Abstract:
Der Beitrag thematisiert das Verständnis von Inklusion für das Handlungsfeld Schule/Unterricht. Nach einer kurzen Bestandsaufnahme bisheriger Strategien der Differenzierung im Offenen Unterricht wird die Konstruktivistische Didaktik nach Reich als ein mögliches didaktisches Konzept für den inklusiven Unterricht betrachtet.
Stichworte:
Inklusion in Handlungsfeld Schule/Unterricht, Differenzierung im Offenen Unterricht, Konstruktivistische Didaktik, Modell der Konstruktivistischen Didaktik (Reich)
Inhaltsverzeichnis:
Die inklusive Schule als Lern- und Lebensort für jedes Kind mit seinen individuellen Lern- und Lebensbedürfnissen stellt die Pädagogik und Didaktik vor große Herausforderungen. Die Schul- und Unterrichtskultur ist neu zu denken, tradierte Formen des Lehrens und Lernens sind aufzubrechen ohne Bewährtes über Bord zu werfen. Für Lehrerinnen und Lehrer stellt sich die Frage, wie eine Gruppe von unterschiedlichen Schülerinnen und Schülern in der gleichen Zeit unterrichtet werden kann, ohne die Bedürfnisse des einzelnen Kindes oder Jugendlichen zu vernachlässigen.
Bereits Ernst Christian Trapp (1745 – 1818), der erste Pädagogikprofessor Deutschlands, wies in seinem „Versuch einer Pädagogik“ (1780) darauf hin, „ dass das für den Erzieher grundsätzlich zu lösende Problem‚ aus einem jeden Kopf und Herzen das zu machen, was daraus werden könne, durch mindestens zwei Anforderungen verkompliziert werde: Erstens bezögen sich Erziehung bzw. Unterricht nicht nur auf ein einzelnes Kind, sondern gleich auf einen ganzen ‚Haufen’ und zweitens würden sich die Kinder dieses ‚Haufens’ auch noch in vielfältiger Hinsicht unterscheiden.: ‚Wie hast Du dies alles anzufangen’ so fragte Trapp (1780/1913: 10) – ‚bei einem Haufen Kinder, deren Anlagen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Neigungen, Bestimmungen verschieden sind, die aber doch in einer und eben derselben Stunde von Dir erzogen werden sollen?’“ (zitiert nach Trautmann/Wischer 2011, 7)
Dieser zentralen Frage stellen sich sowohl Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft-lern als auch Lehrerinnen und Lehrern in Umsetzung der Forderung der UN-Konvention nach einer inklusiven Schule.
Das Verständnis von Inklusion für das Handlungsfeld Schule wurde von SCHUMANN wie folgt beschrieben:
Die bisherigen Strategien im Unterricht mit heterogenen Lerngruppen berücksichtigen nicht in ausreichendem Maße die Vielfalt und Verschiedenheit der Schülerinnen und Schüler. Untersuchungen haben die Unterrichtsgestaltung als unzureichend beschrieben, Lehrerinnen und Lehrer (auch an Förderschulen) orientieren sich nach wie vor am (vermeintlichen) Durchschnitt, sie favorisieren das vereinheitlichte Lernen im Frontalunterricht. (Vgl. Trautmann/ Wischer 2011).
Brügelmann beschäftigte sich mit der Frage „Wie verbreitet ist offener Unterricht“ (2000). Er legte seiner Untersuchung die These zugrunde, dass im offenen Unterricht dem individuellen Lernbedürfnis jedes Kindes effizienter als im Frontalunterricht entsprochen werden kann. Das Ergebnis der Befragungen von im Anfangunterricht tätigen Lehrerinnen sowie Lehramtsanwärterinnen und Lehr-amtsanwärtern zeichnet ein ernüchterndes Bild, das Ergebnis fasst er wie folgt zusammen: „So halten es 72 % der Befragten für angemessen, Kindern einmal täglich Aufgaben zu geben, die auf ihren Entwicklungsstand abgestimmt sind.(…) Und selbst den Anspruch lösen nach eigener Einschätzung nur 44 % der LehrerInnen, nach Beobachtung der Lehramtanwärterinnen sogar nur 22 % auch tatsächlich ein“(Brügelmann, 2000, 138).
