Maryam Laura Moazedi: Antipsychiatrie, der erweiterte Inklusionsbegriff und die Entpathologisierung des Fremden: Die Dekonstruktion ethnozentrisch bedingter „Normabweichungen“ als implizite Forderung der antipsychiatrischen Bewegung.

Abstract: Zwar gilt die antipsychiatrische Bewegung der 1960er-Jahre als eine, die eher im historischen Kontext und im Imperfekt besprochen wird. Ihre Forderungen auf den neuen, erweiterten Begriff von Inklusion auszudehnen und im Hinblick auf Ethnizität zu beleuchten – einer Dimension, die angesichts der Migrationsbewegungen von steigender Bedeutung ist – zeigt allerdings durch eine Reihe von Parallelen die Chance, ethnozentrisch konstruierte Normen in der Psychiatrie und ihren Nachbardisziplinen Psychologie und Psychotherapie ins Bewusstsein zu rücken. Anhand von Beispielen wie Stichprobenzusammensetzung, Somatisierung, Schizophrenie und Gesprächsführung soll hier aufgezeigt werden, in welchem Ausmaß Normen westlich definiert und sogenannte Abweichungen davon nicht als wertneutrale Variante gesehen werden, sowie auf das Potenzial hingewiesen werden, das sich implizit in den Forderungen der Antipsychiatrie findet.

Stichwörter: Inklusion, Ethnizität, Ethnozentrismus, Diversität, interkulturell, transkulturell

Inhaltsverzeichnis

  1. Einführende Gedanken
  2. Kulturelle Normen in der Psychologie
  3. Kulturelle Normen in der Psychiatrie
  4. Kulturelle Normen in der Psychotherapie
  5. Zusammenfassende Gedanken
  6. Literatur

 

1. Einführende Gedanken

Die Kritik prominenter Vertreter der antipsychiatrischen Bewegung wie Szasz, Basaglia und Laing bezog sich darauf, dass die traditionelle Psychiatrie Segregation und Exklusion durch das Etikettieren der Patientinnen und Patienten schaffe, das Störende sozial kontrollieren und eliminieren wolle und könne. Das Etikett, wiederum, entstünde ohne jedwede Analyse des Kontextes, der sozialen Verhältnisse oder der Entstehung der Symptomatik (Gruber et al., 2018) und basiere auf der biologischen Ausrichtung der Psychiatrie (Kirmayer, 2018). Diese Etikettierungen wären ein Instrument, die bestehenden Machtstrukturen aufrechtzuerhalten (Gruber & Böhm, 2012). Zwar ging es im Kern der Bewegung um schwere psychische Störungen, insbesondere die Schizophrenie, und den Vorwurf, die Psychiatrie ziele darauf ab, deren sozial unerwünschte Symptomatik durch Medikamente kontrollieren zu wollen (Burton, 2010). Erweitert, respektive vertieft man den antipsychiatrischen Gedanken, so lassen sich die Kritikpunkte und resultierenden Forderungen auf den Umgang mit Inter- und Transkulturalität und das Problem ethnozentrischer Zuschreibungen bei der Diagnose und Therapie von Störungen übertragen.
Spricht man heute von Inklusion, so schränkt man den Begriff längst nicht mehr auf Behinderungen oder psychische Störungen ein. Der Begriff umfasst beispielsweise auch Menschen mit Migrationserfahrung (Wansing, 2016) und die Dimension Ethnizität als Gesamtes, im Grunde genommen alle Dimensionen von Heterogenität (Hinz, 2010) und Minderheit. Inklusion sieht den Unterschied, die Andersartigkeit, das Fremde als Normalität (Markowetz, 2011), somit auch den ethnisch „Anderen“. Ethnizität wird hier als kollektive Identität verstanden, die durch ihre Differenz zu anderen Kollektiven definiert wird (Sökefeld, 2007). Sie wird mit Minderheitenstatus assoziiert (Fishman, 1989) und durch Ab- und Ausgrenzung definiert (Salzborn, 2006). Diese Grenzen zwischen dem Wir und den Anderen werden situationsabhängig, zuweilen willkürlich, nach Bedarf gezogen, Ethnizität bekommt erst im jeweiligen sozialen Kontext eine Bedeutung. Es gibt somit keine objektive Definition von Gruppen (Winter, 2011). Der hinter Behinderungen und Störungen steckende -ismus „ableism“ kann im Übrigen als übergeordnete Instanz über dem Ethnizität betreffenden -ismus „racism“  gesehen werden, da Rassismus (ähnlich wie Sexismus bei Frauen) auf der Behauptung fußt, bestimmte ethnische Gruppen seien aus biologischen Gründen weniger kompetent, beispielsweise hätten sie einen niedrigeren Intelligenzquotienten (Wolbring, 2008).
Der antipsychiatrische Vorwurf einer mangelhaften Berücksichtigung des sozialen Kontextes kann auch auf den ethnisch-kulturellen Hintergrund übertragen eine Kritik an der Aufrechterhaltung bestehender Machthierarchien im Spannungsfeld zwischen Mehr- und Minderheiten im Sinne Webers bedeuten. Weber sieht in der Mehrheit weit mehr als eine numerische Überlegenheit. Die Mehrheitsgruppe ist für ihn jene, die andere ausschließen kann. Invers dazu ist die Minderheitengruppe jene, die aufgrund physischer oder kultureller Merkmale von anderen abgegrenzt, anders behandelt und ausgeschlossen wird. Nicht die Merkmale per se machen eine Gruppe zur Minderheit, sondern die Beziehung zur Mehrheit bzw. Gesellschaft, mit anderen Worten, die Asymmetrie in der Machtbeziehung (Winter, 2011), in der die – beispielsweise ethnische – Minderheit eine untergeordnete Position einnimmt (Ritzer, 2015).
Der Ansatz, psychische Störungen auf eine biologische Wurzel zurückzuführen (Kirmayer, 2018) würde im Kontext Ethnizität mit dem Begriff Rasse in Zusammenhang gebracht werden, einem Begriff, der sich auf vermeintlich biologisch inhärente Merkmale von Ethnien bezieht, einem Begriff, dem jedwede wissenschaftliche Basis fehlt und der dennoch die Grundlage für die Rechtfertigung postkolonialer Ansprüche bildet. Auch wenn Rasse nicht real ist, bildet das Konstrukt nach wie vor das Fundament grausamer Systeme von Dominanz (Guillaumin, 1995).
Im Folgenden werden Beispiele für ethnozentrische Konstruktionen in der Psychiatrie und ihren Nachbardisziplinen Psychologie und Psychotherapie aufgezeigt, die durch eine fehlende Berücksichtigung des „fremden“ Kontextes, sowie eine Machtasymmetrie zwischen sogenannten westlichen Werten und jenen des „Restes“ der Welt ausgemacht und mit hegemonialen Interessen erklärt werden. Aus der englischsprachigen Originalliteratur wird der Begriff Rasse nicht übernommen, stattdessen ist der angesichts der Definitionsvielfalt zwar unscharfe aber ideologisch unbedenkliche Begriff Ethnizität in Gebrauch, der trotz der „voluminösen[n] wissenschaftliche[n] Diskussion“ (Bös & Schraml, 2009:96) einfach zu definieren ist und vor allem auf die Chimäre einer biologischen Unterscheidung verzichtet und Fremd- und Eigengruppen durch den kulturellen Hintergrund unterscheidet (Bös, 2008). Begriffe wie Asien und Westen werden als grobe Verallgemeinerungen verwendet; der Autorin sind die nicht zufriedenstellenden Generalisierungen und die dichotome Einteilung der Kulturen bewusst. Die Begriffe wurden aus der englischsprachigen Literatur zum Teil übernommen, zum Teil durch diese ersetzt um beispielsweise den Gebrauch von „Orient“ zu vermeiden, einem romantisierenden Konstrukt, das das Bild von faszinierenden, geheimnisvollen, zugleich unterentwickelten Kolonialgebieten zeichnet (Said, 1978).

