Kirsten Puhr: Zur Kritik des Heterogenitätskonzepts in der Inklusionspädagogik[1]
Abstract: Nach einer thematischen Positionierung diskutiert der folgende Text das Heterogenitätskonzept der Inklusionspädagogik aus der Beobachterperspektive der Performativen Theorie der Behinderung (Weisser 2005). Im Anschluss werden ‚blinde Flecke‘ des Heterogenitätskonzepts der Performativen Theorie der Behinderung beobachtet. Die Intention des Textes ist es, die Inklusionspädagogik wie die Performative Theorie der Behinderung als ‚Utopien‘ zu verstehen, die „das Denken der Veränderung, die Hoffnung auf ein Mehr an Gerechtigkeit“ (do Mar/Varela 210, 258) in Gang halten.
Stichworte: Heterogenität, Anerkennung, Chancengerechtigkeit, Differenz Behinderung/Nicht-Behinderung, Dekategorisierung, Referentialisierung
Inhaltsverzeichnis
- Zum Anliegen des Textes
- Inklusionspädagogik als disziplinärer Kontext der Bearbeitung von (Un-)Gleichheitsproblemen
- Heterogenität als Konzept der Performativen Theorie der Behinderung
- Zusammenfassung – Das Heterogenitätskonzept als Utopie
- Literatur
1. Zum Anliegen des Textes
Die Inklusionspädagogik kann als disziplinärer Kontext der Bearbeitung von (Un-) Gleichheitsproblemen (vgl. Weisser 2005, 44) diskutiert werden, der sich unter Berufung auf Heterogenität legitimiert. Das Konzept Heterogenität ruft einerseits das normative Problem der Anerkennung und andererseits das ‚technisch-organisatorische Problem der Chancengerechtigkeit’ auf (vgl. Trautmann/Wischer 2011, 16).
Anerkennung als spezielle Gruppe eröffnet Ansprüche auf besondere Maßnahmen aufgrund von Problemlagen gegenüber der ‚emanzipatorisch ausgerichteten inklusiven Gesellschaft’ (vgl. Raab 2011). So fordert das UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen „Achtung vor der Unterschiedlichkeit von Menschen mit Behinderungen und die Akzeptanz dieser Menschen als Teil der menschlichen Vielfalt und Menschheit“ (Netzwerk 2009, 5) und das Allgemeine Gleichstellungsgesetz „Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern und zu beseitigen“ (vgl. AGG § 1). Gruppenzugehörigkeit schafft als Ordnungssystem die Verpflichtung zu besonderen Maßnahmen, z.B. zu bildungs- und sozialpolitischen Maßnahmen von Förderungen und Forderungen. Im Bildungssystem vertritt Inklusionspädagogik den Anspruch der Förderung ‚gleichberechtigter und selbstbestimmter Teilhabe’ durch Nachteilsausgleich (vgl. §1 SGB IX, zitiert nach Kossens/von der Heide/Maaß 2009, 37). Sie beruft sich dabei auf Ansprüche benachteiligter Gruppen, wie Kinder und Jugendliche mit Behinderungen.
Im hier vorliegenden Artikel wird ein Text diskutiert, der sich als Praxis der Problematisierung des Konzepts Heterogenität in der Inklusionspädagogik verstehen lässt; Jan Weissers „Behinderung, Ungleichheit, Bildung. Eine Theorie der Behinderung“ (Weisser 2005). Der Entwurf der Performativen Theorie der Behinderung kann als Kritik an den Differenzkategorien der Inklusionspädagogik – mit Verschiebungen des Konzepts Heterogenität – gelesen werden. Das Interesse dieses Beitrages gilt der Argumentationsstrategie dieses Textes. Gefragt wird danach, wie die Problematisierungen das Konzept Heterogenität – als ein pädagogisches im Verhältnis zu Differenzen – sichtbar werden lassen. Bei der Vorstellung von Ansätzen der Inklusionspädagogik im ersten Teil dient die in diesem Text diskutierte Perspektive der Performativen Theorie der Behinderung auf die Inklusionspädagogik der Diskussion. Im zweiten Teil des Beitrages wird eine Lektüre des Konzepts Heterogenität in Jan Weissers Performativer Theorie der Behinderung vorgestellt.
