Inhalt
1 Nationale Entwicklungen
1.1 Zur Schwierigkeit, nationale inklusive Entwicklungen darzustellen
1.2 Integrative Entwicklungen in den Kantonen.
1.3 Beispiele bemerkenswerter Entwicklungen in der Schweiz
1.4 Die Schweiz und die Behindertenrechtskonvention (BRK)
Literatur
Glossar
2 Integrative Entwicklungen in den Kantonen Basel-Stadt und Basel-Land
2.1 Kantonale Ebene
2.2 LehrerInnenbildung und Inklusive Entwicklung
2.3 Chancen und Herausforderungen
Literatur
3 Entwicklung der besonderen Schulung im Kanton Bern
3.1 Das Bildungssystem des Kantons Bern
3.2 Gesetzliche Rahmenbedingungen:
3.3 Entwicklungen im Kanton Bern
3.4 Chancen und Herausforderungen der Entwicklungen im Kanton Bern
3.5 Beispiele von innovativen Schulen
Literatur
4 Integrative Entwicklungen im Kanton Luzern.
4.1 Strategien im Bereich der Schulentwicklung, der LehrerInnenbildung für die Entwicklung integrativerer Systeme
4.2 Interessante, für die Entwicklung integrativer Systeme anregende Strategien/Maßnahmen/Beispiele/interessante Projekte/Schulen
4.3 Herausforderungen und Maßnahmen bei der Entwicklung im Kanton, um erkannten Problemen zu begegnen?
Literatur
5 Integrative Entwicklungen im Kanton Luzern
5.1 Strategien im Bereich der Schulentwicklung, der LehrerInnenbildung für die Entwicklung integrativerer Systeme
5.2 Interessante, für die Entwicklung integrativer Systeme anregende Strategien/Maßnahmen/Beispiele/interessante Projekte/Schulen
5.3 Herausforderungen und Maßnahmen bei der Entwicklung im Kanton, um erkannten Problemen zu begegnen?
Literatur
Bruno Achermann
Die Darstellung inklusiver Entwicklungen in der Bildung und in Schulen der Schweiz ist schwierig.
Der Begriff der Inklusion im Sinne der Behindertenrechtskonvention (BRK) ist in der offiziellen Schweiz noch nicht angekommen. In neuesten Papieren auf nationaler Ebene wird Integration immer noch als ein bedeutender Schritt in Richtung Inklusion (vgl. Glossar zu Kapitel 1) bezeichnet.
Im April 2014 wurde durch die Unterzeichnung die Behindertenrechtskonvention auch für die Schweiz in Kraft gesetzt. Im Sommer 2016 ist ein „Erster Bericht der Schweizer Regierung über die Umsetzung der BRK“ erschienen. Das müsste der Ort sein, wo inklusive Entwicklungen der vergangenen Jahre vorgestellt werden. Der Staatenbericht, den die Schweiz zwei Jahre nach der Unterzeichnung der BRK an den UN-Ausschuss in Genf abgeliefert hat, beschreibt aber bloß „die in der Schweiz geltenden gesetzlichen, administrativen, gerichtlichen oder anderen Massnahmen in Bezug auf die in der Konvention garantierten Rechte. Dabei vermittelt der Bericht ein Bild der tatsächlichen Situation […]“ (Erster Bericht der Schweizer Regierung über die Umsetzung der BRK, 2016, S. 1). Der Artikel 35 der BRK aber fordert die Unterzeichnerstaaten auf, „einen umfassenden Bericht über die Massnahmen, die er zur Erfüllung seiner Verpflichtungen aus dem Übereinkommen getroffen hat, und über die dabei erzielten Fortschritte“ Bericht zu erstatten (vgl. Vereinigte Nationen 2006, Artikel 35, Abs. 1). Der Erste Staatenbericht zeigt auf, dass in der Zeit nach der Ratifizierung der Konvention keine Massnahmen eingeleitet wurden und kaum erkennbare Entwicklungen zu verzeichnen sind, die auf die BRK zurückzuführen sind. Es werden offene, allgemeine Ziele formuliert, ohne Aktionsplan, ohne Angaben dazu, wie die Absichtserklärungen auf nationaler und insb. auch, wie sie auf kantonaler Ebene erreicht werden sollen. Zum Thema Bildung ist folgendes zu lesen: „Wichtige Weichenstellungen gab es auch in anderen für die Rechte der Menschen mit Behinderungen relevanten Bereichen wie zum Beispiel bei der Bildung“ (Schweizerischer Bundesrat 2016, S. 7). Dieser Bericht ist nüchtern verfasst in einem politischen und gesellschaftlichen Klima, das weitherum nicht als menschenrechts-und inklusionsfreundlich bezeichnet werden kann.
Dazu kommt, dass die Schweiz nicht existiert[1]. Es gibt 26 Kantone (z.B. Appenzell I.R.:16‘000 Einwohner, Luzern: 400‘000 E. oder Zürich, der bevölkerungsreichste Kanton, 1,5 Mio. E.). Die CH hat ungefähr gleich viel Einwohner wie das Bundesland Niedersachsen! Das Schweizerische Schulsystem ist sehr föderal aufgebaut. So gibt es z.B. kein nationales Bildungsministerium. Mehr Koordination über die Kantone oder gar über die Sprachregionen hinweg ist zurzeit kaum realisierbar. Die Gemeinden, oft sogar die einzelnen Schulen haben in vielen Kantonen große pädagogische Gestaltungsräume. Anders als in Deutschland ist nicht bloß der Vollzug der Gesetze den Kantonen überlassen. Die Kantone tragen die Hauptverantwortung für die Bildung. Die Souveränität der Kantone im Bereich der Bildung ist in der Schweiz - anders als in Deutschland - nahezu unbestritten. Ein Eingreifen des Bundes ist zwar grundsätzlich möglich, aber dies entspricht nicht den Gepflogenheiten.
Die nationalen Gesetzgeber haben 2004 das Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen (Behindertengleichstellungsgesetz) erlassen.
„Das Gesetz hat zum Zweck, Benachteiligungen zu verhindern, zu verringern oder zu beseitigen, denen Menschen mit Behinderungen ausgesetzt sind. Es setzt Rahmenbedingungen, die es Menschen mit Behinderungen erleichtern, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und insbesondere selbstständig soziale Kontakte zu pflegen, sich aus- und fortzubilden und eine Erwerbstätigkeit auszuüben.“ Kernpunkte des Gesetzes sind Vorschriften, die die Entfernung von baulichen Barrieren zu „öffentlichen Bauten, (öffentlichem) Verkehr, öffentlich zugänglichen Dienstleistungen, Aus- und Weiterbildung, u.a.“ fordern. „Der Bund kann Programme durchführen, die der besseren Integration Behinderter in die Gesellschaft dienen.“
Zudem formulieren die nationalen Gesetzgeber
„besondere Bestimmungen für die Kantone:
„1 Die Kantone sorgen dafür, dass behinderte Kinder und Jugendliche eine Grundschulung erhalten, die ihren besonderen Bedürfnissen angepasst ist.
2 Die Kantone fördern, soweit dies möglich ist und dem Wohl des behinderten Kindes oder Jugendlichen dient, mit entsprechenden Schulungsformen die Integration behinderter Kinder und Jugendlicher in die Regelschule (Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen, 2004).
Im Zuge der Neuordnung der Finanzflüsse zwischen Bund und den Kantonen (2009) wurde die Finanzierung des Sonderschulbereichs neu den Kantonen übertragen. Im Sonderpädagogik-Konkordat wollten die Kantone die Zusammenarbeit für den Bereich der Sonderpädagogik koordinieren: Grundangebot, Berechtigte, gemeinsame Instrumente und ein paar Minimalstandards. Dem Konkordat sind in den vergangenen 10 Jahren nur 16 Kantone beigetreten. Dabei handelt es sich nicht etwa um Schlamperei der Kantone. Die Kantone wollen dem Konkordat aktiv nicht beitreten, weil sie dadurch ein Stück ihrer Souveränität im Handeln verlieren würden bzw. weil sie das Konkordat und seinen Inhalt ablehnen[2]. Der große Kanton Bern zum Beispiel konnte sich bisher nicht zu einem Beitritt entschließen. Im Kanton Basel-Land gab es eine Volksabstimmung, weil sich gewichtige politische Kräfte und auch einflussreiche Berufsverbände gegen den Konkordatsbeitritt wehrten (Schweizerische Konferenz der Kantonalen Erziehungsdirektoren, 2007).
Für die Beobachtung, Beschreibung und Steuerung inklusiver Entwicklung braucht es zuverlässiges statistisches Material, geklärte Begriffe und vergleichbare Organisationsformen. Wenn Kinder mit einer Lernbehinderung nicht diagnostiziert in Regelklassen beschult werden, steht die Statistik vor der Herausforderung, wie integrierte Lernende in Regelschulen zahlenmäßig erfasst werden können. Im Bericht „Szenarien 2015-2024 für das Bildungssystem“ des Bundesamtes für Statistik von 2015 ist die Entwicklung des Sonderschulsystems ausgenommen. Erst ab dem Schuljahr 2014/15 wurden die Erfassungsmethoden national geregelt. Der zuständige Bereichsleiter des Bundesamtes für Statistik schreibt auf Anfrage: „Es ist nicht ganz einfach, eine einheitliche Schweizerische Statistik zu erstellen, wenn jeder Kanton etwas anderes macht. […] Eine erste Publikation der Sonderpädagogik-Daten ist frühestens nach der Erhebung 2015/16 denkbar.“
Im Initialstaatenbericht der Schweiz über die Umsetzung der BRK (2016) wird folgende quantitative Angabe ohne Quellenangabe gemacht: „Die Zahl der in Sonderschulen oder -klassen eingeschulten Kinder hat bis zu Beginn der 2000er-Jahre zugenommen, bevor sie sich stabilisiert hat und bei den Sonderklassen seit 2006 sogar deutlich zurückgegangen ist. Im Schuljahr 2008 [3] besuchten rund 24 000 SchülerInnen eine Sonderklasse und 15 200 eine Sonderschule“ (Erster Bericht der Schweizer Regierung über die Umsetzung der BRK, 2016).
Die Informationsplattform „Integration und Schule“ gibt für Eltern und andere Interessierte sehr kurze, einfach lesbare Informationen zum Thema Integration, bezogen auf die verschiedenen Kantone und die Begriffe, die dabei verwendet werden.
Weil es kaum möglich ist, nationale inklusive Entwicklungen zu erkennen und darzustellen, haben wir uns entschieden, in der Einleitung die bunte Vielfalt der Entwicklungen in verschiedenen Kantonen an ein paar Beispielen zu skizzieren. In einem zweiten Teil werden exemplarisch die Entwicklungen in drei Kantonen etwas ausführlicher dargestellt.
Der Kanton Basel-Stadt, der im Norden an Baden-Württemberg grenzt, ist in Richtung Inklusion unterwegs. Im Nachbarkanton Basel-Land wird nach wie vor auch über kleine Schritte gestritten. Es werden weniger Kinder separiert, die Quote liegt aber nach wie vor national an der Spitze (vgl. dazu Kapitel 2).
Im Kanton Bern werden auch Kinder und Jugendliche integriert. Im Rahmen eines „Pädagogischen Dialogs sollen die LehrerInnen sowie die Schulleitenden aktiv zur Weiterentwicklung des Unterrichts und der Schule beitragen und Freiräume nutzen“ (Erziehungsdirektion des Kantons Bern, 2016). Auf der Basis von Freiwilligkeit gibt es – nicht nur im Kanton Bern – beeindruckende Projekte und inklusive Entwicklungen auch in öffentlichen Schulen. Ein Recht auf Teilhabe und angemessene Unterstützung fehlt aber auch hier (vgl. dazu Kapitel 3).
Es wäre sehr wünschbar, auch die Entwicklungen im Kanton Zürich ausführlich darzustellen. Der für diesen Artikel geplante Beitrag ist leider nicht zustande gekommen.
In einem deutlich von der Politik gewollten und der Verwaltung unterstützten Prozess haben die Volksschulen im Kanton Zürich in den vergangenen zehn Jahren bedeutende Schritte im Bereich der integrativen Schulung von Kindern und Jugendlichen gemacht. Die Angebote der Regelschule, die integrative Ausrichtung und die Organisationsmodelle für die sonderpädagogischen Angebote der Regelschule sind auf der Website des Volksschulamtes knapp beschrieben (vgl. Volksschulamt des Kantons Zürich, 2017a). In den vergangenen fünf Jahren ist die absolute Zahl der Kinder/Jugendlichen mit einer Lernbehinderung bzw. mit einer Körperbehinderung, die eine Sonderschule besuchen, zurückgegangen. Alle übrigen Behinderungskategorien sind stabil oder gar leicht ansteigend (Bildungsdirektion des Kantons Zürich, 2016).
Unter dem Titel „Zürich integriert? Wenn Schulreformen nicht zu Ende gedacht werden“ hat Zahnd (2011) die individuumsbezogene Sichtweise der sonderpädagogisch orientierten Zürcher Integrationsstrategie kritisiert.
„Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Schule und Gesellschaft oder institutioneller Diskriminierung fallen größtenteils aus dem Blickfeld und die Schule bleibt im Wesentlichen eine Institution, die sich mit Individuen und deren Eigenschaften beschäftigt. Offensichtlich wird […] immer noch in alten Kategorien gedacht. Es wird unter anderem von schulleistungsstarken, schulleistungsschwachen und verhaltensauffälligen Kindern gesprochen. Von genau diesen Kategorien ging man bisher aus und auf diese bezieht man sich weiterhin“ (Zahnd 2011, S.10).
Die sonderpädagogisch ausgerichtete Integration wird im Kanton Zürich ergänzt durch das Projekt „Qualität in multikulturellen Schulen“ QUIMS. In diesem kantonal breit verankerten Projekt geht es um die Erhaltung und Verbesserung des Schul- und des Lernerfolgs aller SchülerInnen. Das Projekt hat folgende sechs Arbeitsbereiche:
Der Bericht in einer umfangreichen Bildungsbeilage der Neuen Zürcher Zeitung am Sonntag vom 20.03.2016 zum Thema Integration gibt wohl eine verbreitete Stimmung in den Zürcher Schulen und in der Gesellschaft wieder: „Die Integration aller Kinder – von hochbegabt bis lernbehindert – ist zwar gut gemeint. […]. Das System wird je länger, je stärker belastet. […]. Mittlerweile sagen selbst Verfechter der Integration, dass es so nicht weitergehen kann. Das Credo der Gleichmacherei beginnt zu bröckeln“ (Donzé, 2016, S. 2f).