2.Kulturelle Normen in der Psychologie

Kulturelle Normen manifestieren sich in der Beschreibung des „Anderen“, den Anfang nehmen alltagspsychologische Erklärungen, die sich in etwas subtilerer Form in der akademischen Auseinandersetzung fortsetzen.

Wir alle – Nichtpsychologen und Psychologen – haben eine Alltagspsychologie im Kopf, die auf kulturell tradierten Überzeugungen beruht und die wir tagtäglich zur Beschreibung, Erklärung und Vorhersage des Erlebens und Verhaltens von Mitmenschen und von uns selbst anwenden.
Asendorpf, 2005:2

Die Beschäftigung mit der Psychologie als Wissenschaft erfolgt vor dem Hintergrund der Alltagspsychologie und ist somit kulturell gefärbt, zumal die Auseinanderhaltung von wissenschaftlichen Theorien und alltagspsychologischem Verständnis mit Skepsis betrachtet wird (Asendorpf, 2005). Theorien und Forschungsmethoden sind nicht frei von Perspektivität und werden mit dieser weltweit exportiert (Zaumseil, 2006). Klassische Konzepte aus der Psychologie stammen in erster Linie aus dem europäisch-US-amerikanischen Kontext, ihre gänzliche Übertragung auf nicht-westliche Kulturen ist somit mit Vorbehalt zu genießen (Wing Sue et al., 1999). Ein Kurswechsel könnte eventuell dadurch erschwert werden, dass die Gruppe der US-amerikanischen Psychologie-Studierenden eine homogene ist, der kaum ethnische Minderheiten angehören (American Psychological Association, 2002). Einer Analyse von sechs renommierten Zeitschriften der American Psychological Association zufolge sind Themen bzw. Inhalte, Erstautorinnen und -autoren, sowie Universitäten US-amerikanisch dominiert, gefolgt von westlichen, europäischen Ländern und unter diesen wiederum in erster Linie englischsprachigen. Kulturelle und internationale Fragestellungen bilden nur Randthemen der US-amerikanischen Mainstream-Psychologie. Gerade in Zeiten der Globalisierung und Internationalisierung scheint die Psychologie eine entgegengesetzte Richtung einzuschlagen und sich von der Anerkennung internationaler Diversität abzuwenden (Arnett, 2008). Trotz des Aufschwungs der transkulturellen bzw. kulturvergleichenden Psychologie als ein Produkt der Globalisierung war der Versuch einer Einbeziehung der Kultur in die Mainstream Psychologie bisher eher erfolglos (Zaumseil, 2006).
Der Großteil der psychologischen Forschungsergebnisse entstammt dem US-amerikanischen Raum und wird ohne Berücksichtigung potenziell kultureller Einschränkungen implizit universell für die gesamte Menschheit geltend gemacht. Nicht von einer amerikanischen Wissenschaft ist die Rede, sondern von allgemein gültigen Befunden; Limitationen finden kaum Erwähnung. Auf der Basis US-amerikanischer Stichproben wird mehr oder minder auf die gesamte Weltbevölkerung geschlossen, in plakativen Zahlen ausgedrückt geben 5% US-Bevölkerung Aufschluss über die „übrigen“ 95% Weltbevölkerung (Arnett, 2008). Dieser geringe Prozentsatz, der sich durch die Merkmale westlich, gebildet, industrialisiert, reich und demokratisch auszeichnet, wird als Norm definiert und bildet die Basis für statistische Daten und Verallgemeinerungen (Heinrich, Heine & Norenzayan, 2010). Nach der Link‘schen Normalismustheorie ist selbst Normalität ein diskursives Produkt westlicher Gesellschaften, das im Zusammenhang mit der modernen Massenproduktion sowie der Erhebung von Massendaten und ihrer statistischen Analyse in der Diskussion um Medizin und Demographie entstand. Normalismus gilt als ein „historisch emergentes kulturelles Netz“ (Link, 2013:22). Das Ergebnis von Spezialdiskursen und deren Anwendung sind sektorielle – beispielsweise für die Medizin, Psychologie oder Soziologie produzierte – Normalitäten. Durch Interdiskurse werden diese Normalitäten zu einem breiten kulturellen Verständnis von Normalität integriert, „einer Art Querschnittskategorie des Normalen - diese Querschnittskategorie schließlich erweist sich als selbstverständlicher Orientierungsmaßstab moderner okzidentaler Subjekte im Alltag“ (ibid:20).

