Hans Karl Peterlini:Die Normalisierung des Anders-Seins Phänomenologische Unterrichtsvignetten und Reflexionen zur gelebten Inklusion im italienischen Schulsystem am Beispiel von Südtiroler Schulen

Abstract: Während Schulpolitik, Schuldirektionen, Lehrkräfte und auch Eltern in vielen europäischen Ländern durch die UN-Behindertenrechtskonvention vor die Notwendigkeit eines Perspektivenwechsels gestellt sind, kann das italienische Schulsystem auf eine rund 40-jährige Erfahrung mit einer integrativen und im Ansatz auch schon inklusiven Einheitsschule im Pflichtschulbereich zurückgreifen. Dies ermöglicht eine kritische Analyse der Grenzen und noch ungenutzten Potenziale für inklusive Strategien. Der vorliegende Beitrag versucht, die Diskurse um nötige und mögliche Weiterentwicklungen mit phänomenologischen Einblicken in die gelebte Inklusion an Südtiroler Schulen zu verbinden. Mit „Vignetten“ (Schratz, Schwarz, Westfall-Greiter, 2012; Baur, Peterlini H. K,: 2016) werden exemplarisch Momente von Einschluss und Ausschluss im Unterrichtsgeschehen eingefangen und zur Reflexion angeboten. Phänomenologische Wahrnehmung wird als eine Forschungsperspektive vorgestellt, die anstelle normativer Setzungen die Normalität konkreter Lebenswirklichkeit als Ausgangspunkt nimmt und durch diese Anerkennung des Gegebenen zu Normalisierungsvollzügen beiträgt.

Stichworte: Inklusive Schule; Integrationslehrkräfte; Exklusionsdynamiken; Modell Südtirol/Italien

Inhaltsverzeichnis
  1. Einleitung: Die Südtiroler Schule in Italien als Forschungslabor für Inklusionserfahrungen
  2. Phänomenologische Empirie: Verdichtete Erfahrungsmomente gelebter Inklusion und Exklusion
  3. Weiterführende Überlegungen: Vignetten als Orientierungshilfe
  4. Literatur

1. Einleitung: Die Südtiroler Schule in Italien als Forschungslabor für Inklusionserfahrungen

Ein auch nur flüchtiger Blick in jüngere Publikationen und Thematisierungen von Inklusion als unumgänglich gewordene pädagogische Herausforderung zeigt ein spannungsreiches Oszillieren zwischen normativem Anspruch und praxisbezogener Verunsicherung. Die UN-Behindertenrechtskonvention 2006, von der EU 2007 unterzeichnet und sukzessive von vielen europäischen Staaten ratifiziert, hat mit dem institutionellen Handlungsbedarf die pädagogische und didaktische Reflexion über Integration und Inklusion an- und teilweise auch aufgeregt. Dies betrifft nicht nur jene Staaten, die – wie Österreich und Deutschland – aufgrund ihres Sonderschulwesens die Umstellung von der Sonderbeschulung hin zu einer inklusiven Schule vollbringen müssen, sondern interessanterweise auch Italien, das aufgrund seiner rund 40-jährigen Tradition in einer nicht-aussondernden Erziehung zusammen mit den skandinavischen Ländern als „Modell“ gilt (vgl. Erdsiek-Rave, 2010, S. 39; Peterlini J., 2015, S. 90f.). So hat die UN-Behindertenrechtskonvention zum einen ebenfalls neue Reglementierungen der Schule auch in Italien mitbeeinflusst, siehe das Gesetzesdekret zur „guten Schule“ („la buona scuola“) von 2015 und den 2016 noch diskutierten Gesetzesvorschlag Nr. 2444 zur „Verbesserung der Qualität der schulischen Inklusion für Schüler/innen mit Beeinträchtigung und mit anderen besonderen erzieherischen Bedürfnissen“ (vgl. Ianes & Tomasi, 2015, S. 6). Dadurch wurde auch die fachliche Reflexion über Integration und Inklusion geschärft und für eine kritische Bestandsaufnahme genutzt (vgl. D’Alessio, 2011; Ianes & Demo, 2015; Ianes & Tomasi, 2015; Lascioli, 2011, 2012). Anders als in jenen Ländern, die den teilweise drastischen Schritt von sonderpädagogischen Einrichtungen zu einer inklusiven Schule vollbringen sollten, geht es in Italien um die weitere Ausgestaltung einer bereits erprobten Tradition. So hat das italienische System auch schon unter dem Rechtsterminus „Integration“ vieles von dem vorweggenommen, was erst in den 1990er Jahren in der theoretischen Reflexion, empirischen Erforschung und praxeologisch-curricularen Ausarbeitung als „inclusive education“ theoretisch vertieft und in den internationalen Diskurs aufgenommen wurde (vgl. Avramdis, Bayliss & Burden, 1999; Bayliss, 1997; Kunc, 1992). Ohne den Druck eines Beginns ex novo oder zumindest eines radikalen Wandels, wie er etwa in Österreich und Deutschland erforderlich ist, erlaubt sich die italienische Wissenschaftsgemeinschaft eine gewisse Unzufriedenheit in der Zufriedenheit. Die strukturelle Voraussetzung für eine einheitliche Schule „für alle“ ist in der Primarstufe durch die fünfjährige Grundschule und in der Sekundarstufe I (dreijährige Mittelschule) seit der Einführung der Einheitsmittelschule 1962 und der schrittweisen Abschaffung der Sonderschulen in den 1970er Jahren (bis auf wenige Ausnahmen) erfüllt, die Diversifizierung nach Schultypen beginnt erst in der Sekundarstufe II (Oberschule). Damit geht es nicht um die Frage, ob eine gemeinsame Schule für alle, unabhängig von Behinderung und Begabung, überhaupt möglich ist. Denn diese Schule gibt es schon. Wohl aber sind die neuen Bedingungen Anlass zur kritischen Überprüfung, ob es in dieser einheitlichen Schule auch tatsächlich Inklusion gibt, welche Schwierigkeiten sich darin zeigen, welche Exklusionsmechanismen auch oder gerade in einer inklusiven Schule herrschen, welche Anforderungen Heterogenität – nicht allein auf körperliche oder kognitive Beeinträchtigung bezogen – an Schule, Unterricht, soziales Umfeld und politische Praxis stellt, damit sie nicht nur als Problem medial und politisch hochgespielt wird, sondern als Lernressource genutzt werden kann.
Die Schule in Südtirol hat durch die Sonderautonomie des Landes Südtirol über die staatliche Gesetzgebung hinaus eigene Gestaltungsräume erhalten, die sich in der Umsetzung der italienischen Schulreformen bieten (vgl. Höllrigl/Meraner/Promberger 2005). Mit dem Landesgesetz zur „Autonomie der Schule“ aus dem Jahr 2000 wurde die schulische Integration noch einmal in Richtung inklusiver Schule weiterentwickelt (vgl. Peterlini J., 2015, S. 103). Neben der Regelung für Personen mit Behinderung und lernspezifischen Beeinträchtigungen ist darin die individuelle Förderung aller Schüler/innen verankert, unabhängig von einer möglichen Behinderung oder Lernstörung. Zugleich ist die Schule in Südtirol als mehrsprachigem Gebiet und mit einer nach Sprachgruppen getrennten Struktur (eine deutsche Schule mit Italienisch als Zweitsprachenfach, eine italienische Schule mit Deutsch als Zweitsprachenfach) vor zusätzliche Aufgaben für tatsächliche Inklusion von Kindern und Jugendlichen aus unterschiedlichen Sprachgruppen gestellt. Dies gestaltet sich durch die – in Italien und Südtirol – erst seit ca. einem Jahrzehnt relevanten Migrationsbewegungen noch einmal diffiziler. Neue soziale Ungleichheit, gesteigerte gesellschaftliche Komplexität und zusätzlich pluralisierte Ethnizität erlauben kein „Ausruhen auf dem legislativen Vorsprung […], weder für Südtirol noch für Italien“ (ebd., 104). Über die Integration von Kindern und Jugendlichen mit Funktionsdiagnosen und -beschreibungen hinaus wird eine konzeptuelle Öffnung der inklusiven Ansätze auch für all jene gefordert, „die von Bildungsmöglichkeiten aufgrund des Versagens der Institution Schule ausgeschlossen sind“ (Lascioli, 2011, S. 14). Dies verweist auf Überforderungssituationen in der schon bisher gelebten Inklusion und eine Einbeziehung auch anderer Differenzlinien neben der gesetzlich verankerten Unterscheidung zwischen Sonderschüler/innen (studenti speciali) und normalen Schüler/innen. Inklusion in einem erweiterten Verständnis ist auf heterogene Lerngruppen zu beziehen, ohne Heterogenität a priori definieren zu können. Dies zielt auf eine Normalisierung ab, die nicht –_ entsprechend der sozialwissenschaftlichen Normativitätskritik – die gegebene Vielfalt einer normativ als normal gesetzten Wunschgesellschaft anpasst (vgl. Foucault 1976, vgl. Sohn & Mehrtens 1999), sich aber auch nicht mit Förderungsmaßnahmen alleine zufriedengibt, um damit die durch Exklusions- und Diskriminierungspraktiken hervorgebrachten Benachteiligungen zu minimieren (vgl. Dietrich 2017, S. 125). Ein darüberhinausgehendes Verständnis von Normalisierung betrachtet – im Sinne eines Gleichheitsprinzips, „das alle Kinder als Gleiche“ annimmt (Prengel 2014, S. 50) – die gegebene und phänomenologisch sich zeigende Lebenswirklichkeit konkreter Menschen als Normalität, um von dieser Voraussetzung ausgehend – im Sinne einer differenzsensiblen Schule – dem jeweiligen Anderssein Raum und Aufmerksamkeit zu geben. Gleichheit und Differenz, als pädagogische Forderung und phänomenologisch wahrnehmbare Gegebenheit, bilden damit den Spannungsbogen ein und derselben Normalität, sofern Anderssein als konstitutiv für eine „inkludierende Normalität“ (Dietrich 2017, S. 125) verstanden wird.

