Abstract: Die ersten Ansätze zu einer konsequent nicht kategorisierenden pädagogischen Diagnostik wurden in der Bundesrepublik Deutschland Mitte der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts bekannt. Sie beinhalten eine entschiedene Abkehr von solchen Fragestellungen und Methoden, die, in der Tradition der Differenziellen Psychologie stehend, ausschließlich auf individuelle Merkmale gerichtet sind und systemische Einflüsse, insbesondere solche der Unterrichtsgestaltung, ausblenden. Trotz ihrer großen Bedeutung für solche Kinder, die Probleme mit verschiedenen unterrichtlichen Anforderungen haben, fanden diese Ansätze im Bereich der sonderpädagogischen und pädagogischen Diagnostik kaum Beachtung. Immerhin aber wurden ihre Grundlagen im Kontext der empirischen Unterrichtsforschung weiterentwickelt. Die dabei gewonnenen Ergebnisse können zu einem erweiterten Verständnis von Pädagogischer Diagnostik führen, welches im Zuge der Bemühungen um eine inklusiv ausgerichtete Unterrichtsgestaltung erhebliche Vorteile gegenüber den traditionellen individuumzentrierten Ansätzen bietet.
Stichworte: Aargauer Inventar, Behinderung als Zustand der Isolation, Diagnostik bei heterogenen Lerngruppen, Förderdiagnostik, Index für Inklusion, treatmentbegleitende Diagnostik, Unterrichtsbeobachtung, Unterrichtsdiagnostik, Unterrichtsforschung, Unterrichtsqualität
Zone der nächsten Entwicklung, kulturhistorische Schule
Inhaltsverzeichnis
In der Bestandsaufnahme des vorigen Kapitels wird rückblickend auch auf die Bedeutung der seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erarbeiteten konzeptionellen Vorschläge der förderungsorientierten Diagnostik hingewiesen. Ihre Programmatik hat Barkey (1975) unter Berücksichtigung des bis dahin aufgearbeiteten internationalen fachlichen Schrifttums in 20 Thesen prägnant dargestellt. Diese Darstellung ist auch heute noch lesenswert und aktuell, enthält sie doch wesentliche Impulse für die Zielsetzung der Inklusion. Besonders interessant ist aus heutiger Sicht die Tatsache, dass mit diesem Text – ebenso wie mit weiteren zukunftsweisenden Arbeiten der damaligen Zeit (Eggert, 1975; Kobi, 1977) - gegen die Instrumentalisierung der sonderpädagogischen Diagnostik für die Zwecke der schulischen Separation argumentiert wurde. Die praktischen Konsequenzen der förderungsorientierten Diagnostik im Sinne von Barkey (1975) beinhalten Vorschläge für eine veränderte pädagogische Arbeit. Durch diese sollen Schülerinnen und Schüler mit Lern- und Verhaltensauffälligkeiten günstigere Bedingungen für ihr Lern-, Arbeits- und Sozialverhalten im schulischen Unterricht finden und ihre individuellen Lern- und Entwicklungspotenziale besser nutzen (z. B. Holtz, 1975; Eberle, Wilms & Kaufmann, 1977). Dadurch wird das Risiko des Schulversagens gemindert, und Maßnahmen der Aussonderung (Repetition, Umschulung in Schulformen mit niedrigeren Anforderungen) werden vermieden. Schon diese Arbeiten aus den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zeigen also, dass schulische Separation keine Naturnotwendigkeit ist, wie es die traditionellen sonderpädagogischen Denkmodelle mit dem ontologisierenden Terminus der „Sonderschulbedürftigkeit“ nahegelegt haben.