Eine Konkretisierung der Befunde nimmt Brügelmann 2008 vor, in dem er die Ergebnisse zu den Formen der Öffnung des Unterrichts präsentiert. Die Werte der Selbsteinschätzung der Befragten stellen sich wie folgt da:
Zur Erläuterung: Brügelmann verbindet
und der Individualisierung von unten: die Schülerin/der Schüler hat die
Möglichkeit, aus verschieden schwierigen Aufgaben und alternativen
Übungsformen wählen zu können. (vgl. Brügelmann 2008, 12)
Das Fazit der Analysen der gegenwärtigen schulischen Praxis ist besorgniserregend, es verlangt, sich von den tradierten Denk- und Handlungsmustern für den Unterricht in heterogenen Lerngruppen zu lösen und Neues zu denken.
Ewald Feyerer fordert bereits 2003: „Inklusion verlangt eine Qualitätssteigerung der Regelschulen“ und formuliert die wichtigsten Prinzipien für einen integrativen/inklusiven Unterricht:
Ein inklusiver Unterricht stellt das individuelle und selbstbestimmte Lernen in der Gemeinschaft am gemeinsamen Gegenstand in das Zentrum. Im deutschsprachigen Raum gibt es eine Vielfalt an didaktischen Modellen (siehe Beitrag von Ziemen), die geeignet scheinen, diesen Anspruch erfüllen zu können.
Die konstruktivistische Didaktik von Kersten Reich kann hier einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung eines tragfähigen Konzeptes für Lehr- und Lernprozesse in inklusiven Settings leisten.
Reichs konstruktivistische Didaktik basiert auf seiner „systemisch-konstruktivistischen Pädagogik“ (1997) und knüpft an John Dewey an, sie ist von folgender Grundthese getragen: „Die Menschen greifen durch ihre Handelungen, mit ihren Erfahrungen, im Testen der Wirklichkeit durch Experimentieren, Ausprobieren, durch ihr Tun umfassend in die Konstruktion dessen ein, was ihnen dann als Natur der Dinge oder als Fortschritte in der Kultur erscheint. … Der Mensch ist ein beobachtendes und handelndes, ein schaffendes Wesen, das viele Probleme bewältigen muss. So sind wir als Konstrukteure unseres Lebens immer auch und immer mehr mit uns selbst beschäftigt, wenn es um Fragen der Wahrheit, Richtigkeit, der Verständlichkeit und Bedeutsamkeit unseres Tuns und Denkens geht.“ (Reich 2004, 1)
Reich gründet seine Didaktik auf den Konstruktivismus und unterscheidet drei Dimensionen der Selbst- und Weltsicht:
Das Symbolische
Reich versteht hier Aussagen über die Welt, die im Austausch mit anderen Personen entstehen und uns die Kommunikation ermöglichen. Dazu gehören neben Schrift und Sprachen auch weitere „materiell-symbolische Lebens- und Verkehrsformen, in denen wir geistig und kulturell existieren“ (Vgl. Reich 1997, zit. N. Jank/Meyer 2009, 294)
Das Imaginäre
Reich versteht hier innere Verhaltensweisen, die vor anderen Menschen verborgen bleiben, über die wir durch die Beobachtung des Verhaltens (z.B. Mimik, Körper-sprache) Vermutungen über die Absicht des Handelns des Menschen anstellen können. „Wann immer wir mit anderen Menschen in Kontakt treten…, so können wir dies nie direkt….Im Gegenteil: Wir bilden uns ein Bild vom Anderen…Es kann in der tatsächlichen Begegnung noch korrigiert werden…, aber es bleibt immer unser Bild“ (Vgl. Reich 1997, zit. N. Jank/Meyer 2009, 294)
Das Reale
Reich versteht hier, dass keine symbolische Konstruktion umfassend genug ist, um das Leben in seiner Vielfalt zu erfassen. Die symbolischen Konstruktionen verein-fachen die Komplexität des Realen. „Das Reale ist als Erscheinung…ein sehr offenes Konstrukt. Hier hängt es ganz und gar vom Beobachter ab, was als real erfahren wird.“ (Vgl. Reich 1997, zit. N. Jank/Meyer 2009, 294) Die Abbildung des Realen entsteht auf der Grundlage der eigenen Erfahrungen und Vorstellungen.