3.Kulturelle Normen in der Psychiatrie

Die Psychiatrie lebt mit dem Vorwurf einer mangelnden Kultursensibilität (Peseschkian, 2005). Gängige Konzepte würden gesellschaftliche Veränderungen wie Migration und kulturelle Implikationen nicht zu genüge berücksichtigen, sie wären noch zu sehr in universell gedachten Kategorien und Annahmen verharrt (Wohlfahrt & Zaumseil, 2006). Gomez (2003) spricht in diesem Kontext von einem hegemonialen Gesundheitssystem. Gilt die eigene Kultur als Standard und erst die Abweichung davon als Kultur (Katan, 2004), so zeigt sich in der Medizin insofern eine Analogie dazu, als dass die westliche Medizin nicht als „westliche Medizin“, sondern als „Medizin“ normiert wird und die östliche Abweichung davon die „alternative Medizin“ bildet.
Zwar kann, Untersuchungen im psychiatrischen Bereich zufolge, die sogenannte Kernsymptomatik kulturübergreifend die gleiche sein, dies gilt aber nicht zwingend für die Sekundärsymptomatik, d.h., für den gesellschaftlichen Umgang mit Krankheit und Störung. Der Begriff Wahn, beispielsweise, verdeutlicht, wie sehr seine Beurteilung von dem Wert abhängig ist, den eine Gesellschaft einer Wirklichkeit beimisst. Die Folge ist, dass Wahnkranke dort als krank gesehen werden, wo die materielle Wirklichkeit eine große Rolle spielt (Friedmann, 2005).

Wirklich relevant ist der kulturelle Hintergrund in der Verursachung und in der Ausgestaltung neurotischer Störungen und der Belastungsreaktionen. Auch hier zeigt sich, dass zahlreiche Störbilder nur aus „westlicher“ Sicht als pathologisch, in manchen Fällen sogar als „psychotisch“ im Kraepelin’schen Sinn, in ihren eignen Lebensräumen hingegen als primär umweltbedingt und als vorübergehend beurteilt werden (...).
Friedmann, 2005:78

Eine Reihe von Diagnosen entstammt dem westlichen Kulturraum und wird unreflektiert auf andere Länder übertragen. Ob und in welchem Ausmaß sie sich durchsetzen können hängt davon ab, wie sehr sie mit den jeweiligen bereits vorhandenen Krankheitskategorien vereinbar sind. Einer neuen Diagnose ist es nur möglich in einem kulturellen Setting zu bestehen, wenn sie mit den dort vorherrschenden abstrakten Konzepten von Körper, Geist und Gefühl kompatibel ist. Als eine der bedeutendsten Erkenntnisse der medizinischen Anthropologie, Medizinethnologie und Ethnomedizin gilt, dass Menschen ihre Krankheiten in Abhängigkeit von dem kulturellen Umfeld erleben, nicht losgelöst von den Kategorien und Schemata, die von der jeweiligen Kultur bereitgestellt werden. Selbst wenn Symptome jenen bestimmter Störungen ähneln, können sich die psychologischen und gesellschaftlichen Bedeutungen und Zuschreibungen beträchtlich unterscheiden (Karasz, Dempsey & Fallek, 2007).

3.1 Beispiele Sozialphobie, Selbstwert und Somatisierung

Mit der Kulturabhängigkeit sozialer Interaktions- und Kommunikationsmuster geht eine Kulturabhängigkeit der Perzeption, Entwicklung und Bewertung von Störungen einher. In westlich-industrialisierten Gesellschaften, beispielsweise, kann Schüchternheit in eine Sozialphobie münden, verstärkt durch die Angst, von anderen negativ beurteilt zu werden. Diese Sozialphobie wird stärker im Zusammenhang mit puritanischen und leistungsorientierten Gesellschaften wie beispielsweise der Calvinistischen Schweiz oder in Neuengland diskutiert als etwa in mediterranen oder heterogenen Gemeinschaften (Friedmann, 2005).

