Vera Moser: Braucht die Inklusionspädagogik einen Behinderungsbegriff?

Abstract: Mit der Entwicklung inklusiver Schulen werden im Kontext der Ressourcenfrage Finanzierungsmodelle entwickelt, die auch auf Dekategorisierungen abzielen. Den hier befürchteten Qualitäts- und Ressourcenverlusten lassen sich – so der Vorschlag dieses Beitrages – über systembezogene  Qualitätsindikatoren von Inklusion gegensteuern.

Stichworte: Dekategorisierung, Behinderung, Indikatoren für Inklusion

Inhaltsverzeichnis

  1. Das Phänomen der Etikettierung
  2. Zur Frage der Dekategorisierung im Förderbedarf Lernen
  3. Qualitätsindikatoren für Inklusion
  4. Literatur

 

1. Das Phänomen der Etikettierung

„Inklusive Pädagogik bezeichnet Theorien zur Bildung, Erziehung und Entwicklung, die Etikettierungen und Klassifizierungen ablehnen, ihren Ausgang von den Rechten vulnerabler und marginalisierter Menschen nehmen, für deren Partizipation in allen Lebensbereichen plädieren und auf strukturelle Veränderungen der regulären Institutionen zielen, um der Verschiedenheit der Voraussetzungen und Bedürfnisse aller Nutzer/innen gerecht zu werden.“ (Biewer 2009, 193)
Orientiert man sich an dieser Definition, so ist die Frage eigentlich schon beantwortet – Etikettierungen bzw. Kategorisierungen sind in inklusiven Settings verzichtbar, weil die Verschiedenheit der ‚Nutzer/innen‘ bereits die Voraussetzung inklusiver Beschulung darstellt und damit die Feststellung von Verschiedenheit oder gar besonderer Verschiedenheit tautologisch wäre. Zudem reproduzieren Etikettierungen schlicht soziale Differenzierungen, die, wie Winkler es einmal beschrieben hat, in der sozialen Kommunikation zu körperlich eingeschriebenen Identitätsmerkmalen generieren:
„In modernen Gesellschaften werden Begriffe, die zunächst zur Beschreibung von Sachverhalten entwickelt wurden, zuweilen sogar – wie im Fall der Pädagogik – zu normativen Entwürfen hin changieren, als Reflexionsbegriffe in die soziale Kommunikation und Interaktion eingebaut. Dies ist nicht unproblematisch. (…) Sie rücken den Subjekten gleichsam auf den Leib“ (Winkler 1999, 274).
Und dies bleibt auch mit Blick auf Fragen der Chancengerechtigkeit nicht folgenlos: “It is everywhere a short road from getting named to getting explained, blamed and gamed.“ (McDermott/Edgar/Scarloss 2011, 225)
Die Feststellung von Behinderung im Sinne der Feststellung sonderpädagogischer Förderbedarfe ist aber auch aus empirischer Sicht problematisch, weil offensichtlich regional, und zum Teil sogar von Fall zu Fall unterschiedliche Konzepte von Sonderpädagogischem Förderbedarf in Anschlag gebracht werden, unterschiedliche diagnostische Verfahren Verwendung finden und auch unterschiedliche Motive der diagnostizierenden Personen eine Rolle spielen (vgl. z.B. Reiser/Loeken/Dlugosch 1998, Gomolla/Radkte 2002, Kottmann 2006). So geben Lehrerkräfte z.B. überhäufig Gründe, die im Bereich des familiären und sozialen Umfeldes des Kindes zu suchen sind, für die Einleitung von Überprüfungsverfahren an; die Feststellung sonderpädagogischer Förderbedarfe im Bereich Lernen korreliert dabei auch nicht zwingend mit Intelligenzwerten (vgl. Lehmann/Hoffmann 2009) und über 90% der eingeleiteten Überprüfungsverfahren führen zur tatsächlichen Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs, sind also nicht ergebnisoffen, sondern sind dominiert durch Systemeffekte (Kottmann 2006). Diese Befunde können die höchst unterschiedlichen Quoten von Förderbedarfen nicht nur im Vergleich der Bundesländer, sondern auch innerhalb von Schulbezirken und Kommunen (vgl. z.B. Berliner Senatsverwaltung 2011, Klemm 2009), und im internationalen Vergleich aufklären (im Schuljahr 2008/09 variiert die Förderquote in Europa zwischen 24,5 % (Island) und 1,5 % (Schweden), vgl. European Agency 2010). So ist Klaus Klemm zusammenfassend zuzustimmen, „dass die Differenzen nicht in unterschiedlichen Leistungsfähigkeiten der Schülerinnen und Schüler, sondern in verschiedenen Maßstäben der Lehrerinnen und Lehrer bei der Diagnose von Förderbedarf begründet sind.“ (Klemm 2010, 17) „Die Diagnose eines sonderpädagogischen Förderbedarfs erfolgt in Deutschland von Land zu Land ganz offensichtlich auf der Grundlage unvergleichlicher Kriterien und Verfahren“ (ebd., 29).

