Martin Nugel: Die ‚Einbeziehung des Anderen‘: Der ‚utopische Überschuss‘ inklusiver Bildungslandschaften

Abstract: Ausgehend von der dialektischen Verschränkung der Diskurse um Inklusion und Raum wird das von Jürgen Habermas als konstitutiv für das Inklusionsparadigma postulierte Theorem der „Einbeziehung des Anderen“ als Herausforderung für die räumliche Organisation und Strukturierung von Bildungslandschaften beschrieben. Insofern schärft der folgende Beitrag den Blick für die „utopischen Überschüsse“ der Produktion und Aneignung inklusiver und heterogenitätssensibler Bildungsräume.

Stichworte: inklusive Bildungslandschaft; räumliche Inklusion; Einbeziehung des Anderen

Inhaltsverzeichnis

  1. Dialektische Verschränkung von Inklusion und Raum
  2. Veränderte räumliche Kontexte von Lern- und Bildungsprozessen
  3. Die ‚Einbeziehung des Anderen‘ und der ‚utopische Überschuss‘ inklusiver Bildungslandschaften
  4. Auf der Suche nach anderen Räumen: Die „Einbeziehung des Anderen“ als Voraussetzung inklusiver Bildungslandschaften
  5. Fazit
  6. Literatur

 

1. Dialektische Verschränkung von Inklusion und Raum

Mit der Theoriefigur der Bildungslandschaft ist ein Setting beschrieben, das sich auszeichnet durch die Vernetzung von formalen und non-formalen Bildungsinstitutionen bzw. -akteuren, den wechselseitigen Bezug von formellen und informellen Lernprozessen sowie ein spezifisches sozialräumliches Arrangement der Lern- und Bildungsangebote. Bildungslandschaften beziehen sich auf eine sozialgeographisch abgrenzbare „Infrastruktur miteinander vernetzter Bildungsangebote“ (Berse 2011, S. 39). Mit der Metapher ist entsprechend die Vorstellung verbunden, „dass es für das gelingende Aufwachsen und Bildung von Kindern einer optimalen Abstimmung zwischen der Familie, dem sozialen Umfeld, der Kita und der Schule bedarf und die Schnittstellen und Übergänge zwischen diesen Systemen dort zu gestalten sind, wo die Menschen leben und wo die Probleme nicht gelingender Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsprozesse … kulminieren“ (ebd., S. 40). Der räumliche Bezug wird im Konzept der Bildungslandschaft also „nicht territorial als bestimmte Architekturen gedacht, sondern als umfassendere, entweder geographisch und/oder politisch markierte Gebiete“ (Nugel 2016, S. 15). In der Theoriefigur der Bildungslandschaft wird aktuell das zentrale Strukturmerkmal moderner Gesellschaften im Hinblick auf die Institutionalisierung von Bildung beschrieben (vgl. Scheunpflug und Welser 2017). Diese Struktur ist sowohl Voraussetzung wie auch Gegenstand von Inklusion und darauf bezogener heterogenitäts- bzw. diversitätssensibler Handlungspraktiken.
