Abstract: Der Beitrag thematisiert Möglichkeiten der Gestaltung von Lehr- und Lernfeldern in einer inklusiven Schule, in der ein auf Vielfalt und Differenz basierender Unterricht jeder Schülerin und jedem Schüler die uneingeschränkte Teilhabe an Bildung und Erziehung ermöglicht/bietet. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit verschiedenen didaktischen Modellen/Konzepten für die inklusive Schule/das Lehren und Lernen in inklusiven Settings.
Stichworte: Lehr- und Lernfelder in der inklusiven Schule, Teilhabe, didaktische Modelle/Konzepte für inklusive Schule, Lehren und Lernen in inklusiven Settings
Inhaltsverzeichnis
„Die Überführung des hierarchisch gegliederten, selektierenden und segregierenden Erziehungs-, Bildungs- und Unterrichtssystems ... in ein inklusives ist nach heutigem Erkenntnisstand der weitreichendste Weg, Lernfelder als Möglichkeitsräume zu gestalten, in denen ein auf Vielfalt und Differenz, auf Anerkennung, Kompetenz und uneingeschränkter Teilhabe basierendes kooperatives, auf Erkenntnisgewinn orientiertes Lernen für alle Kinder und Schüler die Chance zur umfassenden und bezüglich der emotionalen, kognitiven und sozialen Dimensionen balancierten Persönlichkeitsentwicklung bietet“ (Feuser 2012, 46). Mit der Gestaltung von Lehr- und Lernfeldern, d.h. Möglichkeitsräumen der Entwicklung, muss sich die Didaktik befassen.
Gibt es im deutschsprachigen Raum eine Vielfalt didaktischer Modelle, so u.a. die „kritisch-konstruktive Didaktik“ (Klafki), die „lehrtheoretische Didaktik“ (Schulz), die „kritisch-kommunikative Didaktik“ (Winkel), die „systemisch-konstruktivistische Didaktik“ (Reich) u.a.m. (vgl. Markowetz 2012, 147), so bestimmen „gegenwärtig nur noch wenige Modelle und Positionen die didaktische Landschaft“ (ebd. 146). Markowetz trifft eine Auswahl (vgl. ebd.147) von 10 Modellen, wobei er diesen „entstigmatisierende Kraft durch Bildung für alle und Teilhabe am Gemeinsamen Unterricht“ beimisst, zugleich jedoch mit Blick auf die einschlägige didaktische Literatur die Erziehungswissenschaften auffordert zu diskutieren, „ob und welche Dimensionen und Aspekte dieser Theorien, Konzepte und Modelle einen Beitrag für die Analyse, Planung, Durchführung und Reflexion des gemeinsamen Unterrichts leisten“ (ebd. 147). Die von Markowetz aufgeführten Modelle beziehen sich auch auf das explizit im Kontext der Integration ausgearbeitete Modell der „entwicklungslogischen Didaktik“ (Feuser 1989, 1995, 1998). Dieses von Georg Feuser als Allgemeine Didaktik konzipierte Modell ist dialogisch und kooperativ, theoretisch fundiert („kultur-historische Schule/ Tätigkeitstheorie“ - Vygotskij, Konstruktivismus und Systemtheorie - Maturana/Varela) und wird als „wertvolle Ressource“ (Rödler 2011, 46) bewertet, die jedoch bislang weitgehend unberücksichtigt blieb.
Georg Feuser geht es darum, “einen Möglichkeitsraum zu schaffen, in dem alle Schüler entlang eines gemeinsamen Gegenstandes auf ihrem Niveau lernen und in den verschiedenen Zugängen der Mitschüler andere, ihnen möglicherweise wichtige Perspektiven als Ergänzung zu ihrem eigenen Lernen einbeziehen können“ (ebd.). Das Modell wird sowohl der Sache/dem Lerngegenstand als auch den Schülerinnen und Schülern mit ihren unterschiedlichen Kompetenzen und Dispositionen gerecht. Durch die Berücksichtigung der „Zone der aktuellen Entwicklung“ und der „Zone der nächsten Entwicklung“ (Vygotskij) jeder Schülerin und jeden Schülers im Verhältnis zu den Anforderungen, die der Lerngegenstand bereithält, ergibt sich die Notwendigkeit der Differenzierung. Jeder wird mit seiner Motivation, Disposition, seinen Denk-, Wahrnehmungs-und Handlungsmöglichkeiten wahrgenommen und in den Prozess einbezogen. Die Angebote sollen kooperativ bzw. dialogisch ausgerichtet sein und den Entwicklungsmöglichkeiten jedes Einzelnen entsprechen. Mit kooperativen und gemeinschaftlichen Angeboten soll der marginalisierten oder isolierten Position der Schülerinnen und Schüler mit Behinderung entgegengewirkt werden.