Das entscheidende innovative Moment für die Diagnostik bringt Barkey (1975, S. 26) in der ersten seiner 20 Thesen deutlich zum Ausdruck: „Diagnostik hat sich auf die Faktoren der Schule als Lernsituation, der Klasse als Unterrichtssituation, des Lehrers als Lernkoordinator und auf die komplexen Prozesse zwischen Schüler und Material (Curriculum) zu beziehen, die zu definierten Verhaltensänderungen führen sollen.“ Gegenstand einer so ausgerichteten Diagnostik sind somit Merkmale, Voraussetzungen und Wirkungen der Unterrichtsgestaltung oder des Unterrichtsablaufs. Dazu gehören die Planungen, die sich in mündlicher oder schriftlicher Form objektivieren lassen sowie die beobachtbaren Verhaltensweisen der verantwortlichen und beteiligten Akteure, einschließlich der ebenfalls direkt beobachtbaren Bedingungen und Konsequenzen ihrer Tätigkeiten. Die diagnostischen Informationen sind also – anders als die bei Unterrichtsbeobachtungen häufig eingesetzten Einschätzskalen – direkt objektivierbar. Sie beinhalten drei eng aufeinander bezogene, zentrale Aspekte des pädagogischen Geschehens (Prell & Krapp, 1979):
Dies bedeutet eine deutliche Erweiterung der diagnostischen Perspektive, da sich die Fragestellungen nicht mehr allein – wie in der traditionellen Pädagogischen Diagnostik üblich - auf den Ausprägungsgrad oder das Vorhandensein individueller Merkmale der Lernenden richten.
Sicherlich war und ist Skepsis in mehrfacher Hinsicht angebracht:
Diese Kritikpunkte sollten zwar in weiten Kreisen der heutigen Pädagogik und der Sonderpädagogik gegenwärtig nicht mehr zutreffen, dennoch gibt es gute Gründe, sie bei der Weiterführung des beschriebenen diagnostischen Ansatzes für die inklusive Pädagogik noch immer zu berücksichtigen.
Der unterrichtsbezogene diagnostische Ansatz wurde zu großen Teilen im angloamerikanischen Sprachraum entwickelt und in deutschsprachigen Fachkreisen nur zögerlich aufgenommen. Dabei hätte er zumindest in Westdeutschland einen fruchtbaren Boden für seine Rezeption und Weiterentwicklung finden können. Hierzu einige Markierungen:
Doch trotz durchaus gegebener Anschlussfähigkeit wurden Ansätze unterrichtsbezogener Diagnostik – von Ausnahmen abgesehen (Kleber, 1992) – in den einschlägigen Lehrwerken der Pädagogischen Diagnostik (Ingenkamp & Lissmann, 2008; Amelang & Schmidt-Atzert, 2006; Langfeldt & Tent, 1999) und der Sonderpädagogischen Diagnostik (Bundschuh, 2010) bisher kaum berücksichtigt. Allerdings finden sich im fachlichen Schrifttum auch nur relativ wenige Veröffentlichungen zu diesem Thema (Kornmann, 1995). Ganz offensichtlich haben sich Unterrichtsforschung und Pädagogische Diagnostik als jeweils eigenständige Disziplinen weitgehend unabhängig voneinander weiterentwickelt, ohne sich wechselseitig zu beeinflussen. Dies ist wohl damit zu erklären, dass das fachliche Selbstverständnis der Pädagogischen Diagnostik nachhaltig von den Einflüssen der Differenziellen Psychologie geprägt war. Dies dürfte es erschwert haben, die Erkenntnisse der Unterrichtsforschung in die diagnostischen Handlungskonzepte zu integrieren.
Wahrscheinlich ist auch ein organisatorisches und soziales Problemfeld für diese Dissoziation verantwortlich. Immerhin muss ja das Unterrichtsgeschehen transparent gemacht werden – und dies ist zum einen mit zusätzlichem technischen oder personellen Aufwand verbunden, und zum anderen erfordert es die Bereitschaft der verantwortlichen Lehrpersonen, ihren eigenen Unterricht – zumindest in begrenztem Rahmen – öffentlich zu machen und als prinzipiell beeinflussbare Bedingung für das Lernen und die Entwicklung der Kinder kritisch hinterfragen zu lassen.
