Maren Oldenburg und Claudia Schomaker: Anbahnung reflektierter Handlungsfähigkeit als Ziel inklusionsorientierter Lehrer*innenbildung – Perspektiven von Schülerinnen und Schülern als Ausgangspunkt der Reflexion

Abstract:
Die Forderungen zur Berücksichtigung und Umsetzung von Ansprüchen der Inklusion bringen diverse Herausforderungen für die universitäre Lehrer*innenbildung mit sich; im Zentrum steht der Anspruch der Anbahnung von Fähigkeiten zum sensiblen Umgang mit und Wahrnehmen von Diversitäten Lernender. Die sich daraus ergebende Frage ist, wie Studierende von Beginn ihres Studiums an in einen reflektierten Kontakt mit inklusions- und diversitätsspezifischen Fragestellungen und Erfahrungen treten können. Ein möglicher Weg der Auseinandersetzung ist die Arbeit mit Fallbeispielen. Im Folgenden wird anhand des auf die Lehrer*innenbildung transformierten Modells der didaktischen Rekonstruktion eine solche Möglichkeit dargestellt. Unter Rückgriff auf dieses Modell wird das Ziel einer (Weiter-)Entwicklung des Konzepts Reflektierter Handlungsfähigkeit fokussiert. Dabei sind insbesondere die Auseinandersetzungen der Studierenden mit Aussagen und Erfahrungen zum gemeinsamen Lernen von Schüler*innen inklusiver Schulklassen von Bedeutung, die sowohl in Bezug zu den eigenen Professionalitätsvorstellungen über den Lehrer*innenberuf gesetzt, als auch im Hinblick auf eigene biographische Erlebnisse reflexiv bearbeitet werden.

Stichwörter: inklusionsorientierte Lehrer*innenbildung, reflektierte Handlungsfähigkeit, Lehrer*innenprofessionalität, Lernendenperspektiven

Inhaltsverzeichnis

  1. Reflektierte Handlungsfähigkeit als diskursbestimmendes Konzept einer diversitätsorientierten, inklusiven Lehrer*innenbildung
  2. Herausforderungen und Spannungsfelder in Forschung und Lehre
  3. Potentiale, aktuelle Entwicklungen und erste Ergebnisse
  4. Literatur

1. Reflektierte Handlungsfähigkeit als diskursbestimmendes Konzept einer diversitätsorientierten, inklusiven Lehrer*innenbildung

„Forschungsleitend ist die These, dass die Umsetzung von Inklusion im Bildungsbereich maßgeblich von den Einstellungen der daran beteiligten Personen abhängt“ (Heyl/Seifried 2014: S. 47).