In der aktuellen Diskussion um die Qualität von Bildungslandschaften spielt die Differenz zwischen Inklusion und Exklusion allerdings kaum eine Rolle (vgl. Dreher und Reich 2006). Dieses Desiderat betrifft vor allem raumbezogene Fragestellungen. Zwar wird gerade in den Diskursen um den barrierefreien Zugang zu Einrichtungen bzw. deren inklusiven Designs raumbezogen argumentiert. Prozesse der Raumaneignung und Raumproduktion werden bislang allerdings kaum systematisch inklusionstheoretisch gedacht (vgl. Köpfer 2017).[1]
Eine solche Entkopplung der Diskurse verwundert vor allem im Hinblick auf die strukturellen Ähnlichkeiten der Diskurse um Inklusion und Raum.[2] Beide Diskurse sind aufgrund ihrer semantischen Unbestimmtheit als catch-all-Begriffe hinreichend offen genug, um anschlussfähig an andere Diskurse sein zu können. Beide Diskurse haben dementsprechend in den letzten Jahren erhebliche Konjunkturen erfahren. Und beide Diskurse bringen einen tiefgreifenden Paradigmenwechsel auf den Punkt. Einerseits ist darauf verwiesen, dass sich demokratische Gesellschaften ohne eine Politik der Inklusion kaum gerecht und ethisch legitim organisieren lassen. Andererseits wird deutlich, dass Räume und deren Aneignung bzw. Produktion als materielle Vorstrukturierung des Sozialen exkludierende Praktiken nicht nur sichtbar machen, sondern u.U. auch verstärken.
Jenseits solcher strukturellen Ähnlichkeiten sind die Diskurse von Inklusion und Raum aber auch inhaltlich miteinander verschränkt. Die Kategorie des Raums ist für die politische und pädagogische Praxis der Inklusion ebenso konstitutiv wie umgekehrt die Idee der Inklusion elementar ist für gerechte und auf Teilhabe hin orientierte gesellschaftliche Raumverhältnisse. Im Diskurs um Inklusion wird dabei einerseits die Erkenntnis wichtig, dass die Einbeziehung des Anderen ohne eine tiefgreifende Veränderung der sozial- und materialräumlichen Verhältnisse nicht möglich ist. Im Diskurs um Raum wird andererseits die Erkenntnis wichtig, dass es Bildungsgerechtigkeit und soziale Teilhabe ohne eine inklusionstheoretisch aufgeklärte Raumpraxis nicht geben wird. In der Dialektik von Inklusion und Raumwird daher sowohl die raumtheoretische Aufklärung des Inklusionsdiskurses als auch die inklusionstheoretische Aufklärung des Raumdiskurses zum Ausgangspunkt einer inklusions- und heterogenitätssensiblen theoretischen Beschreibung von Raumproduktions- und Raumaneignungsprozessen im Kontext von Bildungslandschaften.