Vor einigen Jahren hat nun eine von Helmke geleitete Arbeitsgruppe damit begonnen, Material für die systematische Erfassung von Unterrichtsqualität im Hinblick auf Möglichkeiten ihrer Verbesserung zu sammeln, zu entwickeln und für die praktische Arbeit bereit zu stellen. Entstanden ist eine umfangreiche Buchveröffentlichung (Helmke, 2003), die nach einer völligen Neubearbeitung auch unter verändertem Titel erschienen ist (Helmke, 2009; 3. Aufl. 2010). Sie enthält eine Fülle systematisch aufbereiteter Fragestellungen und Untersuchungsmethoden für die Unterrichtsbeobachtung. Zusätzlich wird weiteres Material zum kostenlosen Herunterladen aus dem Internet bereit gestellt unter www.unterrichtsdiagnostik.info und http://andreas-helmke.de/buchanhang/.
Auch wenn man nicht alle theoretischen und bildungspolitischen Positionen von Helmke teilt, wird man bei der Suche nach Orientierungspunkten für die Diagnostik bei heterogenen Lerngruppen und Möglichkeiten inklusiver Pädagogik nicht auf sein Werk verzichten können. Zwar wird der „Umgang mit Heterogenität“ explizit nur in einem Abschnitt eines umfangreichen Kapitels über „Unterrichtsqualität: Bereiche, Merkmale, Prinzipien“ behandelt, wichtige Bezüge zu dieser Thematik finden sich aber an vielen Stellen dieser informativen Schrift.
Selbstverständlich sind die Vorschläge zur „Diagnose, Erfassung und Verbesserung“ von „Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität“ (so Untertitel und Titel) an bestimmte Grundvoraussetzungen gebunden. So verfolge schulischer Unterricht „als Hauptziel die Ermöglichung, Anregung und Aufrechterhaltung individueller Lernprozesse“ (S. 20) – das bedeutet, dass die Qualität des Unterrichts daran beurteilt werden soll, ob und inwieweit er erfolgreiche und nachhaltige Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler anregt und fördert, also in diesem Sinne wirksam ist. Aus den weiteren einleitenden Ausführungen von Helmke geht hervor, dass sich die Kriterien für wirksamen Unterricht und für erfolgreiche Lernprozesse zwar primär auf die bildungspolitischen Vorgaben der schulischen Lehrpläne und Curricula, die Bildungsstandards, beziehen, dass aber zusätzlich auch weitere Zielkriterien in Betracht kommen. Speziell für Lernende mit erheblichen Beeinträchtigungen ihrer schulleistungsrelevanten Lernvoraussetzungen bedeutet dies, dass man sie nicht von vorneherein aus den Überlegungen ausschließen müsste. Für sie sind entwicklungstheoretisch fundierte Zielkriterien zu wählen, die an individuellen Normen orientiert sind und auf die Erweiterung von Möglichkeiten des Erlebens, Handelns und Denkens im Rahmen ihres gesamten (räumlich und zeitlich strukturierten) Lebenskontextes abzielen. So schließt der Text auch Lernprozesse aufgrund Klassischen und Operanten Konditionierens nicht aus der Betrachtung aus (S. 58f). Diese elementaren Lernformen werden in dem tätigkeitstheoretischen Lern- und Entwicklungsmodell der Kulturhistorischen Schule den ontogenetisch frühesten Stufen der dominierenden Tätigkeiten, der perzeptiven und der manipulierenden, zugeordnet und bilden die Grundlagen für darauf aufbauende Lern- und Entwicklungsprozesse (Pitsch, 2002). Diese Lernformen, die sich gewöhnlich im Bereich der frühkindlichen und vorschulischen Erziehung entfalten lassen, werden von Helmke nur erwähnt, aber nicht näher thematisiert.
Lernvorgänge auf höheren Niveaustufen behandelt Helmke hingegen ausführlich. Hier findet man Orientierungspunkte zur Kennzeichnung und theoretischen Einordnung von verschiedenen Unterrichtskonzepten. Eine solche Systematik ist deswegen hilfreich, weil die Fragestellungen für die Unterrichtsdiagnostik in Einklang mit den jeweiligen Unterrichtskonzepten stehen sollten. Allerdings beschränkt sich die Darstellung von Helmke nur auf Konzepte, die dem „westlichen“ Wissenschaftsverständnis verpflichtet sind, während die unterrichtsbezogenen Forschungsarbeiten, die vor dem Hintergrund der Kulturhistorischen Theorie entstanden sind (Giest & Lompscher, 2006; Siebert 2010) unerwähnt bleiben.