2. Phänomenologische Empirie: Verdichtete Erfahrungsmomente gelebter Inklusion und Exklusion

Diesseits der normativen Vorgaben, vielfach aber jenseits didaktisch-pädagogischer Vorsätze findet Schule statt. Diese ist als soziales Feld (vgl. Bourdieu, 2001, S. 122f.) auch ein Raum, der von Machtbeziehungen durchwirkt ist (vgl. Foucault, 1976, S. 37ff.), die normativ verstandene Normalität ebenso als diskriminierende Ordnung hervorbringen wie auch herausfordern können. In diesem Raum werden Strukturierungen und Differenzierungen gesellschaftlicher Ordnungen präformiert und reproduziert, allein schon durch die institutionelle Rahmung, die Unterrichtsstruktur und Raumgestaltung, durch die Hierarchie Lehrkraft-Schüler/in oder etwa auch dadurch, dass mit Richtig-Falsch-Dichotomien im Umgang mit Wissensformen und Lehr-/Lernstoff eine Legitimation auch für soziale, kulturelle, geschlechterbezogene Dichotomien mit Richtig-Falsch-Einordnungen geschaffen wird. Den damit diskursiv begründeten Normalitätsvorstellungen und Normalisierungsansprüchen steht die konkrete Vielfalt von Lebenswirklichkeit entgegen.
Wie Schule damit umgehen kann, welche strukturellen Maßnahmen nötig sind, wie Lehrkräfte sich auf Vielfalt einlassen können, die nicht in normativ gesetzte Normalitätsvorstellungen passt, erfordert gerade im Blick auf Lernen eine paradigmatische Umkehrung – nicht Abweichungen im Lernverhalten haben sich in die Normalitätsvorstellungen einzupassen, sondern die Normalitätsvorstellungen müssen sich so weiten, dass die gegebene Wirklichkeit darin Äußerungs- und Gestaltungsraum findet. Dynamiken von Einschluss und Ausschluss, Konstituierungen von Ordnungen und Hierarchien, Mikroprozesse sozialen und individuellen Lernens lassen sich weder normativ noch didaktisch in den Griff bekommen, halten sich weder an Lehrprogramme noch an gesetzliche Richtlinien für Gleichheit und Differenzierung. Auf der Suche nach einem Lernbegriff, der dieses Geschehen „jenseits“ des Vorgegebenen, Angeleiteten und Erwarteten fassen möge, schlägt Schratz (2009) eine „lernseitige“ Perspektive vor (vgl. auch Schratz, Schwarz und Westfall-Greiter, 2012, S. 21-30). Dies bezieht sich auf ein Verständnis des Erziehungs- und Unterrichtsgeschehens, das „nicht von seinem Ende her, also aus der Maßgeblichkeit der postulierten Ziele, sondern vom Handeln als Sinnkonstituierungsvollzug her thematisiert“ wird (Meyer-Drawe, 1987, S. 71). Eine „lernseitige“ Perspektive bezieht somit Lehrende und Lernende ein und entzieht diese zugleich – im Sinne einer „Belehrbarkeit der Lehrenden durch die Lernenden“ (ebd.) – sicheren Hierarchisierungen. „Eine Perspektive ‚lernseits‘ von Unterricht orientiert sich konsequent an der Einzigartigkeit, d. h. an den Lernerfahrungen der Schülerinnen und Schüler.“ (Schratz 2012, S. 18) Dies bedingt und ermöglicht jene Weitung des Normalitätsverständnisses für die Wahrnehmung und Erfahrung von Differenz.
Was, wie, auf welche Weise gelernt wird, ja, was überhaupt unter Lernen verstanden wird, ist in einem solchen Lernverständnis nicht mehr nach vermeintlich sicheren Wissensbeständen und Vermittlungstechniken vorgegeben, sondern vollzieht sich „als Erfahrung“ (Meyer -Drawe 2003) von Lernenden und Lehrenden. Daraus ergeben sich grundlegende, aber durchaus produktive Problemstellungen für pädagogisches Denken und Handeln. Erfahrung, nach Waldenfels (2004, S. 66) auch als Widerfahrnis verstanden, ist nicht steuerbar, sondern vollzieht sich als pathisches Moment, das im Vollzug selbst nicht fassbar ist und erst nachgängig reflektiert werden kann. So ist Lernen (als Erfahrung) nicht nur nicht in dem Maße steuerbar, wie es einer didaktischen Machbarkeitsillusion entspräche, sondern auch der sicheren Messung und Bewertung entzogen. Dies wirft nicht nur für die Benotung als eine maßgebliche Kontrollpraxis schulischen Unterrichts grundlegende Fragen auf, sondern ebenso auch für die pädagogische Forschung und deren Erkenntnismöglichkeiten.
Wird lernseitiges Geschehen als Erfahrung verstanden, impliziert dies eine Forschungsperspektive, die Erfahrung nachzuvollziehen versucht. Nach Laing (1995, S. 12) ist Erfahrung zwar die einzige Evidenz, auf die menschliches Verstehen letztlich zurückgreifen kann, sie lässt sich aber im Unterschied zu Verhalten nicht beobachten. Dies verlangt nach einer existenziellen Anstrengung, ohne die Menschen füreinander in ihren Erfahrungen schlicht unsichtbar blieben: „Ich kann nicht anders – ich muss versuchen, deine Erfahrung zu verstehen. Denn wenn ich deine Erfahrung nicht erfahre, da sie unsichtbar (un-kostbar, unfaßbar, unriechbar, unhörbar) für mich ist, so erfahre ich dich doch als Erfahrenden“ (ebd.). Erst über diese Brücke, dass wir andere als Erfahrende miterfahren können, wird die Erfahrung anderer vielleicht nicht unbedingt dem Verstehen zugänglich, wie Laing es sich erhofft (siehe oben), wohl aber einem Nach- und Mitfühlen zugänglich. Was für Husserl (2007) die Notwendigkeit von Intersubjektivität konstituiert, eröffnet in einem sozialphänomenologischen Ansatz das Forschungsfeld der „Intererfahrung“ (Laing 1995, S. 11).
Wie Lernen als Erfahrung überhaupt erst in den Blick geraten kann, um an Schulpolitik, Schulleitung und Lehrkräfte zurückgespielt zu werden, war die leitende Fragestellung des Forschungsprojektes „Personale Bildungsprozesse in heterogenen Lerngruppen“ an der School of Education der Universität Innsbruck, das in der Folge auf weitere Projekte in Innsbruck, Südtirol-Italien (Deutsches Schulamt sowie Freie Universität Bozen, Fakultät für Bildungswissenschaften) und Klagenfurt (Alpen-Adria-Universität) ausgedehnt wurde (vgl. Schratz, Schwarz & Westfall-Greiter 2012, Agostini 2016a, Baur & Peterlini H.K. 2016, Peterlini H.K. 2016). Kernstück der österreichweit und in Südtirol an Schulen der Sekundarstufe 1 (Mittelschulen) durchgeführten Forschungen ist die Vignette. Es handelt sich bei Vignetten um dichte Beschreibungen, die ihre ursprüngliche Anlehnung an Geertz (2002) sowie an die „Anekdoten gelebter Erfahrung“ nach van Manen (1990; 2005: S. 1–8) zunehmend zugunsten einer eigenen, leibphänomenologisch orientierten Ausgestaltung hinter sich gelassen haben. Zur Wahrnehmung und Verschriftlichung der in den Vignetten „protokollierte[n] Erfahrungen“ (Schratz, Schwarz & Westfall-Greiter 2012: 36) achten die Forschenden dabei besonders „auf die Sprache des Leibes, auf die Verkörperung des Erfahrenen und Durchlebten“ (ebd.), als möglichst genaue Beschreibung, die sich der Deutung so weit wie möglich enthält: „Wir stellen dar, ohne zu deuten. Wir illustrieren und malen sprachliche Stimmungsbilder. Wir suchen nach Verben, die den Ton wiedergeben, in dem etwas gesagt wird, und den Klang, in dem es hörbar wird. [...] Wir zeichnen die Blickrichtungen nach, die zwischen einer Sache und einer Person hin- und hergehen, verhelfen den Bewegungen, die ein Kind im Raum macht, zu sprachlichem Ausdruck. [...] Wir prüfen die Wörter sorgfältig, die wir verwenden.“ (ebd., S. 37)
Die Forschungshaltung im Unterrichtsgeschehen ist durch das Bemühen um Nähe zum Kind gekennzeichnet. Diese Zuwendung zum lernseitigen Geschehen, die teilweise auch eine Abwendung von der Lehrseite bedeutet und sich eines evaluatorischen Blicks bewusst enthält, schafft jene Nähe und Offenheit, die im phänomenologischen Verständnis Affizierung ermöglicht. Nicht der kritische und distanzierte Blick auf das Kind, auf das Unterrichtsgeschehen, auf die Lehrkraft, auf die Lernergebnisse, sondern das Sich-Einlassen auf das, was geschieht und sich im Raum vollzieht, ermöglicht in diesem Forschungsparadigma jenes Miterfahren von Erfahrungen, das nach Laing (siehe oben) Voraussetzung für den Zugang zur Evidenz der Erfahrung darstellt. Schon Beekman (1987, S.16) hat auf der Grundlage seiner Arbeit mit Kindern anstelle von teilnehmender Beobachtung das Konzept einer teilnehmenden Erfahrung gesetzt, als eine „sich befremden lassende Grundhaltung“ (Stieve 2010, S. 27).
Die Betonung, dass es sich bei den Verdichtungen von Unterrichtsgeschehen in der Vignette – in einer Weiterentwicklung von Beekmans Begriff – um miterfahrene Erfahrungen handelt, verweist auf Zurückhaltung im Wahrheitsanspruch. Was die Schülerin, der Schüler in den zur prägnanten Erzählung (vgl. Meyer-Drawe 2012, S. 14) verdichteten Momenten wirklich erlebt, erfährt und lernt, liegt nicht im Erkenntnispotenzial der Vignette. Es ließe sich auch nicht durch nachträgliche Interviews mit Kindern, Lehrkräften und Eltern, wie es im Projekt auch versucht wurde, vollständig entschlüsseln. Das beobachtete und in der Vignette beschriebene Geschehen muss weder den Kindern selbst noch den Lehrkräften besonders aufgefallen und bewusst sein. Erfahrungen entziehen sich, auch wenn in statu nascendi miterfahren, diesem sicheren Zugriff (vgl. Meyer-Drawe 2003, S. 509). Allein schon der Umstand, dass den Forschenden das eine auffällt und das andere nicht, dass ein Geschehen also in die Aufmerksamkeit gelangt, das andere nicht (vgl. Waldenfels 2004, S. 67; vgl. Brinkmann 2012), bedingt eine Mit-Strukturierung des wahrgenommenen Geschehens durch die Forschenden.
Im Verschriftlichen der miterfahrenen Erfahrung im Medium der Sprache wird diese noch einmal verändert: „Was sich zeigt, deckt sich niemals völlig mit dem, was darüber zu sagen ist“ (Waldenfels 2004, S. 31). Als „sprachliche Verdichtung von bezeugten Unterrichtsabschnitten“ (Meyer-Drawe 2012, S. 13) ist die Vignette mit einem Problem behaftet, dem sie sich zugleich verdankt, nämlich „dass Sprache das Wahrgenommene immer bereits nach ihrem Muster verändert, dynamische Momente fixiert und das konkrete Handeln in seinen notierten Resultaten erstarren lässt“ (ebd.). Durch den Entstehungsprozess von der Affizierung und Wahrnehmung bis zur Verschriftlichung tragen die Vignetten sowohl Spuren der miterfahrenen Erfahrung auf als auch der Mitbetroffenheit der Forschenden. Der Erkenntnisprozess kann konsequenter Weise nicht auf Wahrheitsbegründung im dargestellten Einzelfall gerichtet sein, ergründet und behauptet nicht die „Wirklichkeit“ hinter dem in der Vignette verdichteten Geschehen, sondern versucht – durch die nachträglich entstehende und pluriperspektivisch mögliche Lektüre der Vignette – an diesem Geschehen zu lernen und Möglichkeiten des Verstehens auszufalten.