 

2. Veränderte räumliche Kontexte von Lern- und Bildungsprozessen

In der aktuellen raumwissenschaftlichen Debatte werden Bildungslandschaften als multidimensionale und heterogene Strukturen des Sozialen beschrieben (vgl. Baur et al. 2014; Freytag et al. 2014; Nugel 2016), in denen sich gesellschaftliche Veränderungen bezüglich des Räumlichen zeigen. Zentrale Merkmale dieses Wandels können mit den Stichworten Globalisierung, Urbanisierung, einer fortschreitenden Vernetzung, einer gesteigerten Bedeutung öffentlicher Räume, dem Aufkommen virtueller bzw. fluider, d. h. nicht mehr eindeutiger Raumstrukturen und nicht zuletzt mit dem politischen Ziel der Inklusion beschrieben werden. Ausgehend von soziologischen und geographischen Modellen werden in der erziehungswissenschaftlichen Raumdebatte Bildungslandschaften dementsprechend in ihrer heterogenen und komplexen Struktur differenziert. In diesem Kontext können drei relevante Veränderungsprozesse unterschieden werden (vgl. Scheunpflug 2006).
1) In der historischen Dimension wird die Differenz von Lernort und Lebensort bedeutsam (Nugel 2016). In der Perspektive einer soziokulturellen Evolution wird deutlich, dass die längste Zeit der Menschheitsgeschichte die menschliche Lebenswelt und der Ort des Lernens weitgehend in eins gefallen sind. Bis weit in die Antike hinein war Lernen so organisiert, dass im Alltag durch Nachahmung gelernt wurde, ohne dass dazu ein spezifischer räumlich und/oder sozial definierter Ort nötig gewesen wäre. Mit der neolithischen Revolution und dem Übergang von traditionell-archaischen zu segmentären Gesellschaften ändert sich die räumliche Organisation von Gesellschaften grundlegend. In der Antike entstehen erste Vorformen eines spezifischen pädagogischen Raums, mit der Lernprozesse an besondere Orte auf der Erdoberfläche und im sozialen Gefüge gebunden werden. Dementsprechend wird das intentionale Lernen mehr und mehr aus der alltäglichen Lebenswelt der Menschen ausgegliedert und in ein pädagogisch inszeniertes Territorium ausgelagert. Mit der Herausbildung der Schule in den antiken Hochkulturen wird diese Separierung von intentionalem Lernort und informeller Lebenswelt erstmals für einen Teil der Bevölkerung konstitutiv. Die Nichtzugehörigkeit bzw. die Nichtzugänglichkeit zu diesen Bildungswelten vermindert umgekehrt die Teilhabechance aller Anderen massiv. Dieser aus dem Alltagsleben ausgegliederte pädagogische Raum – die Schule – wird im weiteren Verlauf der europäischen Geschichte zu dem räumlichen „Deutungs- und Gliederungsmuster im Welt- und Selbstverhältnis“ (Bilstein 2013, S. 85) und avanciert zum Phänotyp für alle institutionalisierten Orte des Lernens. Der damit verbundene Wandel der gesellschaftlichen Raumverhältnisse kann als räumliche Exklusion beschrieben werden, bei der die Subjekte nach bestimmten Kriterien separiert werden. Dieser Prozess der separierten Exklusivität des pädagogischen Raums beginnt in der Antike, gewinnt dann im Kontext von Aufklärung und Industrialisierung mit der Binnendifferenzierung des Schulraums und der Ausgliederung entsprechender Raumarrangements in Form unterschiedlicher Schularten an Bedeutung und setzt sich schließlich in den außerschulischen Bereich hinein fort. Ob Kinder- und Jugendhilfe, Heil- und Sonderpädagogik, Kinder- und Jugendpsychiatrie oder Erwachsenenbildung – jedes pädagogische Feld basiert heute auf der sozial- und materialräumlichen Exklusion ihrer je spezifischen Tätigkeiten aus der alltäglichen Lebenswelt. Diese Trennung hat dazu geführt, dass Menschen nicht dort lernen (zumindest nicht im Sinne formellen Lernens bzw. formaler Bildungsorte), wo sie leben, sondern an besonderen Orten. Unterricht, Erziehung und Hilfe jenseits der Familie benötigen aber Zeit und zusätzliches Personal, das genau dafür bezahlt werden