2. Inklusionspädagogik als disziplinärer Kontext der Bearbeitung von (Un-) Gleichheitsproblemen
Die Performative Theorie der Behinderung fokussiert im diskutierten Text zunächst auf das System der Erziehung. Heterogenität gilt hier „als empirisches Maß für sozialen Austausch unter nominell Verschiedenen“ (Weisser 2005, 58, im Verweis auf Peter M. Blau). Anerkennung wird in einen Zusammenhang mit dem ‚Konzept der Individualisierung’ (vgl. ebd., 77) gestellt und vom Entwurf der Leistungsgerechtigkeit abgegrenzt. Aufgerufen wird dabei die systemspezifische Anerkennung individueller Kompetenzen: „Lernen des Subjekts (...), das sich an sich selber misst“ (ebd., 75) quer zu Kompetenzen, die als Bildungskapital ausgewiesen werden können. Diese Positionierung verweist auf ‚alle’, mit Blick auf „eine sukzessive Ausweitung des Geltungsanspruchs und des Referenzbereichs“ dieser Figur (Weisser 2005, 44). Sie entwirft damit ein Bild „zunehmender Heterogenität“ (ebd., 75) und ruft Pluralisierungen von Zugehörigkeitsordnungen auf, zu denen sie auch Behinderungen zählt (vgl. ebd.).
Der Begriff „Differenzpädagogik“ (Mecheril 2004, 214) – den die Migrationspädagogik geprägt hat – öffnet mit dem Blick auf pädagogische Entwürfe von Heterogenität die Frage nach den Konzepten von Differenzen, die sich mit der Forderung nach Anerkennung von Verschiedenheit in der Inklusionspädagogik verbinden. Mit dem Begriff Differenzpädagogik werden pädagogische Bereiche charakterisiert, „die traditioneller Weise als »Orte der Differenz« verstanden werden“ (ebd.). Feministische, Interkulturelle und Integrative Pädagogik werden als Pädagogiken vorgestellt, die Heterogenität als „Dimension der Anerkennung“ (ebd.) von Verschiedenheit aufgreifen und diskutieren (vgl. ebd.). Die Konstituierung der Differenz Behinderung/Nichtbehinderung durch die Inklusionspädagogik wird im Zusammenhang mit dem Problem der Heterogenitätsintoleranz des Erziehungssystems als Beitrag zu gleichen Bildungschancen verstanden. Das Differenzkonzept, das hier zum tragen kommt, lässt sich als eines der Konstruktion kategorisierter Gruppen zur Begründung für die Umverteilung von Ressourcen charakterisieren: „Wenn nominell verschiedene Gruppen Anspruch erheben auf besondere Maßnahmen aufgrund gemeinsamer Problemlagen, so stellt sich zunächst die Frage, ob sie als spezielle Gruppe Anerkennung finden“ (Weisser 2005, 58).
Die Performative Theorie der Behinderung legt für ihre Beschreibung der Inklusionspädagogik ein Konzept der konstituierenden Differenz mit einer universalen Differenzperspektive von Behinderung/Nichtbehinderung zu Grunde. Inklusionspädagogik lässt sich als „Theorie und Praxis der Erziehung und Bildung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit einer Behinderung“ (ebd., 77) kennzeichnen. Die Formulierung ‚mit einer Behinderung’ schreibt Behinderungen an Körpersubjekten fest, auch wenn die beschreibbaren Behinderungen als soziale Barrieren gekennzeichnet werden. Den Selbstbeschreibungen der Inklusionspädagogik entspricht auch dieses Differenzkonzept nicht. Als deren Ausgangspunkt gilt die Anerkennung der Verschiedenheit aller Menschen. Die Konstruktion kategorisierter Gruppen erklärt sich zunächst auch nicht als Legitimationsrahmen der Inklusionspädagogik. Zu deren Berechtigung wird die Ungleichverteilung der Chancen gleiche Bildungsabschlüsse zu erreichen aufgerufen, vermittelt über das – dem institutionalisierten Erziehungssystem zugeschriebenen – Konzept der Leistungsgerechtigkeit: „Die Selbstbeschreibung des Erziehungssystems geht (...) dahin, dass jeder Abschluss von jeder Person kraft ihrer Leistung erworben werden kann.“ (ebd., 72f). Mit dieser Positionierung verbindet sich der Anspruch Inklusiver Pädagogik und Didaktik auf der Basis unterschiedlicher individueller Kompetenzen und deren Entwicklung Bildungschancen gerecht umzuverteilen. „Es geht also um Statusunterschiede, nicht um Gruppenzugehörigkeit“ (ebd., 59).