Der kleine Kanton Obwalden hat bereits 1999 die Integration von Kindern/Jugendlichen mit einer Behinderung zu einem prioritären Handlungsfeld erklärt: „Die meisten Gemeinden haben seither ihre Kleinklassen aufgehoben und führen ihre Volksschulen nach Konzepten integrativer Schulungsformen. Entsprechend besteht ein Netz von schulischen HeilpädagogInnen mit einer angemessenen Poolfinanzierung (Erziehungsdepartement des Kantons Obwalden, 2011).
Hörbehinderte Kinder besuchen in verschiedenen Gemeinden die Regelschulen, körperbehinderte Kinder werden zum Teil in die Regelklassen der Wohnortsgemeinde integriert, sehbehinderte Kinder werden nach Möglichkeit integriert geschult und seit 2004 nahm auch die Zahl der integriert geschulten Kinder mit geistiger Behinderung stetig zu. Eine vergleichbare Entwicklung ist seit 2010 bei der Integration von schwer verhaltens- und sprachbehinderten Kindern und Jugendlichen in die Volksschule zu beobachten. – Erstaunlich Vieles wurde bereits erreicht. Das „Kaskadenmodell“ (Erziehungsdepartement des Kantons Obwalden, 2011, S. 11) macht aber deutlich, dass auch hier Menschen mit Behinderungen noch nicht „gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem inklusiven, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben“; wie dies Art. 24, 2b der BRK fordert.
Im Kanton Nidwalden haben nur 1,4 % aller Kinder der Primarschule persönlich „angepasste Lernziele“ (Schwerpunkt Lernen); sie besuchen die Regelschule. Weitere 1,4 % Kinder und Jugendliche mit einer geistigen Behinderung sind in Regelschulen integriert und gleich viele sind in der Sonderschule in Stans (vgl. Erziehungsdirektion des Kantons Nidwalden 2015). – Es fällt auf, dass es im Kanton Nidwalden 2,8 % Kinder mit einer geistigen Behinderung geben soll, das sind überdurchschnittlich viele. Die Vermutung liegt nahe, dass die Regelschulen bestimmte SchülerInnen zu SonderschülerInnen machen, um sie dann mit zusätzlichen Ressourcen, die überdies nicht die Gemeinde, sondern der Kanton bezahlt, wiederum integriert zu beschulen.
Eine Evaluation der Integrativen Beschulung (2015) macht sehr deutlich, dass die Lehrpersonen (60-85 % Zustimmung), die Eltern und insb. auch die Kinder und Jugendlichen (Zustimmung 95%!) die integrative Beschulung ganz entschieden unterstützen (Bildungsdirektion des Kantons Nidwalden, 2015).
Gemäß Bildungsstatistik des Kantons Nidwalden befinden sich in der Werkschule (Sekundarstufe I mit den niedrigsten Ansprüchen) 50 % Kinder mit Migrationshintergrund, bei einem Anteil von gut 15% MigrantInnen pro Jahrgang.
Der Verband der Lehrpersonen des Kantons Graubünden hat 2015 die Schulischen HeilpädagogInnen zur Thematik der schulischen Integration befragt. Die Befragung ist repräsentativ. 80 % sagen aus, dass sich die schulische Integration positiv oder eher positiv auf die SchülerInnen mit besonderem Förderbedarf auswirke. Rund zwei Drittel geben an, dass durch diese Schulungsform auch der Lernerfolg der gesamten Klasse positiv oder eher positiv beeinflusst würde. Bei dieser Antwort haben 23 % der Befragten «weiß nicht» angeklickt. Bei beiden Fragen fällt auf, dass in keinem Fall ein vollumfänglich negativer Effekt rückgemeldet wurde (Quelle: Lienhard 2016).
Um sich ein umfassenderes Bild der Entwicklungen in der Schweiz zu machen, wäre es auch nötig, über den Stand der Entwicklungen im Kanton Tessin zu berichten. Dazu müssten unbedingt auch die frühen Entwicklungen der Integration dargestellt werden. Franco Basaglias Überlegungen haben gegen Ende der 1970 Jahre zu einem tiefgreifenden Wandel und zur Auflösung der Psychiatrischen Kliniken in Italien geführt. Diese Bewegung hatte auf die (Sonder-)Schulen des Kantons Tessin – den Schweizer Kanton südlich der Alpen – einen erheblichen Einfluss, der bis heute deutlich zu erkennen ist.
Die Schweizer Kantone haben – vergleichbar mit Deutschland – ein sehr selektives, aber auch ein wachsend durchlässiges Schulsystem mit stark ausdifferenzierten, personell, finanziell und räumlich gut ausgestatteten Sonderschulen. Die Selektion am Ende der Primarschule für den Übertritt in die verschiedenen Streams der Sekundarstufe I ist skandalös sozial benachteiligend und systematisch zufällig, d.h. nicht durch die Leistung begründet (vgl. Kronig 2007; Hofstetter 2017).
Es gibt aber auch bemerkenswerte Entwicklungen.
Der Kindergarten gehört in der Schweiz zur Volksschule. An vielen Pädagogischen Hochschulen werden KindergärtnerInnen und PrimarlehrerInnen in gemeinsamen Studiengängen ausgebildet. Auf nationaler Ebene wurde in den vergangenen 15 Jahren die Basisstufe/Grundstufe, eine neue, altersdurchmischte Organisationsform erprobt und z.T. eingeführt. Sie kann eine bedeutende Grundlage für eine inklusive Schule werden.
In der Basisstufe sind der Kindergarten (zwei Jahre) und die ersten zwei Schuljahre zusammengefasst. Der Übergang erfolgt flexibel und ohne jede Selektion, je nach Entwicklungsstand des Kindes. Die Lerngruppe wird von einem multiprofessionellen Team altersdurchmischt unterrichtet. Die Kinder werden individuell abgeholt, wo sie sind und schrittweise an schulisches Lernen herangeführt. Grundsätzlich haben in der Basisstufe alle Kinder Platz.
Das große, pädagogisch gut begründete Projekt konnte sich bisher in keinem Kanton flächendeckend durchsetzen. Die konservative politische Rechte bekämpft die Entwicklung systematisch. Obwohl der Aufbau der Basisstufe mit zusätzlichen Personalkosten verbunden ist, wächst die Anzahl der Kinder, welche die Basisstufe besuchen z.B. in den Kantonen Luzern und Bern Jahr für Jahr (mehr dazu Volksschulbildung des Kantons Luzern, 2017)
In der Folge gesetzlicher Vorgaben und des Sonderschulkonkordates (2007) wurden in den vergangenen zehn Jahren die Kleinklassen für Kinder mit Lernschwierigkeiten (vgl. Glossar) in vielen Kantonen (praktisch vollständig) abgeschafft. Während im Kanton Luzern im Jahr 2005/06 noch 3,7 % aller SchülerInnen eine Kleinklasse besuchten, gab es im Schuljahr 2013/14 keine Kleinklassen mehr! – Auch im Kanton Obwalden gibt es 2013/14 keine Kleinklassen mehr; der Anteil der SonderschülerInnen ist auf unter 1% der schulpflichtigen Kinder gesunken. Der Kanton Bern hat das Sonderschulkonkordat nicht unterzeichnet. Die verschiedenen Kleinklassen müssen hier mühsam in jeder Gemeinde reduziert bzw. abgeschafft werden. Neuerdings sind sogar umgekehrte Bewegungen feststellbar: Kleinklassen werden neu installiert.
Erfreulich viele Kinder werden nicht mehr etikettiert. Die personellen und ökonomischen Mittel werden dort der Gemeinde bzw. der Schule zugeteilt. Ein in der Öffentlichkeit weitgehend unbeachteter Skandal konnte damit entschärft werden: In den Kleinklassen für Lernbehinderte waren sozial benachteiligte Migrantenkinder sehr stark überrepräsentiert.
Diese Kinder befinden sich jetzt zu einem großen Teil integriert in Regelklassen der Primarschule. Man könnte im Kanton Basel-Stadt, im Kanton Luzern oder im Kanton Obwalden von einer Integrationsquote von deutlich über 50% sprechen. Statistisch ist dies ein Problem, weil sie z.T. gar nicht mehr quantitativ erfasst werden. Im Kanton Tessin besuchen seit vielen Jahren nur ca. 1% aller Kinder separierte Sonderklassen. In vielen Kantonen ist die Lage unübersichtlich; es ist schwierig, eine Aussage zu treffen. Trotzdem dürfte die Aussage gewagt werden: Ein Paradigmenwechsel, wie dies die Behindertenrechtskonvention fordert, hat an ganz vielen Orten bisher nicht stattgefunden. Recherchen in den einzelnen Kantonen führen nicht immer zum Ziel. z.B. werden die Zahlen der integrierten SonderschülerInnen im Kanton Nidwalden neuerdings nicht mehr in der kantonalen Bildungsstatistik ausgewiesen.
Bis vor kurzem gab es in vielen Kantonen nach einer aufwändigen Selektion am Ende der sechsjährigen Primarstufe ein vier- bzw. gar fünfgliedriges System auf der Sekundarstufe I, z.B. im Kanton Fribourg: A: das Progymnasium; B: die Sekundarschule; C: die Realschule; D: die Werkschule und meist vergessen, die Oberstufen der separierten Sonderschulen, die in den meisten Kantonen auch zur Volksschule gehören. Die Selektion am Ende der 6. Klasse ist in der Bevölkerung und in der Politik weitgehend unbestritten[4]. Es ist begründet anzunehmen, dass das System auf diese Weise die Interessen der Bildungsbürger gut bedient.
In den vergangenen Jahren ist etwas Bewegung in diese Stufe gekommen. Viele Kantone sind daran, die verschiedenen Schultypen der Sekundarstufe I näher zusammenzurücken, z.T. vergleichbar mit den Gemeinschaftsschulen in Deutschland. Dabei bleibt das (Langzeit-) Gymnasium (7. bis 12. Schuljahr) meist ausgenommen. In der Schweiz hat es bis auf ein paar wenige Schulversuche in den 1970er-Jahren keine Gesamtschulen gegeben. Die Ausnahme bildet der Kanton Tessin. Hier gibt es eine integrierte ‚scuola media‘ vom 6. bis 9. Schuljahr für alle.
Mit dem Ziel, die Durchlässigkeit zu erhöhen, wurden vielerorts mit ganz unterschiedlichen Modellen die Typen mit unterschiedlichen Anspruchsniveaus mehr oder weniger zusammengerückt. So werden die Jugendlichen nicht mehr in Klassen mit unterschiedlichen Leistungsanforderungen eingeteilt, sondern innerhalb der Klasse wird auf der Ebene ausgewählter Fächer leistungsmäßig differenziert. – Der kritische Beobachter kommt nicht um den Eindruck herum, dass solche Systeme das Selektionsproblem nicht lösen, sondern eher verschärfen: Anstelle von Förderung herrscht ein ständiger Wettbewerb zwischen den SchülerInnen. Es wird noch mehr geprüft, benotet und neu zugeteilt. Das Paradigma des gleichschrittigen Unterrichts auf verschiedenen Leistungsniveaus wird damit nicht durchbrochen.
Trotzdem: Das System konnte durchlässiger werden; mit entsprechenden Noten ist es möglich nach der Sekundarschule ins Gymnasium überzutreten. In mehreren Kantonen wurde das Untergymnasium/Progymnasium bzw. die Bezirksschule ganz bzw. teilweise geschlossen, so dass erst nach Abschluss von 8 bzw. 9 Schuljahren ein vier- bzw. dreijähriges Gymnasium angeboten wird.
Obwohl es offensichtlich einen grossen Handlungsbedarf gibt, war und ist die BRK in der Schweiz kein öffentliches Thema. Ein Diskurs über Fragen der Inklusion ist weder in der Politik, noch in der Gesellschaft und in den Medien wahrnehmbar.
Zwei Jahre nach dem in Kraft treten der BRK stellte Judith Hollenweger (2016) fest, es sei erstaunlich ruhig in der Schweizer Bildungslandschaft. Sie formuliert eine ganze Reihe von gewichtigen Fragen, die auf der Folie eines neuen, menschenrechtlich begründeten Umgangs mit Behinderung öffentlich diskutiert werden müssten.
Es fehlt eine neue gesetzliche und damit politische Zielvorgabe, welche die mit der Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention eingegangenen Verpflichtungen, so auch den Art. 24 national und kantonal umsetzt. Ebenso fehlen verbindliche Aktionspläne auf nationaler und kantonaler Ebene für ein kohärentes, auf Inklusion ausgerichtetes Bildungsangebot. Dies ist aber eine Bedingung für das schrittweise Vorankommen einer inklusiven Entwicklung.
Der Bundesrat sagt in seiner Botschaft zur Genehmigung der BRK: „Mit dem Beitritt zum Übereinkommen bekräftigt die Schweiz, dass sie sich konsequent für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen einsetzt, wozu sie sich bereits mit dem vor zehn Jahren in Kraft getretenen Behindertengleichstellungsgesetz verpflichtet hat“ (Schweizerischer Bundesrat, 2014).
Entgegen der verbreiteten Behauptung erfüllt das Behindertengleichstellungsgesetz aber die Ansprüche der BRK nicht. Eine ganze Reihe von Gründen sprechen dafür, dass das Behindertengleichstellungsgesetz dem Geist und dem Inhalt der BRK angepasst werden muss (vgl. dazu auch Kälin u.a., 2008).
In der Behindertenrechtskonvention Art 24 heißt es: Die Vertragsstaaten stellen sicher, dass […]
b) Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben;
c) angemessene Vorkehrungen für die Bedürfnisse des Einzelnen getroffen werden
[…]
e) in Übereinstimmung mit dem Ziel der vollständigen Integration wirksame individuell angepasste Unterstützungsmassnahmen in einem Umfeld, das die bestmögliche schulische und soziale Entwicklung gestattet, angeboten werden“
(Vereinigte Nationen 2006, S. 17f).
Der Schweizerische Bundesrat hält in seiner Botschaft an das Parlament Ratifizierung der BRK folgendes fest:
„Der Bundesrat ist der Ansicht, dass das Übereinkommen im Bereich der obligatorischen Schule von den Kantonen nicht mehr verlangt als die erwähnten Garantien der Bundesverfassung und als Artikel 20 BehiG: Das Übereinkommen zielt ebenfalls primär auf die Integration von behinderten Kindern, was aber nicht bedeutet, dass nicht mehr auf die spezifischen Interessen des einzelnen Kindes im Rahmen einer Sonderschule eingegangen werden kann. Im Rahmen der aufgeführten Grundsätze haben behinderte Kinder, welche auf eine besondere schulische Infrastruktur angewiesen sind, auch weiterhin einen Anspruch darauf. Zentral ist das Wohl des Kindes.
