de réadaptation, 1963 gegründet, liegt ganz im Nordosten Montreals und hat 270 Plätze für männliche, französisch- oder englischsprachige Jugendliche im Alter von 15 bis 18 Jahren. Die jungen Männer wurden entweder zu einer Jugendstrafe verurteilt und sind in einem modernen Neubau im geschlossenen Vollzug, was jedoch nur eine kleine Zahl betrifft. Oder sie sind nicht verurteilt, stellen aber „eine hohe Gefahr für die Gesellschaft“ dar, dann sind sie in Wohngruppen im offenen Vollzug – der aber sehr hoch ummauert ist – auf demselben Gelände untergebracht, wenngleich durch eine Bahnlinie von den Inhaftierten getrennt. Außerdem gibt es noch ein externes Internat mit 16 Plätzen, in dem Jugendliche im Rahmen des Übergangsmanagements bis zu 18 Monate bleiben können, um Alltagskompetenzen auszubilden, eine Berufsausbildung abzuschließen und eine Arbeit sowie eine eigene Wohnung zu finden. Die Schule wird vom EMSB und der CSDM gemeinsam verantwortet. Es wird mit individuellen Bildungsplänen gearbeitet. Ziel ist es, den ersten Schulabschluss zu schaffen oder, bei den jüngeren Jugendlichen, die Reintegration in ihrer Herkunftsschule bzw. in eine andere Schule anzubahnen. Der größere Teil der Jugendlichen geht in die berufliche Qualifizierung: für Metall, Elektrotechnik, Hotellerie und Konditorei/Bäckerei stehen eigene Ausbildungswerkstätten zur Verfügung, Jugendliche im offenen Vollzug sind oftmals in Betrieben im Industriegebiet Montreal-Ost integriert, mit denen die Einrichtung schon lange zusammenarbeitet. Im Übergangsmanagement wird vor allem Wert gelegt, die Jugendlichen in jedem Fall in ein Anschlussangebot zu integrieren, sei es eine weiterführende Schule, eine Ausbildung oder Arbeitsstelle.

4.2 Von „Inklusion“ ist kaum die Rede

Begriff und Ansatz von „Inklusion“ sind in Montreál/Montreal wie in der gesamten Provinz Québec schulpädagogisch zwar bekannt, und in der universitären Lehrerbildung wurden viele sonderpädagogische Studiengänge in „Inclusive education“ umbenannt, in der Bildungspolitik oder in der Praxis der Schulen spielt der Terminus indes so gut wie keine Rolle. Auf entsprechende Nachfragen wurden verschiedene Gründe genannt, weshalb man eine begrenzte Zahl von Sonderschulen beibehält: Die Krankenhaus- und Therapieschulen sind aufgrund der überwiegend stationären Behandlungsansätze der klinischen Einrichtungen nötig. Der Jugendstrafvollzug kennt nur den geschlossenen und offenen, nicht aber den freien Vollzug, sodass auch hier die Beschulung in Regeleinrichtungen kaum anders möglich ist. Die Sonderschulen der „totalen Institutionen“ werden auch in Deutschland nicht ernsthaft in die Inklusionsdebatte einbezogen, und es würde mich sehr wundern, wenn es solche separierten Einrichtungen nicht auch im angeblich so inklusiven New Brunswick gibt.

Zur „Verteidigung“ der behinderungsorientierten Sonderschulen werden verschiedene Begründungen angeführt: Ein strukturelles Argument verweist darauf, dass die Regelschulen zumeist (noch) nicht barrierefrei gebaut und eingerichtet seien, und oftmals nicht über die erforderliche Ausstattung (Ruheraum, Pflegebereich, Warmbad etc.) oder adaptive Unterrichtstechnologie verfügten. Auch die Prinzipien des Universal Design werden kaum berücksichtigt. Ein organisatorisches Argument lautet, dass die spezifische Förderung der Schüler*innen in einer Rehabilitationseinrichtung mit angeschlossener Schule viel intensiver sei als das, was in den inklusiven Schulen geboten werden könnte. Selbst in der Stadt mit relativ kurzen Wegen könnten die „Itinerant Teacher“ oder Psychotherapeuten die Schüler*innen an den Regelschulen nicht allzu oft besuchen, zu weiter entfernt wohnenden Kindern und Jugendlichen könnten sie nur selten fahren. Ein pädagogisches Argument kritisiert, dass das unterstützende Personal sich in den Regelschulen auf einzelne Schüler*innen konzentriere und durch diese Form der Überbetreuung das selbstständige Lernen der Schüler*innen gleichsam verhindert werde. 
Das sonderpädagogische System in Montreál/Montreal stellt sich als ein Verbund aus allgemeinbildenden Schulen, spezialisierten Einrichtungen und Projekten dar und ist innerhalb des jeweiligen School Board relativ intensiv vernetzt. In einer gewissen historischen Kontinuität wird der Ansatz umgesetzt, in den behinderungsspezifischen Sonderschulen auf den Übertritt in die (reguläre) High School und Universität vorzubereiten – so haben es Joseph Mackay bzw. der Blindenverband vor hundert Jahren angefangen, und so wird es auch noch heute gemacht. Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation gibt es in der Stadt (und auch sonst in der Provinz Québec) fast keine. In Arbeit kommen Menschen mit Behinderung nur, wenn in der Community an ihrem Wohnort für entsprechende Möglichkeiten gesorgt wird.

5. Controversial Schools

Toronto ist die Hauptstadt der Provinz Ontario und hat eine Wohnbevölkerung von mehr als fünf Millionen Menschen. Neben einigen Schulen, die ein „Aboriginal Programe“ anbieten, standen im Schuljahr 2016/17 insgesamt 40 „Alternative Schools“ zur Wahl, 19 in der Primarstufe und 21 im Sekundarbereich (www.tdsb.on.ca). Die meisten Schulen mit einem speziellen Ansatz sind in der Stadt bildungspolitisch nicht mehr umstritten, was sich meines Erachtens ein Stück weit für Kanada verallgemeinern lässt: Dass es besondere schulische Programme für First Nations (und Inuit) geben muss, ist gegenwärtig ein gesellschaftlicher und politischer Konsens, diskutiert wird lediglich über die unterschiedlichen pädagogischen Konzepte der „Indian Education“ (vgl. Kasten). Auch die Notwendigkeit von „Alt Schools“ wird zumeist nicht in Frage gestellt, im Gegenteil, ihnen wird eine wichtige Funktion im System der Jugendhilfe beigemessen. Die Debatten um die Sonderschulen wurden bereits in den 1980er Jahren geführt und haben einen gewissen Abschluss gefunden mit dem Ergebnis, dass die Special Needs Education prioritär aber nicht ausschließlich in den Public Schools umgesetzt werden soll.