Das Problem, auf das die Inklusionspädagogik als eigenständige Pädagogik reagieren muss, ist eines der Unsicherheit des Differenzgebrauchs, das sich „mit der Herausbildung der Autonomie der performativen Unterscheidung von Behinderung/Nichtbehinderung“ (Weisser 2005, 26) zeigt. Als eine der möglichen Antworten „hat sich eine (...) Form der Reduzierung von Applikationsunsicherheiten durchgesetzt. Sie besteht in der Einführung von Zusatzunterscheidungen.“ (ebd.). Diese Zusatzunterscheidungen lassen sich als unterschiedliche Begründungen des aufgerufenen Differenzkonzepts Behinderung/ Nichtbehinderung lesen. Sie werden als Medizinisches und Soziales Modell der Behinderung gekennzeichnet. „Im medizinischen Modell steht das Körpersubjekt im Vordergrund. An ihm wird eine Schädigung festgestellt, die für die Behinderung ursächlich verantwortlich gemacht wird. (...) Im sozialen Modell hingegen wird die Behinderung über die Restriktionen definiert, welche die Institutionen der Gesellschaft gegenüber Menschen mit einer Schädigung explizit oder implizit errichten.“ (ebd., 26f). Die Figur der ‚nominell Verschiedenen’ findet sich nicht wieder in der Thematisierung der inklusionspädagogischen Antwort auf die Performativität dieser Differenz. Kategorisierte Schädigungen bleiben der Ausgangspunkt auch für die Kennzeichnung von Behinderungen im Sinne sozialer Barrieren.
Die Performative Theorie der Behinderung identifiziert Praxen der Diagnosen von Behinderungen – nach dem Medizinischen und Sozialen Modell – im Zusammenhang mit dem Anspruch der Durchsetzung von kompetenzorientierter Chancengerechtigkeit als Erklärungen für das Konzept spezieller Differenzen. Diagnosen sind demnach „Mess- und Evaluationssysteme zur Feststellung, ab wann rechtmäßig von einer Behinderung gesprochen werden kann. (...) [Sie] sind ihrer Funktion nach Entscheidpraxen zur Bewältigung von Ungleichheit. (...) Sie verwandeln eine performative Differenz am Subjekt oder Objekt, an dem sie erscheint, in ein stabiles askriptives Merkmal.“ (ebd., 52). Solche Diagnosen stellen disziplininterne Problemdefinitionen dar und lassen sich als „Teil wechselseitiger Konstruktionsprozesse und Durchsetzungsstrategien“ (ebd., 87) beobachten. Aus der Perspektive der Performativen Theorie der Behinderung dienen sie „der Behandlung des Zusammenhangs von Feststellung und Therapie, respektive Politik performativer Differenzen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten“ (ebd., 30). In den Selbstbeschreibungen der Inklusionspädagogik werden die medizinischen Diagnosen von Schädigungen kritisiert, als diejenigen die den Status als Behinderte konstituieren. Die sozialen Diagnosen dienen der Kritik sozialer Systeme.
Aus der Perspektive der Performativen Theorie der Behinderung relativiert die Inklusionspädagogik zwar „stabile Behinderungszuschreibungen“ (ebd., 83) – Behinderungen werden als soziale Barrieren diagnostiziert – verzichtet aber in ihrer eigenen Legitimation und im Anspruch auf besondere Maßnahmen aufgrund gemeinsamer behindernder Problemlagen nicht auf kategoriale Konzepte. „Sie sind zuallererst soziale Orientierungen.“ (ebd., 36). Kategoriale Konzepte wie z.B. Menschen mit einer Sehbehinderung „positionieren Subjekte in der Gesellschaft und etablieren Wahrnehmungspraxen, die nur lose an empirische Daten gebunden sind“ (ebd.). Inklusionspädagogik wird in der Beschreibung von Behinderungen „zum Reformwert des Sonderschulwesens, der durch einen alternativen Gebrauch der Differenz Behinderung/Nichtbehinderung zu Stande kommt“ (ebd., 70f). Dagegen versucht die Performative Theorie der Behinderung der Kategorisierung durch konsequente Entpersonalisierung zu entgehen.