Aus den Materialien zu den Übereinkommensentwürfen geht hervor, dass mit Artikel 24 Absatz 2 Buchstabe b keine Pflicht zum Besuch der Regelschule geschaffen werden soll, wenn dies mit den Bedürfnissen der Kinder nicht vereinbar ist. Die Konvention statuiert ebenso wenig wie Artikel 28 KRK ein absolutes Recht der Eltern, die Schulform für ihre Kinder auszuwählen; die Wahl der Eltern steht zudem unter dem Vorbehalt des Kindesinteresses (Art. 3 KRK)“ (Schweizerischer Bundesrat 2012, 702).
Diese Argumentation des Bundesrates ist nicht nachvollziehbar, weil sie den Geist der BRK nicht aufnimmt. „Das Übereinkommen [damit ist die BRK gemeint, Anmerkung des Verfassers] zielt ebenfalls primär auf die Integration von behinderten Kindern, was aber nicht bedeutet, dass nicht mehr auf die spezifischen Interessen des einzelnen Kindes im Rahmen einer Sonderschule eingegangen werden kann“(Schweizerischer Bundesrat 2012). Die BRK betont die Würde und die gleichen Rechte jedes Menschen, so auch der Menschen mit einer Behinderung. Das bedeutet, dass gemäss BRK die spezifischen Interessen des einzelnen Kindes hochgehalten werden müssen, z.B. mit „individuell angepassten Unterstützungsmaßnahmen“! Die BRK aber legt Wert darauf, dass es im Interesse des Kindes sei, „gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben“ auch zu lernen.
In diesem Zusammenhang müsste auch die Frage nach dem Elternwahlrecht diskutiert werden. Die BRK genauso wie die Kinderrechtskonvention legt nahe, dass dem Kind/Jugendlichen bei wichtigen Entscheiden eine selbstbestimmende Rolle zukommen muss. In den Abschliessenden Bemerkungen zum Staatenbericht Deutschlands hält der UN-Ausschuss denn auch fest: „Im Interesse der Inklusion ist das segregierte Schulwesen zurückzubauen, und er empfiehlt, dass Regelschulen mit sofortiger Wirkung Kinder mit Behinderungen aufnehmen, sofern dies deren Willensentscheidung ist“.
Hier zumindest wird dem Kind das Recht zugesprochen, sich für die Regelschule zu entscheiden und die Regelschule hätte dann die Pflicht, das Kind aufzunehmen und eine dem Kind angemessene Infrastruktur zur Verfügung zu stellen, sofern es das braucht. Eine Pflicht, dass Kinder und Jugendliche mit einer Behinderung die Regelschule besuchen müssten, ist nicht Gegenstand der BRK. Es geht nicht um die Besuchspflicht, sondern um die Angebotspflicht des Staates, sodass auch jedes Kind, ungeachtet seiner unterschiedlichen Voraussetzungen „gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen“ (BRK) hat.
Dieses Recht hat zur Folge, dass der Vertragsstaat, bzw. die Kantone in den Regelschulen und in weiterführenden Schulen angemessene Unterstützungsmaßnahmen und die damit verbundenen ökonomischen und personellen Ressourcen zur Verfügung stellen müssten.
Es ist überhaupt nicht einzusehen, weshalb geeignete Unterstützungsmaßnahmen bzw. eine besondere schulische Infrastruktur bloß in der Sonderschule angeboten werden könnten, wie dies der Schweizerische Bundesrat (2012) suggeriert. Auch die Kostenfrage – dazu gibt es verschiedene Gutachten – spricht nicht dafür, dass Sonderschulen ein qualitativ hochstehendes Angebot günstiger oder qualitativ besser anbieten können als Regelschulen.
Die offizielle Schweiz klammert sich immer noch und weitgehend unreflektiert an die deutschsprachige Übersetzung, obwohl der UN-Ausschuss für die BRK sich schon mehrfach und unmissverständlich für die Verwendung des Inklusionsbegriffs ausgesprochen hat.
„Die Behindertenrechtskonvention verwendet den Begriff «Inklusion», welcher anders als das Konzept der Einzelintegration eine umfassende strukturelle Ausrichtung der Schule auf Diversität beinhaltet. Bei der Umsetzung auf kantonaler Ebene wird man sich damit auseinandersetzen müssen, wie die Struktur des Grundschulangebotes dieser Vorgabe gerecht werden kann. Der Erfolg der Umsetzung wird namentlich auch davon abhängen, wie viele Ressourcen für die strukturellen und personellen Bedürfnisse einer inklusiven Schule zur Verfügung gestellt werden (insbesondere Ausbildung der LehrerInnen und Team-Teaching)“ (Kälin u.a., 2008).
Das Behindertengleichstellungsgesetz (2004) bezieht sich auf Kinder und Jugendliche. – Artikel 24 der BRK bezieht sich auf das ganze Bildungssystem, so auch auf die weiterführende nachobligatorische Bildung bis zur Hochschule.
Das Behindertengleichstellungsgesetz (2002) formuliert Grenzen der Integration.
Art. 20, 2: „Die Kantone fördern, soweit dies möglich ist und dem Wohl des behinderten Kindes oder Jugendlichen dient, mit entsprechenden Schulungsformen die Integration behinderter Kinder und Jugendlicher in die Regelschule.“
Die BRK sieht jedoch keine Grenze vor. Regelschulen haben Kinder ungeachtet ihrer unterschiedlichen Voraussetzungen aufzunehmen.
Das Zusatzprotokoll, das ein Individualbeschwerderecht vorsieht, wurde von der Schweiz bewusst nicht unterzeichnet. Der Bundesrat argumentiert, er wolle zuerst mit dem UN-Ausschuss Erfahrungen machen und erst dann das weitere Vorgehen prüfen.
Der Beitritt zur BRK wurde „lustlos bis widerwillig beschlossen, dem internationalen Image zuliebe“, stellt Ruedi Tobler, ein Schweizer Menschenrechtsexperte bedauernd fest. Immerhin wurde von keiner Seite ein Referendum (eine Volksabstimmung) zur Ablehnung eines Beitritts zur UN-BRK ergriffen (vgl. Tobler, 2015).
Der erste „Bericht der Schweizer Regierung über die Umsetzung der BRK“ berücksichtigt auch die Sicht der Behindertenorganisationen, vertreten durch Inclusion Handicap [5], die Dachorganisation der Behindertenorganisationen der Schweiz. Diese Organisation hatte die Möglichkeit, ihre Positionen und zentrale Anliegen bereits im ersten Staatenbericht kurz darzulegen. Im Anhang des Berichts der Schweizer Regierung schreibt der Dachverband in einer ersten allgemeinen Würdigung:
„Eine inklusive Schweiz, in der Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen selbstbestimmt leben können, liegt trotz teilweise bestehender Rechtsgrundlagen noch in weiter Ferne. […] Damit das Bildungssystem der Schweiz inklusiv im Sinne der BRK wird, ist eine grundlegende Anpassung des Systems und der rechtlichen Grundlagen erforderlich“ (Inclusion Handicap, Anhang in: Schweizerischer Bundesrat 2016, S. 62).
Eine Monitoringstelle zur Schaffung eines innerstaatlichen Koordinierungsmechanismus und zur Überwachung der Konvention, wie dies Artikel 33 der Konvention vorsieht, wurde bisher nicht geschaffen. Kälin u.a. (2008, S. 35-37) haben in einem vom Bund eingeholten Gutachten unmissverständlich dargelegt, dass diese Haltung im Widerspruch zur Konvention und nicht haltbar sei. – Eine unabhängige Monitoringstelle wäre aber von großer Bedeutung, insb. auch für die Förderung inklusiver Entwicklungen im Bildungsbereich, die – wie bekannt – in bedeutenden Teilen in der Verantwortung der Kantone liegt.
Artikel 8 der BRK nimmt die Unterzeichnerstaaten in die Pflicht, die Bewusstseinsbildung sofort und wirksam zu entwickeln. – Die Schweizer Regierung, die nationalen Parlamente ebenso wie die Kantone müssen sich mit der BRK auseinandersetzten. Die Zivilgesellschaft unter Einbezug u.a. von Menschen mit Behinderungen, die Politik und die Medien sind gefordert. Hier könnte und müsste jetzt die Politik wohl schwerpunktmäßig ansetzen.
Im September 2016 ist der „allgemeine Kommentar“ (general comment) Nr. 4, 2016 zum Artikel 24: Recht auf inklusive Bildung des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen erschienen (UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, 2016). Der Ausschuss erinnert in seinen allgemeinen Bemerkungen an die Verpflichtungen, die die Unterzeichnerstaaten eingegangen sind, präzisiert und erläutert den Artikel 24 und macht Empfehlungen in 73 Punkten.
Die BRK ist für das Schweizerische Bildungssystem mit seinen 26 Kantonen eine langfristige Herausforderung. – Voraussehbar wird der UN-Ausschuss dem Bundesrat erhebliche Versäumnisse vorhalten und umfangreiche Empfehlungen machen. Und es ist nicht unwahrscheinlich, dass einflussreiche gesellschaftliche Gruppen sich gegen diese [erneute] „Einmischung“ in die inneren Angelegenheiten der Schweiz lautstark verwahren werden, oder noch wahrscheinlicher, man wird kommentarlos darüber hinweggehen.
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Da – wie oben bereits gesagt – inklusive Entwicklungen in der Bildung auf nationaler Ebene kaum dargestellt werden können, werden im Folgenden die Entwicklungen in drei Schweizer Kantonen etwas ausführlicher beschrieben. Im
Die Entwicklungen im Kanton Zürich und jene in der französisch- und der italienisch-sprachigen Schweiz können in diesem Beitrag (noch) nicht vorgestellt werden.
Basaglia, Franco (Hrsg.): Was ist Psychiatrie? Frankfurt: Suhrkamp. 1974.
Bildungs- und Kulturdepartement des Kantons Luzern, Dienststelle Volksschule (2017): Zahlenspiegel 2016/17.
https://volksschulbildung.lu.ch/syst_schulen/ss_schulsystem/ss_syst_statistiken
(Stand: 18.03.2017)
Bildungs- und Kulturdepartement des Kantons Obwalden (2010): Sonderpädagogisches Konzept.
http://www.ow.ch/de/verwaltung/dienstleistungen/?dienst_id=2819 (Stand: 02.11.2016)
Bildungsdirektion des Kantons Zürich (2016): Bildungsstatistik. Bildung in Zahlen. http://www.bista.zh.ch/_vs/vs_sop.aspx
Booth, Tony & Ainscow, Mel (2017): Index für Inklusion. Ein Leitfaden für Schulentwicklung. Adaptiert für deutschsprachige Bildungssysteme und herausgegeben von Bruno Achermann, Donja Amirpur, Maria-Luise Braunsteiner, Heidrun Demo, Elisabeth Plate, Andrea Platte. Weinheim/Basel: Beltz
Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen (2004) (Behindertengleichstellungsgesetz, SR 151.3)
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Basisstufe / |
Die Basisstufe/Grundstufe ist eine Schulstufe, die zwei Jahre Kindergarten und ein bzw. zwei Schuljahr(e) zusammenführt: Grundstufe 4-7, Basisstufe 4-8); Es wird ohne Selektion, altersdurchmischt, nach individualisierten Zielsetzungen unterrichtet. |
Inklusion |
Wenn in diesem Artikel der Begriff Inklusion verwendet wird, dann im Sinne des Index für Inklusion: |
Integrative Schulung |
Die Lernenden mit besonderem Bildungsbedarf werden innerhalb der Regelklasse geschult und durch sonderpädagogische und gegebenenfalls pädagogisch-therapeutische Maßnahmen und/oder Klassenassistenz unterstützt. |
Integrative Förderung |
Kinder mit sog. Schulschwierigkeiten (im Lern- und Verhaltensbereich), welche früher eine Kleinklasse besucht haben, werden integrativ in Regelklassen von qualifiziertem Personal betreut. |
verstärkte (Sonderschul-) |
Kinder mit diagnostizierten Behinderungen werden von Fachpersonen unterstützt und in der Integration begleitet. Eine Sonderschule in der Region garantiert die fachliche Unterstützung (Fachpersonal, Know-how etc.). Im Rahmen der integrativen Sonderschulung sind auch therapeutische Angebote vorgesehen (z.B. Logopädie), die aufgrund der Indikation im Einzelsetting stattfinden können. |
Kleinklassen (KK), |
entspricht in Deutschland etwa den Sonderklassen (Lernen und soz.- emot. Entwicklung); Kleinklassen waren/sind aber meist in Regelschulen angesiedelt und nicht in abgetrennten Sonderschulen. vgl. auch https://www.lustat.ch/services/lexikon/definitionen?id=404 |
Schulische HeilpädagogIn (SHP) |
Schulische HeilpädagogInnen sind in der Schweiz immer ausgebildete Regelklassenlehrkräfte (des Kindergartens, der Primarstufe (Schuljahr 1-6) bzw. der Sekundarstufe I (Schuljahr 7-9), mit einer sonderpädagogischen Ausbildung. Anders als in Deutschland sind die Schulischen HeilpädagogInnen meist wenig spezialisiert. Sie machen in der Regel aufbauend auf einem Bachelor für PrimarlehrerInnen einen berufsbegleitenden Masterstudiengang. |
Sandra Däppen
Der folgende Beitrag nimmt Entwicklungen im Rahmen integrativer Schulung im Stadt- und Landkanton von Basel auf Kantons- und Institutsebene punktuell auf.