Der Selbstwert gilt als eine Conditio-sine-qua-non für psychische Gesundheit und als wesentlicher Faktor für die Entwicklung und Aufrechterhaltung psychischer Gesundheit indem er negative Ereignisse mildert und das Wissen um eigene Fähigkeiten stärkt (Macinnes, 2006). Allerdings könnte es ein vornehmlich westliches Phänomen sein, das Selbst nach diesem tradierten Verständnis wertzuschätzen. Die Bedeutung und der Stellenwert des Selbstwertes spiegeln traditionell eher die independente als die interdependente Selbstkonstruktion wider. Die independente Selbstkonstruktion wird unabhängig vom sozialen Kontext gebildet. Basis des Selbstwertgefühls bildet die Fähigkeit des Selbstausdrucks, das Einschätzen innerer Attribute. Die interdependente Selbstkonstruktion, hingegen, ist verbunden mit dem sozialen Kontext. Das Selbstwertgefühl baut auf der Fähigkeit, sich anzupassen, sich zurückzuhalten und Harmonie mit dem sozialen Kontext zu wahren. Das Selbst wird definiert durch die Beziehungen zu anderen in spezifischen Kontexten (Zaumseil, 2006). Ein Großteil der westlichen Psychologie basiert auf dem Gedanken, das Individuum sei sein eigener Meister (Belzen, 2005).

Zwar beschäftigt sich die Psychotherapie primär mit psychischen Problemen des Menschen, körperliche Symptome können dennoch nicht außer Acht gelassen werden (Tseng, 2004). Somatisierung bildet im Zusammenhang mit Depression einen der wohl augenfälligsten Kulturunterschiede. Frühe Modelle gehen davon aus, dass Somatisierung eine primitive Form einer Psychopathologie sei, die die emotionale Belastung durch die körperliche ersetzt (Karasz, Dempsey & Fallek, 2007). Diese nicht wertfreie Dichotomisierung von Körper und Geist ist ein Produkt westlicher Kultur. Pauschalisierend betrachtet neigt man in Asien eher dazu, psychische Probleme körperlich zu zeigen, ein Zugang, der sich auch in der Sprache wiederfindet, wenn beispielsweise aufgrund der Traditionen der chinesischen Medizin bestimmte Organe für bestimmte psychische Leiden stehen. In der Vergangenheit betrachteten westliche Therapeutinnen und Therapeuten den Ausdruck von Problemen durch körperliche Symptome als eine weniger entwickelte Reaktion auf Schwierigkeiten (Tseng, 2004). Somatisierung ist, zahlreichen Studien zufolge, bei Abweichungen von „Weiß-Westlich-Mittelklasse“ vergleichsweise stärker ausgeprägt als bei der westlichen Mittelklasse. Das könnte mit Grund dafür sein, dass Somatisierung für den primitiven Umgang mit Belastungen steht und das Kontrastprogramm der Psychologisierung ein in unseren Breitengraden beliebter Begriff ist (Karasz, Dempsey & Fallek, 2007). Die Miteinbeziehung kultureller Gesichtspunkte könnte die Hierarchie aufbrechen, da die Akzeptanz, Probleme durch den Körper zu kommunizieren kulturabhängig ist (Tseng, 2004).
Die psychologischen Mechanismen hinter den unterschiedlichen Verhaltensweisen zu erklären erweist sich als ein vielschichtiger Versuch, der nur unter Miteinbeziehung kulturell-historischer Aspekte gelingen kann. Zeit und Ort bestimmen, ob eine Krankheit oder Störung salient wird. Kleinmans Beobachtungen an Depressiven in der Psychiatrie zeigten, dass ihr emotionales Leid dann minimiert und parallel dazu körperliches betont wurde, wenn psychisches Leid mit Stigma und physisches mit Akzeptanz verbunden waren. An dem Fallbeispiel eines Südasiaten illustriert zeigt sich die Tendenz, zunächst körperlich Spürbares zu beschreiben, im konkreten Fall, dass ihm kalt wird, wenn er eine schlechte Nachricht hört. Die aus westlicher Sicht direktere Beschreibung der Affekte wie Trauer oder auch das Weinen werden erst am Ende erwähnt, sind sozusagen weniger erwähnenswerte Informationen in der Mitteilung des eigenen Befindens. Der Zustand der Kälte scheint mehr zu symbolisieren, gleichzeitig auch die Geschichte interessanter zu gestalten und ihr eine gewisse Dramatik zu verleihen. Die Phänomene werden physisch beschrieben und sozial erklärt. Zu behaupten, Gefühle würden hier durch die Konzentration auf Körperliches geleugnet werden, wäre zu kurz gegriffen. Ganz im Gegenteil, sie finden kaum Erwähnung eben weil sie so offensichtlich sind (Karasz, Dempsey & Fallek, 2007).