Reflektierte Handlungsfähigkeit hat in diesem Zusammenhang als Theoriekonzept die Intention, Aspekte strukturtheoretischer mit kompetenzorientierten Professionsansätzen zur Lehrer*innenbildung zu verbinden und versteht diese somitals zu erwerbende Kompetenz. In Anlehnung an den durch die KMK-Kommission zur Lehrer*innenbildung entwickelten Begriff von Kompetenz ist reflektierte Handlungsfähigkeit damit neben zu erwerbenden „Wissensbeständen und Handlungsroutinen“ eine „Reflexionsform, die […] zweck- und situationsangemessenes Handeln“ (Terhart 2000, S. 54) ermöglicht.
Der Begriff der reflektierten Handlungsfähigkeit fügt sich damit in ein Verständnis von Professionalität ein, das in diesem Kontext als berufsbiographischer Entwicklungsprozess betrachtet wird, wodurch ebenfalls Terharts Verständnis von Lehrer*innenprofessionalität „als [ein] berufsbiographisches Entwicklungsproblem“ (ebd.: S. 56) inkludiert wird. Der Erwerb von Reflexionskompetenz als ein Teil von Professionalität ist ein Prozess, der begleitend zur Berufsbiographie zu betrachten ist und nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt als abgeschlossen bezeichnet werden kann. In diesem Sinne wird auf ein Verständnis von Professionalität zurückgegriffen, das diese „im Kern über die Rekonstruktion der Handlungs- und Anforderungsstruktur zu bestimmen [sucht]. Nicht Profession als Zustand und Status, sondern als die Spezifik der Handlungsstruktur und ihres Prozessierens wird zum zentralen Bezugspunkt“ (Helsper/Tippelt 2011: S. 272). Die Anbahnung von Reflexionsformen im Rahmen der Lehrer*innenbildung zielt darauf ab, „vom unmittelbaren Arbeitsgeschehen [abrücken zu können], um Ablauforganisation, Handlungsabläufe und -alternativen zu hinterfragen und in Beziehung zu eigenen Erfahrungen und zum eigenen Handlungswissen zu setzen“ (Dehnbostel 2007: S. 31f.). Reflexionsprozesse sind in einem derartigen Verständnis eng an die Auseinandersetzung mit subjektiven beliefs und Erfahrungen verbunden.
Das Spannungsfeld zwischen strukturtheoretischen und kompetenzorientierten Ansätzen der Lehrer*innenprofessionalisierung wird mit dem Konzept der Reflektierten Handlungsfähigkeit aufgegriffen und auf eine Art und Weise genutzt, dass sich die beiden professionstheoretischen Ansätze nicht weiterhin als gegenseitig ausschließende, sondern als sich bedingende betrachtet werden können. Ein professioneller Umgang mit Antinomien, Unsicherheiten und kontingenten Situationen, wie es vom strukturtheoretischen Ansatz gefordert wird, muss nicht ausschließlich mit eigenen beruflichen Erfahrungen zusammenhängen, sondern kann auch bereits in der ersten Ausbildungsphase von Studierenden anhand von Reflexionen über spezifische Situationen im Sinne von Fällen erarbeitet werden (Terhart 2011: S. 206). „Für den Handelnden bedeutet die Forderung nach Reflexivität, gegenüber den eigenen Handlungsgrundlagen und Handlungsvoraussetzungen stets skeptisch zu bleiben“ (Dannenbeck 2007: S. 119).
Das Modell des hier skizzierten Ansatzes einer inklusionsorientierten, diversitätssensiblen Lehrer*innenbildung impliziert damit insbesondere eine Auseinandersetzung mit Differenzlinien und einem Nachdenken über deren Entstehung und gesellschaftlichen Auswirkungen. So werden Differenzen als konstruiert betrachtet, die in ihrer Reproduktion auch stets die Möglichkeit der Dekonstruktion und Verschiebung bieten (vgl. Rose/Koller 2012: S. 91). Reflektiert werden in diesem Zusammenhang sowohl eigene biographische Erfahrungen als auch die Aussagen von Schüler*innen zu Lern- und Bildungserfahrungen in inklusiven Settings. Diese Reflexionsprozesse werden dabei in Kontexte von Theorien über Inklusion und Diversität eingebettet. Anhand dieser Kombination wird ein performatives Differenzverständnis mit den Studierenden erarbeitet, das mit einem weiten Inklusionsbegriff kompatibel ist. „Performativ meint, dass die Theorie die Art und Weise beschreibt, wie etwas gesagt, gemacht oder getan wird“ (Weisser 2005: S. 16). Dabei folgt eine Orientierung an den Konzepten des „doing difference“ (Fenstermaker/West 1995, Walgenbach 2017). Dieser fokussiert sich auf präreflexive Prozesse, fragt nach Herstellungsprozessen sozialer Differenzierungen und knüpft an ethnomethodologische Forschungstraditionen an (vgl. ebd.).
Die Thematisierung von Differenzen im Hinblick auf Inklusion bringt darüber hinaus Diskussionen um Kategorisierungen und Etikettierungen mit sich, mit denen sich die Studierenden reflexiv auseinandersetzen sollten. Dabei stellt die Berücksichtigung vulnerabler Gruppen im Hinblick auf Zuordnungsprozesse einen besonders bedeutsamen Aspekt dar, weil unreflektierte Prozesse von Kategorisierungen wiederum mit Exklusionsrisiken einhergehen können.
„Der Begriff der Inklusion steht im Sinne von Porter (1997), Hinz (2009) und Wocken (2010) für eine Berücksichtigung der individuellen Unterschiede aller Menschen, ohne dass eine Kategorisierung und Zuordnung zu einer bestimmten Gruppe stattfindet und eine Aussonderung in besondere Institutionen erfolgt“ (Lütje-Klose/Langer/Serke/Urban 2011: S. 11).
Somit greift dieser Ansatz auch die Prämissen von citizenship education im Kontext von Inklusion auf, wie sie u.a. Georgi ausführt (2008):
„Citizenship education in the age of diversity needs to

Neben dem Wissen um verschiedene Differenzlinien, der Ausbildung einer sonderpädagogischen Expertise und der Kooperation verschiedener Lehrämter, wird wiederholt der Aspekt der persönlichen Einstellung bezüglich der Umsetzung von Inklusion als relevant betrachtet (vgl. Döbert/Weishaupt 2013: S. 266, Georgi 2008: S. 83f.). Folgt man der These von Heyl und Seifried, stellt sich die Frage, welche Forderungen sich daraus im Hinblick auf die universitäre Lehrer*innenbildung ergeben. Schwerpunktmäßig sollten demnach Lernmöglichkeiten für Studierende geschaffen werden, in denen sie sich zunächst reflexiv mit ihren individuellen beliefs und möglichen Vorurteilen bezüglich der Differenzen wie u.a. „Behinderung“, Gender und Kultur befassen können. Erst das Bewusstsein über die eigenen Vorurteile und Wissensstrukturen ermöglicht den Studierenden dann, in einem nächsten Schritt an diesen reflexiv arbeiten.
Im Inklusionsdiskurs werden Begriffe wie „Haltung“, „berufsbezogene Überzeugungen“, „Vorstellungen“ und „beliefs“ oft synonym verwendet. An dieser Stelle ist eine Abgrenzung und Ausdifferenzierung der verschiedenen Begriffe aus Platzgründen nicht möglich, dennoch soll im Folgenden in Kürze auf den Begriff beliefs und die Gründe für seine Verwendung eingegangen werden. Dabei erfolgt eine Orientierung an der Definition von Moser:
„Beliefs sind ein gegenstandsbezogenes, wertebasiertes, individuelles, in Clustern verankertes Überzeugungssystem, das teils bewusst, teils unbewusst, das eigene Handeln steuert. Beliefs können sowohl affektive wie kognitive Komponenten beinhalten, die über Erfahrungen, Erkenntnisse, Instruktionen und/oder Informationen erworben wurden und die über einen längeren Zeitraum konsistent und stabil, aber nicht über die Lebensspanne unveränderlich sind“ (Moser et al. 2013: S. 6).