Die Kantone Basel-Stadt (BS) und Basel-Landschaft (BL) traten beide im Jahr 2010 dem Sonderpädagogik-Konkordat[6] bei, welches den gesamtschweizerischen Rahmen für die wichtigsten Maßnahmen im sonderpädagogischen Bereich regelt und den Vorrang integrativer gegenüber separativer Schulungsformen vorgibt (Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren 2007). In der Folge entwickelten sie gemeinsam ein harmonisiertes und koordiniertes Sonderpädagogik-Konzept, welches den Bereich der Sonderschule in die Verantwortung der öffentlichen Bildung überführt und intendiert, dass alle SchülerInnen im Raum Basel ihren individuellen Bedürfnissen entsprechend an ihrem Wohnort qualitativ hochwertig beschult werden (Davatz et al. 2010, 7). Mit dem Primat der Integration vor Separation sollen die finanziellen und personellen Ressourcen von der Sonder- in die Regelschule verlagert werden. Diese Umstrukturierungsprozesse werden dezentral von teilautonom geleiteten Schulen umgesetzt. Die Kantone BS und BL regeln den „Umgang mit besonderem Bildungsbedarf“ im sog. Kaskadenmodell (ebd.):
Abbildung 1: Das Kaskadenmodell (Davatz et al. 2010, 17)
Das Modell sieht vor, dass im Falle der Beobachtung einer Schwierigkeit schrittweise vorgegangen wird. Finden Lehrpersonen und die Schulleitung keine geeigneten Fördermöglichkeiten im „Grundangebot“, also im regulären Unterricht, leiten sie den zweiten Schritt ein. Mit der Vergabe „kollektiver Ressourcen“ können schulinterne Fachpersonen zur Förderdiagnostik und Unterstützung beigezogen werden. Reicht dieses Förderangebot nicht aus, tritt das im Sonderpädagogik-Konkordat geregelte „Standardisierte Abklärungsverfahren zur Ermittlung des individuellen Bedarfs“ (SAV) in Kraft, welches eine Abklärung durch eine externe Stelle, meist durch den Schulpsychologische Dienst, vorsieht. In diesem dritten Gang wird geklärt, welcher Förderbedarf vorliegt und ob die „Verstärkten Maßnahmen“ in einem integrativen oder separativen Schulangebot durchgeführt werden. Ob die Ressourcen letztendlich zur Verfügung gestellt werden, das entscheiden die kantonalen Erziehungsbehörden. Mit der Finanzierungszusage „individueller Ressourcen“ erfolgt für die betroffenen SchülerInnen eine Behinderungszuschreibung, das klassische Ressourcen-Etikettierungs-Dilemma. Andererseits berechtigt die vorliegende Diagnose zu fachspezifischer Beratung und Unterstützung und zur Einforderung des Nachteilsausgleiches.
Aus aktuellen Konzepten wird ersichtlich, dass die Kantone BS und BL das Kaskadenmodell unterschiedlich umgesetzt haben.
Im Kanton BL ist die Abteilung Sonderpädagogik des Amts für Volksschulen für die „Spezielle Förderung“ zuständig. Die Aufnahme in das Förderangebot, welches sowohl Spezialklassen als auch integrative Settings umfasst, erfolgt nur aufgrund einer Empfehlung der vom Kanton akzeptierten Abklärungsstellen: Schulpsychologischer Dienst, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Logopädische Dienste. Die Erziehungsberechtigten melden ihr Kind bei der jeweiligen Fachstelle an und äußern sich dazu, ob sie mit dem Entscheid z.B. bezüglich integrativer oder separativer Sonderschulung einverstanden sind.
Wesentliche „Abläufe, Strukturen, Rahmenbedingungen und Zuständigkeiten, die Kooperation im Team, die Qualitätssicherung und Evaluation“ sind im Konzept für die Integrative Schulungsform (ISF) geregelt (Amt für Volksschulen 2015a). Im Prinzip sollen alle SchülerInnen in Regelklassen integriert werden – einem Kind soll jedoch die Integration nicht „zugemutet“ werden, wenn es die nötigen Voraussetzungen dazu nicht mitbringt bzw. aufgrund seiner Bedürfnisse dazu nicht „in der Lage ist“ (ebd., 3). Ressourcen werden schon im Förderangebot individuell zugeteilt und nicht wie ursprünglich im Kaskadenmodell vorgesehen schulintern vergeben. „Für je 80 SchülerInnen der Kindergarten- und Primarstufe steht der Schulleitung einer Schuleinheit ein 100%-Pensum […] zur Verfügung (entspricht 0,33 Lektionen pro Schülerin bzw. pro Schüler“ (Amt für Volkschulen 2012, 1). Sobald für ein Kind „mit kognitiven Lernstörungen, Lernbeeinträchtigungen, Lernbehinderungen oder besonderer Leistungsfähigkeit“ heilpädagogische Unterstützungslektionen zur Verfügung gestellt werden, hat dies zur Folge, dass „ISF“ zwingend im Zeugnis vermerkt werden muss (Amt für Volksschulen 2015a, 5).
Das Konzept Integrative Sonderschulung (InSo) regelt die Integration von SchülerInnen, welchen eine Behinderung zugeschrieben wurde – im Kaskadenmodell entspricht dies der Stufe „Verstärkte Maßnahmen“. Vier Fachzentren sind für die Beratung und Unterstützung von Kindern mit Behinderungen zuständig. Bei einer Einzel- oder Doppelintegration können bis max. acht Lektionen Heilpädagogik, max. 20 Lektionen Sozialpädagogik oder max. vier Lektionen Logopädie zur Verfügung gestellt werden (Amt für Volksschulen 2015b, 5). Der Einsatz von Assistenzpersonen ist ebenso möglich. Die Klassenlehrperson erhält zudem semesterweise eine Kooperationspauschale von Fr. 1000.- (ebd., 11). Es können auch drei bis fünf SchülerInnen mit einer Behinderung in einer Integrationsklasse unterrichtet werden. Hier führen die Klassenlehrperson und die Fachperson für Heil- und Sonderpädagogik die Klasse zu je einem Vollpensum gemeinsam, wobei ihnen zusätzlich zwei Wochenlektionen für die Kooperation und ggf. eine Klassenassistenz zustehen (ebd.).
Im Kanton BS wird die Gesamtzahl der wöchentlichen heilpädagogischen Unterstützung aus dem Faktor 0.23 Lektionen pro Schülerin und Schüler berechnet (Amt für Volksschulen 2012, 2). Zusätzliche Ressourcen werden aufgrund eines definierten Sozialindexes ermöglicht. Wie im Kaskadenmodell vorgesehen, entscheidet die lokale Schulleitung gemeinsam mit dem Förderteam über Art, Umfang und Zuweisung der Förderung. Den pädagogischen Teams, bestehend aus Fach- und Lehrpersonen wie ggf. Assistenzpersonen oder PraktikantInnen, wird eine hohe Autonomie in der Feststellung von Bildungsbedarfen, im Einsatz der Förderressourcen, in der Umsetzung der Fördermaßnahmen und deren Evaluation zugestanden. „Ein besonderer Bildungsbedarf kann sich ergeben aufgrund von Leistungsschwäche, Behinderungen, mangelnden Deutschkenntnissen, auffälligen Verhaltensweisen, besonderen Biografien oder besonderer Leistungsfähigkeit“ (Regierungsrat Basel-Stadt 2014, 1). Bei starkem und dringendem Förderbedarf können in einem nächsten Schritt „Verstärkte Maßnahmen“ beantragt werden. „Die Schulleitung meldet die Schülerin oder den Schüler beim schulpsychologischen Dienst an und informiert die Erziehungsberechtigten“, womit das SAV initiiert wird (ebd., 5). Eine ausreichende sonderpädagogische Förderung und Unterstützung soll weitgehend im integrativen Regelunterricht erfolgen. Sie hat zum Ziel, die betroffenen SchülerInnen gemäß ihren „Begabungen und Fähigkeiten“ zu bilden, damit sie „so selbständig wie möglich am gesellschaftlichen Leben“ teilnehmen können (ebd., 2).
Die Schulen im Kanton BS scheinen über eine höhere Selbstbestimmung und Flexibilität zu verfügen, was die Vergabe von internen kollektiven Ressourcen und die Möglichkeit, ein Kind auch ohne das Einverständnis der Eltern zur externen Abklärung anzumelden betrifft.
Wie sich die kantonalen Konzepte, welche auf den gesetzlichen Grundlagen basieren, konkret ausgestalten, thematisiert der folgende Abschnitt.
Das 2008 vom Erziehungsdepartement Basel-Stadt (BS) in Auftrag gegebene Rahmenkonzept „Förderung und Integration an der Volksschule“ beschreibt die eingeschlagene Strategie und strebt nach folgenden Zielen:
2014 liegt erstmals das Ergebnis einer externen Evaluation vor mit den Empfehlungen, den eingeschlagenen Kurs einer „Schule für alle“ weiterzuverfolgen, jedoch das Ausmaß der zu verfassenden Formulare zu reduzieren sowie mit der Feststellung, dass BS hinsichtlich „Konzeption, Gesetzgebung, Organisation und Ressourcen“ anderen Kantonen weit voraus und zügig unterwegs sei (Liesen; Lienhard 2014).
Weiter verdeutlichen aktuelle statistische Daten, dass die Anzahl an SchülerInnen in separativen Angeboten in BS über die Jahre sukzessive reduziert werden konnte (Erziehungsdepartement Basel-Stadt, 2016):
Abbildung 2: SchülerInnen in separativen Angeboten
Um dem gesetzlichen Auftrag der Integration vor Separation Folge zu leisten, wurden in BS 2010/2011 die Heilpädagogischen Sonderschulen[7] und 2012/2013 die Kleinklassen aufgelöst sowie die „Förderressourcen an den Regelstandorten der Volksschule weiter ausgebaut“ (ebd., 21).
Gemäß Bildungsbericht 2015 des Kantons Basel-Land (BL) ist eine Verschiebung von separativen zu integrativen Fördersettings erkennbar – gut 95% der SchülerInnen besuchen die Regelschule (Bildungs-, Kultur- und Sportdirektion Basel-Landschaft 2015, 45). Der Anteil an SchülerInnen, welcher in Sonderschulen oder in Sonderklassen beschult wird, nimmt stetig ab, wobei derjenige an integrativ Beschulten stets zunimmt: Zwischen 2010 und 2014 nahm die Anzahl der SchülerInnen in der ISF um 80% und in der InSo um 63% zu (vgl. Abbildung 3). Über 4000 Kinder bzw. 23% der SchülerInnen nehmen Deutsch als Zweitsprache (DaZ) in Anspruch. In Sonderklassen und Sonderschulen sind Jungen gegenüber Mädchen und SchülerInnen mit ausländischem gegenüber solchen mit Schweizer Pass stark übervertreten (ebd., 23).
Abbildung 3: Anteil der Lernenden in integrativen und separativen Angeboten
In der Umsetzung der Strategien, Ziele und Konzepte bieten die kantonalen Erziehungsdepartemente Support für in Bildungseinrichtungen agierende Personen.
Auf den Internetseiten der kantonalen Behörden sind in beiden Kantonen hilfreiche Informationen, Konzepte (z.B. zur Kooperation im Team), Formulare (z.B. Anträge, Förderplanung, Nachteilsausgleich), Merkblätter und Tagungshinweise zu finden. Erwähnenswert ist die ‚Fachstelle Förderung und Integration‘ in Basel, welche Anlaufstelle für die Bereiche Frühe Deutschförderung, Deutsch als Zweitsprache, Begabungs- und Begabtenförderung, Schulische Heilpädagogik, Logopädie, Psychomotorik, Heimatliche Sprache und Kultur und Nachteilsausgleich ist. Sie bietet fachspezifische Beratung und Begleitung in Entwicklungsprozessen wie auch Weiterbildung an – z.B. in Zusammenarbeit mit dem Pädagogischen Zentrum Basel zum Bereich ‚Diagnostik, Förderung, ISF‘ (https://www.edubs.ch/dienste/Dienste-VS/ffi). Zudem stellt das Erziehungsdepartement BS den Schulleitungen ein Orientierungsraster für die Schulentwicklung und Schulevaluation für die Integrative Schule zur Verfügung. Dieses kann zur Standortbestimmung in Entwicklungsprozessen und für das Einleiten gezielter Maßnahmen genutzt werden. Zu acht Entwicklungsfeldern wie bspw. „Umgang mit Vielfalt: Grundhaltungen und Konzepte“ oder „Lehr- und Lernarrangements im integrativen Unterricht“ werden Leitsätze und Indikatoren (Defizitstufe, elementare Entwicklungsstufe, fortgeschrittene Entwicklungsstufe und Excellence-Stufe) aufgeführt (Erziehungsdepartement Basel-Stadt 2015, 3).
Das Institut für Spezielle Pädagogik und Psychologie (ISP) in Basel, welches zur Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz (PH FHNW) gehört, informiert auf der Internetstartseite über den Institutsschwerpunkt „Inklusive Pädagogik“ (http://www.fhnw.ch/ph/isp). „Der Beitrag des ISP besteht darin, inklusionspädagogisches Wissen, Können und Einstellungen in Lehre und Forschung zu vermitteln, zu entwickeln und zu erproben“ (ebd.). Die Professur Inklusive Didaktik und Heterogenität bedient die sog. Modulgruppe ‚Heil- und Sonderpädagogik‘ – ab Studienjahr 2017/18 ‘Inklusive Bildung’ genannt – in den Bachelor-Studiengängen der Vor-, Primar- und Sekundarschulstufe mit der Vorlesung ‚Inklusion, Schule, Gesellschaft‘ und den Seminaren ‚Inklusive Unterrichtsentwicklung‘ und ‚Kooperation im Kontext von Schule und Unterricht‘.
Im Bachelor-Studiengang Logopädie und im Master-Studiengang Sonderpädagogik mit den Vertiefungsrichtungen Heilpädagogische Früherziehung und Schulische Heilpädagogik werden Grundkenntnisse inklusiver Bildung vermittelt und im Rahmen der Berufspraktischen Studien praxisorientiert reflektiert. Mit dieser Qualifizierung will die PH FHNW einen Beitrag dazu leisten inklusive Strukturen, Kulturen und Praktiken zu entwickeln, was „spezifisches und vertieftes Wissen und Können verlangt, das möglichst allen Kindern und Jugendlichen, speziell aber jenen mit einem besonderen Bildungsbedarf zu gute kommt“ (Kraus; Weisser 2015, 25).
Mit der online-Zeitschrift „inklusive“ leistet das ISP einen Diskussionsbeitrag rund um eine inklusive Bildungspraxis und tritt in einen facettenreichen Dialog. Die letzte Ausgabe beschäftigt sich bspw. mit der UN-Behindertenrechtskonvention und damit, wie diese im Kontext lebenslangen Lernens konkretisiert werden kann (http://www.fhnw.ch/ph/isp/publikationen-ppt-neu/abinklusive.bb-zeitschrift-spezielle-paedagogik-und-psychologie).
In Kooperation mit dem Institut Weiterbildung und Beratung (IWB) gestaltete das ISP für jede Unterrichtsstufe eine DVD ‚Spannungsfelder im integrativen Unterricht‘, welche die Dimensionen „Individuum und Gemeinschaft, Offenheit und Strukturierung, Lernzugänge und Fachsystematik, Förderung und Selektion“ thematisiert (vgl. Werning; Lütje-Klose, 2012). Diese Videobeispiele werden in der Lehre und in Kursen zur Veranschaulichung, Fallarbeit und Diskussion eingesetzt.
Eine weitere Zusammenarbeit des ISP fand mit der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft statt. Die 50. Arbeitstagung der Dozierenden der Sonderpädagogik in den deutschsprachigen Ländern zum Thema ‚Bildungs- und Erziehungsorganisationen im Spannungsfeld von Inklusion und Ökonomisierung‘ wurde 2015 am ISP in Basel durchgeführt.