Für Reich stehen die drei Dimensionen der Selbst- und Weltsicht in einem wechsel-seitigen Verhältnis zueinander:
„Das Reale ist der Grund, auf den das Symbolische und das Imaginäre sich beziehen;
das Symbolische ermöglicht das Denken und die Verständigung mit anderen über das Reale;
das Imaginäre schließt uns den Zugang zu anderen Menschen überhaupt erst auf, indem es Aspekte der Beziehungen zugänglich macht, die der symbolischen Kommunikation verborgen bleiben.“ (Jank/Meyer 2009, 295)
Den dargestellten Dimensionen fügt Reich drei verschiedene Perspektiven auf das Lernen/den Lernprozess hinzu, die gleichsam als Voraussetzung für ein konstruktivistisches Lernen im Unterricht gelten.
Konstruktion (Erfinden)
Lehrende und Lernende konstruieren ihre Wirklichkeit sowohl auf der inhaltlichen als auch auf der zwischenmenschlichen Ebene. Es geht hier um die Konstruktion einer neuen Lernkultur und das Infragestellen tradierter Formen des Lehrens und Lernens. Das Experimentieren und Ausprobieren, das gemeinsame Planen und Reflektieren bietet der Schülerin und dem Schüler die Möglichkeit für selbstbestimmtes Lernen.
Das Grundmotto lautet: „Wir sind die Erfinder unserer Wirklichkeit.“ (Reich 2004, 141)
Rekonstruktion (Entdecken)
Die Rekonstruktion impliziert ein aktives Lernverständnis. Der aktive und konstruktive Umgang mit den Themen des Unterrichts ermöglicht es der Schülerin und dem Schüler kulturelle Leistungen und historisch gewachsene Erkenntnisse gemeinsam zu re-konstruieren und für jede und jeden als persönlich bedeutsam zu erfahren.
Das Motto der Rekonstruktion lautet: „Wir sind die Entdecker unserer Wirklichkeit.“ (Reich 2004, 142)
Dekonstruktion (Enttarnen)
Der kritische Reflektieren erworbener Erkenntnisse, das Akzeptieren der „Halbwert-zeit“ von Wissen und das Infragestellen gewohnter Lehr- und Lernmethoden sichern ein kreatives Lernverständnis. Das Motto der Dekonstruktion lautet: „Es könnte auch anders sein! Wir sind die Enttarner unserer Wirklichkeit!“ (Reich 2004, 143)
Reich entwickelt aus der Verbindung der drei Dimensionen der Selbst- und Weltsicht und den drei Perspektiven auf das Lernen das Modell didaktischer Kreisläufe:
Didaktische Kreisläufe (Vgl. Jank/Meyer 2009, 296)
Hierzu stellt Reich fest: „Aus diesen Kreisläufen begründet sich die für mich wichtigste Regel für Pädagogen: So viel Konstruktionen wie möglich zulassen. Sie sind die Basis einer eigenen Welt-Anschauung: Sie zeigen uns als Erfinder unserer Wirklichkeit und lassen in allen Momenten von Erfindung unsere Verantwortung gegenüber den Folgen solcher Erfindungen als unsere Aufgabe erscheinen.“ (Reich 2010, 133)
Die konstruktivistische Didaktik versteht sich als praxisorientiert. Sie bietet theoretisch begründete didaktische und methodische Konzepte und Grund-orientierungen für die Planung, Gestaltung und Evaluation von Lehr- und Lernprozessen in heterogenen Gruppen, und dies unter besonderer Beachtung der Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden. Den Beziehungen, in denen Lernende und Lehrende interagieren, wird eine weitaus höhere Bedeutung eingeräumt als in der herkömmlichen Didaktik.