2. Zur Frage der Dekategorisierung im Förderbedarf Lernen

Betrachtet man nun genauer den Förderschwerpunkt Lernen, dann besteht hier nicht nur das Problem, dass diese Kinder, wie schon 1864  Stötzner wusste, überhäufig aus belasteten sozialen Milieus stammen (diese These wurde spätestens 1968 wieder von Begemann aufgenommen und seither auch empirisch belegt), sondern dass auch deren Abgrenzung zu den seit der PISA 2000-Erhebung festgestellten Gruppe von ‚Risikoschülerinnen‘, die nur über basale Kompetenzen im Bereich Lesen, Mathematik und den Naturwissenschaften verfügt und die zwischen 20 und 25 % der Gleichaltrigen rangiert (ohne Berücksichtigung der Schüler/innen mit Sonderpädagogischem Förderbedarf), nunmehr wenig überzeugend ist. Dabei ist nicht zu übersehen, dass schwache Schulleistungen auch nach wie vor eng mit sozialer Herkunft korrelieren, denn: „Fast jedes dritte Kind unter 18 Jahren wächst in sozialen, finanziellen oder/und kulturellen Risikolebenslagen auf: Im Jahr 2008 lebten insgesamt gut 29% der 13,6 Millionen Kinder unter 18 Jahren in mindestens einer Risikolebenslage. Darunter waren 1,1 Millionen Kinder, die bei Alleinerziehenden lebten, womit in dieser Lebensform fast jedes zweite Kind von einer Risikolebenslage betroffen ist. In Familien mit Migrationshintergrund sind es 1,7 Millionen Kinder (42%). Seit 2000 nahezu gleichbleibend sind 3,5% Kinder – mit deutlichen Unterschieden zwischen den Ländern – von allen drei Risikolagen gleichzeitig betroffen. Es ist zu befürchten, dass diese Kinder und Jugendlichen insgesamt ungünstigere Bildungschancen haben.“ (Bildungsbericht 2010, 6)
Für diese Problemlage der stabilen Gruppe sogenannter Underachiever merkte jüngst der PISA-Forscher Manfred Prenzel an, dass die derzeitigen Schulreformen als unzureichend anzusehen seien (Berliner Tagesspiegel 18.1.2012). Insofern ist die Forderung nach inklusiver Beschulung in einem viel breiteren Kontext als nur der Frage nach der regulären Beschulung von Schüler/innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf anzusiedeln, denn Inklusion erfordert strukturelle Veränderungen der regulären Institutionen und ist keinesfalls ein additives Modell im Sinne eines Regelschulbetrieb plus sonderpädagogischer Förderung, die auf der Grundlage von Etiketten als ‚Service-‘ oder ‚Entlastungsleistung‘ hinzugekauft werden kann. Inklusion ist damit auch kein Sonderrecht oder Sondertatbestand, sondern streng assoziiert mit Fragen der Bildungsgerechtigkeit (vgl. z.B. Prengel 2012). Eine besondere Fokussierung von Förderung kann daher auch nicht mehr an Individuen allein festgemacht werden, sondern an einem Risiko, aus dem Erziehungssystem herauszufallen (vgl. Moser i.Dr. und Moser 2010). Dieses Risiko ist auf mindestens vier Ebenen anzusiedeln: a) der sozialisatorischen Herkunft, b) dem Unterricht, c) dem System ‚Schule‘ sowie d) individuellen Faktoren wie Gesundheit, Entwicklung und Kompetenzen. Erst in diesem Geflecht von Einflüssen lassen sich Risiken identifizieren und bearbeiten, die nicht in einem einzigen Etikett aufgehen. Insofern wird auch Inklusive Pädagogik die in der UN-Behindertenrechtskonvention benannten ‚angemessenen Vorkehrungen‘ nicht eindimensional bestimmen. Vielmehr geht es hier darum, Systeme anzupassen und für alle zugänglich zu machen. Mit einer solchen systemischen Perspektive auf Risiken statt auf individuelle Faktoren „hätte man das Phänomen ‚Behinderung‘ nicht nur immanent gesellschaftlich gewendet und damit seines immer noch mitschwingenden vor-sozialen materiellen bzw. anthropologischen Kerns beraubt, sondern auch das Problem der Verstetigung von Behinderung durch eine ubiquitäre und nicht an konkrete Einzelne adressierte Präsenz des Risikos aufgelöst.“ (Moser 2009, 298)