muss. Insofern sind die Ressourcen knapp und müssen gezielt eingesetzt werden. Diese ökonomische Logik jeder Pädagogik hat zu separierten didaktischen Arrangements geführt, damit Wissen und Werte außerfamiliär in effektiver und effizienter Art und Weise weitergegeben werden konnten. Ein zentrales Element einer solchen Separierungslogik war und ist die Homogenität der Lerngruppen. Insofern wurden insbesondere diejenigen, „die aufgrund ihrer körperlichen Konstitution, ihres geistigen Vermögens oder ihrer sozialen Herkunft als beeinträchtigt angesehen“ (Bude 2015, S. 40) sowohl von den Lebens- wie auch von den Lernorten ausgeschlossen und in ein „Ghetto verordneter Homogenität“ (Bude 2015, S. 40) verbracht.
2) In der zeitlich-biographischen Dimension sind zwei Entwicklungen des sozialen Wandels räumlicher Strukturen bedeutsam. Einerseits zeigen sich grundlegende Wandlungsprozesse gesellschaftlicher Raumverhältnisse in Abhängigkeit von soziokulturellen bzw. technologischen Revolutionen und andererseits resultieren daraus veränderte Aneignungs- bzw. Bewältigungsmuster räumlicher Strukturen und Settings. Dieser Wandel ist prinzipiell nichts Neues, denn die Wellen der verschiedenen soziokulturell-technologischen Revolutionen haben zu jeweils neuen gesellschaftlichen Raumverhältnissen und damit auch zu veränderten Wahrnehmungs- bzw. Aneignungsstrukturen des Räumlichen im Erziehungs- und Bildungssystem geführt (vgl. Nugel 2016). So führte die Erfindung der Dampfmaschine seit Mitte des 18. Jahrhunderts nicht nur zur Ersetzung der Muskelkraft und veränderten Produktionsweisen in Landwirtschaft und Technik, diese Entwicklung machte vielmehr auch die systematische Reorganisation von individuellen Lernprozessen notwendig, mit denen erst die Herausforderungen durch die neuen Techniken bewältigt werden konnten. In der Folge entstanden neben den seit der Antike tradierten Schulformen mit dem Kindergarten, der Volkshochschule oder der Kinder- und Jugendarbeit gänzlich neue pädagogische Räume (vgl. Jelich und Kemnitz 2003). Im weiteren Verlauf führten die technologischen Erfindungen in der Kommunikationstechnologie (Telegraphie), der Mobilitätstechnologie (Eisenbahn, Luft- und Meeresschifffahrt) bzw. der Informationstechnologie (Computer, Internet) sukzessive zu einer Überwindung des geographischen Raums, wodurch die körperliche Anwesenheit von Menschen nicht mehr notwendigerweise an deren Anwesenheit im physischen Raum gebunden ist. Dementsprechend sind die Bedingungen von Lern- und Bildungsprozessen räumlich nicht nur vielfältiger geworden, im Kontext der Prozesse der Globalisierung und der flächendeckenden Verbreitung des virtuellen Raums wurden innerhalb weniger Jahrzehnte bis dato vollkommen unzugängliche Räume erschlossen. Lern- und Bildungserfahrungen sind damit nicht mehr körperlich-leiblich an einen bestimmten lokalen Ort gebunden, sondern passieren in sich überlagernden Raumarrangements. Die damit verbundene Multidimensionalität und Heterogenität ist ein typisches Kennzeichen moderner gesellschaftlicher Bildungsräume.
Die zeitliche Dimension der sich verändernden räumlichen Kontexte ist allerdings auch noch unter einem zweiten Aspekt relevant: In den individuellen Biographien wird nämlich nicht nur das rein quantitative Nebeneinander von Bildungsräumen als heterogener und multidimensionaler Struktur relevant, vielmehr ist davon auch das aufeinanderfolgende Durchlaufen dieser Räume im Lebenslauf betroffen. War in vorindustriellen Zeiten die Schule – wenn überhaupt – der einzige Lern- und Bildungsraum, den Menschen jenseits von Familie und Arbeit gekannt haben, so gibt es in der Moderne kaum einen Lebensabschnitt mehr, der nicht durch – mehr oder weniger formalisierte – Lern- und Bildungsräume flankiert wird und die dementsprechend – wie an einer Perlenschnur aufgereiht – nacheinander durchlaufen werden müssen, um überhaupt adäquate Lebenschancen zu erhalten.