Der lange Weg zu einer First Nations School of Toronto

Diese Schule ist ein Beispiel für den Wandel von einer Bildungseinrichtung, die heftige Kontroversen auslöste, zu einer, die inzwischen „ganz normal“ zum lokalen Schulsystem gehört. Unter dem Namen „Wandering Spirit Survival School“ gründete 1977 eine Gruppe von First Nations Eltern eine „native-controlled school“, weil sie nicht länger die rassistischen Haltungen akzeptieren wollten, mit denen ihre Kinder in der Public School konfrontiert waren. Außerdem wurde das „doppelte“ kulturelle Erbe der Kinder nicht berücksichtigt, sie vermissten im Schulcurriculum ihre Sprache sowie indigene Perspektiven auf Geschichte und Gesellschaft (vgl. Pellerin 1982, S. 1 sowie Berg 1998).

Zu dieser Zeit gab es im Toronto School Board keinerlei Interesse, entsprechende konzeptionelle Änderungen in den Public Schools vorzunehmen. Deshalb gründeten die Eltern einen Verein und schauten sich „Survival Schools“ in den USA an (vgl. dazu auch Biegert 1979, der in Deutschland über solche Schulgründungen in USA und Kanada berichtete und auch die Schule in Toronto erwähnte, wodurch ich auf sie aufmerksam wurde). Zunächst war die Einrichtung als Teil des Aboriginal Liberation Movements sehr umstritten, u.a. weil eine Politisierung und Indoktrinierung der Schüler*innen befürchtet wurde. Dennoch gründeten die Eltern ihre „native-controlled school“, die mit zwei Lehrerinnen begann und im Zentrum Torontos mit zwei Klassenräumen und einem Büro im zweiten Stockwerk einer regulären Primarschule untergebracht war.  

Im Schulkonzept waren zwei Ziele definiert: „To enhance the Indian child's self-concept and sense of pride in himself as an Indian person, and to provide the Indian child with a sound academic education which will enable him or her to continue education beyond grade eight within the regular system” (Pellerin 1982, S. 2). Diese Ziele finden sich auch heute, vierzig Jahre nach der Schulgründung, im Programm wieder: „First Nations School of Toronto is unique in that Aboriginal values, spirituality, culture and Ojibway language are integrated into the school curriculum. The goal is to ensure that urban Aboriginal children will have the opportunity to learn about their heritage and the traditional Anishinabe cultural perspective while acquiring the skills necessary to survive in today's world” (Flyer_First_Nation_School_Toronto.pdf).

Ab 1983 übernahm die Schulverwaltung die Finanzierung der Einrichtung unter dem Rechtsstatus einer „Alternative Schools“; sie wurde nun „Cultural Survival School“ genannt. Dies kann als ein erster Schritt zur Normalisierung interpretiert werden, denn die Einrichtung war nur noch teilweise „native-controlled“ und musste sich beispielsweise stärker als zuvor auf den regulären Lehrplan Ontarios ausrichten. Sie behielt aber das Recht, Werte, Spiritualität und Kultur der Anishinabe im Curriculum sowie den Unterricht in der Ojibway Sprache beizubehalten (Berg 1998).

1989 wurde die Schule erneut umbenannt und bezog ein schönes altes Gebäude mit einem neueren Anbau in einem Nachbarstadtteil. Auch wenn sie weiterhin eine „Alternative School“ ist, dokumentieren der Umzug und Neubau, dass die Schule im öffentlichen Regelsystem „angekommen“ und dort auch als „normale“ Schule anerkannt ist. Es werden ca. 80 Schüler*innen in den Klassen 1 bis 8 unterrichtet, und es gibt ein für alle Kinder und Jugendliche kostenloses Schulspeisungsprogramm (Frühstück, Lunch und Snack). Außerdem bietet die Schule im Rahmen des „Aboriginal Headstart Program“ für 30 „at-risk-children“ im Alter von drei bis fünf Jahren eine Frühförderung an.

Im Folgenden möchte ich mich mit einer Schule in Toronto befassen, die dort gegenwärtig sehr umstritten ist. Den Begriff Controversial School habe ich bei James et al. (2014, S. 5) gefunden. Sie bezeichnen damit Bildungseinrichtungen, die bei ihrer Gründung und auch noch danach heftige gesellschaftliche Debatten auslösen können. In meinen Forschungen bin ich immer wieder auf solche sehr umstrittene spezielle Schulen gestoßen: Die Harvey Milk School in New York beispielsweise, die wohl weltweit erste Schule ausschließlich für junge Queers, wird seit ihrer Gründung in den 1970er Jahren bis heute von verschiedenen sozialen Gruppen strikt abgelehnt und in teilweise aggressiver Form bekämpft (Schroeder 2012, S. 375ff). In Deutschland gibt es solche Kontroversen über Flüchtlingsschulen (ebd., S. 179ff), Schulen für Roma (ebd., S. 134ff) oder um die „Hartz-IV-Schule“ in Bochum-Wattenscheid, welche allerdings inzwischen aufgelöst worden ist (Schroeder 2015, S. 106ff).