Zwischen Besonderung und Ermächtigung: Georg und die Freiarbeit

Anhand ausgewählter Vignetten aus der in Südtirol durchgeführten „Brixener Vignettenforschung“ sollen nun Momente miterfahrener Erfahrung für Reflexion und „Lektüre“ von Inklusion im Unterricht angeboten werden, die sowohl Potenziale als auch Grenzen einer inklusiven Grundausrichtung von Schule aufzeigen, wie sie in Italien und Südtirol seit Jahrzehnten gefestigt ist. Das Projekt wurde im Auftrag des Bereichs für Innovation und Beratung des Deutschen Schulamtes und in Zusammenarbeit mit der Freien Universität Bozen im Schuljahr 2012/2013 an 16 Mittelschulen jeweils in der 1. Klasse durchgeführt. Die Forschenden begaben sich drei Mal für je zwei aufeinanderfolgende Schultage in ein und dieselbe Klasse. Einen speziellen Fokus gab es nicht, sie ließen sich – im Sinne eines offenen Verständnisses dafür, wie unterschiedlich sich Lernen als Erfahrung zeigen kann – von dem affizieren, was ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Der Blick auf Momente von Inklusion und Exklusion wie auch auf andere Phänomene kann, gemäß dem Forschungsdesign des Projektes, erst im zweiten methodischen Schritt erfolgen, der reflexiven Lektüre (vgl. Meyer-Drawe 2010, S. 7; vgl. Agostini 2016b).
Dazu noch eine Vorbemerkung zum Schulsystem in Italien und damit ebenso in Südtirol: Der Umstand, dass alle Kinder und Jugendlichen (bis auf Fälle stationärer Betreuung und Pflege) ungeachtet etwaiger Funktionsdiagnosen oder -beschreibungen in gemeinsamen Klassen unterrichtet werden, hebt „Besonderung“ (Dausien & Mecheril, 2006, S. 166) nicht nur nicht auf, sondern erfordert sie geradezu. An die Stelle der Besonderung in einer sonderpädagogischen Einrichtung tritt die individuelle Förderung innerhalb der „Schule für alle“. Dies erfolgt – in Fällen, wo spezialisierte Unterstützung nötig ist, wie für Blinde, Sehbeeinträchtigte, Hörgeschädigte, körperlich Versehrte, psychisch Begleitungsbedürftige – durch entsprechend ausgebildete „Stützlehrkräfte“ bzw. „Integrationslehrkräfte“ (insegnanti di sostegno). Von der Präsenz eines Kindes mit einer solchen ärztlichen Funktionsdiagnose hängt es ab, ob eine Klasse eine Stützlehrkraft erhält. Für schulische Lernstörungen wie Dyslexie, Dysgraphie, Dysorthographie, Dyskalkulie, motorische Störungen, Sprech- und Sprachstörungen, Lernschwächen sind wohl individuelle Bildungspläne und Fördermaßnahmen, nicht aber explizit Stützlehrkräfte vorgesehen. Die Kritik an einem solchen Modell besteht darin, dass die Integrationsmaßnahmen dem Gesundheitsdienst und der tendenziell defizitorientierten ärztlichen Diagnostik überlassen werden, anstatt ressourcenorientierte pädagogisch-didaktische Einschätzungen einzubeziehen. Eine Folge ist, dass die Fördermaßnahmen und Integrationslehrkräfte ausschließlich an die zu Integrierenden adressiert sind, anstatt Inklusion als ein Konzept zu begreifen, das die gesamte Schul- und Klassengemeinschaft einbindet (Giani, 2015, S. 12). Daran hat sich in der italienischen Wissenschaftsgemeinschaft und Schulpolitik eine lebhafte Debatte entzündet, ob am Berufsbild der spezialisierten Integrationslehrkraft festgehalten und dieses möglichst weiter ausgebaut werden soll (Falabella, 2015, S. 16) oder ob es stattdessen eine inklusionssensible Ausbildung für alle Lehrkräfte geben müsste, mit Zusatzspezialisierungen für ganz bestimmte Erfordernisse (Ianes, 2015, S. 31). Gegen eine solche Neukonzeption wird eingewandt, dass für eine diffuse Inklusion aller den schwer Beeinträchtigten Mittel und spezifische Hilfe verloren gehen könnten (Nocena, 2015; S. 10). In den nachstehenden Reflexionen wird Inklusion nicht als Integration oder Förderung der als anders oder abweichend oder förderbedürftig ausgewiesener Kinder verstanden, sondern als ein Prozess innerhalb einer Gemeinschaft, in den alle einbezogen sind, in dem inklusive und exkludierende Momente jenseits von Diagnostik und Zielgruppe sich als Erfahrung von Einschluss und Ausschluss, von Zugehörigkeit und Ausgrenzung vollziehen.
Die Südtiroler Regelung umfasst neben der Förderung für Kinder und Jugendliche mit Funktionsdiagnosen und -beschreibungen bereits auch spezifische Lernstörungen und sieht, noch einmal weitergehend, individualisierte Maßnahmen für alle Schüler/innen vor. So ist auch die Zuweisung von Integrationslehrkräften im Falle besonderer Sprachproblematiken und hoher Dichte von Kindern aus Migrationsfamilien möglich.
Die nachstehende Vignette gibt einen Erfahrungsmoment von spezifischer Förderung im Unterricht wieder, sie kann durchaus unterschiedlich gelesen und verstanden werden.
„Frau Großgasteiger betritt die Klasse, verschränkt die Arme, wartet, bis es still ist, wartet weiter, schließlich sagt sie ‚guten Morgen‘. ‚Guten Morgen‘ antworten die Kinder. Frau Großgasteiger löst ihre Arme und sagt ‚setzen‘, die Kinder setzen sich. Wenige Minuten später kommt Frau Gartner in den Raum, die Kinder springen auf, grüßen und setzen sich. Georg sitzt ganz links im Raum am Fenster, er ist mit aufgestütztem Kopf zum Fenster gewandt, schaut aber nicht hinaus, sondern ins Leere irgendwohin links von der Tafel. Frau Großgasteiger beginnt aufzuzählen, wer mit Frau Gartner in einen anderen Raum geht, um in Freiarbeit zu rechnen. Georg setzt sich langsam gerade und holt sein Heft aus der Schultasche. Als sein Name nicht genannt wird und die Aufgerufenen sich anschicken zu gehen, schiebt er das Heft etwas von sich und greift in die Schultasche nach der Griffelschachtel, legt diese vor sich hin und legt die Hände drauf. Er gähnt. Etwas verzögert hält er sich die Hand vor den Mund, gähnt noch einmal mit weit aufgerissenem Mund hinter der vorgehaltenen Hand, lässt den Kopf auf die Bank sinken, richtet sich auf, dann nimmt er das Heft und geht zu Frau Großgasteiger hinaus. Er zeigt ihr die Hausaufgabe. Sie sagt, ‚gut, jetzt machst du weiter, ich komme dann und schaue nach‘. Georg geht auf den Platz zurück, beim Zurückgehen wird er von Günther gestupst, grinst und stupst zurück.“ (B2GS4)
Die Vignette verrät, im Sinne der phänomenologischen Zurückhaltung (Epoché, siehe Husserl, 1962, S. 260), wenig entschlüsselndes Kontextwissen. Ob Georg eine Funktionsbeschreibung hat oder sonstige Schwäche oder Besonderheit aufweist, lässt sich nicht erkennen. An den Vignetten von Anderegg (2013, 2014) über Kinder mit heilpädagogischem Bedarf in Schweizer Schulen ist aufgrund der kontextfreien Beschreibung von Lerngeschehen meist gar nicht ersichtlich, ob ein Kind eine Beeinträchtigung hat – das Lernen, das Mühen um Verstehen, das Resignieren oder das Beharren in der Lösungssuche, das Aufleuchten der Augen bei Aha-Momenten, unterscheidet die Kinder nicht.
An der obigen Vignette lässt sich zunächst die Disziplinarmacht einer Lehrkraft in der Schule erkennen, die hierarchisch bestimmt, wer zur Freiarbeit mit der zweiten Lehrkraft in einen anderen Raum geht. Georgs Abwesenheit am Beginn der Stunde lässt auf ein Ritual schließen, dem er sich schier passiv zu ergeben scheint. Ob er – wie bei Integrationsmaßnahmen häufig der Fall – in einen anderen Raum muss oder auf den Gang hinaus oder in der Klasse bleiben soll, wird ohne ihn entschieden. An seiner veränderten Haltung wird dann doch die Erwartungshaltung sichtbar, dass er aufgerufen wird. Als dies nicht der Fall ist, begibt er sich – gähnend – wieder in Warteposition. Dass er den Kopf auf die Bank sinken lässt, ließe auf Resignation schließen. Würde die Vignetten hier enden, ergäbe sich das triste Bild eines Kindes, das sich eine individuelle Förderung – zum freieren oder individuell geförderten Arbeiten – erwartet oder gar erhofft hatte und sich nun in das Schicksal des Nicht-Auserkorenen, letztlich Nicht-Besonderten ergibt. Dann aber holt sich Georg seine Aufmerksamkeit, indem er zur Lehrkraft geht. Im Stupsen beim Zurückgehen auf seinen Platz zeigen sich Signale der Ermächtigung und auf jeden Fall des Dazugehörens – wenn nicht zu jenen, die gehen durften/mussten, dann zu jenen, die geblieben sind.
Die Vignette zeigt in dieser Leseart, wie schwierig die Bewertung von Inklusion und Exklusion ist, wie schwer eine Beurteilung darüber fällt, ob Maßnahmen inklusiv oder exklusiv wirken. Und noch einmal schwerer fällt die Einschätzung, wie sich Kinder, Jugendliche, Erwachsene in der Auseinandersetzung mit Gegebenheiten zurechtfinden, welche konstitutiven Momente sich auch aus Momenten der Ohnmacht ergeben können. Der diagnostizierte Förderbedarf und die entsprechende Besonderung innerhalb einer inklusiven Schule, wie es die italienische ist, stellen zweifellos Bedingtheiten dar, die aber unterschiedliche Auflösung diesseits und jenseits, gewissermaßen lernseits des Unterrichts finden kann. Zwischen einem Subjektverständnis, nach dem das Subjekt entweder ein autonom lernendes ist oder aber abhängig von den Bedingtheiten und Strukturierungen seines Lernens, eröffnet der phänomenologische Blick darauf, wie sich das Subjekt bewegt, die Möglichkeit für ein Weder-Noch: „Danach sind wir weder nur autonom noch nur abhängig, weder nur selbstbestimmt noch nur fremdbestimmt. Als konkrete Menschen finden wir eigene Wege, indem wir auf die Situationen antworten, in die wir verstrickt sind“ (Peterlini H.K. 2016, S. 41, Herv. i.O., vgl. Meyer-Drawe 2000, S. 103).