Neben dem Aspekt der internationalen Anschlussfähigkeit wird der beliefs-Begriff im Gegensatz zu den anderen genannten Begriffen weniger normativ dargestellt. Das ist insofern von Bedeutung, als dass der Inklusionsdiskurs selbst stark normativ gekennzeichnet ist. Diskussionen um Haltungen werden dabei häufig mit gewünschten Haltungen assoziiert, die es den Studierenden zu vermitteln gilt. Das stellt aber nicht das Ziel in dem nachfolgend beschriebenen Ansatz der (Weiter-)Entwicklung einer Reflektierten Handlungsfähigkeit dar. Inklusionsspezifische beliefs der Studierenden sind nicht durchweg positiv, auch Ängste und Sorgen bei Fragen nach der Umsetzung sowie auch Kritik an dem aktuellen Stand von Inklusion prägen die beliefs der Studierenden. Erst wenn sie sich auch mit den für sie als problematisch betrachteten Aspekten auseinandersetzen, ist ein umfassender Diskurs über ihre inklusionsspezifischen beliefs möglich.  Zudem wird in der verwendeten Definition explizit auf die unbewusste Steuerung der beliefs auf das eigene Handeln hingewiesen, was insofern von Bedeutung ist, als oftmals unbewusste Wissensstrukturen sich als besonders handlungswirksam erweisen (vgl. Moser/Kuhl/Redlich/Schäfer 2014: 663).
Eine inklusions- und diversitätssensible Lehrer*innenbildung zeichnet sich, wie das Zitat bereits andeutet, erstens dadurch aus, dass den Studierenden Reflexionsmöglichkeiten bezüglich ihrer individuellen beliefs gegeben werden. Damit verbunden ist zweitens der Anspruch, Lernsettings zu schaffen, in denen sich die individuellen beliefs zu professionellen weiterentwickeln und transformieren können.

2. Herausforderungen und Spannungsfelder in Forschung und Lehre

Für die Entwicklung derartiger Lerngelegenheiten im Rahmen inklusionsorientierter, diversitätssensibler Lehrer*innenbildung sind insbesondere die im Folgenden zu kennzeichnenden fünf Spannungsverhältnisse vordergründig, da sie vielfältige Herausforderungen mit sich bringen und einer intersektionalen Betrachtung bedürfen.
Ersteres ist gekennzeichnet durch die Unterscheidung eines weiten und eines engen Inklusionsbegriffes, wobei das enge Begriffsverständnis von Inklusion sich auf Schüler*innen mit Behinderungen bezieht, das weite hingegen auf jegliche vulnerable Gruppen, die strukturell von Benachteiligungen betroffen sein können (vgl. Kronauer 2013: S. 17).
Zweitens zeichnet sich ein Spannungsverhältnis zwischen einem auf Schule bezogenen und einem gesamtgesellschaftlichen Inklusionsverständnis ab, das beispielsweise auch Aspekte wie Gemeinwesenarbeit umfasst. Die Thematisierung dieses Spannungsfeldes ist in der Lehre vor allem aus dem Grund relevant, als sich Lehramtsstudierende zunächst auf ein ausschließlich auf die Schule bezogenes Inklusionsverständnis fokussieren. Gerade im Hinblick auf Berufsschullehrer*innen, aber auch in Bezug auf die Lehrer*innenbildung allgemein kommen in Diskussionen Fragen auf, wie sich die Teilhabemöglichkeiten, beispielsweise bezogen auf Erwerbsarbeit, nach Ende der Schullaufbahn für Schüler*innen marginalisierter und vulnerabler Gruppen gestalten. Welche Perspektiven haben beispielsweise Förderschüler*innen, die keinen Abschluss erworben haben?
Das dritte Spannungsverhältnis ist eng verbunden mit einem sich wandelndem Begriff von „Behinderungen“, Benachteiligungen und einem grundlegenden Differenzverständnis im Hinblick auf Professionen und Professionalität. In der Lehrer*innenbildung zeichnet sich analog zur Entwicklung des sozialen, menschenrechtlichen (UN-BRK) und kulturellen Modells von Behinderung (Waldschmidt 2005) eine Distanzierung von rehabilitations- und heilpädagogisch-orientierten Inklusionsverständnissen ab. Anstelle dieser entwickeln sich Ansätze von Inklusion, die Akteursperspektiven stärken und sich an Strukturen und Methoden des Empowerments orientieren. Gefordert werden verstärkt Mitspracherechte vulnerabler Gruppen. Ungleiche Verteilungen von Privilegien zwischen Gruppen werden als strukturelle und gesellschaftliche Muster betrachtet und nicht als individuelle Defizite. Der Blick richtet sich auf die Gesellschaft, die mit ihren Institutionen und politischen Entscheidungen Strukturen schafft, die wiederum verantwortlich für die ungleichen Verteilungsprozesse sind. Nicht mehr das Individuum mit seinen Beeinträchtigungen, sondern die Betrachtung der sozialen Umwelt steht im Mittelpunkt dieser Ansätze. Durch die Thematisierung dieses Spannungsverhältnisses und die Befassung mit unterschiedlichen Diskurslinien und historischen Entwicklungen können die Studierenden ein Bewusstsein darüber erlangen, das sie zur Auseinandersetzung mit ihren eigenen Annahmen in Bezug auf Inklusion und Differenzen anregt.
Damit ist bereits das vierte Spannungsverhältnis aufgegriffen, das den Diskurs um Inklusion kennzeichnet. Studierenden, die fast überwiegend selber schulische Exklusionserfahrungen erlebt haben, begegnen an der Universität die theoretischen Diskurse um Inklusion und die sich daraus ergebenden Ansprüche. Wie lassen sich demzufolge Lernsettings für Studierende etablieren, in denen reflexive Auseinandersetzungen mit inklusionsspezifischen beliefs möglich werden? Zentral sollte diesbezüglich die Konstitution von Diskussionsräumen sein, in denen auch biographische Erfahrungen erörtert werden können. Um eine erfolgreiche Umsetzung von Inklusion zu gewährleisten, werden neue Schwerpunkte und Profile in der Lehrer*innenbildung gefordert, wie beispielsweise „neue Reflexionen der Professionsmodelle“ (ebd. Moser/Kuhl/Redlich/Schäfer 2014: S. 631). Möglichkeiten, dieser Forderung nachzukommen, bietet die reflexive Fallarbeit.
Diese bietet das Potential, dass Studierende ihre Perspektive erweitern können, zum Beispiel um die der Schüler*innen. Durch Berichte von In- und Exklusionsprozessen in der Schule von den Schüler*innen selbst können sich für die Studierenden neue Erfahrungsräume eröffnen: eigene Perspektiven können dann neu überdacht und gegebenenfalls auch korrigiert werden. Ein weiterer Vorteil reflexiver Fallarbeit ist, dass einzelne Dimensionen von Diskursen, wie z.B. dem Inklusionsdiskurs, veranschaulicht werden. Der Inklusionsdiskurs erscheint (den Studierenden) teilweise als diffuses Konstrukt, das nicht wirklich greifbar ist. Durch die Arbeit an konkreten Fällen und Situationen können übergeordnete Dimensionen des Inklusionsdiskurses wie z.B. Partizipation oder Interdependenz illustriert werden. Zudem wird den Studierenden so die Möglichkeit geboten, ihre eigene Definition von Inklusion zu entwickeln und diese mit ihren beliefs zu verknüpfen. Darüber hinaus ist es von Bedeutung, die Kontingenz von Wissen und Diskursen zu thematisieren, wie z.B., dass Diskurse abhängig vom historischen Kontext und den jeweiligen Machtverhältnissen sind. Gerade von Lehrkräften werden eine hohe Ambiguitätstoleranz und das Aushalten diverser Antinomien erwartet (vgl. u.a. Helsper 2002).
Fünftens ist der Diskurs maßgeblich durch die Antinomie begründet, dass eine Vollinklusion zwar gewissermaßen gefordert, aber gar nicht umsetzbar ist (vgl. Stichweh 2009). Inklusion ist immer nur im Verhältnis zu Exklusion zu betrachten. Exklusionen aus bestimmten Bereichen können zu Inklusionen in anderen Bereichen führen, wie z.B. die Exklusion aus dem ersten Arbeitsmarkt eine Inklusion in den zweiten Arbeitsmarkt bedeuten kann. Diese Antinomie, die gewissermaßen quer zu allen anderen beschriebenen Spannungsverhältnissen liegt, verdeutlicht sowohl den Prozesscharakter von Inklusion als auch, dass Inklusion als ein Menschenrecht und grundliegendes Ziel einer verbesserten Gesellschaft zu begreifen ist, in der Menschen weniger Exklusionen erfahren. Herausfordernd für die universitäre Lehre ist dann, die Studierenden auf dem Weg ihrer Entwicklung eines persönlichen Inklusionsverständnisses zu begleiten, Inklusionen in Relation zu Exklusionen zu sehen, und statt der normativen Aspekte Potentiale und Chancen durch das Handeln zu fokussieren (vgl. u.a. Georgi 2008: S. 84).