In Toronto wird seit einigen Jahren um die „Africentric Alternative School“ debattiert, eine Schule für schwarze Schüler*innen (Black students). „Controversial Schools“ provozieren, weil sie auf gesellschaftlich sehr exkludierte soziale Gruppen hinweisen und behaupten, deren Bildungsbenachteiligungen würden in den Public Schools (als den Schulen der Dominanzgesellschaft) eher (re-)produziert statt ausgeglichen. In der Begrifflichkeit postkolonialer Theorie ausgedrückt, sind „Controversial Schools“ institutionell markierte „Arenen des Kampfes um Anerkennung“. Auch die „First Nations Schools“, die „Alt Schools“ und die „Inclusive Schools“ waren in Kanada einmal „Controversial Schools“, mit denen bildungsbenachteiligte Gruppen für sich mehr Bildungsgerechtigkeit einklagten. Mit der Forderung nach „Black Schools“ meldete sich ab den 1990er Jahren eine weitere soziale Gruppe zu Wort, die bis heute im kanadischen Schulsystem eher geringe Bildungschancen hat.                      

5.1 Zum Beispiel: Toronto

In der größten Stadt Kanadas lebten historisch die verschiedenen Immigrantengruppen zunächst häufig in separierten Quartieren zusammen („Greektown“, „Corktown“), heute sind die Wohnviertel hingegen kulturell eher durchmischt, aber sozio-ökonomisch segregiert. Sowohl in einigen größeren Vierteln der Innenstadt als auch in mehreren Suburbs konzentrieren sich materiell arme Menschen. In diesen Gebieten schneiden die Schüler*innen bei Schulleistungsvergleichen oftmals weniger gut ab als in anderen Stadtteilen (vgl. wie auch zum Folgenden: Bertelsmann-Stiftung 2008, S. 4). Toronto steuert deshalb die Ressourcenzuweisung für die Schulen mit Bezugnahme auf die sozio-ökonomische Zusammensetzung der Schülerschaft. Dafür nutzt der Toronto District School Board (TDSB) einen „Learning Opportunity Index“ (LOI), um familiäre Sozialdaten der jeweiligen Schülerschaft (Einkommen, Wohnverhältnisse, Bildungsstand der Eltern usw.) zu erheben und dann die Schulen nach Punkten zu klassifizieren: Schulen mit einem niedrigen Indexrang erhalten mehr Ressourcen als solche mit einer sozio-ökonomisch besser gestellten Schülerschaft.
Der TDSB entwickelte weitere innovative Maßnahmen für Problemgruppen (ebd., S. 3). e Wie bereits erwähnt, wurde die Schulbehörde 2008 hierfür mit dem Carl Bertelsmann Preis „Integration braucht faire Bildungschancen“ausgezeichnet.[4]  

„Um die Abbrecherquoten bestimmter Problemgruppen (z.B. Jugendliche mit afrokaribischem oder portugiesischem Hintergrund) zu reduzieren, startete der TDSB zuletzt die ‚Inner City Model School‘-Initiative, die in Problemstadtteilen besonders benachteiligte Schüler und ihre Eltern fördert. Auf Drängen der afrokanadischen Community hat der School Board die ‚afri-centric school‘-Initiative gestartet, eine Schule, die sich speziell an den Förderbedarfen der afrokanadischen Schüler ausrichtet. Das war in der Stadt umstritten, zeigt aber den Mut und die Experimentierfreude sowie die Responsivität der Schulbehörde gegenüber den ethnischen Communities“ (Bertelsmann-Stiftung 2008, S. 3f).

Die Bertelsmann-Stiftung verschweigt, dass Kanada lange Zeit versucht hat, die Einwanderung von Schwarzen zu verhindern: „Canada’s historical anti-Black immigration policy was mitigated in large part by the idea, that admitting Blacks meant the nation was just asking for problems (i.e. race riots) that Britain and the U.S. had to bear for having Black residents“ (James et al. 2012, S. 25). Dies hat sich inzwischen geändert und auch Toronto hat einen beträchtlichen Anteil eingewanderter Schwarzer aus den USA, aus den englischsprachigen Karibikinseln (z.B. Jamaica, Trinidad and Tobago), aus Südafrika, Ghana, Nigeria und Uganda, die somit überwiegend Englisch als Erstsprache gelernt oder ein anglophones Schulsystem durchlaufen haben (www.toronto.ca/facts). Sprachliche Barrieren können folglich eher nicht die Bildungsbenachteiligungen von Schwarzen erklären, zumal Toronto (Bertelsmann-Stiftung 2008, S. 4) über effektive Programme einwanderungsbedingter Zweitsprachförderung im Schulsystem und in der Erwachsenenbildung verfügt (vgl. auch Schuett 2014).

Zwischen 2005 und 2014 hat Kanada insgesamt 270.000 Geflüchtete aufgenommen (vgl. Korntheuer 2016, S. 143). Diesen wird, teilweise bereits bei der Einreise, relativ zügig die kanadische Staatsbürgerschaft erteilt und dadurch ein ungehinderter Zugang zu Bildung, Arbeit und Gesundheitsversorgung ermöglicht (ebd.). Somit bestehen kaum rechtliche Hindernisse, die die Bildungschancen bei Immigration mindern. Da die Schülerschaft der „Africentric Alternative School“ überwiegend in Kanada geboren ist (2013 hatten nur sieben von insgesamt 120 Jugendlichen eine eigene Einwanderungserfahrung; vgl. James et al. 2014, S. 10), lässt sich die Forderung nach einer „Black School“ somit auch nicht mit Einwanderungskonflikten erklären, sondern steht eher im Kontext unbewältigter sozialer Ungleichheit.           
Die Diskussion um „Black-centred Schools“ begann in Kanada in den 1990er Jahren (Dragnea/Erling 2008). Anders als in den USA, wo es bereits zu dieser Zeit vereinzelt zu entsprechenden Schulgründungen gekommen war, blieb die Debatte um „Afrocentricity“ im kanadischen Bildungswesen zunächst eine akademische und politische Auseinandersetzung.

Afrocentricity is a theory that emerged in the early 1980s in the United States within the academic context of African-American studies. In essence, Afrocentricity represents the fact that as human beings, people of African ancestry have the right and responsibility to ‘center’ themselves in their own subjective possibilities and potential and through the re-centering process reproduce and refine the best of themselves. The ultimate goal of Afrocentricity is the liberation of African people from the grips of Eurocentrism. The primary and indispensable mechanism to achieve this goal is the fostering of African intellectual agency.” (Dragnea/Erling 2008, S.14)

George Dei (1996, 2006) führte mehrfach empirische Untersuchungen zum Wunsch schwarzer Jugendlicher bzw. ihrer Familien nach „Black schools“ in Toronto durch und konnte drei – über die Jahre stabile – Begründungsmuster herausarbeiten: (1) Persönliche und kollektive Erfahrungen von Ungleichbehandlung in der Public School aufgrund der Hautfarbe, (2) keine schwarzen Lehrkräfte an den Schulen vorhanden und (3) unzureichende Thematisierung der Geschichte, Kulturen und Unterdrückungserfahrungen der Afrokanadier im Curriculum, in den Schulbüchern und in den Unterrichtsinhalten.         