Wahl und Ausgestaltung von Unterrichtskonzepten hängen stark von Persönlichkeitsmerkmalen der Lehrpersonen ab. Daher widmet Helmke dem Thema der Lehrerpersönlichkeit ein eigenes Kapitel. In diesem legt er einen deutlichen Schwerpunkt auf die diagnostische Kompetenz. Zu deren Kennzeichnung führt Helmke (2010, 3. Aufl., S. 121) ein Zitat von Weinert (2000) an:
„Dabei handelt es sich um ein Bündel von Fähigkeiten, um den Kenntnisstand, die Lernfortschritte und die Leistungsprobleme der einzelnen Schüler sowie die Schwierigkeiten verschiedener Lernaufgaben im Unterricht fortlaufend beurteilen zu können, sodass das didaktische Handeln auf diagnostischen Einsichten aufgebaut werden kann. Damit ist eine besonders wichtige, aber auch vielfach defizitäre Kompetenz von Lehrern angesprochen. Bittet man zum Beispiel die Lehrer eines bestimmten Faches, für die von ihnen selbst gestellten Prüfungsaufgaben anzugeben, wie die Schüler vermutlich abschneiden werden, so zeigen sich große Unterschiede in der diagnostischen Kompetenz – mit nachhaltigen Auswirkungen auf die notwendige Individualisierung und Differenzierung des Unterrichts. Diese diagnostischen Fertigkeiten werden in der Lehreraus- und -weiterbildung kaum vermittelt, wobei es nicht etwa um ein Wissen über psychologische Tests geht, sondern um die fortlaufende Registrierung der Lern- und Leistungsfortschritte, aber auch der Lernschwierigkeiten und Leistungsmängel der einzelnen Schüler innerhalb einer Klasse“ (S. 14f.).
Die geforderte diagnostische Kompetenz ist an drei Voraussetzungen gebunden:
Zu 1): Klarheit über das eigene Unterrichtskonzept
Für Lehrerinnen und Lehrer, die ihre Unterrichtspraxis bewusst an professionellen Standards orientieren wollen, bietet Helmke in einem eigenen Kapitel eine Übersicht zu Aspekten der „Unterrichtsqualität“ an, die zehn ausführlich erläuterte „Bereiche, Merkmale, Prinzipien“ als Orientierungspunkte enthält:
(10) Angebotsvielfalt.
Die Auswahl dieser Aspekte gründet sich auf empirisch nachgewiesenen Effizienzkriterien für einen erfolgreichen Unterricht, wobei die Erfolgskriterien den Vorgaben von Lehr- und Bildungsplänen entnommen wurden. Vor dem Hintergrund differenzierter bildungstheoretischer und erziehungswissenschaftlicher Überlegungen wirkt eine so begründete Auswahl bescheiden und möglicherweise auch unvollständig. Gleichwohl lassen sich die ausgewählten Orientierungspunkte problemlos mit pädagogischen Argumenten vereinbaren. Um ihr eigenes pädagogisches Handeln begründen zu können, müssen die Lehrerinnen und Lehrer mit einem hohen Grad an Bewusstheit erkennen, was sie im Unterricht konkret tun. Dazu müssen sie ihre Tätigkeiten möglichst genau beschreiben können, und zwar sowohl im Zuge der Planungen als auch im Zusammenhang mit nachträglichen Reflexionen. Mit einer solchen Anforderung an ihre professionelle Kompetenz haben viele Lehrkräfte große Probleme. Deshalb finden sich in der Schrift von Helmke zu jedem der oben genannten Orientierungspunkte auch Hinweise zur praktischen Realisierung, die als Anregungen gelten können.