Dynamiken der Exklusion: Ivan und Iako

Eine Pädagogik, die – normativ gestützt und ethisch motiviert – Inklusion zu fördern trachtet, kommt nicht umhin, auch Erfahrungen der Exklusion zu verstehen und in das Blickfeld von Forschung zu nehmen; letztlich ist Inklusion gar nicht denkbar, gäbe es nicht die Erfahrung der Exklusion (vgl. Schache 2012). Die nachstehende Vignette aus dem dargelegten Forschungsprojekt schildert eine Landkartenübung in Gruppenarbeit.
„Nach der Einteilung der Gruppen fällt Frau Indra auf, dass Ivan alleine vor einer Landkarte sitzt. Sie hatte ihn und Iako zu einer Zweiergruppe zusammengeschlossen, aber Iako war zur Dreiergruppe von Igor gerutscht. ‚Ivan, bist du allein‘, fragt sie verwundert. Dieser zuckt mit den Schultern und studiert weiter die Karte. Frau Indra schaut sich um, sieht Iako bei Igor, der gleich flehend ruft: ‚Kann der Iako mit uns machen?‘ Frau Indra sagt entschieden: ‚Iako ist mit Ivan!‘ Am Boden rutschend schiebt sich Iako wieder zu Ivan hin. Die Gruppen beginnen zu arbeiten, und kaum, dass Frau Indra ihn nicht sieht, robbt Iako wieder zur Gruppe von Igor. Ivan brütet alleine über seiner Karte. Als Iako blödelt, wird er ermahnt, aber nicht zu Ivan zurückgeschickt, der alleine weiterarbeitet. Als Frau Indra nun die Gruppen befragt, was ihnen an ihrer Karte aufgefallen ist, rutscht Iako etwas in Richtung Ivan, so dass er zwischen den beiden Gruppen sitzt. Die Fragen von Frau Indra beantwortet ausschließlich Ivan, da Iako diese Karte ja gar nicht angeschaut hatte. Frau Indra nickt und sagt, jetzt müsst ihr nur noch die Koordinaten angeben, schaut Iako an und sagt: ‚Das machst du für Ivan, gell?‘ Iako nickt, rutscht andeutungsweise Richtung Ivan, dann aber sofort wieder zurück zur Gruppe von Igor.“ (B1IS3)
Die Versuchung wäre groß, nach „lehrseitigen“ Interventionen zu suchen, die einen solchen Vorfall von Ausgrenzung eines einzelnen Schülers vermeiden lassen oder zumindest effizienter reparieren könnten, als dies Frau Indra tut. Dies kann allerdings, in einer Auseinandersetzung mit der Vignette in der Aus- und/oder Weiterbildung von Lehrkräften, eine anregende Übung sein, die pädagogische Praxen reflektiert und generiert. Die Lehrkraft erkennt ja, wie es in der Vignette beschrieben ist, sofort die Lage und schickt Iako zu Ivan zurück, in der Folge aber übergeht sie dessen Zurückrobben zur anderen Gruppe. Man könnte fragen, warum Frau Indra mit Igor und Ivan ein Zweierteam gebildet hat, vielleicht hätte ein Dritter (im Sinne einer Triangulierung) die Situation verändert und Einbeziehung ermöglicht. Eine andere Leseart der Vignette wäre es, diese in freier Assoziation aus der Perspektive der zwei Buben zu erzählen. Möglicherweise würde sich ergeben, dass Iako es ist, der sich ausgeschlossen fühlt, getrennt von seinen üblichen Freunden, zugeordnet zu Ivan, der – wir wissen es nicht, dürfen es spekulativ aber annehmen – womöglich sogar lieber allein arbeitet. Eine andere Möglichkeit, wie es vom Autor dieses Beitrages in Seminaren mit Studierenden immer wieder erprobt wird, könnte darin bestehen, die Schlüsselszene nach der Forumtheater-Methode zu spielen und durch Rollenwechsel die Erfahrungsbreite eines solchen Geschehens durch „miterfahrene Erfahrungen“ auszuloten. Gruppenbildungen lassen sich schwer steuern, Iako zieht es beinahe magnetisch dorthin, wo er sich wohler fühlt, Ivan ignoriert die Fürsorge der Lehrkraft und „brütet“, wie es in der Vignette steht, über seiner Landkarte. Durch ein Erspüren der Situation, wie sie in der Vignette dargelegt ist, lassen sich Möglichkeiten des Verstehens inklusiver und exklusiver Erfahrungen in schulischen Interaktionen ausloten. In der Ausbildung von Lehrkräften können solche miterfahrende und nacherfahrende Erfahrungen (der Lehrkräfte oder Studierenden) die Wahrnehmung für die leibliche Äußerung von Exklusions- und Inklusionsdynamiken ebenso schärfen wie verfeinern. Dies ist, neben dem Anspruch auf Grundlagenforschung zu Prozessen des Lernens, die praxeologische Seite der Vignettenforschung: In der Auseinandersetzung mit der Vignette können Lehrkräfte an Irritationen und Negativitätserfahrungen ihren Blick erweitern und ihre Sensibilität verfeinern. Gerade weil Lernprozesse sich Hinschauenden und Hinhörenden je anderszeigen, kann es sein, dass die Forschenden dieselben Kinder möglicherweise ganz anders erfahren, als es die Lehrkraft tut. Wer selbst im Unterrichtshandeln eingebunden ist, kann dieses zugleich schwerlich kritisch reflektieren. So werden die Vignetten und deren reflexive Lektüre zum Instrument, um Hinschauen und Hinhören auf dem Umweg exemplarischer Beispiele zu üben. Schulisches Vermittlungs- und Aneignungsgeschehen wirft eine Differenz zwischen dem Vermittelten und dem Angeeigneten auf, nach Korte „einen Zwischenraum, ja vielleicht sogar Kluft oder Abgrund“ (Korte 2006, S. 207). Diese Differenz lässt sich nicht allein kognitiv ergründen, sondern bedarf jener miterfahrenden Erfahrung, aus denen Vignetten entstehen und zu denen Vignetten – in der Lektüre, in der gemeinsamen Reflexion – führen können.