„Current definitions and practices of inclusion still leave students on the margins, even when these students are ‚included‘. Despite administrators’ very best intentions, ‘included’ students may still underachieve or even drop out; others continue at the bottom of the scale of academic achievement. Minority students, then, should be moved from the margins to the centre; they should not just be grafted onto the existing order. It is insufficient, for example, to include a few sessions dealing with minority themes in a course syllabus and label that action as ‘inclusive schooling’. What we need is a ‘multi-centric’ approach to curricular knowledge. ‘Centric’ locates students within their own cultural frame of reference so that they can connect socially, politically, ideologically, spiritually, and emotionally to the learning process” (Dei 1996, S. 177). 

Dei sieht „Africentric Schools” als einen Reflex auf eine komplexe und pluralistische Welt. Er argumentiert, dass selbst gewählte Separation etwas anderes sei als die Zwangssegregation, die Schwarze früher in USA oder Südafrika erlebt haben. Er sieht „Black Schools“ als gangbare Alternative für solche Eltern, die eine Africentric Education für ihre Kinder möchten. In 2008 wurde in Toronto ein entsprechender Schulversuch genehmigt, der im Schuljahr 2009/10 startete und 2016/17 bis zur achten Klassenstufe aufgewachsen ist.

5.2. Die „Africentric Alternative School”

Die Einrichtung liegt in North York, einer größeren Vorstadt im Nordwesten Torontos. Obwohl es ein sehr multikulturelles Viertel ist und die Immigration vor allem aus europäischen Ländern (Italien und Spanien) und aus Asien (Indien, China, arabische Staaten) erfolgte, werde der Stadtteil in den Medien jedoch fast ausschließlich als „Black Community“ dargestellt, mit allen Zuschreibungen, die damit verknüpft sind: „deviance, violence, crime, drugs and prostitution“ (James 2012, S. 26). Es sei ein als „troubled community” stigmatisiertes Stadtgebiet und Jugendliche, die dort aufwachsen, würden prinzipiell als „at risk“ etikettiert.   
Die Schülerschaft lebt indes nur zu einem sehr geringen Anteil in North York, sondern kommt aus dem gesamten Stadtgebiet und sogar aus angrenzenden Distrikten (James et al. 2014, S. 12). Somit ist es plausibel, dass der „Learning Opportunity Index“ (LOI) nicht Sozialprofile von Quartieren sondern von der Schülerschaft einer Bildungsstätte beschreibt. In Toronto werden im LOI insgesamt 479 Schulen klassifiziert. In 2013 lag die Africentric Alternative School auf dem 56. Rang, also relativ weit unten. In der Einzelauswertung sind die Sozialdaten der Schülerschaft besonders schlecht in Bezug auf das familiäre Haushaltseinkommen (Platz 53) und den Anteil der Familien, die vor allem von öffentlichen Sozialleistungen leben (Rang 29). Mit Platz 84 sind die Daten zur „Bildung der Eltern“ etwas besser (ebd., S. 13f).
Schulen mit einem sehr niedrigen LOI (bis Rang 80) schnitten in Toronto in den Schulleistungstests, die Lese-, Schreib- und Rechenkompetenzen vergleichen, bislang immer unterdurchschnittlich ab. Insbesondere im unteren Fünftel des LOI besteht ein straffer Zusammenhang zwischen Schulerfolg und sozio-ökonomischem Status der Eltern (ebd., S. 15). Die Africentric Alternative School liegt hingegen in der Primarstufe (erste bis vierte Klasse) etwas über dem für den TDSB errechneten Durchschnitt. In der Sekundarstufe (Klasse 5 bis 8) sind die erreichten Kompetenzen im Rechnen deutlich über dem mittleren Leistungsspektrum, im Lesen und Schreiben leicht darunter (ebd., 15). Die in der Schülerschaft erzielten Schulleistungen sind zudem seit Gründung der Schule markant angestiegen, der Leistungszuwachs liegt merklich höher als die in Toronto und in der gesamten Provinz Ontario erzielten Steigerungen (ebd., S. 16). Das heißt: Die Africentric School ist bislang in der Förderung ihrer Schülerschaft recht erfolgreich. Doch hat das mit dem afrozentrischen Schulkonzept zu tun?                 


Eine „bunte“ und eine „schwarze“ Schule Tür an Tür

Die Africentric School teilt sich das Gelände und das Gebäude mit der Sheppard Elementary School. Die beiden Schulen sind nach Schulfluren und Stockwerken räumlich getrennt, nutzen aber die Bücherei und die Mensa gemeinsam, auch Klassenzimmer werden je nach Bedarf mal bei der jeweils anderen Schule „ausgeliehen“. Es gibt zwei Haupteingänge, die aber ebenfalls von allen genutzt werden. Geht man durch die Flure, lässt sich nicht erkennen, in welcher Schule man gerade ist: Überall hängen diversity-orientierte Plakate in vielen Sprachen, werden die Herkunftsländer der Schüler*innen gezeigt, gibt es Infobretter mit ähnlichen Hinweisen und Flyern. Im Übrigen sind die Gänge eher schmucklos und die Architektur ist nüchtern.           