Zudem bietet die PH FHNW gemeinsam mit den Kantonen BL und BS eine Veranstaltungsreihe ‚Inklusion: Beiträge der Schulischen Heilpädagogik‘ (http://www.fhnw.ch/ph/iwb/entwicklungsschwerpunkte/integrative-schulung-bl) an, welche sich an Fachpersonen aus der Schulischen Heilpädagogik richtet und einen Beitrag zur Rollenklärung und Vernetzung leisten will. In den Jahren 2016 und 2017 stehen folgende Themen im Zentrum: ‚Entwicklungsorientierte Zugänge im Lehrplan 21, Schulsprache – Mehrsprachigkeit – Spracherwerbsstörungen, Lernunterstützung bei Rechenschwierigkeiten, Exklusion in der Inklusion?, Tablet-Einsatz bei Schülerinnen und Schülern mit besonderem Bildungsbedarf und Den Auftrag der Schulischen Heilpädagogik in der Schule reflektieren‘.
Das IWB bietet einen Zertifikatslehrgang ‚CAS Heterogenität und Zusammenarbeit im Unterricht‘ für Klassenlehrpersonen und Förderlehrpersonen an und stellt einen Weiterbildungslehrgang ‚Kompetenzvertiefung in Schulischer Heilpädagogik‘ für Fachpersonen in Schulischer Heilpädagogik zur Verfügung, welche bisher in separativen Settings tätig waren und neu an einer integrativen Schule wirken.
Die PH FHNW leistet im Auftrag der Trägerkantone einen wesentlichen Beitrag zur differenzierten Auseinandersetzung mit dem Thema Inklusion und regt damit an, Professionalität und Kompetenz in einem spannungsreichen Handlungsfeld zu erwerben. „Sie ermöglicht es, im Berufsfeld wirkungsvoll handeln und Entwicklungen im Sinne von Inklusion vorantreiben zu können“ (Kraus; Weisser 2015, 25).
Der Vergleich der beiden Nachbarskantone im Raum Basel verdeutlicht, wie unterschiedlich in einem föderalistischen Bildungssystem nationale Konzepte wie das Sonderpädagogik-Konkordat auf Kantonsebene und in der Folge kantonale Integrationskonzepte auf Gemeindeebene interpretiert und umgesetzt werden können. Der Bericht schließt mit ein paar Gedanken / Folgerungen hinsichtlich der Entwicklung zu einer Schule für alle ab.
Die Kantonshoheit im Bildungsbereich verlegt die Umsetzungskompetenz in die Hände einzelner Kantone. Die damit verbundenen Gestaltungsspielräume werden individuell wahrgenommen und genutzt, woraus resultieren kann, dass schulische Integrationsprozesse langsamer oder rascher voranschreiten.
Während BS eine klare Strategie mit dem Ziel der Integration aller SchülerInnen in die Schule am Wohnort und ihrer Teilhabe in der Gesellschaft verfolgt, was die Auflösung von Sonderschul- und Kleinklassenangeboten mit sich bringt, äußert sich BL strategisch weniger deutlich und will die Bedürfnisse von ‚nicht integrierbaren SchülerInnen‘ berücksichtigen. Bezüglich der Abschaffung von Einführungs- oder Kleinklassen äußern basel-landschaftliche Nationalratskandidierende Vorbehalte – erstaunlicherweise wird in keiner der Aussagen die UN-BRK (z.B. Artikel 24) erwähnt, welche 2014 auch durch die Schweiz ratifiziert wurde (Lehrerinnen- und Lehrerverein Baselland 2015, 55). Mit rund fünf Prozent separiert beschulter SchülerInnen gehört BL schweizweit zu den Kantonen, in welchen am meisten SchülerInnen ausgesondert werden.
In einer an Inklusion orientierten Perspektive, welche befragt wie integrationsfähig das Schulsystem und nicht das Kind ist, steht insbesondere der Kanton BL vor der Herausforderung, bildungspolitische Entscheide zu treffen, welche die Separierungsquoten senken und die Ressourcen für die Sonderschulung deutlicher von der Separation in die Integration überführen.
Mit pauschalen Ressourcierungsmodellen, die nach der Anzahl von SchülerInnen und gemäß sozialer Indikatoren berechnet werden, kann die professionelle Zusammenarbeit in der Schuleinheit vor Ort gestärkt werden. So haben die pädagogischen Teams in basel-städtischen Schulen die Möglichkeit, ihr Förderangebot in hoher Autonomie und Eigenverantwortung flexibel zu gestalten und dabei vielfältige Heterogenitätsdimensionen zu berücksichtigen. Im Kanton BL darf ein Kind nur gefördert werden, wenn es vorher extern – meist intelligenzdiagnostisch und leistungsorientiert – abgeklärt wurde. Dies kann zur Folge haben, dass die nötige Unterstützung weniger rasch gewährleistet wird, da die Schulpsychologischen Dienste eine fast nicht zu bewältigende Anzahl an Abklärungen durchführen müssen. Die deutliche Zuweisung und Markierung von ‚ISF-Kindern‘ gegenüber ‚Regelkindern‘ kann stigmatisierend wirken und dazu führen, dass die kooperierenden Fach- und Lehrpersonen weiterhin in Zuständigkeiten denken und die Entwicklung und Verantwortung eines binnendifferenzierenden Gemeinsamen Unterrichts für alle SchülerInnen stagniert.
Eine am lokalen Umfeld und ihren Systemen wie an vielfältigen Heterogenitätsdimensionen orientierte pauschale Ressourcenzuweisung und die intra- und interdisziplinäre Unterstützung durch Teams vor Ort sind auszuweiten. Eine Ressourcierung, welche sich an Individuen und Kategorien (Behinderung, Leistung, Verhalten) orientiert, ist mit Vorsicht und Achtsamkeit durchzuführen (vgl. Boban; Hinz 2015, 37). Im Kanton BL könnten somit die Mittel, welche für die ISF-Abklärungen durch Fachstellen aufgewendet werden, direkt und unkompliziert den unterstützungsbedürftigen SchülerInnen zufließen.
Professionalität beinhaltet somit die Reflexion von widersprüchlichen Anforderungen an die eigene Rolle, z.B. die Anforderung, die Vision Inklusion in einem separierenden System zu verfolgen oder zugleich fördern und selektieren zu müssen. Für den Umgang mit solchen Spannungsfeldern gibt es keine Rezepte, gilt es doch Handlungsspielräume auszuloten und situative Handlungssicherheit zu erlangen. In Bildungsinstitutionen sollte dem fallbezogenen Austausch und der Diskussion von Antinomien im Rahmen inklusiver Bildung ausreichend Raum gegeben werden.
Amt für Volksschulen (2012): Anhang Integrative Schulung. Quervergleich Ressourcierung Förderangebote mit einigen deutschschweizerischen Kantonen. https://www.baselland.ch/fileadmin/baselland/files/docs/polit-rechte/vernehml/vern2012/g_bildung/ressourcierung_4.pdf, [Stand: 17.3.2016].
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Amt für Volksschulen (2015b): Konzept Integrative Sonderschulung (InSo). Integration im Rahmen der Sonderschulung nach Bildungsgesetz § 47. http://www.avs.bl.ch/fileadmin/Dateien/Dienstleistungen_Themen/Sonderschulung/Integrative_Sonderschulung_Konzept_Oktober_2015.pdf, [Stand: 17.3.2016].
Bildungs-, Kultur- und Sportdirektion Basel-Landschaft (2015): Bildungsbericht 2015 Kanton Basel-Landschaft. http://www.avs.bl.ch/fileadmin/Dateien/Bildungsstudien/Bildungsbericht_BL_2015_BKSD_23-12-2015.pdf, [Stand: 17.3.2016].
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Lehrerinnen- und Lehrerverein Baselland LVB (Hrsg.) (2015): Zeitschrift des Lehrerinnen- und Lehrervereins Basel-Land. lvb inform 2015/16-01. http://www.lvb.ch/docs/magazin/2015_2016/LVB_inform_1516-01_komplett.pdf, [Stand: 20.3.2016].
Caroline Sahli Lozano
Die Verantwortung für die Beschulung verteilt sich im Kanton Bern derzeit auf zwei Instanzen. Die Erziehungsdirektion (ERZ) ist für die Regelschulen verantwortlich, die Zuständigkeit für die kantonal zugelassenen Sonderschulen liegt bei der Gesundheits- und Fürsorgedirektion (GEF) (vgl. Abbildung 1; ERZ 2009, 9).
Abbildung 4: Geteilte Zuständigkeit für Regel- und für Sonderschulen (ERZ 2009, S. 9)
Die Erziehungsdirektion hat den Auftrag, dafür zu sorgen, dass Kinder und Jugendliche mit ausgeprägten Lern-, Leistungs-, Verhaltens-, Bewegungs- und Sprachbeeinträchtigungen, wie auch Kinder und Jugendliche mit außerordentlichen Begabungen, von besonderen Maßnahmen (div. Spezialunterricht, Besondere Klassen/Sonderklassen) profitieren können und individuell (mit eventuell angepassten Lernzielen) gefördert werden (ERZ 2009).
Im Bereich der ‚Anderweitigen Schulung’ (GEF) werden zwei Bereiche unterschieden. Einerseits die vom Kanton zugelassenen Sonderschulen, andererseits die vom Bundesamt für Justiz zugelassenen Institutionen für Kinder und Jugendliche mit einer sozialen Indikation und/oder Verhaltensauffälligkeit.
Werden SchülerInnen aus diesen zwei Bereichen integrativ unterrichtet und unterstützt, unterscheidet man zwei Pools:
Aus dem Integrationspool (Pool 1) können Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung oder frühkindlichem Autismus im Kindergarten und der Volksschule (1.-9. Schuljahr) unterstützt werden. Ein Kind mit einer Behinderung hat Anrecht auf eine angemessene Schulbildung, welche im Kanton Bern in der Regel durch eine Sonderschule vermittelt wird. Unter bestimmten Voraussetzungen kann es den Kindern und Jugendlichen allerdings ermöglicht werden, die Sonderschulung integrativ in öffentlichen Volksschulen zu absolvieren. Dafür stehen heilpädagogische Unterstützungslektionen zur Verfügung, die von den heilpädagogischen Schulen verwaltet werden (GEF, 2009). Die aus dem Pool 1 unterstützten Kinder haben auch im Regelklassenkontext einen Sonderschulstatus.
Aus dem Pool 2 wird die integrative Schulung von RegelschülerInnen mit Asperger Syndrom, schweren Wahrnehmungsstörungen und/oder schweren Störungen des Sozialverhaltens im Kindergarten und in der Volksschule finanziert. Zu deren Unterstützung wird auch ein Lektionenpool zur Verfügung gestellt (Gesundheits- und Fürsorgedirektion des Kantons Bern, 2009). Die im Rahmen des Pool 2 unterstützten SchülerInnen haben im Gegensatz zu den Kindern, die von Pool 1 profitieren, einen Regelschulstatus.
Im nächsten Abschnitt werden die Ausgestaltung und gesetzlichen Rahmenbedingungen der verschiedenen Formen näher dargestellt.
Als Grundlage für die Umsetzung eines integrativen Bildungssystems im Kanton Bern dient der Artikel 17 des Berner Volksschulgesetzes (VSG) (revidierte Version von 2001). Darin wird festgehalten:
„SchülerInnen, deren schulische Ausbildung durch Störungen und Behinderungen oder durch Probleme bei der sprachlichen und kulturellen Integration erschwert wird, sowie SchülerInnen mit außerordentlichen Begabungen soll in der Regel der Besuch der ordentlichen Bildungsgänge ermöglicht werden.
Die Bildungsziele werden soweit nötig durch besondere Maßnahmen wie Spezialunterricht, besondere Förderung oder Schulung in besonderen Klassen, die grundsätzlich in Schulen mit Regelklassen zu integrieren sind, angestrebt“ (Regierungsrat des Kantons Bern, 2001).
Die Verordnung zu den besonderen Maßnahmen (BMV) von 2008 regelt die besonderen Maßnahmen im Kindergarten und in der Volksschule, die Zuweisungsverfahren sowie die Finanzierung.
Die bisher vorhandenen finanziellen Mittel für besondere Maßnahmen (Kleinklassen, Spezialunterricht etc.) wurden erhöht und den Gemeinden in Form eines Lektionenpools zur Verfügung gestellt. Dieser wird alle drei Jahre neu berechnet und bezieht bei der Berechnung die Anzahl Schulkinder, den Sozialindex einer Gemeinde sowie die Klassengrößen mit ein (ERZ 2009, 36). Für die Angebote zur Förderung außerordentlich begabter SchülerInnen wird den Gemeinden zusätzlich eine Quote zugeteilt, die von den zur Verfügung gestellten Mitteln abhängig ist.
Über die Verwendung der Lektionen aus dem Pool entscheiden die Gemeinden autonom. Dabei sind entweder rein integrative Modelle oder auch Mischmodelle (mit Klassen zur besonderen Förderung) möglich. Rein separative Schulmodelle sind hingegen gesetzlich nicht mehr zulässig. Der Lektionenpool für die übrigen besonderen Maßnahmen darf für besondere Klassen einen Anteil von höchstens 50% ausmachen (Erziehungsdirektion des Kantons Bern, 2009).
Im Bereich der Regelschulen existieren neben den Schulleitungen für die jeweiligen Schulstandorte spezifische IBEM-Schulleitungen, die für die Umsetzung der Integration und der Besonderen Maßnahmen zuständig sind. Diese unterstützen und beraten die Schulleitungen bei der Umsetzung der Besonderen Maßnahmen und sind jeweils für größere Einzugsgebiete zuständig.
Kinder und Jugendliche mit Behinderungen können im Kanton Bern entweder in Sonder-schulen und Sonderschulheimen unterrichtet werden oder in einer Regelschule bzw. einem Regelkindergarten integriert werden. Zur Unterstützung der so genannten ‚Integrationsvorhaben’ liegt seit August 2011 ein Integrationspool vor (GEF-Pool 1). Dieser Pool wird von den heilpädagogischen Schulen verwaltet (Pfister 2013, S. 11).