Die Dimension der sozialen Lebenswelt: Hin-Lu und Huberta

Als didaktischer Auftrag sind inklusive Bemühungen unweigerlich auch von der Versuchung begleitet, mit moralischem Zeigefinger die komplexen Interaktionen in einer Schulklasse steuern zu wollen, und damit auch dem Risiko ausgesetzt, angesichts unvermeidlicher Ausschlusserfahrungen zu resignieren und wegzuschauen. Zugleich stehen Lehrkräfte vor der Schwierigkeit, dass Handeln und dessen kritische Reflexion teilweise sich ausschließende Modi sind, so dass gerade Prozesse auf der Beziehungsebene im Unterrichtshandeln oft nicht wahrgenommen werden (was die Bedeutung einer im Unterricht anwesenden und für die gesamte Klasse zuständigen Integrations-/Inklusionslehrkraft unterstreicht). In der dritten Klasse einer Südtiroler Mittelschule war das Lehrkräfteteam sehr bemüht, Hin-Lu aus der Isolation in der Klasse herauszuhelfen. Das Mädchen mühte sich um Deutschkenntnisse, machte auch Fortschritte, aber bei der Zusammenstellung von Lernteams blieb sie immer allein. Meist wurde Huberta, eine gute und ruhige Schülerin, gebeten, mit Hin-Lu zu arbeiten. Auszug aus einer dazu entstandenen Vignette[1]:
„Hin-Lu lächelt Huberta an, diese schiebt ihr das Arbeitsblatt hin, zeigt mit dem Bleistift auf die Stelle, die zu beantworten ist, sagt mit monotoner Stimme, ‚hier müssen wir Photosynthese schreiben‘. Hin-Lu runzelt die Stirn, schaut Huberta an, diese nimmt das Blatt wieder zu sich und schreibt Photosynthese, dreht es zu Hin-Lu und beißt sich auf die Lippen. Hin-Lu nickt, Huberta wendet sich zur Klasse um.“ (ProMigr_SA1S1)
Beim nächsten Forschungsbesuch in dieser Klasse, zwei Monate später, berichtete eine Lehrkraft, dass sich „etwas getan habe“. Die Familie von Hin-Lu sei weggezogen und habe die Tochter allein zurückgelassen, sie wohne nun im örtlichen Schülerheim. Dies habe in der Klasse eine völlige Veränderung ausgelöst, und auch Hin-Lu habe sich verändert. Dadurch, dass sie nicht mehr in der Familie, sondern im Heim lebe, habe sie sich geöffnet, sei viel kontaktfreudiger, habe auch andere Ansprechpartnerinnen. Dies erleichtere es auch Huberta, mit Hin-Lu zusammenzuarbeiten.
„Die Lehrkraft schaut Huberta an, ‚du arbeitest mit Hin-Lu, ja?‘ Huberta nickt, unterhält sich noch mit Helene, ihrer Freundin, nimmt ein Zeichenblatt und geht zu einer freien Bank, setzt sich etwas schief hin. Hin-Lu tritt hinzu, legt Farben auf den Tisch, macht sich den Oberarm frei, kratzt sich, setzt sich kurz auf und verschiebt den Stuhl so, dass sie direkt Huberta gegenübersitzt. Die Aufgabe besteht darin, ein aufgeklebtes Bild eines berühmten Malers mit der eigenen Fantasie zu erweitern, die Lehrkraft verteilt entsprechende Ausschnitte aus Kunstplakaten. Hin-Lu und Huberta schieben das Bild auf ihrem Zeichenblatt gemeinsam hin und her um zu schauen, wo es am besten passen würde: zunächst diagonal in der Mitte, dann schiebt es Hin-Lu in das linke untere Ecke. Sie schaut Huberta an, diese zögert, Hin-Lu schiebt es wieder etwas in die Mitte, Huberta zieht es weiter ins obere rechte Eck, Hin-Lu zuckt mit den Schultern, Huberta schiebt es wieder etwas zu Hin-Lu hin und sagt: ‚So!‘ Hin-Lu lacht: ‚So!‘.“ (ProMigrSA2S1)

Mit Habermas (1981, S. 199) betrachtet, zeigt sich an dieser Vignette die Bedeutung von Problematisierungen einer Lebenswelt, die durch diese Problematisierungen aber auch einer bewussteren Wahrnehmung zugänglich wird und Möglichkeiten für kommunikatives Handeln freisetzt. Die lehrseitigen Bemühungen, Schüler/innen zu verpflichten, mit Hin-Lu zusammenzuarbeiten, zeigen sich in der ersten Vignette als wenig hilfreich. Der politische und gesetzgeberische Auftrag, dass Schule inklusiv zu wirken hat, wird von der Lehrkraft zwar weitergegeben an die Schüler/innen, doch wer sich entziehen kann, entzieht sich. Diese Kommunikation zwischen Huberta und Hin-Lu ist funktional, nach Habermas von Kolonialisierung aus dem System der Politik beeinflusst und strategisch ausgerichtet (vgl. ebd., S. 9). Beziehung, die durch kommunikatives Handeln entstehen kann und zugleich dessen Voraussetzung ist, wird in der ersten Vignette nicht sichtbar, es zeigt sich das gequälte Abarbeiten eines Auftrags von beiden Seiten – Hin-Lu runzelt die Stirn, Huberta beißt sich auf die Lippen. Von dieser Unterrichtsstunde bis zur Momentaufnahme einer Zeichenstunde, wie sie in der zweiten Vignette verdichtet ist, sind Monate vergangen. Entscheidend für die Veränderung in der Beziehung zwischen den beiden Mädchen dürfte, nach Auskunft der Lehrkraft, jenes Ereignis gewesen sein, das die Lebenswelt von Hin-Lu erschüttert hat, zugleich aber ihr auch neue Möglichkeiten der Öffnung bietet: Die Lockerung wenn nicht gar Auflösung der familialen Eingebundenheit, der Umzug ins Heim „entbinden“ Hin-Lu, sie lösen aber auch eine neue Bewusstheit in der Klasse aus, die von der Problematisierung der lebensweltlichen Lage Hin-Lu‘s ebenfalls erfasst wird. Auch hier zeigt sich, wie durch Bedingtheiten einerseits Exklusion geschaffen wird, wie durch andere Bedingtheiten aber ebenso Ressourcen für Inklusion freigesetzt werden. Steuerbar ist beides nicht, wohl aber lässt sich beides durch hinfühlende Wahrnehmung begleiten.