3.2 Beispiel Schizophrenie

Kultur als eine „black box“ impliziert, dass eine potenzielle Vielzahl von Faktoren, Wechselbedingungen und Unbekannten wirkt (Luhrmann, 2007), im Fall Schizophrenie etwa der Umgang mit Akzeptanz, Stigma, Integration und Religion (Van Wijngaarden, 2003).
Der soziokulturelle Kontext, die Rolle der Familie eingeschlossen, beeinflusst den Ausdruck, den Verlauf und die Behandlung der Schizophrenie (Bae & Brekke, 2002). In Indien, beispielsweise, zeigen schizophrene Patientinnen und Patienten größere Heilungserfolge als in den USA. Als eine der wichtigsten Komponenten wird in diesem Zusammenhang der Beitrag der Familie diskutiert, die in die Behandlung eingebunden wird. Hinzu kommt, dass psychotische Halluzinationen den in Indien gebräuchlichen religiösen Praktiken mehr ähneln als es in den USA der Fall ist. Ebenso unterscheiden sich das Verständnis von Selbstkohärenz, Stigma und die Einstellung zur allopathischen Medizin. All diese Einflussfaktoren wurden bisher nicht im erforderlichen Ausmaß untersucht (Luhrmann, 2007). Es wird vermutet, dass kollektivistische, soziozentrische Kulturen mit einem höheren Stellenwert der Familie, zwischenmenschlichen Beziehungen und Harmonie eine Schutz- oder Pufferfunktion haben (Bae & Brekke, 2002). Ironischerweise könnte die dichotome Konzeption von Individualismus und Kollektivismus selbst wiederum ein Ausdruck von Ethnozentrismus sein, der dafür steht, dass Menschen in Westeuropa und den USA sich mit Individualismus identifizieren und Kollektivismus als das sozusagen antithetische Andere definieren, eine „kulturelle Vision vom Rest der Welt“ (Zaumseil, 2006:8) konstruieren.
Schizophrenie scheint eine gerade im Rahmen der transkulturellen Psychiatrie häufig untersuchte Störung zu sein, das Interesse am Einfluss ethnokultureller Faktoren auf ihre Ätiologie steigt zunehmend (Bae & Brekke, 2002). Sie gilt als eine der schwerwiegendsten psychiatrischen Krankheiten und tritt zwar weltweit (Luhrmann, 2007) und im gleichen Ausmaß auf (Feldmann, 1984), über ihre Verteilung ist sich die Forschung allerdings weniger einig. Vielzitiert und strittig sind Rushtons und Lynns Beiträge zu ihrer Epidemiologie und von ebenso großem Interesse im Zusammenhang mit der Beschäftigung mit Kultur und Bias. Lynn will in mehreren Untersuchungen die Bestätigung finden, dass in den USA Indigene, Hispano- und Afroamerikanerinnen und -amerikaner höhere Werte auf der Skala für psychopathische Abweichung des Minnesota Mulitphasic Personality Inventory erzielen. Bei genauerer Betrachtung wird augenscheinlich, dass sich einige Items auf antisoziales Verhalten in der Kindheit beziehen und nicht auf gegenwärtige Situationen. Diese Messmethode bedarf einer Berücksichtigung und Interpretation sozio-kultureller Bedingungen, da andernfalls die Ergebnisse zu voreiligen biologisch orientierten Interpretationen verleiten. Das Verhalten, insbesondere das in jungen Jahren gezeigte, lässt nicht automatisch Rückschlüsse auf überdauernde Persönlichkeitseigenschaften zu. Für differenziertere Annahmen über die Stabilität ist die Miteinbeziehung des Zeitfaktors vonnöten, die zeitlichen Verläufe sehen wiederum je nach Ethnizität anders aus. Lyons Zwillingsstudien zufolge kann frühzeitiges delinquentes Verhalten zur Gänze durch Umweltbedingungen erklärt werden, genetische Faktoren spielen zu diesem Zeitpunkt noch keine Rolle. Die meisten straffälligen Jugendlichen ändern sich nach der Adoleszenz und entwickeln sich nicht zu wiederholten Straftätern. Angesichts der Tatsache, dass keine Hinweise auf genetisch bedingte Unterschiede in der Soziopathie zwischen Schwarzen und Weißen gefunden wurden bedeutet das, dass sämtliche Unterschiede in puncto Straffälligkeit auf Umweltvariablen zurückzuführen sind, die je nach Ethnizität variieren (Zuckerman, 2003). Dennoch, Schizophrenie als Diagnose findet sich hauptsächlich bei männlichen schwarzen US-Amerikanern, was auf eine Überdiagnose und einen Bias der Medizinerinnen und Mediziner im Nahbereich von Rassismus und Vorurteilen hinweist. Symptome werden als schizophren interpretiert, die in vergleichbaren Fällen bei Weißen als bipolar gesehen werden (Schwartz & Blankenship, 2014). Bei Schwarzen besteht  wiederum die Tendenz, eine Bipolare Störung als Diagnosemöglichkeit zu übersehen (Akinhanmi et al., 2018).

Der sozioökonomische Status bei der Geburt wird mit einem erhöhten Risiko verbunden, im Erwachsenenalter an Schizophrenie zu erkranken (Werner, Malaspina & Rabinowitz, 2007). Dieser ist wiederum häufig bei Migrantinnen und Migranten bestimmter Herkunftsländer bzw. ethnische Minderheiten im Allgemeinen niedriger. Angehörige einer ethnischen Minderheit in einer von der Mehrheit dominierten Nachbarschaft erkranken mit einer größeren Wahrscheinlichkeit an Schizophrenie als in ihrem Ursprungsland (siehe etwa Pinto, Ashworth & Jones, 2008). Das verdeutlicht, dass Genetik per se hier nicht ausschlaggebend sein kann. Vielmehr spielen äußere Bedingungen und Stressoren eine Rolle. Der Übergang von einer Kultur zur anderen, z.B. von einer kollektivistischen in eine individualistische, kann ein Stressor sein und sich negativ auf die Lebenszufriedenheit auswirken (Bae & Brekke, 2002). Eine konstatierte Abweichung von der Norm ist ebenso ein potenzieller Stressor. Laut dem Minderheitenstress-Modell haben eine ablehnende Gesellschaft, Vorurteil und Stigma sowie Diskriminierungen und Mikroaggressionen im Alltag negative Folgen für die psychische und physische Gesundheit (Meyer, 2015).