3. Potentiale, aktuelle Entwicklungen und erste Ergebnisse

Das Modell der didaktischen Rekonstruktion bietet eine didaktische Möglichkeit zur Herausbildung und Weiterentwicklung von professionellen beliefs undfußt auf dem didaktischen Dreieck, welches wechselseitige Beziehungen zwischen Lernenden, Lehrenden und dem Lerngegenstand umfasst (vgl. Reinfried et al. 2009: S. 405). Das Modell wurde zwar für den Schulunterricht aus der Biologiedidaktik heraus entwickelt, lässt sich aber auf die Lehrer*innenbildung in der Universität übertragen (vgl. Dahnken 2005: S. 18) und für eine inklusionsorientierte Lehrer*innenbildung fruchtbar machen. Ursprünglich besteht es „aus den drei Teilen Fachliche Klärung, Erfassung der Schülerperspektiven und Didaktische Strukturierung“ (Reinfried et al. 2009: S. 404, Herv. i.O.). Im Mittelpunkt steht die Verbindung von Fach- und Lernendenperspektiven. Lehrer*innen sollen sich an den subjektiven Theorien (vgl. Groeben/Scheele 2010) ihrer Schüler*innen orientieren und ihren Unterricht dementsprechend darauf aufbauen und gestalten. In der Übertragung des Modells auf die Lehrer*innenbildung stellt das Fachwissen das theoretische Wissen über Inklusion und Diversität dar, das ebenso Wissen um verschiedene Differenzlinien wie „Behinderung“, Gender und Kultur, beinhaltet. Damit ist dieses Wissen nicht eine Fachexpertise im ursprünglichen Sinne des Modells, wie explizites Fachwissen zu den Inhalten der Unterrichtsfächer Deutsch, Mathematik etc., sondern eher eine übergeordnete Expertise im Kontext von Inklusion, die alle Lehramtsstudierenden unabhängig von ihrer Fächerwahl betrifft. Die Lernendenperspektive bildet sowohl die Gruppe der Schüler*innen als auch die der Studierenden. Das auf die Lehrer*innenbildung transformierte Modell der Didaktischen Rekonstruktion basiert auf einem Dreieck mit sich gegenseitig beeinflussenden Positionen. Die Beziehung zwischen der Lernendenperspektive (Studierende als Lernende) und dem Fachwissen (Wissen über Inklusion) kann durch die Befassung mit den Schüler*innenperspektiven hergestellt werden, die dann idealerweise zu einer Reflektierten Handlungsfähigkeit beiträgt. Reinfried et al. machen deutlich, dass es bedeutsam ist, die Perspektive von Schüler*innen auf Unterrichtsinhalte zu kennen, um für die Gestaltung von Lern- und Bildungsprozessen an diesen anknüpfen zu können.
„Schülerinnen und Schüler kommen mit Vorstellungen in den Unterricht, die oft stark von den wissenschaftlichen Vorstellungen abweichen. […]. Solche vorunterrichtlichen Vorstellungen sind zäh und widerständig, und lassen sich durch Unterricht, der ohne die Kenntnis von Schülervorstellungen entwickelt wurde, kaum verändern. Unterricht, der die Schülervorstellungen konsequent berücksichtigt, ist erfolgreicher“ (Reinfried et al. 2009: S. 404).