Beide Schulen haben etwa gleich viele Schüler*innen (jeweils rund 150) und werden durchgängig einzügig vom Kindergarten bis zur Klasse 8 geführt. Die Kinder lassen sich sofort einer Schule zuordnen, weil „Sheppard“ keine Schuluniformen hat, die „Africentric“ hingegen schon. „Sheppard“ hat eine multikulturelle Schülerschaft, neben einigen weißen gibt es sehr viele Immigrantenkinder aus Asien und Afrika, vor allem Somalia, Äthiopien und Indien, sowie aus verschiedenen lateinamerikanischen Ländern. Diese Schüler*innen wohnen überwiegend in der Neighbourhood. Das Kollegium ist fast ausschließlich weiß (und bis auf den Schulleiter weiblich), zwei Assistant Teacher sind aus Somalia. Die Africentric School hat ausnahmslos schwarze Schüler*innen, die immigrierten Kinder kommen zurzeit vorwiegend aus der Karibik (Jamaica, St. Vincent). Das Kollegium ist ebenfalls schwarz, lediglich die Französischlehrerin (aus einer deutschen Einwandererfamilie) und eine Sonderpädagogin sind weiß. Zwei Lehrkräfte sind Männer, davon ist der eine aus Ghana eingewandert, der andere ist – wie auch der (männliche) Schulleiter – in Toronto geboren und aufgewachsen. Die (weiblichen) Assistant Teacher stellen sich ebenfalls alle als Afrokanadierinnen vor.

Der Freitagmorgen beginnt – wie überall in Kanada – mit der School Assembly. Heute trommelt die siebte Klasse, bis alle Schüler*innen der Africentric Scool in der Aula in Jahrgangsreihen aufgestellt sind. Auch ein paar Mütter schauen zu. Nach der Begrüßung durch den Schulleiter wird eine Power-Point-Chart präsentiert, auf der daran erinnert wird, dass die Schule und Toronto auf Land gebaut sind, von dem das Volk der Anishinabe vertrieben worden ist. Der die Versammlung leitende Lehrer weist darauf hin, dass die First Nations in Kanada sehr gelitten hatten. Dann wird die Nationalhymne „Oh Canada“ vom Band abgespielt und gemeinsam gesungen, der Text wird ebenfalls projiziert. Als nächstes wird „Lift ev'ry voice and sing” gespielt und leidenschaftlich mitgesungen, ein Lied, das den Schwarzen in Nordamerika als „The Black Anthem” gilt. Nun werden die sieben Nguzo Saba Prinzipien vorgetragen und ihre Bedeutung kurz erläutert. Schließlich wird das Thema „Schuluniformen“ angesprochen: Die Africentric School hat sich für weiße Hemden mit schwarzen Westen sowie schwarze Hosen und Schuhe entschieden. Einige Kinder tragen heute aber bunte Turnschuhe, was gerügt wird. Nach guten Wünschen für den Tag und für das kommende Wochenende geht es in die Klassen.     

Dort sind die meisten Schüler*innen nun mit den Eingangstests beschäftigt, die in ganz Toronto zum Schuljahresbeginn durchgeführt werden. Im Französischunterricht wird meine Anwesenheit genutzt, um Begrüßungsformeln zu wiederholen (klappt ganz gut), in der Special Education Class werden vier Mädchen und Jungen unterschiedlichen Alters von den beiden Sonderpädagoginnen im Rechnen und Lesen gefördert, in der Kindergartengruppe wird ein afrikanisches Märchen erzählt und man beschäftigt sich mit der Lebensweise von Antilopen. Die siebte Klasse übt Trommeln für einen öffentlichen Auftritt: Die Schule führt in zwei Wochen am Samstag ein „International Oware Tournament & Family Fun Day“ durch, also ein Turnier zu einem in Afrika sehr verbreiteten Brettspiel. Drei Jungs aus der achten Klasse leeren (lautstark) in allen Räumen die Mülleimer (heute ist Freitag!) und transportieren den Abfall ab, derweil zwei ehemalige Achtklässler über ihre Erfahrungen erzählen, die sie gerade in der High School machen, ein Sechstklässler wegen Bauchweh vorzeitig von seiner Mama abgeholt wird, dazwischen Pausenklingeln, eine Ansage aus dem Schulsekretariat usw. usf.

Bei meinem Besuch in der Schule haben mich vor allem zwei Fragen interessiert, nämlich die theoretische Begründung für das pädagogische Konzept und die Organisation der sonderpädagogischen Förderung. Es stellte sich schnell heraus, dass beide Problemstellungen schulintern recht kontrovers diskutiert werden.

5.2.1 Africentric, African oder Black Studies?

Auch acht Jahre nach Gründung der Schule sind im Kollegium, bei den Eltern und in der Schülerschaft sehr unterschiedliche Verständnisweisen und Zielsetzungen zu einem „afrizentrischen“ Schulkonzept vorhanden. In meinen Gesprächen dort wurden mir im Wesentlichen drei sehr unterschiedliche Positionen präsentiert.          
Eine werteorientierte Position bezieht sich auf die Kwanzaa Philosophie von Maulana Karenga, der African Studies in Los Angeles (USA) lehrt. Er geht davon aus, dass es traditionelle afrikanische Werte gebe, die für den gesamten afrikanischen Kontinent gelten würden und die sowohl den gewaltsamen Kolonialismus als auch die assimilierende Globalisierung überdauert hätten. Dieses Wertesystem sieht er als einen Gegenpol zur okzidentalen Moderne (www.officialkwanzaawebsite.org). Leitbild und Programm der Africentric School basieren auf den von Karenga formulierten sieben „Nguzo Saba Prinzipien“: Umoja (Unity), Kujichagulia (Self determination), Ujima (Collective Work and Responsibility), Nia (Purpose), Ujamaa (Cooperative Economics), Imani (Faith) und Kuumba (Creativity) (www.schools.tdsb.on.ca/africentricschool). Im Schulprogramm wird überdies an das afrikanische Sprichwort erinnert, dass es eines ganzen Dorfes bedürfe, um ein Kind zu erziehen. Anders als in den Public Schools, wo bestimmte Lehrkräfte für bestimmte Schüler einer bestimmten Klasse zuständig seien, möchte man sich an dieser Schule zu einem „pädagogischen Dorf“ entwickeln, in dem alle für das Wohlergehen aller verantwortlich sind. In dieser Position wird der „Schulgemeinschaft“ höchste Bedeutung beigemessen, als Reflex auf Erfahrungen der Anonymität, Vernachlässigung, Verantwortungslosigkeit und Missachtung in den Public Schools. Die afrikanischen Werte werden zudem in Ritualen, in der Auseinandersetzung mit afrikanischer Philosophie und in „traditionellen“ kulturellen Repräsentationsformen (Story telling, Tanz, Trommeln) als soziale und emotionale Ereignisse zugänglich gemacht.
Eine curriculare Position nimmt die in Nordamerika in den 1990er Jahren begründete Förderung auf, den „Kanon der toten weißen Männer“ zu ersetzen durch einen Lehrplan, der sich an Diversity orientiere (Taylor 1997, S. 61). Das Curriculum soll afrikanische Geschichte thematisieren, und im Unterricht soll afrikanische Literatur gelesen und die soziale Lage von Afrokanadiern problematisiert werden. In diesem Ansatz finden sich einerseits radikale Positionen, die fordern, die Bildungsgegenstände an afrizentrischen Schulen ausschließlich an den African Studies auszuwählen, andererseits gibt es pragmatische Richtungen, die eher eine entsprechende Ergänzung des Curriculums einklagen (vgl. Banks & Banks 2006). In der Africentric School wird vor allem die zweite Position vertreten. Nun ist es nicht so schwierig, solche Inhalte in den Lehrplan aufzunehmen, und in der Schule wird hieran intensiv gearbeitet (James et al. 2014, S. 41ff). Spätestens bei der Frage nach der Vermittlung afrikanischer Sprachen, so erzählte man mir, ergeben sich dann jedoch kontroverse Diskussionen: Manche Eltern und viele Lehrkräfte halten dies für unnötig, weil afrikanische Sprachen in den afrokanadischen Familien nicht (mehr) genutzt werden. Andere argumentieren, gerade weil diese Sprachen in den Familien nicht vermittelt würden, müsse die Schule dies tun. So gab es immer wieder Versuche, beispielsweise Swahili anzubieten, eine Sprache, die in Afrika eine überregionale Bedeutung hat, doch das Interesse der Schüler*innen war gering.    