Seit geraumer Zeit wird Schizophrenie mit Armut in Verbindung gebracht. Dieser Zusammenhang wurde früher dahingehend interpretiert, dass man dachte, Schizophrenie führe zu Armut, was allerdings zum Teil revidiert wurde (Luhrmann, 2007). Zu erwähnen ist, dass im Allgemeinen Studien zur Schizophrenie in reichen Ländern, den OECD-Ländern, durchgeführt wurden (Arnett, 2003). Wird Kultur als Moderatorvariable kontrolliert, so zeigt sich, dass Schizophrenie in allen ethnischen Gruppen, Kulturen und sozioökonomischen Schichten mit ähnlicher Häufigkeit auftritt (Häfner, 2014).

4.Kulturelle Normen in der Psychotherapie

Kulturelle Faktoren haben auch in die Psychotherapie nicht wirklich Eingang gefunden (Peseschkian, 2005). Die Werte der sogenannten „Mainstream Psychotherapie“ sind westlich definiert (Comas-Díaz, 2006), was angesichts der wachsenden Multikulturalität unter den Klientinnen und Klienten (Martín del Campo, 2008; Peseschkian, 2005) zu einem eingeschränkten Anwendungsbereich führt, da die therapeutischen Modelle und Techniken für die Behandlung von „mainstream Westerners“ (Seeley, 2004:122) konzipiert sind. Aufgrund des kulturabhängigen Stigmas von Störungen und Krankheiten fällt es Menschen bestimmter Kulturräume schwerer, in Psychotherapie zu gehen. Hinzu kommt, dass die westlich orientierte Therapie womöglich nicht die Behandlungsvorstellungen „anderer“ Klientinnen und Klienten erfüllt. So beispielsweise bei asiatischen, da sie vor allem auf das Sprechen fokussiert und etwa auf den Einsatz von Kräutermedizin verzichtet, die wiederum traditioneller Bestandteil asiatischer Therapien ist (Tseng, 2004). Westliche Modelle und Techniken werden in den USA bei „Latinos in particular, and (...) people of color in general“ (Comas-Díaz, 2006:438) in Praxis und Theorie in Frage gestellt. Wenn Hispanoamerikanerinnen und -amerikaner in den USA psychotherapeutische Hilfe aufsuchen, begegnen sie häufig eurozentrisch ausgerichteten Leistungen, die ihren kulturellen aber auch spirituellen Bedürfnissen nicht entsprechen (Comas-Díaz, 2006). Bei muslimischen Migrantinnen und Migranten wird festgestellt, dass ihre Werte und Normen, teils religiös verankert, nicht ausreichend in der Behandlung berücksichtigt werden. Religiöse Rituale, Heilungszeremonien und magische Vorstellungen und Beziehungsmuster stellen eine ungenutzte interkulturelle Ressource dar (Kizilhan, 2015). Ähnlich ist für Südamerikanerinnen und -amerikanern Spiritualität oft eine tragende Dimension (Comas-Díaz, 2006).

Ein Zugang zur sogenannten „Mainstream Psychotherapie“ auf der Grundlage der kontrastiven Einteilung der Kulturdimension Individualismus versus Kollektivismus vermag unter Umständen einen Teil ethnozentrischer Sichtweisen aufzuzeigen. So sieht die „klassische“ Psychotherapie beispielsweise die Förderung von individualistischen Entwicklungen als einen Wert an, was für eine individualistisch geprägte und somit westliche Kultur spricht bzw. ihr entspricht. Angehörige kollektivistischer Kulturen schätzen hingegen Verbundenheit, einen holistischen Zugang, Familie und Harmonie (Comas-Díaz, 2006) ihr Kommunikationsverhalten wird durch diese Wertigkeiten geprägt. Begegnet man etwa in westlichen Ländern einem oder einer Bekannten, so fragt man nach der Befindlichkeit der Person, in asiatischen noch zusätzlich nach der Familie. Was dahinter steckt ist zum einen die Philosophie, geht es dem Individuum gut, so sind auch andere Lebensbereiche in Ordnung. Zum anderen wird auch das Werte- und Denksystem deutlich, die Familie gehöre unmittelbar zu Identität und Selbstwert (Peseschkian, 2005). In diesem Zusammenhang zeigt eine nähere Betrachtung der psychoanalytischen Theorie des Selbst dessen ethnozentrischen Anteil auf. Die Einteilung in das Es, Ich und Überich kann kulturübergreifend kaum bestehen. Im asiatischen „Selbst“-Verständnis endet das Selbst nicht mit dem Es, dem Ich oder dem Überich, sondern dehnt sich oft aus und wird eins mit der umgebenden Gesellschaft, konkret dem unmittelbaren Familien-, Freundes- und Nachbarskreises und auf abstrakterer Ebene der Kultur, d.h. das Selbst verschmilzt mit der Denkweise, Haltung und den Werten. Je nach Kulturraum sind die Grenzen des Selbst entweder nach außen scharf und eng gezogen oder unscharf und großzügig (Tseng, 2004).