Demnach ist es von großer Bedeutung, dass zukünftige Lehrer*innen bereits im Studium die Relevanz der Perspektiven von Schüler*innen erfassen und sich mit diesen im Hinblick auf ihre zukünftige professionelle Rolle befassen. In diesem Kontext ist es das Ziel, dass darüber eine Sensibilisierung bezüglich von Vorurteilen, Stereotypisierungen und sich daraus ergebenden Benachteiligungen von Schüler*innen in inklusiven Lernsettings stattfindet. Somit kann dieses Modell doppelt produktiv angewandt und genutzt werden: zum einen, indem sich Studierende mit den Perspektiven von Schüler*innen beschäftigen, und zum anderen, indem sie zur Auseinandersetzung und Reflexion mit ihren eigenen Erfahrungen, Vorurteilen und beliefs  motiviert werden. Ziel ist dann nicht die didaktische Strukturierung einer Lehr-Lerneinheit wie im klassischen Modell der Didaktischen Rekonstruktion, sondern Aspekte und Rahmenbedingungen zu generieren, um reflektierte Handlungsfähigkeit als Kompetenz anzubahnen.
Während beim Modell der Didaktischen Rekonstruktion der Bezug zur Lebenswelt der Schüler*innen und die Ausrichtung von Unterricht an ihren subjektiven Theorien im Mittelpunkt steht, nimmt die Weiterentwicklung des Modells dagegen den Bezug zur Alltagspraxis in der Schule durch die Aussagen von Schüler*innen besonders in den Fokus. Dabei werden Studierende auch als Lernende begriffen, die anhand der Reflexion der Erfahrungen der Kinder an ihren eigenen beliefs im Hinblick auf ihre Vorstellungen von Professionalität arbeiten können. Die Befassung mit den eigenen beliefs wird zudem in theoretische Diskurse eingebettet. So können die Studierenden zur (Weiter-)Entwicklung Reflektierter Handlungsfähigkeit angeregt werden. Mit dem Bild des Dreiecks erklärt bedeutet dies, dass sich zwischen der fachlichen Klärung und der Perspektive der Studierenden als Lernende zudem die Perspektive der Schüler*innen befindet. Der Einbezug der Kindheitsforschung in die Lehrer*innenprofessionalisierung, wie es beim transformierten Modell der didaktischen Rekonstruktion der Fall ist, bietet somit ein hohes Potential. Lehramtsstudierenden wird in den meisten Fällen lediglich ein Wissen über Kinder (vgl. hierzu Götz/Vogt 2016) vermittelt, welches zu einem lern- und entwicklungssensiblen Umgang mit den Schüler*innen beitragen soll. Die Vermittlung dieses Wissen stellt zwar eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung dar. Vermittelt werden müssen auch Wissen und Erfahrungen, die von den Kindern selbst kommen, die sie in ihrer eigenen Sprache und aus ihrer Wahrnehmung heraus mitteilen. Erst durch die Ergänzung von Wissen von Kindern zum Wissen über Kinder kann den Studierenden, zumindest teilweise, ein alltagsnahes Geschehen von Schule bereits im Studium vermittelt werden. Durch die Kindheitsforschung „kommt man sehr nah an die Schulwirklichkeit heran und kann sie andererseits auf Distanz bringen. Die viel diskutierte Reflexivität der Lehrer in Hinblick auf die Schulpraxis lässt sich auf diese Weise steigern“ (Kelle 2004: S. 93).