3. Weiterführende Überlegungen: Vignetten als Orientierungshilfe

Phänomenologische Einblicke in Unterrichtsgeschehen – an den Vignetten exemplarisch dargelegt – lassen sich nicht in konzise Hypothesen fassen, die Vielzahl an Möglichkeiten von Exklusion und Inklusion wäre damit nicht greifbar. Phänomenologie ist nicht auf die Fokussierung von Aussagen ausgerichtet, sondern im Gegenteil an deren Ausfaltung. Die Auswahl der dargelegten und thematisierten Vignetten kann nicht mehr als ein Hinweis sein, wie vielfältig, wie unterschiedlich, wie betrachtungsabhängig sich Lerngeschehen im weitesten Sinne in der Schule vollzieht – und dementsprechend wie unterschiedlich sich Prozesse von Exklusion und Inklusion zeigen können, wie unterschiedlich die Möglichkeiten des Anderssein sind und wie varianzoffen Normalitätsvorstellungen sein müssen, damit nicht die gelebte Wirklichkeit sich der Norm anpassen muss, sondern die Präsenz konkreter Menschen in ihrer Lebenswirklichkeit per se Normalität repräsentiert und konstituiert.
Von drei zentralen Aufgaben, die von Pädagogik als Denken über Erziehung zu leisten sind, nennt D’Arcais (1995) die Wahrnehmung konkreter Situationen an allererster Stelle, gefolgt von deren kritischen Reflexion. Erst daraus könnten – als dritte pädagogische Aufgabe – normative Orientierungen für das zukünftige erzieherische Handeln abgeleitet werden. Die phänomenologisch orientierte Vignettenforschung bemüht sich um den ersten und zweiten Schritt auf der Mikroebene, in der Hoffnung, dass daraus Impulse und Anregungen für einen Musterwechsel (vgl. Schratz 2009) auch auf der Meso- und Makroebene von Schul- und Bildungspolitik entstehen können. Erst das Hinschauen und Hinhören darauf, wie sich Inklusion und Exklusion als Bedingungen des Lernens in der konkreten Situation am konkreten Kind zeigen, ermöglichen – in der Vielzahl der dadurch gewonnenen Eindrücke und der Vielfalt der Lese- und Deutungsperspektiven – ein Verständnis von Anderssein nicht jenseits, sondern diesseits der Normalität.
Aus einer Vielzahl von Vignetten aus den genannten Forschungsprojekten zeigt sich, im Überblick, dass Schule allein Inklusion nicht sicherstellen kann, da gesellschaftliche und institutionelle Ordnungen in die Sozialität einer Schule hineinstrahlen und sich dort als Hierarchien, Distinktionen, Abgrenzungen, Zugehörigkeits- und Ausschlussbedingungen abbilden. Funktionsdiagnosen, Leistungsbeschreibungen, Förderbedarfe wirken – wie sich in der Vignette von Georg zeigt – auch in einer traditionell inklusiven Schule, wie es die italienische ist, teilend in den Unterricht hinein, dies umso mehr, wenn schulische Lernleistung an gesellschaftliche Leistungsanforderungen geknüpft ist und Förderbedarf mit „Schwäche“ gleichgesetzt wird, die im Unterricht mit Sonderbehandlung ausgeglichen werden soll, gesellschaftlich aber weiterhin diskriminiert wird. Dasselbe gilt für die Wahrnehmung gesellschaftlich konstruierter kultureller Differenz. Wenn Anderssein aufgrund von Herkunft, Hautfarbe und Sprache, wie im Falle von Hin-Lu, chronisch mediale und politische Problematisierung erfährt, können schulische Bemühungen um Inklusion nur krückenhaft bleiben.
In der Schulstudie zur „Arbeitsmigration in Südtirol“ (siehe Fußnote 1), in der ebenfalls Unterrichtsvignetten entstanden, zeigen sich, neben beachtlichen Bemühungen um Inklusion, auch selektive Strategien, die an der italienischen Einheitsschule vorbei Alternativen schaffen und suchen. In der Südtiroler Landeshauptstadt Bozen üben zwei kirchliche Privatschulen eine Sogwirkung auf Familien aus, die sich die entsprechenden Schulgebühren leisten können und wollen. Auch wenn diese Schulen rein gesetzlich keine selektiven Auswahlverfahren anwenden dürfen und, durch einen Unterstützungsverein, vereinzelt auch Schüler/innen aus einkommensschwächeren und/oder aus Familien migrantischer Herkunft aufnehmen, ist ihr Ruf mit dem Versprechen höherer Leistungsstandards, geringerer Präsenz von Migrationskindern, besserer Bildung und erhöhten Zukunftschancen verbunden. Ein zwar kostenfreies, aber ebenso selegierendes Alternativangebot stellen die Musikklassen einer öffentlichen Bozner Mittelschule dar. Der dafür vorgesehene Aufnahmetest privilegiert Kinder, die von klein auf im Instrumentalunterricht musikalisch sozialisiert wurden, und stellt eine Barriere dar für Kinder aus Familien mit geringerem kulturellem und symbolischem Kapital (Bourdieu & Passeron 1971) und Migrationsfamilien jüngerer Ankunft, deren Kinder die Angebote der Musikschulen teilweise gar nicht nutzen konnten. An der Grundschule Goethe waren es lange die Ganztagsklassen, die von Familien migrantischer Herkunft bevorzugt und von einkommensstärkeren Familien entsprechend gemieden wurden, so dass sich die Konzentration von Migrationskindern in den Ganztagsklassen ständig erhöhte. Die Schulführung hat darauf mit einem Modell reagiert, das am Vormittag heterogene Klassen vorsieht und die Ganztagsschulkinder erst am Nachmittag in eigenen Klassen zusammenführt. Im Ort Franzensfeste, nahe der italienisch-österreichischen Grenze am Brenner gelegen, zeigt sich das Vermeidungsphänomen, indem die deutsch- und italienischsprachigen Familien die Kinder in die Schulen der umliegenden Dörfer mit geringer Migrationspräsenz bringen, so dass in Franzensfeste selbst der Anteil von Kindern aus migrantischen Familien in den ersten Klassen sowohl der italienischen als auch der deutschen Schule bei 100 Prozent liegt.
Von solchen punktuellen Sondersituationen abgesehen, ist in Südtirol die „Schule für alle“, entsprechend dem italienischen Modell und darüberhinausgehend, weitgehend verwirklicht. Dies bedeutet nun aber nicht, dass in diesen Schulen eine inklusive Idylle herrscht. In manchen Klassen haben die „Integrationskinder“ – wie sich in Vignetten anschaulich zeigt – schon beim Klingeln der morgendlichen Schulglocke ihre Unterlagen so hergerichtet, dass sie beim Erscheinen der Integrationslehrerin ruckartig aufstehen können, um mit dieser die Klasse zu verlassen; oft findet der Stützunterricht auf dem Flur statt. Obwohl die Integrationslehrkräfte die gesamte Klasse einbeziehen sollten, um tatsächliche Inklusion aller mit allen zu begleiten, sind sie durch die besonderen Erfordernisse des „Integrationskindes“ vielfach doch ausschließlich mit diesem befasst. Wo keine Integrationslehrkraft den Unterricht in der Klasse begleiten kann, sprinten Lehrkräfte zwischen zwei oder auch mehr Kindern hin und her, mit Szenen, wie sie am Ende einer solchen aufreibenden Unterrichtseinheit in folgender Vignette[2] verdichtet sind:
„[…] Frau Iolanda beugt sich über Igors Heft. Er hat in groben, klotzigen Buchstaben einige wenige, meist fehlerhafte Worte geschrieben: ‚Forza Igor, che cosa aspetti?‘ („Los Igor, worauf wartest du?), muntert sie ihn auf. Er nimmt die Füllfeder in die Hand, aber kaum, dass sich Frau Iolanda zur Klasse umdreht, um den nächsten Merksatz zu erklären, lässt er die Füllfeder wieder fallen, diese rollt übers Heft, er schaut ihr nach, fängt sie, klemmt sie zwischen zwei Finger und lässt sie dazwischen hin und her schwingen. Dann beugt er sich kurz übers Heft, richtet sich wieder auf und schaut zum Fenster. Frau Iolanda steht jetzt wieder bei Ivan, der ebenfalls aus dem Fenster schaut [...]:‘Stai sognando?‘ (träumst du), fragt sie ihn. Er presst sein Heft zusammen und malt die so entstehende Außenkante der Heftseiten an. Von Ivan geht Frau Iolanda zurück zu Igor und geht die Hausaufgabe für morgen durch und lässt ihn probeweise beginnen, sie zeigt mit dem Finger, was er abschreiben soll, sagt ‚bravo‘, wenn er etwas richtig geschrieben hat. Als sie sieht, dass einige Stellen sehr klein geschrieben sind, entschuldigt sie sich, das sei ihr Fehler, sie hätte größere Buchstaben machen müssen, dann sagt sie noch zur Hausaufgabe: ‚Può scrivere per te anche la Mamma, basta che tu le dica cosa deve scrivere‘. (Es kann auch deine Mutter für dich schreiben, Hauptsache du sagst ihr, was sie schreiben soll). Igor nickt. Frau Iolanda richtet sich auf und fragt die Klasse, an welchem Punkt sie jetzt seien. ‚Già finito‘ (schon fertig), tönt es aus den Reihen. Frau Iolanda greift sich an den Kopf: ‚O mamma, stavo con Igor!‘ (Oh Mamma, ich war mit Igor). Sie eilt noch zu Ivan, da klingelt es. Während die Kinder aus der Klasse hinaus in die Pause drängen, erklärt Frau Iolanda Ivan die Hausaufgabe. Igor, der schon seine Jacke genommen hat, geht noch einmal an seinen Platz und trägt etwas ins Merkheft ein.“ (B1IS8, Auszug)
Allein der didaktischen Kunst anvertraut, kann Inklusion leicht zu Überforderung führen. In den Südtiroler und italienischen Schulen wird großartiges geleistet, Ausschluss und Einschluss normalisieren sich vielfach an wechselnden Differenzlinien. So kann Inklusion keine Angelegenheit von Schule und Unterricht allein sein, sondern fordert gesellschaftliche Einbeziehung ein. Wer im Leben draußen behindert wird, als anders oder nicht zugehörig stigmatisiert ist, mag durch bewusste inklusionspädagogische Strategien und Bemühungen in der Schule besser aufgenommen werden können, aber institutionelle und strukturelle soziale Diskriminierung schlägt von außen durch und wird in der Schule reproduziert. Leistungsmaßstäbe, Unterteilungen von Kindern in Leistungsgruppen, formale und informelle Hierarchisierung nach Schulnoten bahnen umgekehrt in der Schule Exklusionsdynamiken ein, die manchen Kindern weit über ihre Schullaufbahn hinaus anhaften. Pädagogischer Impetus und didaktischer Zwang können manches bewirken, oft aber auch das Gegenteil des Gewünschten. Mitunter sind es Problematisierungen der Lebenswelt (Habermas, 1981, S. 199), die vorgegebene und hartnäckige Ordnungen aufheben und Inklusion im Ansatz möglich machen (wie im Falle von Lin-Hu). Kausale und dauerhafte Wirkmechanismen können aber auch dafür nicht geltend gemacht werden, da es nicht nur von der Schule abhängen wird, ob Hin-Lu, Ivan und andere in ihrem Leben dazugehören werden oder nicht. An Igor und Ivan zeigt sich aber auch das Dilemma von Überforderung, wenn Kinder nicht in ihren Begabungen, sondern in ihren Mängeln wahrgenommen und gefördert werden, sie also – durch aufreibendes Bemühen – an eine normativ gesetzte Normalität (schreiben zu können) angepasst werden sollen, anstatt dass in einem inklusiven Verständnis von Normalität auch die Gegebenheit angenommen wird, dass manche Kinder dies nicht oder nur sehr mangelhaft können, dafür aber anderes sehr gut. Durch den angestrengten Fokus auf die Beseitigung ihrer Schwäche werden diese Stärken in der Regel aber nicht oder weniger gewürdigt und damit vernachlässigt.
Der phänomenologische Blick legt Erfahrungsmomente frei, die exemplarisch die Wahrnehmung für inkludierende und exkludierende, fördernde, fordernde und überfordernde Dynamiken sensibilisieren mögen. Vignetten können für die Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften, aber ebenso in der Jugend-, Sozial- und Kulturarbeit ein taugliches Instrument sein, weil sie – jenseits erhoffter, erwarteter, angemahnter, angeleiteter pädagogischer Effekte – eine Möglichkeit darstellen, die Erfahrung von Einschluss und Ausschluss mitzuerfahren. Dies kann dazu sensibilisieren, diesseits der Normen und jenseits der pädagogischen Anleitungen sich für das lernseitige Geschehen zu öffnen, in einer Haltung, die durchaus dem von Luhmann und Schorr (1982) attestierten „Technologiedefizit der Erziehung“ Rechnung trägt.
Jedes Bemühen um Inklusion ist immer auch behaftet von der Möglichkeit der Exklusion, dies lässt sich nicht verhindern, wohl aber wahrnehmen und stützend begleiten. Die Normalisierung des Anders-Sein, wie es der erzieherischen Intention von inklusiven Ansätzen entspricht, impliziert auch die Besonderung des So-Seins. Wenn nach Arens und Mecheril (2010, S. 11) „jede/r anders anders ist“, tut sich ein weites Feld für inklusives pädagogisches Handeln auf, in dem es – bei Wahrung von Förderstandards für Beeinträchtigte und in einem alle schützenden und respektierenden Rahmen – um ein Sich-Einlassen auf Prozesse des Zusammenlebens und Lernens geht. In einer derart weiten konzeptionellen Öffnung bedarf es auch einer Orientierung, wer nun wie und worin gefördert werden soll. Vignetten, als Protokolle miterfahrener Erfahrung, können eine Möglichkeit sein, Phänomene von Inklusion und Exklusion wahrzunehmen und in ihrer Vieldeutigkeit auf didaktische, pädagogische und normative Konsequenzen hin zu reflektieren. Gerade weil jede/r anders anders ist, ist das Hinschauen und Hinhören, wie sich dieses Anderssein mit dem Instrument der Vignette je zeigt, eine Möglichkeit, pädagogisches Handeln in Bezug auf eine inklusive Schule nicht zielgerichtet, sondern ergebnisoffen zu reflektieren.