Gilt das Leben im Elternhaus bis zur Gründung einer eigenen Familie aus westlicher Sicht als eine negative und entwicklungshemmende Abhängigkeit, so ist dies für Menschen aus kollektivistisch orientierten Kulturen nichts Unübliches (Bae & Brekke, 2002). In individualistisch orientierten Kulturen betonen Therapeutinnen und Therapeuten die Bedeutung der individuellen Unabhängigkeit. Obgleich die Erreichung von Autonomie und Initiative zu den wichtigsten Zielen der persönlichen Entwicklung gehören hängt die Art und Weise der zwischenmenschlichen Beziehungen und deren Bewertung von der jeweiligen Kultur ab. Im Westen gilt die wechselseitige Abhängigkeit von Erwachsenen als unreif und ungesund. In anderen Kulturkreisen, darunter vielen asiatischen, ist die Aufrechterhaltung einer gewissen Abhängigkeit in bestimmten Beziehungsstrukturen wünschenswert oder zumindest akzeptabel. Was in unseren Breitengraden nur für Kinder zulässig ist, wird etwa in Japan in das Erwachsenenalter prolongiert. Diese gegenseitige Abhängigkeit ist Teil der japanischen Struktur auch außerhalb der Familie, mit loyalen und gehorsamen Personen auf der niedrigeren Hierarchiestufe und fürsorglichen auf der höheren. Die gegenseitige Abhängigkeit in der Gesellschaft spielt auch in das therapeutische Setting ein (Tseng, 2004).

Ähnlich bietet das psychotherapeutische Setting unterschiedliche Interpretationen für das „Eisbrecher-Gespräch“. Während es sich für Südamerikanerinnen und -amerikaner bei Small Talk um eine „social lubrication“ (Comas-Díaz, 2006:442) handelt, können westliche Therapeutinnen und Therapeuten darin eine Vermeidungs- oder Ausweichtaktik orten. Im Kontext der interkulturellen Psychotherapie mit Einsatz von Dolmetschungen wird in einem weiteren Schritt vor Small Talk zwischen aus dem gleichen Kulturraum stammenden KlientInnen und DolmetscherInnen gewarnt und dieser als „Appell an ihr Über-Ich“ (Egger & Wedam, 2003:87) gewertet. Der Verzicht darauf kann aus der anderen Perspektive eher als ein Zeichen für Distanziertheit, denn als Professionalität bedeuten. Ähnliches gilt für das Ausschlagen von Einladungen der Klienten und Klientinnen zu Hochzeiten, Taufen und anderen Feierlichkeiten (Comas-Díaz, 2006). Dieser unterschiedliche Zugang zu Distanz und Nähe zeigt sich auch an den Zärtlichkeitsritualen, Umarmungen, der Aufgeschlossenheit in Teilen Asiens auf der einen Seite und den Kontakteinschränkungen, dem Händedruck, dem Verstecken von Zärtlichkeiten hinter sachlicheren Kontaktformen in Teilen des Westens auf der anderen (Peseschkian, 2005). Durch den kulturellen Filter können psychotherapeutische Attributionen ethnozentrisch werden.

Während des ersten Lebensjahres stehen auch hier (Anm. d. Autorin: Deutschland) körperliche Zärtlichkeiten im Vordergrund. Sie werden jedoch mit zunehmendem Alter durch Leistungsforderungen überlagert und in den verbalen Bereich verschoben. Zärtlichkeit gilt hier zumindest ab der späten Kindheit als „kindisch“, „Erwachsen“ ist derjenige, der ohne Zärtlichkeiten und ohne emotionale Abhängigkeiten die von ihm geforderten Leistungen erbringen kann.
Peseschkian, 2005:89

Rollenzuschreibungen, Dauer und Geschwindigkeit der Entwicklungsstadien sind kulturell determiniert. Westliche Länder legen tendenziell Wert darauf, dass Kinder schnell erwachsen werden. Andere Gesellschaften, vorwiegend asiatische, haben dazu einen entspannteren Zugang. Kleine Kinder dürfen Babys bleiben, die Nähe und Zuneigung ihrer Eltern, Großeltern und Geschwister genießen ohne dem Druck ausgesetzt zu sein, in die nächste Entwicklungsphase wechseln zu müssen. Danach kann sich das Tempo durchaus ändern. Während das Konzept der Entwicklungsstadien universal anwendbar ist, unterscheiden sich die jeweiligen Inhalte und die Geschwindigkeit des Wechsels von Phase zu Phase je nach Kultur. Freuds psychoanalytische Entwicklungstheorie konzentriert sich auf die psychosexuellen Aspekte der individuellen Entwicklung. Da der biologische Instinkt eine Komponente ist, gilt sie als allgemein gültig, ohne Kultureinschränkung. Die Intensität des Beziehungskonflikts zwischen den Elternteilen und dem Kind in der phallischen Phase, des Ödipuskomplexes, hängt Forscherinnen und Forschern zufolge von den Einstellungen zur Sexualität der Umgebung ab, sowie von den unterschiedlichen Familiensystemen und Gesellschaftsstrukturen. Die Beziehung vom Kind zum Elternteil kann durch asiatische Kulturprodukte analysiert und verarbeitet werden, wie etwa Kindergeschichten, Märchen und Spiele, die oft die kulturelle Haltung wiederspiegeln. Auch der Lösungsansatz ist je nach Kultur unterschiedlich. In asiatischen Kulturen wird die elterliche Autorität traditionell betont, Konflikte zwischen Eltern und Kind werden in Geschichten dadurch gelöst, dass das Elternteil über das Kind siegt und nicht umgekehrt, wie in westlichen Geschichten. Der Einfluss der Eltern auf das Kind setzt sich fort, auch wenn das Kind schon erwachsen ist. Dies veranschaulicht, dass die Theorie des Eltern-Kind-Konflikts, das den Kern der Psychoanalyse bildet, einer kulturellen Erweiterung bedarf, abseits von den Beobachtungen an Eltern-Kind-Konstellationen von westlichen Psychoanalytikerinnen und -analytikern (Tseng, 2004) bzw. grundsätzlich die Frage aufgeworfen wird, wie sehr die Theorie mit anderen Kulturen kompatibel ist (Sargent & Larchanché, 2008).