3) Die sich verändernden Lern- und Bildungsräume können drittens in ihrer sozialen Dimension beschrieben werden. Aufgrund ihrer Ubiquität und Omnipräsenz strukturieren sie die alltägliche Interaktion und Kommunikation in einer ganz eigenen Weise. Ein weiteres typisches Merkmal gesellschaftlicher Räumlichkeit besteht daher darin, dass damit eine spezifische Wahrnehmbarkeit bzw. Positionalität des Subjekts inszeniert und eine spezifische Sozialität der Raumproduktionen indiziert wird. Lern- und Bildungsräume werden daher als Regulationssystemedes Sozialen relevant, mit denen die Struktur des Pädagogischen als Sonderfall gesellschaftlicher Raumverhältnisse etabliert und über Generationen hinweg kommuniziert wird. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Differenz zwischen fremdgesteuerter Raumproduktion und selbstgesteuerter Raumaneignung. Dieses Auseinanderfallen betrifft vor allem den gesellschaftlich organisierten Prozess der Produktion des Raums. Denn die Entscheidung, wo und wie gelernt wird, lässt sich in der funktional-differenzierten Gesellschaft kaum mehr selbst treffen, zumindest nicht was den formellen Anteil des Lernens betrifft. Räume zu entwerfen und zu planen, und sie zu bauen – das ist eine Tätigkeit, die allenfalls Kindern möglich ist, etwa beim Bau eines Baumhauses oder auf einem Bauspielplatz. Für die Erwachsenen ist sie nur aufgrund einer besonderen Zuständigkeit und Kompetenz möglich. Was aus der Perspektive von Statik und Bausicherheit als sinnvoll erscheint, wirkt aus einer raumbildungstheoretischen Perspektive als problematisch. Denn diese Differenz führt dazu, dass Lern- und Bildungsräume in solchen sozialen Interaktions- und Regulationsstrukturen konstituiert werden, die der kritischen Reflexion oder gar der Veränderbarkeit und damit dem eigenen Zugriff der Lernenden weitgehend entzogen sind. Die Entkopplung des Raumproduktionsprozesses vom Raumaneignungsprozess führt bei der Konstitution von Bildungsräumen bzw. Bildungslandschaften häufig dazu, dass die für ein subjektorientiertes Bildungsverständnis als konstitutiv erachteten Prinzipien, wie vor allem die Aufforderung zur Selbsttätigkeit (vgl. Benner 2012) oder die Selbst- und Mitbestimmung (vgl. Klafki 1974) in der Regel unberücksichtigt bleiben. In der Konsequenz kann das Bildungssubjekt auf die damit verbundenen Vorstrukturierungen wenig oder gar keinen Einfluss nehmen. Es muss daher davon ausgegangen werden, dass die Möglichkeit der Teilhabe an raumbezogenen Strukturierungsprozessen für das lernende Subjekt im Hinblick auf das Wo, Was und Wie des (formellen) Lernens eher kleiner als größer geworden sein dürften.
Zusammenfassend können drei Aspekte der sich verändernden räumlichen Kontexte von Bildungsprozessen beschrieben werden: In der historischen Perspektive zeigt sich, dass die räumlichen Strukturen der funktional differenzierten Gesellschaft nicht nur im Hinblick auf mangelnde Teilhabe und Partizipation als problematisch erscheinen, sondern auch aus demokratietheoretischer Perspektive als unterkomplex beschrieben werden müssen (vgl. Werlen 2009). In der zeitlichen Perspektive wird deutlich, dass die Bewältigung dieser multidimensionalen, komplexen räumlichen Struktur für individuellen biographischen Lebensentwurf vor allem im Hinblick auf eine gelingende lebenslange und lebensbreite gesellschaftliche Teilhabe immer bedeutsamer wird. In der sozialen Perspektive wird das Problem sichtbar, dass mit den funktionalen Raumproduktionsprozessen ein Verlust von individueller Autonomie und Selbsttätigkeit einhergeht, der aus insbesondere inklusionstheoretischer Perspektive heraus zum Anlass für ein neues Nachdenken über die Konnexität von Inklusion und Raumproduktion wird.