Im Folgenden werden erste Ergebnisse eines Forschungsvorhabens dargestellt, das Bedeutungen von Schüler*innenperspektiven für die Vorstellungen von Professionalität von Lehramtsstudierenden fokussiert. Es werden Gruppendiskussionen mit Studierenden geführt, die das Seminar „Wer ‚behindert‘ wen? Und was sagen eigentlich die Lernenden dazu?“ besuchen. In diesem Seminar setzen sich Studierende des gymnasialen Lehramts, des Lehramts für Berufsschulen und Sonderpädagogikstudierende mit den Perspektiven von Schüler*innen auf gemeinsames, inklusives Lernen auseinander. Das Lehrmaterial dazu stammt aus Gruppendiskussionen, die mit Grundschulkindern der Klasse vier an unterschiedlichen inklusiven Schulen im Sommer 2016 durchgeführt wurden.
Im Seminar werden die Aussagen und Erfahrungen der Kinder in Bezug zum eigenen Professionsverständnis gesetzt. Dazu gehört auch, sich zunächst selber reflexiv mit den eigenen beliefs in Bezug auf Schule, Inklusion, Professionalität und „Behinderung“ zu befassen. Die Beschäftigung mit den Lernendenperspektiven der Schüler*innen soll zu einer Hinterfragung und reflexiven Auseinandersetzung mit den eigenen beliefs anregen. Von den Kindern werden größtenteils Situationen aus dem Schulalltag, z.B., wie gemeinsames Lernen praktiziert wird, beschrieben. Aber die Kinder berichten auch von In- und Exklusionserfahrungen und dessen Folgen für sie in der Schule. Aufgrund der geschilderten Situationen sollen diskutierte Theorien und Modelle, wie etwa ein performatives Differenzverständnis (Plößer 2010), Ansätze des „doing difference“ (z.B. Walgenbach 2017, West/Fenstermaker 1995) und verschiedene Modelle von Behinderungen (z.B. Waldschmidt 2005) durch den Einbezug der Lernendenperspektiven greifbarer und verständlicher für die Studierenden werden sollen.
Die Gruppendiskussionen bestehen aus jeweils drei bis fünf Studierenden, die entweder Sonderpädagogik, gymnasiales Lehramt oder aber Lehramt für Berufsschulen studieren. Teilnehmer*innen sind sowohl Studierende des ersten Bachelorsemesters als auch Masterstudierende, die sich bereits am Ende ihres Studiums befinden. Die Auswertung erfolgt mittels der Dokumentarischen Methode nach Bohnsack (vgl. Bohnsack 2014). Das zentrale Anliegen des Seminars besteht in der (Weiter-)Entwicklung der Reflektierten Handlungsfähigkeit der Lehramtsstudierenden. Dieses basiert auf einem weiten Inklusionsverständnis, das verschiedene Differenzlinien wie „Behinderung“/Benachteiligung, Gender, Sprache und Inter-/Transkulturalität umfasst.
Neben dieser Zielsetzung besteht die Intention, die beliefs von Lehramtsstudierenden in Bezug auf Inklusion und „Behinderung“/Benachteiligung zu erfassen und diese hinsichtlich einer möglichen Erweiterung durch den Bezug zur Lernendenperspektive zu rekonstruieren. „Beliefs nehmen als Merkmal einzelner Professioneller bei der Gestaltung des Unterrichts sowie der Nutzung spezifischer didaktischer Konzepte eine moderierende Rolle ein“ (Kuhl/Moser/Schäfer/Redlich 2013: S. 3). Des Weiteren gehen Moser et al. davon aus, dass sich beliefs „vor allem während der Studienzeit ausprägen und von der Ausbildung beeinflusst werden“ (ebd. S. 7). Forschungen bezüglich beliefs in der Lehrer*innenprofessionalisierung sind im Hinblick auf Fragestellungen, über welche Fähigkeiten angehende Lehrer*innen zukünftig für die Arbeit in inklusiven Settings verfügen sollten, von besonderer aktueller Bedeutung (vgl. Döpert/Weishaupt 2013: S. 269). Bisher liegen in diesem Bereich nur wenige Erkenntnisse darüber vor, wie eine reflexive Auseinandersetzung mit den Perspektiven von Schüler*innen zur Ausbildung eines derartigen Professionsverständnisses beitragen kann. Die Perspektive der Schüler*innen bietet für Studierende ein großes Potential, um an den eigenen beliefs sowie der eigenen Professionalisierung arbeiten zu können. Idealerweise wirken sich diese erworbenen Fähigkeiten dann auf das spätere berufliche Handeln aus, bestimmen dieses mit und befähigen die Studierenden zu einem differenzierten, sensiblen und nicht-normativ geprägten Umgang mit ihren künftigen Schüler*innen. Studienergebnisse zeigen, „dass universitäre Lehrveranstaltungen, die sich dieser Thematik widmen, zu Einstellungsänderungen bei Studierenden hinsichtlich der Bedingungen und Realisierungsmöglichkeiten inklusiver Lehr-Lernsettings führen können (vgl. u.a. Demmer-Diekmann 2007)“ (Lindmeier/Schomaker 2015: S. 114).
Eine Herausforderung besteht darin, den Studierenden zu verdeutlichen, dass sie eigenverantwortlich für die Gestaltung ihres Studiums und ihrer Lernprozesse sind. In den geführten Gruppendiskussionen zeigen sich im Kontext von Inklusion wiederholt Muster der Delegation der Auseinandersetzung mit den Diskursen um Inklusion und Diversität. Bemängelt werden sowohl das Schul- als auch das Universitätssystem sowie politische Entscheidungen. Letztere werden in den Gruppendiskussionen wiederholt als Ressourcenmängel aufgegriffen: zu große Klassen, zu wenig vorhandenes inklusives Lehrmaterial, nicht barrierefrei ausgerichtete Schulen. Dass genannte Aspekte verbesserungswürdig sind, steht außer Frage, dennoch ist der Mechanismus, eine passive, konsumierende Lerner*innenrolle einzunehmen im Hinblick auf ihren zukünftigen Beruf problematisch. Der Erfolg eines sich stetig verändernden Schullalltags ist zu großen Teilen davon abhängig, ob die Lehrkräfte dazu in der Lage sind, sich selbstständig und zeitnah in aktuelle Diskurse einzuarbeiten. Dies können sowohl Fachdiskurse sein, als auch aktuelle gesellschaftliche Diskurse wie derjenige der Inklusion. Vor allem aber sind Lehrer*innen gefordert, auf die Schüler*innen als Individuen mit verschiedenen Bedürfnissen und Voraussetzungen einzugehen.
Als weiteren Aspekt, der sich in den Ergebnissen der Gruppendiskussion zeigt, ist die Kooperation von Studierenden unterschiedlicher Lehrämter zu nennen. Zum Teil ist mit der Wahl der Schulform auch ein gewisser Habitus mit entsprechenden beliefs verbunden. Dies wird auch in einer der untersuchten Gruppen auf Seiten der Gymnasiallehrämter zu Beginn der Gruppendiskussion deutlich, die mehrmals den Wunsch nach Fachlichkeit und „nicht so viel Pädagoge“-Sein erwähnen. In inklusiven Kontexten wird eine Zusammenarbeit von Regel- und Sonderschullehrkräften gefordert (vgl. u.a. Lindmeier/Lindmeier 2012: S. 261f.). Von den Studierenden wird ferner auch gewünscht, bereits im Studium (mehr) Kontakt zu anderen Lehrämtern zu haben. Die Möglichkeit, dass das Seminar sowohl von verschiedenen Lehramtsstudierenden besucht werden kann, wurde von den Studierenden als positiv und bereichernd erlebt.