5.Zusammenfassende Gedanken

Kritikpunkte der Antipsychiatrie wie Segregation, Exklusion, Etikettierungen und willkürliche Konstruktionen von Fremd- und Eigengruppen, die mangelnde Berücksichtigung des Umfeldes und der Umstände, die Tendenz, Beobachtetes auf überdauernde, biologisch determinierte Variablen zurückzuführen und die Bewertung des „Anderen“ als minder und daraus resultierend die Erhebung des Anspruchs auf ungleiche Machtstrukturen und Kontrolle sind Bereiche, die sich allesamt vom monokulturellen psychologisch-medizinisch-psychotherapeutischen Kontext auf den inter- und transkulturellen umlegen lassen.

Inklusion wird heute erweitert im Sinne aller Dimensionen von Heterogenität (Hinz, 2010) verstanden. Gerade Ethnizität spielt seit Jahren eine wesentliche Rolle im öffentlichen Diskurs, Multikulturalität wurde zum Schlagwort, die Vorstellung von Nationen als kulturell homogen definierte Entitäten kam in weiten Teilen westlicher Länder aus der Mode (Neuhold & Scheibelhofer, 2009). Differenzierungen in der Qualität und Quantität außer Acht gelassen bedeutet Exklusion für beide, jene mit einer psychischen Störung aber auch für Mitglieder einer ethnischen Minderheit ein Ungleichgewicht in der Machtbeziehung zur Mehrheit; Macht wird als treibende Kraft hinter Exklusion betrachtet (Popay et al., 2008).
Der Vorwurf der antipsychiatrischen Bewegung, der soziale Kontext würde bei der Diagnose und Therapie von Störungen ignoriert werden, lässt sich in den kulturellen Kontext übersetzen, wo er in Form von ethnozentrischen bis hin rassistischen Zuschreibungen Gestalt annimmt. Ausgangspunkt sind Normierungen, die dem westlichen Verständnis von gesund und krank, von normal und abnormal entsprechen. In der Auslegung der Psychiatrie, wie sie zum Gegenstand der Kritik wurde, gelten kulturelle Unterschiede als Reflexionen der biologischen (Kirmayer, 2018). Durch die Betonung biologischer Determinante bei Ethnien wird aus letzterer eine „Rasse“ mit sämtlichen Implikationen für beide Seiten: die Verbindung von Biologie mit menschlichen Hierarchien, die Rechtfertigung der Entmenschlichung „Anderer“ (Reid-Merritt, 2017). Die Geschichte der Ethnopsychiatrie zeigt, dass das Bestreben, Phänomene „rassisch“ erklären zu wollen Gefahr läuft, sich den Fragestellungen rassistisch zu nähern. Die Ethnopsychiatrie selbst entwickelte sich in der Kolonialzeit und war geprägt von der Faszination des „Anderen“, von der Entdeckung der kolonialisierten Bevölkerung. Das „Fremde“ wurde erklärt anhand von biologischen Merkmalen, die mit Norm und Abnorm verknüpft wurden (Sargent & Larchanché, 2008).

Die alte antipsychiatrische Bewegung ist eher von historischer Bedeutung, heute wird sie in erster Linie als humanistische Antipsychiatrie gesehen (Lehmann, 2011). Unabhängig davon, ob das Verständnis jenem klassischen der 1960er-Jahre oder dem humanistischen entspricht, ihre Forderungen sind – in einem auf Ethnizität erweiterten Verständnis von Inklusion – angesichts aktueller Migrationserfahrungen und Spannungen zwischen Mehr- und Minderheiten – von höchster Aktualität und wären eine Chance, Differenzen nicht als Devianz von westlich definierten Normen zu sehen und zu bewerten. Ihr geht darum, die Aufmerksamkeit auf gesellschaftliche und politische Dimensionen der psychiatrischen Diagnose zu lenken und die psychiatrische Theorie selbst in ein größeres gesellschaftliches und kulturelles System einzubetten (Kirmayer, 2018). Das ist mit einem umfassenderen Begriff von Inklusion vereinbar, geht es letzten Endes um das Menschenbild und darum, psychiatrische Erkrankungen nicht losgelöst von sozialen Krisen zu sehen, sondern auch als potenziellen Ausdruck von gesellschaftlichen Konflikten und Missständen. Es geht um Integration, Akzeptanz, Toleranz und dem Ende des Missbrauches der Definitionsmacht über krank und gesund, über normal und davon abweichend (Schmidt, 2008), wobei Definitionen nicht losgelöst von dem ethnisch-kulturellen Umfeld entstehen. Implizit steht die Reduktion ethnozentrischer Zuschreibungen zwischen den Zeilen der Forderungen der Antipsychiatrie, direkt wurden sie noch nicht oder unzureichend thematisiert.

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