Die Überlegungen für einen konstruktivistischen Unterrichts sind in vier „Grundpostulaten“ zusammengefasst:
(Vgl. Reich 2002, 70 -80)
Im Folgenden soll ein tabellarischer Überblick die Ansprüche an die Gestaltung der Lerninhalte und der Beziehungen der Lehrenden und Lernenden verdeutlichen:
Didaktisches Modell als Überblick
|
Konstruktion |
Rekonstruktion |
Dekonstruktion |
Lernen |
Learning by doing: |
Reproduktion von Wissen: so viel wie nötig |
Halbwertzeit des erlernten Wissens beachten |
Lernbedingungen |
Selbstorganisiertes Lernen mit möglichst hoher Eigenständigkeit |
„erfolgreiches“ Lernen rekonstruieren |
Eigenes Lernen u. Lernbedingungen kritisieren |
Rolle des Lehrenden |
Moderator u. Visionär, der sich als Lehrer versteht |
Mehrwisser, aber kein Besserwisser |
Die Macht der Manipulation erkennen |
Rolle des Lernenden |
Freier Konstrukteur, Didaktiker u. Visionär |
Einsicht in Notwendigkeiten |
Widerstand |
Planung u. Methoden /Medien |
Unterricht gemeinsam planen |
Notwendigkeiten gemeinsam erörtern u. begründen |
Planungen kritisch gemeinsam evaluieren u. Konsequenzen ziehen |
Partizipatives Lehren u. Lernen |
Sinn u. Regeln gemeinsam erfinden |
Sinn u. Regeln aus Einsicht übernehmen |
Sinn u. Regeln hinterfragen u. kritisieren |
Konstruktives Lehren u. Lernen |
Selbstbestimmung möglichst weit ermöglichen |
Selbsttätigkeit als Mindestbasis für reproduktives Lernen |
Methodische Armut im Unterricht erkennen/ beseitigen |
Systemische Benotung |
Qualitatives Feed-back konstruktiv entwickeln |
Zielvereinbarungen treffen und systemisches Benoten |
Grenzen von Noten-systemen reflektieren u. bewusst machen |
(Vgl. Reich 2004, 154)
Brügelmann, Hans (2008) Wie verbreitet ist offener Unterricht? In:
http://www.grundschulverband.de/fileadmin/bilder/Publikationen/grundschueltern/
GSE_20123_6ideen_prinzipien_offen_anfangsunterricht.OU_verbeitung.120814.pdf
Brügelmann, Hans (2000): Wie verbreitet ist offener Unterricht? In: Jaumann-Graumann,Olga/Köhnlein, Wolfgang (Hrsg.): Lehrerprofessionalität – Lehrerprofessionalisierung. Jahrbuch Grundschulforschung. Bd. 3 Bad Heilbrunn 133 – 143.
Feyerer, Ewald/Prammer, Wilfried (2003): Gemeinsamer Unterricht in der Sekundarstufe I. Weinheim
Jank, Werner/Meyer, Hilpert (2009): Didaktische Modelle. Berlin.
Reich, Kersten (2010): Systemisch-konstruktivistische Pädagogik. Weinheim.
Reich, Kersten (2004): Konstruktivistische Didaktik. Berlin.
Reich, Kersten (2002): Konstruktivistische Didaktik. Berlin.
Schumann, Brigitte (2009): Inklusion statt Integration – eine Verpflichtung zum Systemwechsel. Deutsche Schulverhältnisse auf dem Prüfstand des Völkerrechts. In: Sonderdruck Pädagogik, Heft 2/2009, 51 – 53.
Trautmann, Matthias/ Wischer, Beate (2011): Heterogenität in der Schule. Eine kritische Einführung. Wiesbaden.