 

3. Die ‚Einbeziehung des Anderen‘ und der ‚utopische Überschuss‘ inklusiver Bildungslandschaften

Einer Theorie inklusiver Bildungslandschaften liegt die Annahme zugrunde, dass für demokratische Gesellschaften der Konnex von Inklusion als politisch-pädagogischem Ziel und der räumlichen Gestaltung gesellschaftlich organisierter Bildungs- und Lebensräume von elementarer Bedeutung ist. Raumtheoretisch wird Inklusion dabei in einem doppelten Sinne relevant. Denn einerseits verweist das Inklusionsparadigma auf die der systemisch funktional-differenzierten Gesellschaft unweigerlich zugrundeliegende Differenz zwischen Inklusion und Exklusion, die eben auch räumlich sichtbar bzw. verhandelt wird. Und andererseits wird mit dem Ziel der Inklusion ein handlungstheoretisches Konzept der Adressierung aller Personen in ihrer Heterogenität verknüpft, das sich bewusst von Homogenitätsvorstellungen abwendet.
Vor diesem Hintergrund wird mit dem Konzept einer inklusiven Bildungslandschaft der Anspruch verfolgt, die „Einbeziehung des Anderen“ (Habermas 2009) als handlungsleitende Maxime zu postulieren, und zwar insbesondere, wenn es sich um Fragen der Raumproduktion und Raumaneignung handelt. Mit einer Theorie der inklusiven Bildungslandschaft wird daher nach dem „sozialen Band einer heterogenen Gesellschaft“ (Bude 2015, S. 38) in raumtheoretischer Perspektive gefragt. Die Frage, was „uns noch (eint), wenn die Lebensläufe sich unaufhaltsam individualisieren und die sozialen Milieus sich unüberschaubar pluralisieren“ (Bude 2015, S. 38), ist daher eine Frage, die raumtheoretische Reflexionen anregt. Der Begriff der räumlichen Inklusion ist dabei „die Formel für eine Gesellschaft, der aufgrund der ungeheuren Variation von Individualitäten und Zugehörigkeiten der innere Zusammenhang verloren gegangen ist“ (Bude 2015, S. 38).
Der Rekurs auf die dialektische Verschränkung der Diskurse um Raum und Inklusion, bringt in diesem Kontext den utopischen Überschuss (vgl. Scheunpflug 2014) zum Vorschein, der beiden Diskursen eigen ist. Indem diese beiden Diskurse miteinander verschränkt werden, wird eine uralte pädagogische Frage neu gestellt, nämlich die Frage nach den Orten, die „‚es eigentlich noch nicht gibt‘“ (Geißler 2009, S. 7), die es aber geben müsste. Die Theoriefigur der inklusiven Bildungslandschaft beschreibt insofern einen gesellschaftlichen und pädagogischen U-Topos. Fokussiert wird dabei auf drei Aspekte (vgl. Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft 2017).
Erstens ist mit einer Theorie inklusiver Bildungslandschaften ein bildungs- und sozialpolitischer Impuls verbunden, durch den „jene Strukturen und Praktiken, die Behinderungen an Teilhabe und der Partizipation hervorbringen und stützen“ (Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft 2017) erkannt und abgebaut werden können. Weil räumliche Strukturen nicht nur omnipräsente sondern auch dauerhafte Strukturen sind und dementsprechend nachhaltig inkludierend bzw. exkludierend wirken, müssen sie der theoretischen Reflexion im Kontext des politischen Ziels der Inklusion zugänglich sein. Für die entsprechenden Bildungsakteure und Wissensmilieus ergibt sich daraus die Aufgabe, „diese Entwicklungen und Prozesse zu reflektieren und alternative Perspektiven zu formulieren und aufzuzeigen“ (Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft 2017).
Zweitens ist mit einer Theorie inklusiver Bildungslandschaften auf einen ethischen Orientierungshorizont verwiesen, mit dem das bildungspolitische und pädagogische Handeln der institutionellen Akteure unmittelbar auf die Einbeziehung Aller zurückgebunden werden kann. Die „gleichberechtigte Partizipation und soziale Zugehörigkeit“ wird dabei als „Bedingung sowie als Ausdruck und Konstitution einer demokratischen Gesellschaftsentwicklung“ (Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft 2017) verstanden. Grundlegend ist dabei das „gleichberechtigte und wertschätzende Miteinander der Verschiedenen“ (Katzenbach 2015, S. 23).
Und drittens regt eine Theorie inklusiver Bildungslandschaften solche Diskursarenen an, in denen Diskursangebote hinsichtlich der Fragen von raum- und inklusionsbezogener Bildungsgerechtigkeit und Partizipation gemacht und umgesetzt werden können. Dabei ist vor allem die Frage wichtig, welche „Strukturen und Praktiken … die Behinderungen an Teilhabe und der Partizipation“ (Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft 2017) in traditionellen Bildungslandschaften hervorbringen und stützen. Diese zu erkennen und abzubauen, die mit den tradierten Konstitutionsprozessen von Bildungslandschaften verbundenen Exklusionen zu reflektieren und alternative Perspektiven zu formulieren und aufzuzeigen, rückt erst mit einer solche Theorie inklusiverBildungslandschaften in den Fokus der Aufmerksamkeit.