Noch systematischer ist eine umfangreiche Liste unterrichtspraktischer Tätigkeitsmerkmale angelegt, die Sehringer & Scheltwort (2004) auf empirischer Grundlage erstellt haben. Bei der Darstellung gehen sie von vier übergeordneten allgemeinen Prinzipien - Kompetenz, Klarheit, Vertrauen und Lebendigkeit – aus und nähern sich über mehrere Ebenen zunehmender Konkretheit den inhalts- und situationsspezifischen Tätigkeitsbeschreibungen: „Das System weist eine hierarchische Struktur auf. Das bedeutet, dass es zu Beobachtungen unterschiedlicher Abstraktion bzw. Konkretion anleiten kann. Je allgemeiner der Beobachtungsgesichtspunkt gewählt wird, desto mehr bleibt es dem Beobachter überlassen, selbst die Kategorien mit unterrichtlicher Wirklichkeit zu füllen. Umgekehrt sieht er sich in den Tätigkeitsbeschreibungen vor einer Vielzahl von vorgegebenen Handlungsbeschreibungen , die er nach Art einer Checkliste behandeln kann“ (Sehringer & Scheltwort, 2004, S. 39). Diese Tätigkeitsbeschreibungen sind also Operationalisierungen der jeweils übergeordneten, allgemeiner gefassten Konstrukte und damit diagnostisch relevante Indices, die darüber Auskunft geben, ob und inwieweit bestimmte Prinzipien im Unterricht berücksichtigt worden sind. Zugleich geben sie den Lehrkräften Impulse zur Planung und nachträglichen Reflexion ihrer Unterrichtsgestaltung.
Zu 2): Der Unterricht als Informationsquelle
Sowohl bei der Planung als auch bei der Beschreibung und nachträglichen Rekonstruktion von Unterricht lassen sich in der Regel drei verschiedene Phasen voneinander unterscheiden:
Diese Phasen sind aufeinander bezogen, laufen nacheinander ab, sind aber auch oft ineinander verschränkt und können durch Rückkopplungsschleifen miteinander verbunden sein. Viele pädagogisch wichtige Merkmalsaspekte dieser Sequenzen lassen sich direkt beobachten und objektiv beschreiben. Ausnahmen bilden die Vorgänge des Bewertens und Denkens der Lernenden, die aus beobachtbaren Verhaltensweisen, fixierten Produkten oder nachträglichen Befragungen hypothetisch erschlossen werden müssen. Diese Sequenzen können in jeder ihrer Phasen von unterschiedlicher Dauer und Komplexität sein.
Dieses einfache Phasenmodell hat den Vorteil, dass es sich in nahezu allen Varianten oder Formen möglicher Unterrichtsgestaltung finden lässt: im einseitig belehrenden Frontalunterricht ebenso wie im selbstgesteuerten Unterricht mit Freiarbeit, im Projektunterricht ebenso wie im stark individualisierenden zieldifferenten Unterricht, usw. Jede Unterrichtsform bietet jedoch ihre spezifischen Informationen. In einem recht starr geführten Frontalunterricht wird man relativ wenige Informationen über die Schülerinnen und Schüler erhalten, ganz anders in Unterrichtsstunden mit einem hohen Anteil selbstgesteuerter Aktivitäten der Lernenden – etwa dann, wenn die Lehrpersonen lediglich den Lernprozess begleiten und nur dann Unterstützung bieten, wenn einzelne Schülerinnen oder Schüler alle anderen Hilfsmöglichkeiten bereits ausgeschöpft haben. Wie immer auch der Unterricht gestaltet wird, dieses Phasenmodell bietet die Möglichkeit, schon bei der Planung gezielte Fragen zu formulieren, die sich dann auf der Grundlage von Beobachtungen des Unterrichts beantworten lassen.
Zu 3): Fragestellungen im Kontext des eigenen Unterrichtskonzepts
Es ist selbstverständlich, dass die Fragestellungen pädagogisch zu begründen sind. Soll die pädagogische Arbeit an Prinzipien der Inklusion orientiert sein, dann zielen die diagnostischen Fragestellungen auf die Identifikation von Handlungsmöglichkeiten, die den konsequenten lern- und entwicklungsförderlichen Einbezug aller Kinder und Jugendlichen unterstützen und Situationen des Ausschlusses vermeiden sollen. Wirkungen von Handlungen können jedoch nicht nur als Ergebnisse oder Produkte am Ende einer Handlung festgestellt werden, sondern können sich auch bereits im Ablauf oder Prozess von Handlungen zeigen. Bei den Überlegungen zu den Wirkungen einer auf Inklusion ausgerichteten pädagogischen Praxis wird nicht systematisch zwischen Prozess- und Produktmerkmalen unterschieden: Inklusion wird als ein dynamischer Zustand aufgefasst, in dem sich bestimmte Individuen oder Gruppen von Menschen befinden. Wenn pädagogische Handlungen darauf ausgerichtet sind, einen solchen Zustand herbeizuführen, zu unterstützen, auszuweiten oder abzusichern, dann wird man nicht immer Weg und Ziel voneinander unterscheiden können.