3. Heterogenität als Konzept der Performativen Theorie der Behinderung
Nachfolgend wendet sich der Beitrag Verschiebungen des Heterogenitätskonzeptes in der Performativen Theorie der Behinderung zu. Sie entwirft die Differenz Behinderung/ Nichtbehinderung als eine eigenständige Perspektive, als „universale Differenz“ (Weisser 2005, 39), die eine „radikale Dekategorisierung von Behinderung“ ermöglicht (ebd., 35). Diese Differenzfigur wird mit einem formalen Heterogenitätskonzept verbunden, in dem Heterogenität als ein inhaltlich leeres Symbol – ‚alle’ bzw. ‚alle Menschen’ – entworfen wird. Mit Blick auf das Bildungssystem werden dabei Ideen der Anerkennung individueller Verschiedenheit wie individualisierter (Leistungs-)Gerechtigkeit aufgerufen.
„Die performative Theorie der Behinderung (re-)positioniert die Konzepte der Leistungsgerechtigkeit und Individualisierung im Horizont von (Un-)Gleichheitsproblemen und (...) bietet (...) die Möglichkeit zu rekonstruieren, was von wem als Behinderung erfahren wird (...) und wie diese Fragen mit Leistungen und Sondermaßnahmen verhängt sind.“ (ebd., 77). Sie präsentiert sich explizit als ein Beitrag der Disability Studies. Mit der Auflösung disziplinärer Grenzen stellen sich die Disability Studies als theoretisch fundierte Kritiken traditioneller Thematisierungen von Behinderungen dar. Die Performative Theorie der Behinderung verortet sich nicht in der Tradition der Inklusionspädagogik im Feld der Pädagogik, sondern als eine wissenschaftliche Beobachtertheorie: „Der Unterschied liegt in der Leistung. Während die Modelle [medizinisches und soziales] versuchen, Zustände kausal zu erklären und für Therapie und Politik zu nutzen, stellt die performative Theorie ein Beobachterdispositiv bereit, das seine Interessen der Rekonstruktion von Wissen für die Wissensproduktion und -vermittlung ausrichtet.“ (ebd., 28). Die Beobachtungsposition ermöglicht es, die Kausalitätszuschreibungen des Medizinischen und des Sozialen Modells der Behinderungen als Strategien der Bearbeitung von Unsicherheiten des praktischen Gebrauchs der Differenz Behinderung/Nichtbehinderung zu identifizieren.
In ihrem Selbstverständnis als Theorie grenzt die Performative Theorie die Differenz Behinderung/Nichtbehinderung von allen Kausalzusammenhängen ab: „Die Differenz von Behinderung/Nichtbehinderung ist akausal.“ (ebd., 25). Aus dieser Position heraus rekonstruiert sie „Wahrnehmungs- und Wissenspraxen im Feld der Behinderung“ (ebd., 8). Sie erkennt bei ihren Beobachtungen eine praktische Wirksamkeit der Differenz Behinderung/Nichtbehinderung, die Hervorbringung eines ‚performativen Unterschieds’ (vgl. ebd., 25) im Gebrauch einer Differenz, die zugleich auf ihre Kontingenz verweist: „Diese diskursive Situation erzeugt einen Fluchtpunkt, der die Differenzen übersteigt und ihr Verschwinden denkbar werden lässt.“ (ebd., 48). Als über Differenzen hinaus weisende und diese in Frage stellende Figur wird das Mengensymbol ‚alle’ aufgerufen. Im Kontext dieser formalen Konstruktion wird das Heterogenitätskonzept als eines sprachlicher Praxen eingeführt, auf das sich die Performative Theorie der Behinderung bezieht: „Die Differenzen werden im öffentlichen Sprachgebrauch der Gegenwart mit dem Quantor »alle« (oder dem Äquivalent »Mensch«) aufgehoben. Danach sind alle verschieden, alle normal, alle nur Menschen.“ (ebd., 47).