4. Auf der Suche nach anderen Räumen: Die „Einbeziehung des Anderen“ als Voraussetzung inklusiver Bildungslandschaften

Im Kontext der Diskussion um inklusive Bildungslandschaften bietet der Bezug auf das Habermas’sche Theorem der „Einbeziehung des Anderen“ zwei wichtige Potenziale für die Weiterentwicklung von Bildungslandschaften hin zu inklusiven Bildungslandschaften.
Einerseits gilt es – dem Gedanken des utopischen Überschusses folgend – nach den Orten zu suchen, in und mit denen subjektive Selbstentwürfe und inklusive gesellschaftliche Raumordnungen möglich wären. Das konstitutive Element pädagogischer Raumpraxis liegt dementsprechend in der Kommunikation über die Gestaltung von Lern- und Bildungsräumen in Bildungslandschaften. Insofern gilt es, eine dialogische Grammatik zu erarbeiten, auf die Expert*innen und Lai*innen, Planer*innen und Nutzer*innen in den Raumplanungs- und Raumentwurfsprozessen zurückgreifen können. Aus dieser Perspektive betrachtet, darf es keine gesellschaftliche Gruppe geben, die nicht über die Fähigkeit verfügt, diese dialogische Grammatik zu kennen, zu verstehen und anzuwenden. Dieses Verstehen und Mitsprechen-Können ist für die Position des Subjekts sowohl in der globalisierten Welt wie auch in der lokalen Stadt-/Landgesellschaft elementar und erst dadurch entscheidet sich, ob das inklusive Design von Bildungslandschaften wirklich inklusiv ist. Denn genau hier, in den Institutionen und Diskursarenen, werden die Fragen sozial- und materialräumlicher Gerechtigkeit, räumlicher Teilhabe und Identität sowie rauminduzierter Exklusion und Inklusion entschieden. Unter dem Paradigma der Inklusion betrachtet, bedeutet das, dass die Akteure in Bildungslandschaften stärker als bislang die Veränderung der Bedingungen in den Blick nehmen müssten, unter denen sich individuelle Raumaneignungsprozesse überhaupt vollziehen können. Im Rahmen einer hier angedeuteten reflexiv-kritischen Raumbildungstheorie ist die zentrale Norm dafür die Zurückweisung der „paternalistische(n) Objektivierung der Akteure“ (Celikates 2009, S. 250) sowie der Leugnung ihrer Handlungsfähigkeit und Reflexivität. Aufgrund ihres unhintergehbaren Bezugs zum Selbstverständnis der ‚gewöhnlichen Akteur*innen‘ muss die pädagogische Produktionspraxis von Räumen dabei dialogisch sein, will sie den eigenen Sinnanspruch als kommunikative Praxis nicht hintergehen (vgl. Schaller 1978). Insofern gilt es die Möglichkeiten einer reflexiv-kritischen Haltung in den unterschiedlichsten Phasen der Genese und Nutzung von Räumen als zentralem Bestandteil der Bildungspraxis zu erforschen und zu beschreiben.
Damit ist als zweite Herausforderung die Konstitution von diskursiven Arenen verbunden, in denen die gewöhnlichen Akteure durch eine dialogische Grammatik die räumliche Gestalt der inklusiven Gesellschaft mitbestimmen können. Dementsprechend sollte das Entwerfen als transitiver Vorgang in Händen disponierender Wissensmilieus stärker als bislang hinterfragt werden (vgl. Nugel 2014). Mit dem Theorem der Einbeziehung des Anderen kann die Verweigerung bzw. die selbstbestimmte Mitverantwortung der von Städte(bau)planung betroffenen Menschen hinterfragt und kritisiert werden. Zwar ist nicht davon auszugehen, dass z. B. die Qualität von Gebäuden oder die Gestalt von Bildungslandschaften per se dadurch besser wird, dass die Betroffenen mitreden bzw. -entscheiden können. Ihnen aber diese Möglichkeit zu verweigern, widerspräche sowohl dem Selbstverständnis von Entscheidungsfindungen in demokratischen Gesellschaften als auch allgemein akzeptierten pädagogischen Grundwerten, wie sie etwa Dietrich Benner in der ‚Aufforderung zur Selbsttätigkeit‘ oder Wolfgang Klafki mit den Dimensionen der Selbst- und Mitbestimmung beschrieben haben (vgl. Benner 2012; Klafki 1972).