3. Qualitätsindikatoren für Inklusion

Beobachtet man die gegenwärtige politische Landschaft dann zeigt sich, dass mit der anvisierten Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in den Bundesländern in der Tat auch eine Dekategorisierung in den Förderbereichen Lernen, emotional-soziale Entwicklung und Sprache im Bereich der Grundschule angestrebt wird (so beispielsweise in den Bundesländern Hamburg, Berlin, Bremen, Brandenburg und Hessen, vgl. Latham/Watkins 2011). Insbesondere diese Förderbereiche gelten als überhäufig, so dass sie von ‚regulären‘ Lern- und Entwicklungsschwierigkeiten kaum unterscheidbar sind. Zwei miteinander verknüpfte Probleme werden in diesem Kontext allerdings derzeit diskutiert: Verschwindet damit eine ausreichende sonder- bzw. inklusionspädagogische Expertise? Und: Verschwinden damit Ressourcen? In der Tat bieten derzeitige Beobachtungen Grund dafür anzunehmen, dass Inklusive Konzepte, die mit Dekategorisierungsstrategien in den Bereichen Lernen, Emotional-soziale Entwicklung und Sprache arbeiten, Ressourcen verlieren: Dies zeigt sich z.B. daran, dass Deckelungen von sonderpädagogischen Stunden vorab festliegen und diese auch für die Phase der Umsteuerung von zwei Systemen nicht systematisch erhöht werden. Wenn man aber anerkennt, dass nur etwa 80% der Schüler/innen ohne zusätzliche Förderung auskommen, wie u.a. die Forschungen zur curriculumsbasierten Diagnostik zeigen (vgl. National Center on Response to Intervention 2010), dann geht ein solcher Prozess nur mit der Unterstützung durch zusätzliche Expertise einher. Hierzu bedarf es allerdings klarer Finanzierungsmodelle, die auch ausreichend Flexibilität zur Nachsteuerung zulassen (vgl. Katzenbach/Schnell 2012). Zudem muss diese Ausstattung an klar definierte Qualitätskriterien von Inklusion gebunden sein, die hierzulande noch wenig entwickelt sind (Moser 2012).
Systembezogene Indikatoren für Inklusion sind damit aber eine Antwort auf die Frage nach der Tradition der individuellen Etikettierung zur Generierung von Ressourcen und zur Bestimmung von Qualität von Schule. Dabei müssen solche Indikatoren bildungspolitisch benannt, aber von den Schulen auch individuell füllbar sein, um situationsspezifische Qualitätskriterien mit hervorbringen zu können (vgl. auch Katzenbach 2012, Atkinsons/Marlier 2010). Indikatoren sind als Qualitätssicherungsinstrumente – und zur Rechenschaftslegung – inzwischen unverzichtbar geworden, denn nur „what gets measured gets done“ (Ainscow/Miles 2009, 3). Als Beispiele können hier die Aargauer Bewertungsraster (Schulevaluation Aargau 2008, 2009), der Index für Inklusion oder die Quality Indicators for Effective Inclusive Education (New Jersey Council on Developmental Disabilties o.J.) genannt sein, die die folgenden Bereiche abdecken (vgl. auch Moser 2012):

 

4. Literatur

Ainscow, Mel/Miles, Susie (2009): Developing inclusive education systems how can we move policies forward?.
http://www.ibe.unesco.org/fileadmin/user_upload/COPs/News_documents/2009/0907BeirutDevelopingInclusive_Education_Systems.pdf

Atkinsons, Anthony B./Marlier, Eric (2010): Analysing and Measuring Social Inclusion in a Global Context, New York: United Nations Publications

Autorengruppe Bildungsberichterstattung der KMK (2010): Bildung in Deutschland, Berlin: Kultusministerkonferenz

Begemann, Ernst (1968): Die Bildungsfähigkeit der Hilfsschüler. Sozio-kulturelle Benachteiligung und unterrichtliche Förderung, Berlin: Marhold

Berliner Senatsverwaltung (2011): Gesamtkonzept „Inklusive Schule".
http://www.berlin.de/imperia/md/content/senbildung/foerderung/sonderpaedagogische_foerderung/gesamtkonzept_inklusion.pdf?start&ts=1296483030&file=gesamtkonzept_inklusion.pdf

Berliner Tagesspiegel (18.01.2012): Risiko Schule: Pisa-Chef Manfred Prenzel: „Die Zahl der Leistungsschwachen wird nicht sinken.“

Boban, Ines/Hinz, Andreas (2003): Index für Inklusion. Lernen und Teilhabe in der Schule der Vielfalt entwickeln.
http://www.eenet. org.uk/resources/docs/Index%20German.pdf