Eine strukturorientierte Position verbindet rassismuskritische, menschenrechtsbasierte und identitätsstärkende Zielsetzungen („Black is beautiful“) mit der Forderung nach speziellen Unterstützungsangeboten für eine strukturell benachteiligte Schülerschaft. In dieser Position geht es inhaltlich eher um die Etablierung von „Black Studies“, die ihre theoretischen und identitätspolitischen Referenzen weniger in einer „Africaness“ oder in einem kulturellen „afrikanischen Erbe“ sieht, sondern in der Ausbildung einer selbstbewussten und positiven „Blackness“ schwarzer Schüler*innen, die in der weiß markierten Public School marginalisiert werden (Hampton 2010). Lehrkräfte sagten mir, dass die Schülerschaft ja keine persönliche Einwanderungsgeschichte aus einem afrikanischen Land miteinander teilten, sondern es seien die Erfahrungen von Afrokanadiern, die alle in irgendeiner Weise in der kanadischen Public School Ausgrenzungen in Bezug auf ihre Hautfarbe erlebt haben. In dieser Position wird die sprachliche, kulturelle und soziale Vielfalt der Gruppe „schwarze Schülerschaft“ betont, welche die Erfahrung sozialer Ungleichheit verbindet. Eine schwarze Identität könne zwar auch über historisches Wissen und kulturelle Praxis gestärkt werden, vor allem jedoch durch die Eröffnung von Bildungschancen. Deshalb kooperiert die Schule mit Jugendhilfeprojekten und sorgt für Stipendien.

5.2.2 Mit oder ohne sonderpädagogische Förderung?

Es dauerte einige Jahre, bis an der Schule das Special Education Programme[5] eingeführt werden konnte. Das hat zum einen schulrechtliche Gründe: Der TDSB stellt Alternative Schools grundsätzlich keine zusätzlichen personellen oder finanziellen Ressourcen bereit mit dem Argument, solche Schulen hätten bereits im Vergleich zu normalen Public Schools eine gute Ressourcenausstattung. Somit mussten die benötigten Mittel bei Stiftungen und durch Kooperationen mit Jugendhilfeangeboten erst beschafft werden. Zum anderen sind viele Eltern – bis heute – strikt gegen die Einführung des sonderpädagogischen Förderprogramms, weil sie eine zusätzliche Stigmatisierung der Kinder und der Schule befürchten:     

„A critical challenge for administrators and teachers who wanted to modify, alter, and, support the learning experiences for students with exceptionalities was attempting to navigate through the stigma some parents associated with special needs education based on well-founded and historic mistrust of an education system that has over-labeled Black students. […] Special education is extremely political when it comes to Black children. Special education means intelligence; that’s what’s in the minds of Black people because that’s what they have been systematically taught.” (James et al. 2014, S. 46)

Die koloniale Lüge, schwarze Menschen seien weniger intelligent als weiße, der weltweit verbreitete rassistische Biologismus, schwarze Kinder seien nur begrenzt bildungsfähig und deshalb sei es normal, dass sie nur geringe Schulleistungen erreichen könnten, und die grundsätzliche Aversion mancher weißer Lehrkräfte gegen schwarze Kinder und Jugendliche werden auch in der Stadtgesellschaft Torontos in Teilen reifiziert. Insbesondere in den Medien wurde außerdem behauptet, die Public Schools würden ihre schwierigen schwarzen Schüler an die Africentric School abschieben und dies führe zu einer Ansammlung verhaltensauffälliger Kinder und Jugendlicher:   

„The media attention that the school has received since even before it was established to present today has been quite negative, biased, limited, disruptive, and damaging. Students interpreted the media attention as leaving the impression that just because it is a group of Black people they think it is going to be horrible. […] There is a damaging misconception that the school is filled with a whole bunch of bad kids coming from low socioeconomic statuses and that the school is to just deal with behaviours and fix kids that are rude” (James et al. 2014, S. 44f). 