Im Kontext der Theoriekonstruktion wird Heterogenität als ‚leerer Begriff’ (vgl. ebd.) eingeführt, der nicht beobachtet werden kann. Diese Konstruktion ermöglicht der Performativen Theorie der Behinderung „Differenzgebräuche zu rekonstruieren, ohne eine eigene Ontologie zu behaupten“ (ebd.). Diese theoretische Positionierung des Konzepts Heterogenität im Verhältnis zu Differenz ermöglicht eine distanzierte Beobachtung von Praxen im Feld der Behinderung und kennzeichnet mit der Akausalität der Differenz Behinderung/Nichtbehinderung einen Bruch zwischen Theorie und anwendungsorientierter Pädagogik. Als eine der möglichen Antworten alternativ zur Strategie der Zusatzunterscheidungen des Medizinischen und des Sozialen Modells von Behinderung wird die „Referentialisierung“ (ebd., 50) der Differenz Behinderung/Nichtbehinderung eingeführt. Behinderungen/Nichtbehinderungen lassen sich mit Blick auf unterschiedlichste Praxisfelder beobachten. „Die bedeutendsten Referenzen sind Bildung, Arbeit, Wohnen, Verkehr, Kultur, Freizeit, Gesundheit, Soziale Hilfe und Wohlfahrt sowie zivile und politische Rechte.“ (ebd.). Die theoretische Analyse der fundamentalen Anwendungsunsicherheit des Gebrauchs der Differenz Behinderung/Nichtbehinderung kann als Legitimation für ein spezifisches Interesse der Beobachtung der Anwendung dieser Differenz in Praxisfeldern gelten, wenn es heißt, das „Ungleichgewicht von naturalisierten Technologien am Körper und politischen Kampagnen in der Gesellschaft und ihre impliziten und expliziten gesellschaftlichen Kredite stehen zuvorderst auf der Agenda der Beobachtung von Behinderung, die verstehen will, warum Diagnosen am Körper noch immer weit vor jenen an der Gesellschaft kommen und was Diagnosen generell nicht erklären. Das geht – empirisch – über die Analyse von Barrieren.“ (ebd., 31).
Die Performative Theorie der Behinderung grenzt sich in diesem spezifischen Interesse wiederum von inklusionspädagogischer Praxis ab, hier vom Sozialen Modell der Behinderung sowie von der Funktion und dem Status des Begriffs Barriere in diesem Modell: „Die Doppelung des Begriffs der Barriere auf beiden Ebenen (mit dem Unterschied, dass sie als Diagnose Kausalitäten erschließt, als Analyse jedoch akausal verfährt) macht dabei deutlich, dass eine performative Differenz immer eine soziale, an Erwartungen gebundene Konstruktion ist und dass man nur im Medium des Sozialen (...) Schädigungen von Barrieren unterscheiden kann.“ (ebd.). Diese Einsätze der Performativen Theorie der Behinderung stellen die Inklusionspädagogik in ihrem Selbstverständnis als „Theorie und Praxis der Erziehung und Bildung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit einer Behinderung“ (ebd., 77) grundsätzlich in Frage. Stattdessen wird sie als Sonderpädagogik etabliert, als eine theoretisch begründete Beobachterposition im Erziehungssystem. Ihr wird die Aufgabe „der Entdeckung und Behandlung von Behinderungen und Erwartungsverletzungen“ (ebd., 12) im Sinne eines kritischen Heterogenitätsmanagements zugeschrieben.
„Diversity Management (...) [wird hier aufgerufen als] Name für das Management von Umverteilung und Heterogenität auf allen Ebenen der Ermöglichung von Lernen. (...) Diversity Management definiert die Rolle sonderpädagogischer Aktionen im Erziehungssystem. (...) [und nimmt] Bezug auf den Umstand, dass sich im Erziehungssystem die Beobachtung auf lokale, höchstens regionale (Un-)Gleichheiten einlässt und dass sie gezielt nur diese behandeln kann.“ (ebd., 89 im Verweis auf Roger Slee).
Die Performative Theorie der Behinderung verortet sich jedoch auch in der Tradition der Behindertenbewegung als „emanzipatorisch orientierte politische und soziale Bewegung, die sich für die Rechte und gesellschaftliche Anerkennung behinderter Menschen sowie den Aufbau konkreter Unterstützungssysteme einsetzte“ (Dederich 2010, 170). Diesem zweiten Standort scheint eine Textpassage geschuldet, die im Duktus einer Selbstpräsentation des Autors spricht. Sie kennzeichnet die aufgerufene Differenz Behinderung/Nichtbehinderung als eine politische. Und sie ruft Fragen nach den eingeführten wissenschaftlichen Positionierungen auf.