Die integrative Schulung ist bewilligungspflichtig und beruht auf einem kinder- und jugendpsychologisch/-psychiatrischem Abklärungs- und Entscheidungsprozess. Dazu müssen bei der Gesundheits- und Fürsorgedirektion (GEF) Gesuche für Maßnahmen der Sonderschulung (Beiträge für Lektionen) für die integrative Schulung eingereicht werden. Im Kanton Bern entscheidet die Regelschule mit, ob das betreffende Kind aufgenommen wird (Leitfaden GEF, 2009, 9). Wenn die Schulkommission dies nicht befürwortet oder die Lehrperson sich dazu nicht befähigt fühlt, findet die schulische Integration nicht statt. Zudem müssen die pädagogischen Ressourcen innerhalb der Klasse gegeben sein, damit eine Integration in Frage kommt (ebd., 9f). Wird ein Gesuch gutgeheißen, wird die integrative Sonderschulung in der Regel für die Dauer eines Schuljahres bzw. bis zum Ende des laufenden Schuljahrs bewilligt. Das heißt, dass Gesuche zur integrativen Beschulung jedes Schuljahr erneut eingereicht werden müssen (Pfister 2013, S. 11). In der Regel können pro Schulkind und Woche maximal sechs Lektionen Schulische Heilpädagogik (SHP) bewilligt werden.
Kinder und Jugendliche mit Asperger-Syndrom, mit einer schweren Wahrnehmungsstörung und/oder schweren Störungen des Sozialverhaltens, welche eine Regelschule besuchen, können, ebenfalls von der GEF finanziert, mit heilpädagogischen Lektionen (GEF-Pool 2) unterstützt werden (GEF, 2009). Der Pool 2 wird durch die Schulinspektorate der Erziehungsdirektion verwaltet. Seit 2012 sind die Mittel für den GEF-Pool 2 begrenzt (Pfister, 2013, 11), da nach der Schaffung des Pools eine (zu) große Nachfrage nach Lektionen vorhanden war. In der Regel beträgt die Anzahl Lektionen SHP nun pro Schulkind 4-6 Lektionen pro Woche.
Von 1998 bis 2008 hat die Anzahl Kleinklassen (D: Förderklassen) im Kanton Bern trotz gesetzlicher Grundlagen mit Integrationsziel zunächst einmal um einen Drittel, von rund 300 auf über 400 Klassen, zugenommen. Die Berner Volksschule hat sich also in Richtung Separation anstatt in einer ersten Phase der gewünschten Integration entwickelt (ERZ 2009, S. 2; Pfister, Eckhart & Bärtschi, 2012; Pfister, 2013). Dies kann unter anderem durch ein falsches Anreizsystem erklärt werden. Wurden SchülerInnen in die Regelklassen integriert, verlor die Schule die Lektionen, die für die Beschulung in der Kleinklasse zugesprochen wurden. Um diesem falschen Anreiz entgegenzuwirken, wurden durch das Inkrafttreten der Verordnung zu den besonderen Maßnahmen (BMV) die finanziellen Ressourcen erhöht und ein Lektionenpool für die besonderen Maßnahmen bereitgestellt. „Gemeinden und Schulen, die zur Integration bereit sind, sollen diese ohne Nachteile realisieren können“ (ERZ 2009, S. 2).
Bereits kurze Zeit nach Einführung der gesetzlichen Veränderungen zeigten sich erste Auswirkungen in den Schulen. So kann eine mit der Verordnung angestrebte Abnahme des Unterrichts in besonderen Klassen zugunsten des Spezialunterrichts in integrativen Settings beobachtet werden. Im Jahr 2011 zeigte sich seit Einführung der neuen Verordnung (BMV) eine drastische Abnahme der besonderen Klassen um über die Hälfte (Stricker & Pfister, 2011). Seitdem hat der Anteil noch einmal abgenommen (Stricker & Pfister, 2015).
Dementsprechend hat der Spezialunterricht, insbesondere im Bereich der integrativen Förderung im Bereich der niederschwelligen Maßnahmen stark zugenommen. Die erwünschte Verlagerung vom Kleinklassenunterricht zum integrativen Regelklassenunterricht zeichnet sich deutlich ab. Die massive Abnahme der ehemaligen Kleinklassen zugunsten der integrativen Förderung ist Beleg dafür, dass viele Schulen sich auf dem Weg der Umsetzung des Integrationsartikels befinden (Stricker & Pfister, 2015). Allerdings bestehen aufgrund der relativ offenen kantonalen Vorgaben in vielen Schulen Mischmodelle, in denen neben den integrativen Maßnahmen weiterhin besondere Klassen/Kleinklassen bestehen bleiben.
Die integrative Sonderschulung (Pool 1) hat deutlich zugenommen und wird breiter umgesetzt. SchülerInnen mit so genannt geistigen Behinderungen werden somit vermehrt integrativ in Regelklassen unterrichtet. Im Schuljahr 2012/2013 wurden im Kanton Bern etwa 250 solche ‚Integrationsprojekte’ realisiert, Tendenz steigend.
Diese rapide Entwicklung muss allerdings auch kritisch betrachtet werden. Involvierte Personen vermuten, dass die Sonderschulung nicht nur Lernende eingliedert, die früher in einer Sonderschule geschult worden wären, sondern auch solche, bei denen eine entsprechende Schulung früher nicht in Betracht gezogen worden wäre (Pfister, 2013). Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass ein Kind mit Sonderschulstatus mehr heilpädagogische Unterstützungslektionen erhält als ein Kind, welches mit den besonderen Maßnahmen gemäß BMV unterstützt wird (ebd., 27). Trotz der Abnahme der Sonderschulen hat die Anzahl Sonderschulberechtigter im Kanton Bern von 2008 bis 2009 zugenommen, wobei ein Teil der Zunahme der Veränderung der Erhebungsmethode im Jahr 2009 zugeschrieben werden kann (Pfister, 2013).
Detaillierte Analysen zeigen, dass die Anzahl ausländischer sonderschulberechtigter Kinder über die Beobachtungszeit hinweg leicht zugenommen hat, während die Gesamtzahl ausländischer SchülerInnen im Kanton stabil blieb (ebd.). Es ist deshalb zu vermuten, dass ausländische Kinder im Zuge der Integration eher in der Sonderschule verbleiben. Dies könnte unter anderem damit zusammenhängen, dass die Initiative für die integrative Sonderschulung eines Kindes meist von den Eltern ergriffen wird und das Bewilligungsverfahren einer integrativen Sonderschulung angemessene Sprachkenntnisse sowie Kenntnis über die involvierten Stellen erfordert.
Zu beachten ist im Weiteren, dass die heilpädagogischen Schulen welche die Pool 1 Lektionen verwalten, keine Auflagen bzgl. der Reduktion der Anzahl ihrer separativ geschulten SchülerInnen haben, im Verhältnis zur zunehmenden Anzahl integrierter SonderschülerInnen. D.h. die Zunahme an integrativ geschulten Kindern führt nicht zwingend zu einem Abbau der Sonderschulklassen.
Auch die Anzahl RegelschülerInnen mit heilpädagogischen Unterstützungslektionen der GEF (Pool 2), von denen die Mehrheit die Diagnose ‚Asperger-Syndrom’ hat, hat bedeutsam zugenommen (Pfister, 2013). Während im Schuljahr 2005/06 nur drei Kinder und Jugendliche unterstützt wurden, waren es fünf Jahre später schon 142 Kinder. Im Schuljahr 2012/2013 wurden insgesamt etwa 300 SchülerInnen mit Lektionen aus Pool 2 integrativ unterstützt. Allerdings muss auch diese Entwicklung kritisch betrachtet werden, so hat sich die Prävalenz von Autismus in den letzten 30 Jahren stark verändert. Vermutlich trägt unter anderem die präzisere, frühere und großzügigere Ausstellung der Diagnose „Asperger-Syndrom“ zur steigenden Anzahl integrierter RegelschülerInnen bei (Pfister 2013).
Grundsätzlich bieten die gesetzlichen Grundlagen des Kantons Bern eine gute Basis für weitere Entwicklungen Richtung Integration. Die aufgezeigten Entwicklungen deuten darauf hin, dass sich viele Schulen in Richtung Integration bewegen. Die starke Abnahme der Klassen für besondere Förderung (D: Sonderklassen) und die Zunahme des integrativen Unterrichts lassen einen positiven Trend erkennen.
Die Verordnung über die besonderen Maßnahmen in der Volksschule (Regierungsrat des Kantons Bern, 2007), basiert auf der Überzeugung, dass jede Gemeinde bzw. Schule die richtige Mischung aus integrativen und separativen Elementen selbst finden muss. Mit der Einführung von fest zugeteilten Lektionenpools sind die Gemeinden/Schulstandorte seit 2009 befähigt, in eigener Verantwortung über die Verwendung der verfügbaren Lektionen zu bestimmen.Der durch diese flexiblen Rahmenbedingungen des Kantons Bern entstandene Handlungsspielraum und die eigene Autonomie werden gemäß eines Berichts der Erziehungsdirektion von den Schulen und Gemeinden wertgeschätzt (Ulshöfer, 2015, S. 25). So können einzelne Schulstandorte die Umsetzung der Integration den Bedürfnissen und den lokalen Gegebenheiten anpassen. Wie einige Schulen diesen Freiraum auf individuelle und innovative Weise nutzen, wird in Kapitel 3.5 dargelegt.
Generell erschwert die Trennung der beiden Systeme Regelschulung (ERZ) und ‚Anderweitige Schulung’ (GEF, vgl. Abbildung 4) die Einführung, Koordination und Umsetzung von Maßnahmen hin zur Inklusion.
Von der Erziehungsdirektion wird ein Lektionenpool für Spezialmaßnahmen im niederschwelligen Bereich angeboten, den die Schulen relativ autonom nutzen können. Viele Schulleitungen scheinen mit der Ausgestaltung der Spezialmaßnahmen überfordert zu sein, da ihnen das nötige Fachwissen fehlt und sie sich zu wenig informiert fühlen (Pfister Stricker & Jutzi 2015, Ulshöfer, 2015). Die von den Schulen und Gemeinden geschätzte Autonomie hat auch weitere Kehrseiten. So existieren aufgrund der offenen Richtlinien seitens der ERZ an vielen Schulen Mischmodelle, in welchen weiterhin segregierende Klassen bestehen. Es stellt sich die Frage, inwiefern in Mischmodellen die Kulturen, Praktiken und Strukturen (Boban & Hinz, 2003) einer inklusiven Schule weiterentwickelt und gelebt werden können. Das Mischmodell kann insofern als Hindernis zur Realisierung der Integration angeschaut werden, als dass es weiterhin seiner Logik, dem individuellen (separativen) Ansatz, folgt (Balmer, Zürcher & Hostettler, 2012).
Auch die Tatsache, dass neben den besonderen Maßnahmen ein spezielles Finanzierungsgefäß für die Förderung (bezeichneter) außerordentlich begabter SchülerInnen existiert (z.B. in Pull-Outs), widerspricht dem Inklusionsgedanken.
Das Vorhandensein einer spezifischen IBEM-Schulleitung, welche für die Spezialmaßnahmen zuständig ist, birgt die Gefahr, dass die Schulleitungen sich weniger verantwortlich fühlen und weniger Verantwortung für Entwicklungsprozesse hin zur Inklusion übernehmen. Dadurch, dass IBEM-Schulleitungen teils große Einzugsgebiete haben, ist es ihnen nicht immer möglich, gemeinsam und in enger Zusammenarbeit mit den Standortschulleitungen Schulentwicklungsprozesse umzusetzen. Sie organisieren oft spezifische Weiterbildungen für die Lehrkräfte des Spezialunterrichts ihres Einzugsgebietes. Dies kann deren Integration an den Schulstandorten erschweren und inklusiven Entwicklungen mehr schaden als nützen.
Die Autonomie der Gemeinden bzw. Schulen bezüglich der Umsetzung des Integrationsziels führt zu großen Differenzen innerhalb des Kantons (Pfister Stricker & Jutzi 2015, Ulshöfer, 2015). Durch die delegierte Verantwortung in der Verteilung und Umsetzung der Spezialmaßnahmen an die einzelnen Schulstandorte ergeben sich in der konkreten Umsetzungspraxis zahlreiche Interpretationsspielräume (Svaton 2015, 142). Es lässt sich beobachten, dass die sogenannte integrative Förderung oftmals nach wie vor ausschließlich außerhalb der Regelklasse erfolgt, welche den Status der betreffenden SchülerInnen innerhalb der Regelklasse als ‚integriert’ hervorhebt (ebd., 143). Dies kann zu negativen Etikettierungen und Stigmatisierungen von SchülerInnen mit besonderem Förderbedarf führen.
Bezüglich des Lektionenpools scheinen Gemeinden mit einem niedrigen Sozialindex mit den zugeteilten Lektionen zufrieden zu sein. Gemeinden mit einem hohen Sozialindex und damit heterogenen Schulklassen bewerten den Lektionenpool für die Spezialmaßnahmen als zu knapp. Dies kann laut Pfister, Stricker und Jutzi (2015) einen negativen Einfluss auf die Zufriedenheit und Motivation der Lehrpersonen haben.
Bei der integrativen Sonderschulung seitens der GEF (Pool 1) scheint problematisch, dass das Gesuch für eine integrative Beschulung jeweils nur für ein Schuljahr gilt und somit jedes Jahr erneut bewilligt werden muss (Leitfaden GEF, 2009, 9). Dies kann den Eindruck einer provisorischen Integration erwecken. Dadurch, dass im Rahmen des Pools 1 in der Regel maximal sechs Lektionen zur Verfügung gestellt werden, kommen zahlreiche ‚Integrationsvorhaben’ nicht zustande. Auch die große Freiwilligkeit seitens der Schulen, ein Kind mit einer geistigen Behinderung aufzunehmen, trägt zu einer stark selektiven Umsetzung der Integration bei.
Zudem wurde aufgezeigt, dass die SchülerInnenzahlen an den Sonderschulen trotz zunehmender Integration nicht wie erhofft abnehmen. Dies könnte auf eine bloße Verschiebung hinweisen. Tatsächlich sind ausländische Kinder und Jugendliche in den Sonderschulen in Überzahl. Auch in Klassen zur besonderen Förderung sind Fremdsprachige sowie nicht-schweizerische Kinder und Jugendliche übervertreten (Pfister, 2013). Die Folgen davon sind schichtspezifische Differenzen zwischen den Schultypen. Zudem lässt es die Klassen zur besonderen Förderung sowie die Sonderschulen als Auffangbecken erscheinen.
Durch die derzeitige Beschränkung bzw. Reduktion der Anzahl Unterstützungslektionen pro Schulkind des Pools 2 auf 4-6 Lektionen pro Woche, zeigt sich aktuell, dass dies die Gelingensbedingungen für die integrierte Schulung etlicher Kinder und Jugendlicher stark gefährdet. Es wird der Einsatz von persönlichen Assistenzen diskutiert, die unter Anleitung der Schulischen HeilpädagogInnen während deutlich mehr Lektionen die Kinder und Jugendlichen innerhalb und evtl. auch außerhalb der Schule unterstützen könnten.