Obwohl die mediale Aufmerksamkeit im Laufe der Jahre etwas zurückgegangen ist, blieb sie dennoch negativ, über die Erfolge der Schule wird nur ganz selten berichtet. Die Eltern der Africentric School in Toronto jedenfalls wollten verhindern, dass die Bildungseinrichtung als „Sonderschule“ stigmatisiert wird. Nach längeren Debatten hat die Schule das Programm dennoch eingeführt, nicht zuletzt, um dem schlechten Image empirische Befunde entgegenzusetzen: Für 2013 wurden dem TDSB insgesamt 13 Prozent Schüler*innen mit einem „Special Education Programming Status“ gemeldet, im selben Jahr lag diese Quote in den Schulen Torontos im Durchschnitt bei 14 Prozent (James et al. 2014, S. 14). Das heißt, die Africentric School ist wahrlich keine Sonderschule.         

5.3 Haben „Black schools“ eine Zukunft?

Die Africentric School ist eine Elementary School und kann deshalb keine Sekundarstufe einrichten. Folglich musste geklärt werden, wo die Schüler*innen der ersten Abgangsklasse ab September 2016 ihre Bildungslaufbahn fortsetzen können. Es zeigte sich, dass von den 17 Jugendlichen acht in eine Secondary School wechselten, die näher zu ihrem jeweiligen Wohnort liegt, und die anderen eines der „afrizentrischen“ Sekundarschulprogramme nutzen, die der TDSB zum Schuljahr 2016/17 aufgelegt hat. Diese vertreten eher einen „curriculare Ansatz“, knüpfen also die Afrocentricity vor allem an die Unterrichtsinhalte.   

AFRICENTRIC SECONDARY PROGRAMS

Grade 9 and 10 students from across the city can now be part of a new Africentric Secondary Program offered at Winston Churchill College in the east and Downsview Secondary School in the west. These programs include an Africentric approach to learning that is embedded in core grade 9 and 10 courses. The curriculum draws on African-centered sources of knowledge and perspectives to create a rich and diverse educational experience that builds an environment of high academic achievement, increased student engagement and enriched cultural pride for all students. The program is open to all students interested in taking grade 9 and 10 courses with this focus.

One Africentric Secondary Program is located within Winston Churchill College in the city's east end. All grade 9 compulsory courses (English, Science, Geography, Math and Core French) and select grade 10 courses are offered with an Africentric focus and taught at an academic level.

Students in Downsview Secondary School's Africentric Program can take four grade 9 compulsory courses (English, Math and Geography) or grade 10 courses with an Africentric focus. Located in the west end of Toronto, Downsview Secondary School is a vibrant and dynamic school that offers a variety of academic programs and extracurricular activities for students.

(www.tdsb.on.ca/AboutUs/Innovation/HighSchoolSpecializedPrograms/AfricentricSecondaryPrograms.aspx)

Es ist offensichtlich, dass an der Africentric School dieselben schulpädagogischen Fragen verhandelt werden, die auch in den First Nations Schools geklärt werden müssen: Wie geht man im Schulsystem mit einer Geschichte um, die durch Kolonialismus und kulturelle Gewalt belastet ist? Wie lässt sich vermeiden, dass sich gesellschaftlicher Rassismus und alltägliche Diskriminierung in pädagogischen Settings reproduzieren? Wie können ethnisierte Bildungsbenachteiligungen ausgeglichen werden? Was lässt sich den machtvollen kulturellen Assimilierungstendenzen der Schule entgegensetzen? Wie lange sind separierende schulische Settings förderlich? Sind sie es immer? Und wie geht es danach weiter? Mich hat in der Schule beeindruckt, wie engagiert, ergebnisoffen und doch präzise dort solche Fragen diskutiert werden. Ob einem das Konzept nun gefällt oder nicht: die Kinder und Jugendlichen bringen gute Leistungen, sie fühlen sich wohl in der Schule, die Eltern beteiligen sich rege und das Kollegium ringt um das Schulprogramm – weshalb soll man so eine Schule wieder schließen?

6. Vielfältige Konzepte und hegemoniale Strukturen

Es wurden ausschnitthaft die Schulsysteme der drei kanadischen Provinzen British Columbia, Ontario und Québec beschrieben, deren gemeinsames Merkmal es ist, dass jeweils ein recht breites Angebot von konzeptionell differenzierten Schulen zur Verfügung steht. Die relative Vielfalt von Schulkonzepten und die Zulassung von „separierten Schulen“ hat in ganz Kanada eine historische Tradition: Bereits im 19. Jahrhundert forderten religiöse Minderheiten, vor allem Mennoniten und Amish, eigene Schulen, die in fast allen Provinzen genehmigt wurden (Pellerin 1982, S. 18ff.). Lediglich die Schulgesetzgebung von New Brunswick verbot separierte Schulen (ebd., S. 21), im „gelobten Land der Inklusion“ bestand man schon damals auf ausnahmslose Pflichtintegration aller Kinder in die unter staatlicher Aufsicht stehenden Public Schools. In den Schulen für kulturelle und ethnische Minderheiten setzt sich heutzutage, wie gezeigt, die bildungspolitische Tradition fort, unterdrückten oder marginalisierten Gruppen eigene Schulen („self-controlled“) zuzugestehen: Den First Nations als gesellschaftlicher Akt der Wiedergutmachung historisch gewaltsamer Assimilation, den Afrocanadians als öffentliches Eingeständnis, dass sie besonders hart von strukturellem, gesellschaftlichem und alltäglichem Rassismus betroffen sind.

Spezielle Schulen gibt es in Kanada traditionell ebenso für behinderte oder sozial ausgegrenzte Kinder und Jugendliche. Für die erste Gruppe wird offensichtlich in New Brunswick ein Ansatz radikaler Inklusion umgesetzt, in den hier beschriebenen drei Provinzen verfolgt man hingegen – wie meiner Information nach auch im übrigen Land – den gemäßigten Ansatz, dort wo und solange es möglich ist, die Schüler*innen mit einer Behinderung in inklusiven Settings zu halten, die Sonderbeschulung somit einzuschränken, sie aber nicht gänzlich aufzulösen. Bei sozialer Benachteiligung werden hingegen für Jugendliche ab Klassenstufe sieben und acht die „Alternat(iv)e Schools“ priorisiert, die mit lebenslagenorientierten Ansätzen und flankierender sozialer Unterstützung versuchen, die Erfüllung der Schulpflicht zu sichern.