Die Gruppendiskussion zeigt auch, dass die Auseinandersetzung mit den Lernendenperspektiven der Schüler*innen die Studierenden dazu angeregt hat, diese Perspektiven mit in ihr Professionsverständnis zu integrieren. Studierende waren besonders über die Reflexionsfähigkeit der Viertklässler*innen erstaunt. Darüber hinaus waren sie von den präzisen Vorstellungen beeindruckt, die die Kinder bereits bezüglich Unterricht, Themenerarbeitungen und gemeinsamem Lernen haben. Am Ende der Gruppendiskussionen wird beispielsweise von den Studierenden angesprochen, dass der Lernprozess zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen ein wechselseitiger sein sollte und dass sich die Lehrer*innen anhand des Feedbacks der Schüler*innen weiterentwickeln können „Feedback von den Schülern holen. Die wissen eigentlich am besten, was sie wollen, weil sie die Lernexperten sind, das sind ja die, die wir unterrichten […] und dass wir auch anhand der Schüler dann uns verbessern“.
Die Studierenden entwickeln in den Gruppendiskussionen unter anderem Vorstellungen und Ideale, über welche Eigenschaften professionelle Lehrer*innen verfügen sollten. Die Beziehung auf Augenhöhe ist hierbei ein relevantes Thema. Die Kommentare der Studierenden zum Seminar und zu den Lernendenperspektiven sowie der Vergleich der Gruppendiskussionen zu Beginn des Seminars und zum Abschluss lassen eine Erweiterung der beliefs der Lehramtsstudierenden erkennen, was folgende Aussage widerspiegelt: „Das zeigt ja auch wieder den Punkt gegenseitiger Respekt, wenn du den Kindern Respekt gegenüber bringst, zollen sie dir eigentlich auch welchen, also diese Diskussion auf Augenhöhe“.
Darüber hinaus werden in den Gruppendiskussionen wiederholt Antinomien in Bezug auf das Handeln von Lehrer*innen angesprochen. Diskutierte Antinomien werden in den Aushandlungen von Nähe-Distanz (Näheautonomie), der Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis (Praxisautonomie), dem Aspekt von Macht und Wissen auf Seiten der Lehrer*innen im Vergleich zu den Schüler*innen (Macht- und Symmetrieantinomie) und in Begründungsantinomien deutlich.  Begründungsantinomien zeigen sich beispielsweise in Verunsicherungen und mangelnden Selbstwirksamkeitserwartungen von Studierenden. Sie können durch die Gleichzeitigkeit von Handlungsdruck bei mangelndem abgesicherten Wissen entstehen, wie es beispielsweise auch in den Forderungen bezüglich der Umsetzung von Inklusion der Fall ist (vgl. Helsper 2002).
In Bezug auf das Lehrer*innen-Schüler*innen-Verhältnis äußert sich eine Studierende der Gruppendiskussion folgendermaßen: „Dass dann so ein respektvoller Umgang auf 'ner Ebene; klar der Lehrer hat einen Vorsprung was Macht angeht und Wissen angeht aber nur in seinem speziellen Bereich; und ähm wenn man grundsätzlich ja mit so mit so einer respektvollen Haltung und grundsätzlich sind alle erstmal auf Augenhöhe“. Der Studentin ist bewusst, dass das Verhältnis von Lehrer*innen und Schüler*innen durch ein asymmetrisches Macht- und Wissensverhältnis gekennzeichnet ist, relativiert dieses aber sogleich wieder, indem sie es auf einen bestimmten Bereich beschränkt. Gefordert wird ein respektvoller Umgang auf Augenhöhe, der aber im Hinblick auf die Machtasymmetrie eine Herausforderung darstellt. Ein weiteres Beispiel soll die angesprochene Näheantinomie verdeutlichen: „Ich finde das sehr schwierig gerade in Bezug auf Menschen, die sowieso von sich aus sehr anhänglich sind ist es sehr schwierig finde ich da so 'ne (.) Distanz aufzubauen. also so ne gesunde Distanz muss ja immer ein guter Ausgleich sein aber ich finde auch im gesamten dass das schon Professionalität ausmacht wenn man so einen guten Ausgleich stattfinden lässt weil so ganz kalt sein ist denke ich auch falsch.“ Die Studentin, die ihr freiwilliges soziales Jahr in einer Werkstatt für schwerstmehrfachbehinderte Menschen absolvierte, berichtet von ihren anfänglichen Schwierigkeiten, die Balance zwischen Nähe und Distanz zu den behinderten Teilnehmer*innen herzustellen. Ein „guter Ausgleich“ zwischen Nähe und Distanz macht für sie Professionalität aus. In ihrer Erzählung wird deutlich, dass dieser Ausgleich individuell in Praxissituationen von der jeweiligen Person immer wieder aufs Neue ausgehandelt werden muss, wobei diese Aushandlungen sich als Lernprozesse gestalten.
Die bisher ausgewerteten Daten lassen ein Inklusionsverständnis der Gruppen erkennen, das sich als Kontinuum zwischen normiertem, systemkonformen und individuellen Handeln befindet. In mehreren Passagen wird über Ideale diskutiert, von denen die Studierenden aber befürchten, dass sich diese in Konflikt mit der Wirklichkeit des Schullalltags und dem geforderten Lehrer*innenverhalten befinden. Die Verortung innerhalb des durch Ambivalenzen gekennzeichneten Kontinuums erfolgt sehr unterschiedlich innerhalb und auch zwischen den Gruppen, der Diskursverlauf ist antithetisch.
Die bisherigen Ergebnisse zeigen, dass die Studierenden die Lernendenperspektive von Schüler*innen relevant setzen und in ihr Verständnis von Professionalität integrieren. Jedoch ist nicht immer eine Weiterentwicklung der Gruppe als Kollektiv im Zeitraum des Seminarbeginns bis zum Seminarende zu verzeichnen. In einer Gruppe verschärften sich Konflikte und Positionen in den Diskussionen am Ende des Seminars eher noch, die sich anfangs bereits angedeutet hatten. Auch wenn die Gruppe sich durch eine gemeinsame Orientierung bezüglich des Einbezugs von Lernendenperspektiven schließlich einigte, ist dennoch keine Weiterentwicklung der Gruppe als Ganzes sichtbar zu erkennen. Obwohl alle Teilnehmer*innen der Gruppendiskussionen dasselbe Seminar besuchten, sind sehr unterschiedliche Entwicklungen wahrzunehmen, was ein klassisches Beispiel für die Ungewissheitsantinomie von Lehrenden darstellt und nicht nur für die Schule, sondern auch für die Universitätslehre kennzeichnend ist.
In einer anderen Gruppe hat die Auseinandersetzung mit Lernendenperspektiven zu einer deutlichen Weiterentwicklung der Gruppenteilnehmer*innen geführt, sich mit dem Thema Inklusion in der Schule gemeinsam auseinandersetzen. In der Gruppe, bestehend aus Sonderpädagogikstudierenden und Gymnasiallehramtsstudierenden, wurden zu Beginn lediglich Positionen und Rollen ausgehandelt, und Themen wie Einkünfte und Hierarchien bildeten den Diskurs ab. Zum Ende des Seminars hingegen arbeitete diese Gruppe lösungsorientiert an einem inklusiven Fallbeispiel, das von einer der Teilnehmerinnen eingebracht wurde. In diesem Beispiel wurden Überlegungen bezüglich der Inklusion eines Schülers verhandelt, wobei dieser eine partizipative Rolle einnehmen kann, da die Studierenden ihn in den Entscheidungsprozess miteinbeziehen und er selbst nach seinen Meinungen gefragt wird. In dem Beispiel nahmen die Studierenden X als Schüler wahr, der selber Entscheidungen treffen kann und mit dem Gespräche auf Augenhöhe geführt werden können. „Weil man könnte auch da erstmal das Gespräch mit X vielleicht suchen. ihn einfach als Lehrkraft mal fragen du warum machst du das? (.) und dann vielleicht auch irgendwie ein Abkommen schließen“.