„Spielt es dabei eine Rolle, ob ich selbst behindert bin oder nicht? Die Frage hat eine empirische Seite und die ist schwerlich abschließend zu beantworten. Sie konstelliert aber davon unabhängig auch diskursive Realitäten, die bereits mitten ins Zentrum des Themas führen. Man kann der Meinung sein, dass es eine Rolle spielt und daraus den Schluss ziehen, nur Personen mit einer Behinderung dürfen Behinderungen zum Thema von Forschung machen, weil es um ihre Interessen geht. Man kann auch der Meinung sein, dass es keine Rolle spielt und dass es deshalb keine gerechtfertigten Teilnahmerestriktionen gibt. Schließlich kann man auch argumentieren, dass es zwar eine Rolle spielt, aber dass das Thema alle betrifft und dass sich deshalb alle aktiv beteiligen können. Der Punkt ist, dass in jedem Fall unterschiedliche Grenzlinien zwischen behindert und nicht behindert gezogen werden und dass diese Linien die möglichen – einschließlich der eigenen – sozialen Positionen hervorbringen. Es geht in der Folge um Politiken im Medium der Plausibilitäten, die selbst wiederum rekonstruiert werden können.“ (Weisser 2005, 9).
Was in dieser Positionierung nicht zur Sprache kommt, sind die wesentlichen theoretischen Einsätze der Performativen Theorie der Behinderung. Mit der Frage nach der Bedeutung, welche die Behinderung/Nicht-Behinderung einer konkreten Person bei der Thematisierung von Behinderungen hat, werden forschungspolitische Strategien sichtbar. Sie entsprechen dem Ansinnen auch im Wissenschaftssystem der ‚Diskriminierung behinderter Menschen’ entgegenzuwirken (vgl. Dederich 2010, 170f). Der konstituierende Charakter der Unterscheidung Behinderung/Nicht-Behinderung, ihre Kontingenz und deren Kennzeichnung „als autonome Unterscheidung eines Beobachters“ (ebd., 10) werden in dieser Diskussion nicht aufgerufen.
4. Zusammenfassung – Das Heterogenitätskonzept als Utopie
Im Anschluss an die aufgerufenen Problematisierungen lassen die normativen Implikationen des Heterogenitätskonzepts – Anerkennung und Chancengerechtigkeit – differente pädagogische Positionierungen aufscheinen, mit je eigenen Weisen der Aneignung und Ausschließung.
Für die Inklusionspädagogik scheint in ihrem Einsatz für gleiche Bildungschancen die Anerkennung individueller Kompetenzen konstitutiv. Das Konzept individualisierter ‚kompetenzorientierter Chancengerechtigkeit’ ist an soziale Normen und kulturelle Erfahrungen gebunden, die es der Inklusionspädagogik ermöglichen, Behinderungen im Sinne sozialer Barrieren zu diagnostizieren. In ihrer eigenen Legitimation und im Anspruch auf besondere Maßnahmen identifiziert die Inklusionspädagogik behindernde Problemlagen. Diese kennzeichnen zwar keine stabilen Zuschreibungen, jedoch Kategorien, die an Körpersubjekte gebunden bleiben. Der alternative Gebrauch der Differenz Behinderung/ Nicht-Behinderung impliziert sowohl ein Wissen um die Behinderung, als auch inklusionspädagogischen Unterstützungsbedarf und die Zuschreibung eines Kompetenzdefizits. Die inklusionspädagogischen Praxen des Differenzgebrauchs lassen sich in diesem Kontext als Teil gesellschaftlicher Praxis begreifen, welche in ihrem Einsatz für Chancengerechtigkeit die Anerkennung von Verschiedenheit als Problem sozialer Erfahrung nicht in den Blick bekommt.