5. Fazit

Sowohl im Inklusions- wie auch im Raumdiskurs werden rationale Fiktionen im Hinblick auf das neue, innovative und verändernde Moment von Individuen und Gesellschaften gedacht und über deren Erreichbarkeit geforscht. Sowohl im Inklusionsdiskurs wie auch im Raumdiskurs werden Utopien als „Visionen einer besseren Gesellschaft“ (Giesecke 2004, S. 79) produziert und reflektiert. Erst mit dieser Weichstellung findet eine Theorie inklusiver Bildungslandschaften Anschluss an den ursprünglichen Impetus eines politisch verstandenen spatial turn, in dem weniger ästhetische als Gerechtigkeitsdiskurse aufgerufen werden. Inklusive Pädagogik setzt eine inklusive Politik des inklusiven Raums voraus, mit der die Einbeziehung des Anderen als Anlass für Bildungsprozesse und Prozesse der Konstitution anderer Räume gleichermaßen fungiert. Ohne diese Perspektive dürfte die Erziehungswissenschaft als Raumwissenschaft eher belanglos sein und man könnte sie getrost den Architekt*innen, Kunsthistoriker*innen und Stadtplaner*innen überlassen (vgl. Nugel 2017). Weitergedacht, bedürfte es dementsprechend einer (inklusiven) Entwurfsforschung, die den utopischen Überschuss der ‚Einbeziehung des Anderen‘ historisch und systematisch thematisiert und nach gesellschaftlich und pädagogisch sinnvollen bzw. legitimen normativen (räumlichen) Ordnungen fragt, nach denen inklusive Bildungslandschaften konzipiert sein sollen.

6. Literaturverzeichnis

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Werlen, Benno (2009): Gesellschaftliche Räumlichkeit. 2 Bände. Stuttgart: Steiner.


[1] Exemplarisch lässt sich das an der jüngsten Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft zur Bedeutung und Aufgabe der Inklusion für die Erziehungswissenschaft zeigen, in der raumbezogene Fragestellungen der Inklusion gar nicht erwähnt werden (vgl. Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft 2017).

[2] Vgl. Köpfer, Andreas; Rißler, Georg (2017): Raum und Räumlichkeit im Kontext von Heterogenität und Inklusion – Theorielinien und empirische Zugänge. Einladung zu den 1. Freiburger Methodengesprächen. Online im Internet. URL: https://www.ph-freiburg.de/fileadmin/user_upload/Einladung_FachtagRaumR%C3%A4umlichkeit_28April2017.pdf