Diese Auffassung von Inklusion als Zustand korrespondiert übrigens mit dem Begriff von Behinderung, den Jantzen (1976) in die behindertenpädagogische Diskussion gebracht hat: Danach stellt sich die konkrete Seite von Behinderung ebenfalls als ein Zustand dar, in dem sich Menschen befinden – nämlich als Zustand der Isolation von den gesellschaftlich grundsätzlich verfügbaren Aneignungsmöglichkeiten des kulturellen Erbes. Die weiteren sehr differenzierten Ausführungen von Jantzen zu diesem Begriff legen es nahe, unter Isolation das Gegenteil von Inklusion, nämlich Exklusion, zu verstehen. Eine so verstandene Verwendung des Begriffs der Exklusion erleichtert es sicher, sich den Begriff der Inklusion so zu erschließen, dass man praktisch handhabbare Indikatoren gewinnt, die zugleich theoretisch fundiert sind.
Nun liegen bereits Inventare von Indikatoren für Inklusion vor – so der „Index für Inklusion“ als die deutsche Bearbeitung eines in Großbritannien entwickelten Instruments von Boban & Hinz (2003) und das „Aargauer Inventar“ der Fachhochschule Nordwestschweiz / Pädagogische Hochschule Aarau (2008). Bei beiden Instrumenten handelt es sich um eine systematisierte Zusammenstellung von Aussagen zu verschiedenen Aspekten, unter denen zum Teil sehr differenziert vermerkt werden kann, ob und inwieweit der Zustand der Inklusion bereits im jeweils eigenen Handlungsfeld verwirklicht ist. Die Instrumente verstehen sich somit sowohl als „Ideengeber“ für Planungsprozesse als auch als Methoden zur Selbstevaluation von inklusionsorientierter Praxis, die flexibel gehandhabt und auch ergänzt werden können.
Solche Ergänzungen erscheinen deswegen sinnvoll und notwendig, weil in beiden Inventaren die Bedeutung von Merkmalen der Unterrichtsgestaltung – ebenso wie im Schrifttum zur inklusiven Pädagogik - zu wenig bzw. in nur relativ grober Form berücksichtigt wird. Ein erster Ansatz zu einer solchen Ergänzung kann an den drei oben dargestellten Phasen zum Unterrichtsablauf anknüpfen. Entsprechende Fragestellungen zielen auf Informationen, die als Indikatoren für die Realisierung inklusiver Prozesse gelten können (Kornmann, 2012, S. 208f).
Zu 1): Beispiele für Fragen, die die Qualität der Impulse betreffen:
Zu 2): Beispiele für Fragen, die die Tätigkeiten der Lernenden betreffen:
Beide Fragenkomplexe sind noch in Abhängigkeit von den inhaltlichen Anforderungen weiter auszudifferenzieren.
Zu 3): Beispiele für Fragen, die die Konsequenzen betreffen:
Für praktische Anwendungsmöglichkeiten müssen die hier aufgeführten Fragestellungen noch weiter konkretisiert werden. Dies ist dann gut möglich, wenn sie auf präzise beschreibbare Unterrichtsabläufe und die damit verbundenen Zielsetzungen – hier die der Inklusion – bezogen werden (Kornmann, 2010). Dabei sollten die Fragestellungen bereits bei der Planung einzelner Unterrichtseinheiten formuliert und durch anschließende Beobachtungen des Unterrichts geklärt werden. Wenn dabei erkennbar ist, dass Zielsetzungen der Inklusion verfehlt werden, sind Überlegungen zur Veränderung des Unterrichts indiziert.
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