Fazit und Ausblick
Der Anspruch, die Anforderungen an und Herausforderungen mit der Umsetzung von Inklusion, in die lehramtsbezogenen Studiengänge zu implementieren, wird überwiegend normativ diskutiert und durch die Festschreibung in Ausbildungsverordnungen bzw. Lehrerbildungsgesetzen der Bundesländer verankert. Gegenwärtig liegen jedoch kaum empirische Kenntnisse darüber vor, inwiefern Rahmenbedingungen zu schaffen sind, die diesem Anspruch gerecht werden können (vgl. Döbert/Weishaupt 2013: S. 267). So soll „die gezielte Verknüpfung von Einstellungen, Wissen und Handeln, wie sie die erfolgreichen Projekte leisten, […] die Leitlinie insbesondere für die universitäre Lehrerbildung für inklusive Bildungssysteme“ (ebd.: S. 266f.) bilden. Die hier auszugsweise dargestellten Ergebnisse eines in diesem Sinne angelegten Forschungsvorhaben versprechen Anhaltspunkte bereit zu stellen, inwiefern Lehre im Rahmen einer inklusionsorientierten Lehrer*innenbildung gestaltet zu werden vermag mit dem Ziel, Lehrkräfte so auszubilden, dass sie unter den Bedingungen von Inklusion Entscheidungen bezüglich Schule und Unterricht situationsangemessen zu treffen vermögen.

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