European Agency for the Development of Special Needs Education (2010): Special Needs Education Country Data 2010.
http://www.european-agency.org/publications/ereports/special-needseducation-country-data-2010/SNE-Country-Data-2010.pdf

Gomolla, Mechthild/Radtke, Frank-Olaf (2002, 2. Aufl.): Institutionelle Diskriminierung. Opladen: Leske + Budrich

Katzenbach, Dieter/Schnell, Irmtraud (2012): Strukturelle Voraussetzungen inklusiver Bildung. In: Moser, Vera (Hrsg.), Die inklusive Schule. Standards ihrer Umsetzung. Stuttgart: Kohlhammer, S. 21-39

Klemm, Klaus (2009): Sonderweg Förderschulen: Hoher Einsatz, wenig Perspektiven, Gütersloh: Bertelsmann
http://www.bertelsmann-stiftung.de/bst/de/media/xcms_bst_dms_29959_29960_2.pdf

Klemm, Klaus (2010): Gemeinsam lernen. Inklusion leben, Gütersloh: Bertelsmann
http://www.bertelsmannstiftung.de/bst/de/media/xcms_bst_dms_32811_32812_2.pdf

Kottmann, Brigitte (2006): Selektion in die Sonderschule, Bad Heilbrunn: Klinkhardt

Latham & Watkins (2011): Synopse Regelungen zur sonderpädagogischen Förderung in den Bundesländern, Frankfurt am Main: Gemeinsam Leben
http://www.gemeinsamleben-gemeinsamlernen.de/themen/inklusive-bildung/70-regelungenzur-sonderpaedagogischen-foerderung-in-deutschland

Lehmann, Rainer/Hoffmann, Ellen (2009): BELLA. Berliner Erhebung arbeitsrelevanter Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf ‚Lernen‘, Münster:Waxmann

McDermott, Ray/Edgar, Brian/Scarloss, Beth (2011): Conclusion: Global Norming. In:Artiles, Alfredo J.; Kozleski, Elizabeth B. & Waitoller, Fedrico R. (Eds.), Inclusive Education. Examining Equity on Five Continents. Cambridge: Harvard Education Press, pp. 223-235

Moser, Vera (i.Dr.): Inklusion: Programmatik vs. Systemtheorie. In: Ackermann, Karl-Ernst; Musenberg, Oliver & Riegert, Judith (Hrsg.), Geistigbehindertenpädagogik!? Disziplin – Profession – Inklusion. Oberhausen: Athena

Moser, Vera (2010): Behinderung oder Risiko? Ein Beitrag zum sonderpädagogischen Selbstverständnis. In: Schildmann, Ulrike (Hrsg.), Umgang mit Verschiedenheit in der Lebensspanne. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 298-306

National Center on Response to Intervention (2010): Essential Components of RTI – A Close Look at Response to Intervention, Washington: National Center on Response to Intervention

New Jersey Council on Developmental Disabilties (o.J.): Quality Indicators for Effectiv Inclusive Education Guidebook.
http://njcie.net/pdf/tools/quality-indicators-for-inclusiveeducation-manual.pdf

Prengel, Annedore (2012): Kann Inklusive Pädagogik die Sehnsucht nach Gerechtigkeit erfüllen? – Paradoxien eines demokratischen Bildungssystems. In: Seitz, Simone; Finnern, Nina-Kathrin; Korff, Natascha & Scheidt, Katja (Hrsg.), Inklusiv gleich gerecht? Inklusion und Bildungsgerechtigkeit. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 16-31

Reiser, Helmut/Loeken, Hiltrud/Dlugosch, Andrea (1998): Aktuelle Grenzen der Integrationsfähigkeit von Grundschulen. Ergebnisse einer empirischen Studie. In: Hildeschmidt, Anne & Schnell, Irmtraud (Hrsg.), Integrationspädagogik. Auf dem Weg zu einer Schule für alle. Weinheim: Juventa, S. 145-159

Schulevaluation Aargau (2008a): Bewertungsraster zur Schulführung an der Aargauer Volksschule.
http://www.schulevaluationag.ch/myUploadData/files/09_BR_Schulfuehrung_Bro_2A.pdf

Schulevaluation Aargau (2008b): Bewertungsraster zu den schulischen Integrationsprozessen an der Aargauer Volksschule.
http://www.schulenaargau.ch/kanton/Dokumente_offen/bewertungsraster%20schulische%20integrationsprozess.pdf

Winkler, Michael (1999): Reflexive Pädagogik. In: Sünker, Heinz & Krüger, Heinz-Hermann (Hrsg.), Kritische Erziehungswissenschaft am Neubeginn?! Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 270-300