Auch die Performative Theorie der Behinderung widmet sich Behinderungen im Sinne von Barrieren, allerdings verwahrt sie sich gegen die Anmaßung sozialer Diagnosen. Als Beobachtertheorie analysiert sie Barrieren mit dem Anspruch ‚radikaler Dekategorisierung’. Sie versteht das Heterogenitätskonzept als ein formales sprachlicher Praxen, die Differenzen aufheben. Dagegen insistiert die Performative Theorie der Behinderung auf eine kontingente, jedoch universale Differenz Behinderung/Nicht-Behinderung, die ihre Perspektivität durch ‚Referenzialisierung’ einlöst. In der Anerkennung individueller Verschiedenheit verengt sie im Kontext des Bildungssystems den Anspruch der Gerechtigkeit auf individualisierte Leistungsgerechtigkeit. Die Performative Theorie setzt auf ein kritisches Diversity Management von Heterogenität und der Umverteilung von Bildungschancen, deren kontingente Bedeutung nicht in Frage gestellt wird. Quer dazu wird die Differenz Behinderung/Nicht-Behinderung als politische und als soziale Erfahrung aufgerufen. Im Aufrufen des Anspruchs der ‚gleichberechtigten gesellschaftlichen Teilhabe’ von Menschen mit Behinderungen scheinen sich Fragen nach der Kontingenz der Differenz Behinderung/Nicht-Behinderung und deren Kennzeichnung als ‚autonome Unterscheidung eines Beobachters’ zu verbieten.
Vielleicht kennzeichnen die uneingelösten Ansprüche ‚Respekt gegenüber der prinzipiellen individuellen Verschiedenheit aller Menschen’ und ‚gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe’ das Konzept Heterogenität in der Inklusionspädagogik als Utopie, „die sich persistent dranmacht, das Unmögliche zu artikulieren und die fordern (...), eine politische Hoffnung, die immer wieder enttäuscht werden muss. (...) Letztlich ist das Denken der Veränderung, die Hoffnung auf ein Mehr an Gerechtigkeit das, was die utopische Fantasie in Gang hält.“ (do Mar/Varela 2010, 258.)
5. Literatur
Bundesministerium der Justiz (2006): Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG).
http://www.gesetze-im-internet.de/ agg/__1.html [Eingesehen am: 29.06.2011]
Dederich, Markus (2010): Behinderung, Norm, Differenz – Die Perspektive der Disability Studies. In: Kessl, Fabian & Plößer, Melanie (Hrsg.), Differenzierung, Normalisierung, Andersheit. Soziale Arbeit als Arbeit mit Anderen. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 170-184
do Mar, Maria/Varela, Castro (2010): Un-Sinn: Postkoloniale Theorie und Diversity. In: Kessl, Fabian & Plößer, Melanie (Hrsg.), Differenzierung, Normalisierung, Andersheit. Soziale Arbeit als Arbeit mit Anderen. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 247-262
Hetzel, Mechthild (2007): Provokation des Ethischen. Diskurse über Behinderung und ihre Kritik, Heidelberg: Universitätsverlag Winter
Kessl, Fabian/Plößer, Melanie (Hrsg.) (2010): Differenzierung, Normalisierung, Andersheit. Soziale Arbeit als Arbeit mit Anderen, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften
Kossens, Michael/von der Heide, Dirk/Maaß, Michael (2009): SGB IX. Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen. Kommentar, München: Verlag C.H. Beck
Mecheril, Paul (2004): Einführung in die Migrationspädagogik, Weinheim und Basel: Beltz
Netzwerk Artikel 3 e.V. (2009): Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Schattenübersetzung. Korrigierte Fassung der zwischen Deutschland, Liechtenstein, Österreich und der Schweiz abgestimmten Übersetzung.
http://www.netzwerk-artikel-3.de/attachments/093_schattenuebersetzung-endgs.pdf
Trautmann, Matthias/Wischer, Beate (2011): Heterogenität in der Schule, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften
Waldschmidt, Anne/Schneider Werner (2007): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld, Bielefeld:transcript
Weisser, Jan (2005): Behinderung, Ungleichheit, Bildung. Eine Theorie der Behinderung, Bielefeld: trancript
[1] Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen gekürzten und überarbeiteten Auszugs des Artikels: Anerkennung und Chancengerechtigkeit. Normative Implikationen des Heterogenitätskonzepts in Inklusionspädagogik und Interkultureller Pädagogik, den die Autorin gemeinsam mit Teresa Budach für den Tagungsband der Jahrestagung der DGfE Kommission Bildungs- und Erziehungsphilosophie 2011 verfasst hat.