Schließlich gibt es eine bunte Vielfalt an Privatschulen mit reformpädagogischen Profilen (weitverbreitet sind Waldorf- und Montessori-Schulen), mit konfessionellen, vor allem katholisch und anglikanisch akzentuierten Schulkonzepten oder mit einer zielgruppenorientierten Ausrichtung (lernbeeinträchtigte oder hochbegabte Kinder etc.). Meines Erachtens versucht man in der lokalen Community oder in der urbanen Neighbourhood, aus all diesen verschiedenen Schulformen und Schulprojekten eine gut vernetzte Bildungslandschaft zu gestalten, sodass möglichst alle Kinder und Jugendlichen für sich passende Lernsettings finden können. Es wäre genauer zu überprüfen, ob der Erfolg Kanadas bei PISA wie oft behauptet wird, allein aus der pädagogischen Qualität der einzelnen Schule erklärt werden kann, oder ob er nicht viel eher in der Qualität dieser sozialräumlich ausdifferenzierten und mit sozialer Arbeit verknüpften lokalen Angebotsstruktur liegt. 

Betrachtet man die Organisation der Schulsysteme in den drei Provinzen aus Sicht der sozial, ethnisch oder kulturell benachteiligten und der behinderten Schüler*innen, so durchlaufen diese jungen Leute eine gestufte Struktur, die sich idealtypisch so beschreiben lässt: Die Kinder beginnen ihre Bildungslaufbahn entweder in einer inklusiven oder in einer separierten Elementary School, die acht Klassenstufen umfasst. Im Übergang in die Secondary School (Klasse 8/9 bis 12) müssen etliche die inklusiven Settings verlassen und machen in einer Alternat(iv)e School weiter. Jugendliche aus den First Nations Schools können teilweise im indigenen Teilsystem bleiben, viele werden aber, wie auch in der Africentric School, in reguläre Public Secondary Schools wechseln, die manchmal, aber nicht immer die kulturell und sprachlich spezifizierten Konzepte fortsetzen. Schüler*innen aus den Sonderschulen versucht man zumindest vereinzelt, beispielsweise mit so genannten „Satelliten Klassen“, in die Sekundarstufen der Public Schools zu integrieren.

Für alle Wege gilt indes, dass sie darauf ausgerichtet sind, die Kinder und Jugendlichen auf die Highschools und dort auf die Universitäten vorzubereiten. Dies ist gleichsam das alleinige Ziel des allgemeinbildenden Schulsystems in Kanada. Auch „Alt Schools“, First Nations oder Africentric Schools, Satellitenklassen, Headstart- und At-Risk-Programme, Übergangsprojekte, Immersion- und Submersionsansätze und selbst Special Needs Education sind ganz überwiegend auf dieses Ziel hin orientiert. Diejenigen Jugendlichen, die es nicht an die Highschool schaffen oder vorzeitig die Secondary School verlassen haben, finden hingegen kaum mehr Bildungsangebote zum nachträglichen Erwerb wenigstens des untersten Abschlusses, und es gibt nur wenige Möglichkeiten, über ein vorberufliches Training, eine qualifizierte berufliche Ausbildung oder eine andere Form der Übergangssicherung gesellschaftliche Teilhabe zu erlangen. So gut wie alle Angebote der öffentlichen Beschulung sind an der Leitkultur einer höheren Allgemeinbildung ausgerichtet – für manche ältere Kinder und insbesondere für Jugendliche und junge Erwachsene kann dies in Kanada bittere Konsequenzen haben.

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[1] In einem Amtssprachengesetz ist die offizielle Zweisprachigkeit (Englisch und Französisch) für das ganze Land festgeschrieben, nur in Québec ist Französisch die einzige Amtssprache. In den Nordwest Territories sind neben den beiden europäischen Sprachen außerdem sechs Sprachen der First Nations offiziell anerkannt, und in der Provinz Nunavut sind zwei Inuit-Sprachen als regionale Amtssprachen bestimmt.

[2] In folgenden Städten habe ich mich genauer umgesehen: Burnaby, Duncan, Golden, Vancouver und Victoria in British Columbia; Calgary (Alberta); Montréal/Montreal und Ville de Québec in der Provinz Québec; Ottawa, Kingston und Toronto in Ontario.

[3] Während in British Columbia von „Alternate School Programs“ gesprochen wird, werden solche Bildungseinrichtungen in Québec und auch in Ontario (vgl. Kapitel 5) „Alternative Schools“ genannt.


[4] In der Laudatio werden sieben Aspekte hervorgehoben: (1) Entwicklung eines Leitbilds für Teilhabe und Chancengleichheit, (2) Verantwortungsübernahme durch Führungskräfte (der TDSB sei die einzige regionale Schulbehörde in Kanada, die einen hohen Beamten für Equity-Angelegenheiten eingesetzt habe), (3) Faire Ressourcensteuerung durch den „Learning Opportunity Index“, (4) Integrative Lernkultur und individuelle Förderung, (5) Regionale Unterstützungssysteme für Schulen und Lehrkräfte, (6) Öffnung der Schulen für die Community, insbesondere Einbindung der Eltern, (7) Innovative Maßnahmen für Problemgruppen (Bertelsmann-Stiftung 2008).

[5] Im Schuldistrikt Toronto wird zurzeit die sonderpädagogische Förderung in der Elementary und Secondary School in drei Formen organisiert (TDSB 2015): Nach der behördlichen Feststellung des Förderbedarfs belegen  die Schüler*innen (1) zusätzlich ein „non-credit bearing assignment“, also ein nicht noten-relevantes Unterrichtsfach, in dem vor allem Lernstrategien vermittelt werden (Methods and Resource Support). Andere Kinder und Jugendliche werden (2) in der Hälfte der Unterrichtszeit von sonderpädagogischen Lehrkräften in besonders kleinen Gruppen in jahrgangsübergreifenden Spezialklassen gefördert (Home School Program). Außerdem können an den Regelschulen bei Bedarf (3) „Special Education Classes“ (SEC) in zwei Varianten eingerichtet werden: (3a) Die Schüler*innen werden ausschließlich in den Sonderklassen unterrichtet („SEC Full Time“) oder (3b) sie sind eine Stunde am Tag in ihrer Stammklasse („SEC with Partial Integration“).