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The normalization of being other. Phenomenological vignettes and reflections about the lived inclusion policies in the Italian school system on the example of schools in South Tyrol
While school policy, school boards, teachers and parents are challenged in many European countries due the UN Disability Convention to a paradigm shift, the Italian school system may draw on approximately 40 years of experience with an integrative and partly already inclusive school for all children in compulsory schooling. This allows, almost free from institutional pressure, a critical analysis of the limits and still untapped potential for inclusive strategies. This paper attempts to combine the discourses about necessary and possible developments towards an even more inclusive school system with phenomenological insights into the lived experiences in South Tyrolean schools. Moments and interactions of inclusion and exclusion are captured by the phenomenological methodology of “co-experienced experiences”. Condensed to "vignettes" (Schratz, Schwarz, Westfall-Greiter, 2012) they are reflected about limits and potentials of inclusive policies.
Keywords: inclusive school – teacher for integration – exclusive dynamics – South Tyrol/Italy


[1] Forschungsprojekt „Arbeitsmigration in Südtirol“ in Zusammenarbeit zwischen Universität Innsbruck (Leitung D. Rupnow und E. Pfanzelter) und Freie Universität Bozen (Leitung A. Augschöll), Teilprojekt Schule „Mit Migration leben und lernen. Schule in der Perspektive von Diversität und Pluralität“ (H. K. Peterlini).

[2] Forschungsprojekt „Personale Bildungsprozesse“