Nachfolgend werden drei Beispiele von innovativen Schulen für alle vorgestellt, welche aufzeigen sollen, wie der vorhandene Handlungsspielraum genutzt werden kann.
Die Stadt-Berner Lorraineschule umfasst, neben Kindergarten und Primarschule, eine Sekundarstufe I mit 8 Lehrpersonen mit rund 60 SchülerInnen in drei Klassen (ohne den gymnasialen Zug). Das Lernforum Lorraine lehnt sich an ähnliche Modelle in verschiedenen Schulen auf der Sekundarstufe I in der Schweiz an, welche sich zum Verband der „Mosaikschulen“ [9] zusammengeschlossen haben. Die sehr heterogenen Lerngruppen arbeiten während einem Drittel der Unterrichtszeit in alters- und niveau-durchmischten Gruppen mit individuellen Arbeitsplänen (Selbstorganisiertes Lernen, SoL). Die SchülerInnen arbeiten jeden Morgen während zwei Stunden an Lernaufträgen aus verschiedenen Fächern, dabei können die Jugendlichen in ihrem individuellen Tempo arbeiten. Lernstarke werden nicht gebremst, Lernschwache leiden nicht unter dem Klassendruck. Die Lehrkräfte stehen in dieser Zeit den SchülerInnen als Beratende zur Verfügung. Sie arbeiten insbesondere in Bezug auf die Vorbereitung des SoL intensiv zusammen und unterstützen sich gegenseitig. Im Lernforum Lorraine wird Heterogenität als Chance verstanden und genutzt.
Das Institut Beatenberg ist eine Privatschule mit SchülerInnen vom 5. bis 10. Schuljahr. Ein großer Teil der Arbeitszeit findet in Lernteams statt. Die SchülerInnen arbeiten alters- und leistungsgemischt, einzeln und/oder in Gruppen an individuellen Vorhaben und persönlich relevanten Zielen. Die Lernräume werden zu einem Ort des Austausches. Mit der Devise „fit for live“ geht die Schule über das fachliche Lernen hinaus, die Kinder und Jugendlichen sollen an ihre Fähigkeiten glauben und selbstwirksam sein. Das Ziel ist die Selbstgestaltungskompetenz. Dabei sollen Fach-, Lern- und Selbstkompetenzen erzeugt werden.
Die Gesamtschule Schüpberg ist eine Mehrklassenschule mit integrativem Konzept. Die Lernenden des ersten bis zum neunten Schuljahr besuchen dieselbe Lerngruppe. Die Klasse ist in Bezug auf verschiedene Faktoren heterogen zusammengesetzt – Alter (zwischen 6 und 17 Jahren), Lernfähigkeit, Verhalten sowie geistige und körperliche Entwicklung. In den heterogenen Lerngruppen findet ebenso gemeinsames wie auch individuelles Lernen statt. Die Klasse wird von insgesamt drei Lehrpersonen (davon zwei schulische HeilpädagogInnen) unterrichtet. Durch das Lernen in einer altersgemischten Gemeinschaft sollen die Kinder und Jugendlichen Unterschiedlichkeit im Zusammenleben erfahren und lernen, sich in eine Gruppe zu integrieren sowie Führung und Verantwortung zu übernehmen. Die SchülerInnen sollen voneinander und miteinander lernen können.
Balmer, Thomas; Zürcher, Rachel & Hostettler, Ueli (2012). Evaluation der Umsetzung der Integration nach Art. 17 VSG in der Volksschule Burgdorf während der Jahre 2009-2012. Bern: PHBern.
Boban, Ines; Hinz, Andreas (2003). Index für Inklusion. Lernen und Teilhabe in der Schule der Vielfalt entwickeln. Halle-Wittenberg: Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
Erziehungsdirektion des Kantons Bern (2009). IBEM - Integration und besondere Maßnahmen im Kindergarten und in der Volksschule. Leitfaden zur Umsetzung von Art. 17 VSG für Schulleitungen, Gemeinde- und Schulbehörden, Lehrpersonen. Bern: Amt für Kindergarten, Volksschule und Beratung, Erziehungsdirektion des Kantons Bern.
Gesundheits- und Fürsorgedirektion des Kantons Bern (2009). Integrative Schulung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung mit erhöhtem Bedarf im Kindergarten und in der Volksschule des Kantons Bern. Wegleitung 2009. Verfügbar unter:
http://www.gef.be.ch/gef/de/index/soziales/soziales/bildung_erziehung/integrative_schulung.asstref/dam/documents/GEF/ALBA/de/Formulare_Bewilligungen_Gesuche/Institutionen_Kinder_Jugendliche/wegleitung%20integrative%20Schulung_de.pdf . (vom 13.01.2016).
Pfister, Mirjam, Stricker, Claudio & Jutzi, Michelle (2015). Evaluation der Umsetzung des Art. 17 VSG. Porträts und Erfahrungen von elf Schulstandorten im Kanton Bern. Bern: Bildungsplanung und Evaluation.
Pfister, Mirjam (2013). Evaluation Umsetzung von Art. 17 VSG. Die zahlenmäßige Entwicklung der Sonderschulberechtigten und der Kinder und Jugendlichen mit heilpädagogischen Unterstützungslektionen im Längsschnitt. 2005/06-2010/11. Bern: Abteilung Bildungsplanung und Evaluation Erziehungsdirektion des Kantons Bern.
Pfister, Mirjam, Eckhart, Michael & Bärtschi, Simon (2012). Integrierte Sonderklassenschülerinnen und -schüler. Analyse bildungsstatistischer Daten. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, 9, 22-30.
Regierungsrat des Kantons Bern (2001). Volksschulgesetz (VSG). On-line Gesetzesartikel. Bern: Verfügbar unter: https://www.sta.be.ch/belex/d/4/432_210.html. (vom 13.01.2016)
Regierungsrat des Kantons Bern (2007). Verordnung über die besonderen Maßnahmen in der Volksschule (BMV). On-line Gesetzesartikel. Bern: Verfügbar unter: https://www.sta.be.ch/belex/d/4/432_271_1.html. (vom 13.01.2016).
Strasser, Urs (2006). Eine Schule für alle: Integration und Inklusion auch in der Schweiz? Eine Standortbestimmung. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik (3), 6-14.
Stricker, Claudio; Pfister, Mirjam (2011). Evaluation Umsetzung Art. 17 VSG. Die besonderen Maßnahmen im Kindergarten und in der Volksschule im Längsschnitt 2005-2010. Bern: Abteilung Bildungsplanung und Evaluation Erziehungsdirektion des Kantons Bern.
Stricker, Claudio; Pfister, Mirjam (2015). Evaluation der Umsetzung des Artikels 17 des Volksschulgesetzes. Die besonderen Maßnahmen in der Volksschule im Längsschnitt 2005-2013. Bern: Abteilung Bildungsplanung und Evaluation Erziehungsdirektion des Kantons Bern.
Ulshöfer, Corina T. (2015). Kurzversion des Berichts Evaluation der Umsetzung des Artikels 17 des Volksschulgesetzes. Porträts und Erfahrungen von elf Schulstandorten im Kanton Bern. Bern: Bildungsplanung und Evaluation.
Svaton, Carla J. (2015). Governance einer „integrativen Volksschule“ in der Schweiz am Beispiel des Kantons Bern. In: Blömer, D.; Lichtblau, M.; Jüttner, A.-K.; Koch, K.; Krüger, M. & Werning, R. (Hrsg.), Perspektiven auf inklusive Bildung. Gemeinsam anders lehren und lernen. (139-144). Wiesbaden: Springer VS.
Alois Buholzer und Fabienne Hubmann
Der folgende Kurzbericht gibt einen Überblick über den Entwicklungsstand der Integration in den Schulen des Kantons Luzern. Es werden die zentralen Strategien, Umsetzungen und die aktuellen Herausforderungen skizziert, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Wir verwenden im folgenden Beitrag den Begriff der „schulischen Integration“ und meinen damit die gemeinsame Schulung und Erziehung von Menschen mit oder ohne besonderen Bildungsbedarf, wann immer dies pädagogisch sinnvoll und organisatorisch möglich ist (vgl. Sturny-Bossart 2010, S. 41).
Das kantonale Strategiepapier mit den Entwicklungszielen von „Schulen mit Zukunft" zielt insgesamt auf einen verbesserten Umgang mit Heterogenität in Schule und Unterricht. Die Strategie nimmt namentlich mit dem dritten Entwicklungsziel auf die veränderten gesellschaftlichen und bildungspolitischen Bedingungen Bezug und fordert einen integrativeren Umgang mit Kindern und Jugendlichen. Das Entwicklungsziel wird so konkretisiert:
Die Ausrichtung dieses mittelfristigen Entwicklungsziels wird in verschiedener Hinsicht in Gesetzen und Verordnungen aufgenommen. So zielt die Verordnung zu den Förderangeboten der Volksschule im Kanton Luzern (Stand: 1. August 2011) auf eine flächendeckende Einführung der Integrativen Förderung. Unter § 2 ist festgehalten:
„Förderangebote werden konzipiert, dass sie eine ganzheitliche und integrative Förde-rung und den weitestgehenden Verbleib der Lernenden mit besonderen Bedürfnissen in der Regelklasse ermöglichen und dass die ganze Klasse gestärkt wird. […] Förderangebote unterstützen die Lehrpersonen im Umgang mit der Heterogenität von Klassen und werden durch die Angebote der Schuldienste ergänzt“ (Kanton Luzern 2011).
Hinsichtlich der Sonderschulung wird im Gesetz der Volksschulbildung (Stand:1. August 2015) festgehalten, dass die Sonderschulung sowohl integrativ in den Regelklassen wie auch separativ in den Sonderschulen erfolgen kann (Kanton Luzern, 2015). Zudem wird für Kinder, deren Erstsprache nicht Deutsch ist und die über keine oder ungenügende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügen, zur Verbesserung des Schulerfolgs Angebote zur Sprachförderung und zur Förderung der Integration in der Form von „Deutsch als Zweitsprache“ (DaZ) angeboten (Kanton Luzern, 2011).
Bezogen auf die Sonderschulung besteht gemäß dem regionalen „Rahmenkonzept zur sonderpädagogischen Förderung in der Zentralschweiz“ im Kanton Luzern wie in allen anderen Kantonen der Zentralschweiz ein klares Bekenntnis zur Priorisierung der integrativen Schulform. Auf der Grundlage des Eidgenössischen Behindertengleichstellungsgesetzes von 2004, der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen dem Bund und den Kantonen wurde festgehalten, dass fortan die Kantone prioritär integrative statt separierende Maßnahmen unterstützen: „Für alle Lernenden und Schulformen wird eine weitgehende integrative Schulung angestrebt. Dies gilt auch für die Sonderschulung, welche nach Möglichkeit integrativ in den Regelklassen erfolgen soll. Die separierte Schulung in Sonderschulinstitutionen erfolgt nur, wenn im Rahmen der Regelschule keine genügende Förderung angeboten werden kann“ (Regionalsekretariat Zentralschweiz 2007, 6).
Wie die nachfolgende Tabelle zeigt, greift die im Rahmenkonzept festgehaltene Forderung nach einer verstärkten Integrativen Sonderschulung. So stieg der Anteil der integrativ beschulten Lernenden mit Sonderschulmaßnahmen innerhalb von drei Jahren von 24.5% auf 35.9%. Gleichzeitig ist im gleichen Zeitraum ein entsprechender Rückgang der separativen Sonderschulung von 75.5% auf 64.1% zu verzeichnen (vgl. Tabelle 1).
Tabelle 1: Anzahl Lernende mit separativer und integrativer Sonderschulung (DVS 2016, 5).
Eine wesentliche Bedingung zur erfolgreichen Realisierung einer integrativen Bildung kommt dem Ausbildungsstand der Lehrpersonen zu. Es ist daher zu fragen, wie die Pädagogische Hochschule Luzern auf die Herausforderungen reagiert (vgl. Buholzer, Zulliger & Zutavern, 2015).
Die Pädagogische Hochschule Luzern (PHLU) greift die Heterogenität und Diversität übergeordnet in ihrer Strategie auf und verleiht damit dem Thema zentrale Bedeutung. Fokussiert wird dabei nicht nur die Vorbereitung der angehenden Lehrpersonen für einen Unterricht in einer heterogen zusammengesetzten Schulklasse sondern insbesondere auch die Heterogenität in Bezug auf die Studierenden. Unter dem Titel „Förderung des konstruktiven Umgangs mit der Heterogenität in Schule und Bildung“ ist in der Strategie 2016-2025 Folgendes festgehalten: „Die PH Luzern versteht Verschiedenheit als Bereicherung und strebt Chancengleichheit auf allen Ebenen an – von der einzelnen Klasse bis hin zu Schule und Hochschule. Die PH Luzern als Kompetenzzentrum für den Umgang in Heterogenität und Bildung begleitet und bereitet Lehrpersonen und weitere Bildungsfachleute insbesondere auf ihre Arbeit an Schulen als bedeutsame Orte der sozialen Integration vor“ (Pädagogische Hochschule Luzern 2015).
Ausbildung der PH Luzern
In den Studiengängen Kindergarten/Unterstufe (KU), Primarstufe (PS) und Sek I beginnt die Auseinandersetzung mit Themen der Heterogenität, Diversity, Integration und Inklusion bereits im ersten Semester der Ausbildung (BW01, BW02). Auch in der Berufs- und Weiterbildung Sek II nimmt die Thematik einen wichtigen Stellenwert ein. In den Studiengängen KU, PS und Sek I werden die genannten Themenfelder in den Berufsstudien (insbes. den Mentoraten) und Lehrveranstaltungen der Bildungs- und Sozialwissenschaften thematisiert. Auch in den Fachdidaktiken spielen inklusive Bildungsprozesse eine zunehmende Rolle, sei dies im Rahmen der Fremdsprachen (Mehrsprachigkeit und Interkulturalität), Deutsch (Unterricht in mehrsprachigen Klassen u.ä.), Mathematik, NMG, Ethik und Religion etc. oder auch bei den heil- und sonderpädagogischen Anteilen der Ausbildung der Studiengänge KU, PS und Sek I. Zentraler Referenzpunkt für alle an der Ausbildung beteiligten Fachbereiche ist eine der zehn Berufskompetenzen, die das Curriculum strukturieren. Die Forderung nach einem professionellen Umgang mit Heterogenität und Diversity lassen sich aus den Ausführungen der definierten Berufskompetenzen ableiten, auch wenn keine eigentliche ‚Heterogenitätskompetenz‘ definiert ist (vgl. z.B. Diversitätskompetenz im Anforderungsprofil von Schulleitern und -leiterinnen in Baden Württemberg). So etwa wird die Kompetenz zur adaptiven Lernbegleitung und Beratung wie folgt umschrieben: „Ausgehend von der Verschiedenheit der Schülerinnen und Schüler muss das Unterrichtsangebot individuell den Nutzungsmöglichkeiten der einzelnen Schülerinnen und Schüler angepasst werden und die Nutzung der Angebote individuell unterstützt werden. Lehrpersonen berücksichtigen die unterschiedlichen Bedürfnisse, die verschiedenen Fähigkeiten und Fertigkeiten der Kinder und setzen diese in Bezug zu den Anforderungen der Bildungsziele. Sie stellen entsprechende spezifische Anregungen und Angebote bereit und verfügen über Strategien, um die Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler anzuregen, zu begleiten und zu reflektieren und evaluieren“ (PHLU 2013, 11).
Spezifische Aus- und Weiterbildungsangebote der PH Luzern
Neben den Lehrangeboten in den Studiengängen KU, PS und SEK I bestehen spezifische Aus- und Weiterbildungsangebote mit Fokus auf inklusive Bildungsprozesse, so der Masterstudiengang SHP und der MAS IF. Der Abschluss in diesen spezifischen Aus- und Weiterbildungen befähigt Lehrpersonen, bedeutsame Aufgaben bei der Umsetzung der schulischen Integration und Inklusion zu übernehmen. Der Fokus dieser Angebote liegt schwerpunktmässig bei traditionell heilpädagogischen Themen mit Schwerpunkt auf Lernschwächen, Behinderung/Beeinträchtigungen und Verhaltensauffälligkeiten; im MAS IF sind ausserdem Weiterbildungsgänge wie DaZIK (Deutsch als Zweitsprache und Interkulturalität) und Begabtenförderung integriert.
Die Weiterbildung der PHLU bietet noch weitere spezifische Weiterbildungsformate mit dem Schwerpunkt Heterogenität an (zum Beispiel zum altersgemischten Lernen).
Ergänzend zu den Angeboten in der Aus- und Weiterbildung findet sich im Leistungsbereich Forschung und Entwicklung der PHLU das Institut für Schule und Heterogenität (ISH). Das ISH untersucht in seinen Forschungs- und Entwicklungsprojekten ausgewählte Fragen zur Heterogenität, insbesondere unter dem Aspekt der Integration bzw. Inklusion. Die Forschungsprojekte setzen sich mit der Wahrnehmung von Heterogenität im Bildungssystem auseinander und analysieren den Umgang mit der Diversität von Lernenden in Schule und Unterricht. Daneben entwickelt das Institut wissenschaftsbasierte und praxisnahe Hilfestellungen und Beratungsangebote für Schulen.
Die Expertise des Instituts zeigt sich in Forschungsprojekten und Publikationen zu den vier ausgewählten Themen zur Heterogenität:
Der Kanton Luzern legte 2011 mit der Verordnung über die Förderangebote auf das Schuljahr 2012/13 eine verbindliche Einführung der Integrativen Förderung fest. Zur Realisierung dieser Vorgabe wurde von den Schulen die Ausarbeitung eines individuellen Umsetzungskonzepts zur schulischen Integration gefordert. Die Schulen wurden dabei von Fachpersonen der Dienststelle Volksschulbildung (DVS) beraten und unterstützt.
Zusätzlich unterstützte das Projekt „Schulen mit Zukunft“ die Weiterentwicklung der integrativen Schule. Das Projekt beinhaltete jene Bereiche, in denen während rund zehn Jahren die Schwerpunkte der koordinierten Schulentwicklungsarbeit lagen (vgl. Lötscher & Kummer Wyss 2014). Die Entwicklungsziele bezogen sich u.a. auf die Beschreibung von Kernkompetenzen und Mindeststandards, die Schaffung von Schulstrukturen im Sinne von längerfristigen Zyklen oder auf die Bereitstellung von familienergänzenden Betreuungsangeboten. Zur Umsetzung der Entwicklungsziele wurden das Teilprojekt „Lehren und Lernen“ und das Netzwerk Luzerner Schulen installiert:
Im Zusammenhang mit dem Entwicklungsziel zur Förderung des Umgangs mit Heterogenität im Unterricht, baute die Pädagogische Hochschule Luzern in Zusammenarbeit mit der Dienststelle Volksschulbildung (DVS) einen Pool von „Fachtandems für Unterrichtsentwicklung“ auf. Diese Tandems bestanden aus je einer Lehrperson der Volksschule und einer Dozentin/einem Dozenten der PH Luzern. Diese konnten von den Schulteams angefordert werden. Die Schulleitungen und Steuergruppen wurden zusätzlich durch eine Prozessberatung unterstützt, beispielsweise um die Entwicklungsziele und die schulischen Strukturen zu klären. Die Fachtandems entwickelten zusammen mit den Schulteams Strategien für den Umgang mit Heterogenität, die im Unterricht umgesetzt wurden.
Das "Netzwerk Luzerner Schulen" ist ein freiwilliger Verbund von Schulen. Zu verschiedenen Themen wurden Teilnetzwerke installiert, welche die Arbeit an den strategischen Entwicklungszielen der kantonalen Schulentwicklung zusätzlich unterstützen. Teilnetzwerke haben zum Ziel, Lehrpersonen und Schulleitungen in ihrer eigenen Professionalisierung mit KollegInnen aus Nachbarschulen weiterzubringen, indem sie Lernprozesse aktiv gestalten, reflektieren und die Ergebnisse evaluieren.
Teilnetzwerke ...
Aktuell gibt es im Kanton Luzern 30 Teilnetzwerke, mit insgesamt ca. 700 Teilnehmenden. Mehrere Teilnetzwerke befassen sich explizit mit der Integrativen Förderung (IF) oder sind speziell auf die Integrative Sonderschulung ausgerichtet, andere wiederum setzen sich grundlegend mit Prinzipien guten Unterrichts oder mit der Optimierung von Formen und Strukturen der Zusammenarbeit auseinander.
Zur Unterstützung bei der Weiterentwicklung einer integrativen Schule bietet die Dienststelle Volksschulbildung (DVS) den Luzerner Schulen individuelle Prozessbegleitungen oder fachspezifische Unterstützung zu einzelnen Schwerpunktthemen an. Eine jährliche Tagung zum Umgang mit Heterogenität gehört bei vielen Schulen zum fixen Bestandteil ihres Weiterbildungsprogramms.
Der Aufbau eines integrativen Schulsystems ist ein Personal-, Schul- und Unterrichtsentwicklungsprozess, der viele Jahre dauert. Im Kanton Luzern haben mittlerweile alle Schulen erste Erfahrungen mit der Integrativen Förderung und der Integrativen Sonderschulung gemacht. Aktuell zeigen sich die Herausforderungen hinsichtlich der Komplexität des Unterstützungssystems von Lehr- und Fachpersonen, in der Förderung von Kindern mit auffälligem Sozialverhalten und generell in der Schul- und Unterrichtsentwicklung:
Herausforderungen |
Maßnahmen |
Die Spezialisierung und Anzahl Lehr- und Fachpersonen, die für eine Klasse zuständig sind, führt zu einer hohen Komplexität in organisatorischer Hinsicht wie auch bei der Unterrichtsplanung und -gestaltung. |
Zur Zusammenarbeit von Lehr- und Fachpersonen werden Weiterbildungen angeboten. Themen dieser Weiterbildungen sind die Unterstützung und Weiterentwicklung von konkreten Formen der Zusammenarbeit zwischen Lehr- und Fachpersonen (Unterrichts
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Kinder und Jugendliche mit dem Förderschwerpunkt Verhalten stellen eine große Herausforderung für die Lehr- und Fachpersonen dar. |
Zum Umgang mit dem Förderschwerpunkt Verhalten werden für Lehr- und Fachpersonen Weiterbildungen angeboten. In der Ausbildung der angehenden Lehrpersonen an der PH LU wird die Thematik in spezifischen Modulen aufgegriffen. |
Schulische Integration ist eine bedeutsame Aufgabe der Schul- und Unterrichtsentwicklung |
Im Rahmen der Unterrichtsentwicklung ist den Themen der Heterogenität und der integrativen Schule weiterhin ein hoher Stellenwert zuzumessen.
In Aus- und Weiterbildungen lernen (angehende) Lehrpersonen theoretisch fundiert und praktisch orientiert ihr Unterrichtsangebot adaptiv auf die Lernmöglichkeiten der SchülerInnen auszurichten. Im Rahmen von Projekten der Schul- und Unterrichtsentwicklung reflektieren sie vertieft ihre Erfahrungen mit Heterogenität. |
Wie die Ausführungen zeigen, öffnen sich die verschiedenen Akteure des kantonalen Bildungssystems zunehmend den Herausforderungen, die aus der Anerkennung der Heterogenität für Schule und Bildung resultieren. Eine Herausforderung für die Zukunft ergibt sich in der verstärkten Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Akteuren mit dem Ziel, Lehr- und Fachpersonen fit zu machen für eine integrative bzw. inklusive Schule, die in allen Fächern und Bereichen fähig ist, sensibel und kompetent mit den unterschiedlichen Bildungsbedürfnissen umzugehen.
Buholzer, A., Zulliger, S. & Zutavern, M. (2015): Lehrerinnen- und Lehrerbildung in der Schweiz. Einblicke zum Thema Heterogenität in der Lehrpersonenbildung. In: Ch. Fischer, M. Veber, Ch. Fischer-Ontrup, R. Buschmann (Hrsg.). Umgang mit Vielfalt. Aufgaben und Herausforderungen für die Lehrerinnen- und Lehrerbildung (S. 41-54). Münster: Waxmann.
Dienststelle Volksschulbildung (2011): Projekt Lehren und Lernen. Konzept. Luzern: Dienststelle für Volksschulbildung.
Dienststelle Volksschulbildung (2017): Zahlenspiegel 2016/17. Zahlen und Entwicklungen der Volksschule. Luzern: DVS.
Kanton Luzern (2011): Verordnung über die Förderangebote der Volksschule. http://srl.lu.ch/frontend/versions/637?locale=de (Stand: 13.01.2016)
Kanton Luzern (2015): Gesetz über die Volksschulbildung.
http://srl.lu.ch/frontend/versions/1887 (Stand: 13.01.2016)
Kappus, Elke-Nicole (2009): Heterogenität. In PHZ Luzern (Hrsg.), Lebendige Lehrerinnen- und Lehrerbildung Sekundarstufe I (S. 50–51). Luzern: PHZ Luzern.
Lötscher, Hanny & Kummer Wyss, Annemarie (Hrsg.): (2014). Mit Fachtandems den Unterricht entwickeln. Zürich, Wien, Berlin: Lit-Verlag.
Pädagogische Hochschule Luzern (2012): Referenzrahmen der PH Luzern. Luzern: PH Luzern.
Pädagogische Hochschule Luzern (2013): Leitbild der PH Luzern.
Pädagogische Hochschule Luzern (2016): Strategische Ziele der PH Luzern 2016-2025.
Regionalsekretariat Bildungsregion Zentralschweiz (BKZ) (2007): Rahmenkonzept zur sonderpädagogischen Förderung in der Zentralschweiz. Arbeitspapier der Arbeitsgruppe Sonderpädagogik Zentralschweiz.
Sturny-Bossart, Gabriel (2010): Förderung von Kindern mit besonderem Bildungsbedarf und Behinderung. In: Alois Buholzer und Annemarie Kummer Wyss (Hrsg.). Alle gleich – alle unterschiedlich. Zum Umgang mit Heterogenität in Schule und Unterricht. Zug/Seelze: Klett/Kallmeyer.
[1] Ben Vautier „La suisse n‘existe pas“ (Weltausstellung 1992, Schweizer Pavillon, Sevilla). vgl. Roosen (2007)
[2] Die größte politische Partei, die Schweizerische Volkspartei SVP, lehnt Integration in einem Grundsatzpapier entschieden ab: „Der «integrative Unterricht» ist ein falsches Konzept. Für schwächer begabte, auch für behinderte Kinder, bleiben Sonderklassen und Sonderschulen jene Institutionen, wo ihre bestmögliche Förderung garantiert werden kann. Schüler, die Regelklassen zugeteilt werden, müssen dem Unterricht ohne Einzelbetreuung folgen können. Für verhaltensgestörte Jugendliche insbesondere der Oberstufe sind Sonderklassen zu führen“ (Schlüer 2010, o.S.).
[3] 2008 ist das letzte Jahr, als die Finanzierung der Sonderschulen via IV noch Bundessache war. Offensichtlich gibt es keine neueren national erfassten Zahlen.
[4] Der Schweizerische Verein Volksschule ohne Selektion VSoS hat sich zum Ziel gesetzt, inklusive Entwicklungen, eine Schule für alle und das Problem der Selektion bei Schulleitungen, in der Öffentlichkeit und in der Politik zur Diskussion zu stellen und Veränderungen voranzubringen.
[5] Inclusion Handicap ist der Dachverband der Behindertenorganisationen der Schweiz. Er vertritt die gemeinsamen Interessen von 23 Organisationen und deren Mitglieder gegenüber den Behörden, der Politik und der Wirtschaft.
[6] vgl. http://www.edk.ch/dyn/12917.php Das Sonderpädagogikkonkordat wurde im Kanton Basel-Land in einer umkämpften Volksabstimmung 2010 angenommen
[7] Begriffe: In der Schweiz wird deutlich unterschieden zwischen „Kleinklassen“ (das sind/waren Förderklassen mit dem Schwerpunkt Lernen, die immer in Regelschulhäusern angesiedelt waren) und heilpädagogischen Sonderschulen, das sind Sonderschulen mit einem Schwerpunkt.
[9] vgl. dazu http://mosaikschulen.ch/ (Stand: 16.03.2016)
[10] vgl. dazu http://www.institut-beatenberg.ch/ (Stand:16.03.2016)
[11] http://www.schuepfen.ch/de/bildung/standorte/schuepberg/index.php http://www.schuepfen.ch/de/bildung/standorte/schuepberg/1.5Konzept-Schuepberg.pdf
[12] Detaillierte Informationen zu Projekten des ISH vgl. http://www.phlu.ch/forschung/ish/
[13] Informationen zu den Netzwerken vgl. https://volksschulbildung.lu.ch/entwicklung/netzwerkschulen
[14] Integrative Förderung (IF), Deutsch als Zweitsprache (DaZ), Begabungs- und Begabtenförderung (BBF)
[15] Integrative Sonderschulung (IS)