Mit Blick auf Inklusion ist die Herausforderung verbunden, Möglichkeitsräume für die Entwicklung für und mit den Schülerinnen und Schülern gemeinsam zu schaffen und die Teilhabe/Teilnahme (Teilhabe an Bildung und Erziehung, soziale Teilhabe...) für jede Schülerin, jeden Schüler zu sichern. Das Partizipationsmodell von Beukelman und Mirenda (2005) mit den Komponenten: „Teilhabe an Bildung und Erziehung“; „soziale Teilhabe“ und „individuelle Unterstützung“ bietet dazu wertvolle Anregungen, v.a. im Hinblick darauf, Barrieren des Zugangs und der Partizipation zu erkennen bzw. zu überwinden. Dabei unterscheiden Beukelman und Mirenda Gelegenheitsbarrieren und Zugangsbarrieren: Gelegenheitsbarrieren beziehen sich auf Barrieren durch unzureichende Rahmenbedingungen, Praktiken, unzureichendes Wissen, Fähig- und Fertigkeiten bspw. bei Lehrpersonen, Peers und Assistenten. Zugangsbarrieren beziehen sich auf die aktuellen Fähigkeiten betroffener Schülerinnen und Schüler und deren Umgebung. Ein Anforderungs- und Fähigkeitsprofil gibt Aufschluss über die Barrieren der Teilhabe. So sind bspw. Schülerinnen und Schüler ohne Lautsprache auf alternative Kommunikationsmöglichkeiten, z.B. eine elektronische Kommunikationshilfe angewiesen. Wird sie z.B. durch Schule oder Familie abgelehnt, stellt dies eine gravierende Zugangsbarriere und zugleich eine isolierende Bedingung für die Entwicklung dar.
Die Einstellungen und Überzeugungen von Politikern, Verwaltungsangestellten, Lehrpersonen und allen am Prozess Beteiligten stellen eine maßgebliche Bedingung für das Ge- bzw. Misslingen inklusiver Prozesse dar. Eigene Studien mit Lehrpersonen und Teams zeigen, dass diejenigen die Herausforderungen am besten meistern, die offen sind für die Entwicklungsmöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler; die nicht vorschnell Entwicklungsprognosen stellen; die sich verantwortlich fühlen für alle Schülerinnen und Schüler unabhängig von Disposition und Potenzial; die daraufhin ihre Unterrichtsgestaltung abstimmen; die Probleme und Fragen im Team diskutieren und gemeinsam nach Lösungen suchen. Entscheidend ist die Überzeugung, dass jede Schülerin, jeder Schüler eine Bereicherung für den Unterricht, die Klasse oder die Schule darstellt. Dies geht zumeist einher mit einem tieferen Verständnis der Schülerin bzw. des Schülers und deren bzw. dessen sozialer Situation (qualitative Studie an Schulen in NRW zu den Anforderungen an Lehrpersonen /Teams mit Blick auf Inklusion 2011-2012).
Professionelles Handeln ist reflektiertes Handeln. Reflectere (lat.) im Sinne von Rückwendung meint, sich „das in die wissenschaftlichen (hier didaktischen, d.V.) Werkzeuge und Operationen eingegangene soziale und intellektuelle Unbewusste“ (Waquant 1996, 63) bewusst zu machen. Die reflexive Didaktik (Ziemen 2003) knüpft an Georg Feusers Modell der „entwicklungslogischen Didaktik“ an. „Professionelles (pädagogisches, d.V.) Handeln ist zum einen entwicklungsbegleitendes, d.h. längerfristiges Handeln (mit schwer bestimmbaren Grenzen...), zum anderen Handeln in Organisationen. Damit unterliegt es institutionalisierten Regeln, mit denen die Intentionen und die Praxis des professionellen Pädagogen kollidieren können... “ (Hierdeis 2009, 7f.). Ebenso können die politischen, gesellschaftlichen und organisatorischen Bedingungen der inklusiven Idee entgegenstehen.
Die Reflexionen beziehen sich auf unterschiedliche Ebenen, so die der Schülerinnen und Schüler, die des Lerngegenstandes, der Lehrpersonen/Teams, der Institution Schule und auf Politik, Recht, Kultur, Gesellschaft. Dabei sind die Beziehungen und Verhältnisse der Ebenen untereinander zu berücksichtigen.
Die Ebene der Lehrpersonen/Teams nimmt eine besondere Rolle ein, da von ihr maßgeblich die Analyse und Reflexion ausgeht, die Einfluss auf das eigene aktuelle und perspektivische pädagogische Handeln hat. Zugleich kann es Grundlage für die Planung, Durchführung und Evaluation von Unterricht sein.
Beukelman, David R./Mirenda, Pat (2005): Educational Inclusion of Students Who Use AAC. In: Beukelman, David R. & Mirenda, Pat (Hrsg.), Augmentative and Alternative Communication. Supporting Children & Adults with Complex Communication Needs. Baltimore: Paul H. Brookes, S. 391-431
Boban, Ines/Hinz, Andreas (2003): Index für Inklusion. Deutsche Übersetzung der engl. Ausgabe von Tony Booth & Mel Ainscow (2002), Halle (Saale): Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Booth, Tony/Ainscow, Mel (2202): Index for inclusion, London: Centre for Studies in Inclusive Education (CSIE)
Bourdieu, Pierre (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Kreckel, Reinhard (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten. Soziale Welt. Sonderband 2. Göttingen: Schwartz, S. 183-198
Bourdieu, Pierre (1993): Sozialer Sinn, Frankfurt am Main: Suhrkamp
Bourdieu, Pierre (1992): Die verborgenen Mechanismen der Macht, Hamburg : VSA-Verlag
Bourdieu, Pierre/Waquant, Loic J. (1996): Reflexive Anthropologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp
Bourdieu, Pierre (2001): Wie die Kultur zum Bauern kommt, Hamburg : VSA-Verlag
Dumke, Dieter (1991): Integrativer Unterricht, Weinheim: Deutscher Studien-Verlag
Feuser, Georg (1989): Allgemeine integrative Pädagogik und entwicklungslogische Didaktik. In: Behindertenpädagogik, 1, S. 4-48
Feuser, Georg (1995): Behinderte Kinder und Jugendliche – zwischen Integration und Aussonderung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Feuser, Georg (1998): Gemeinsames Lernen am Gemeinsamen Gegenstand. In: Hildeschmidt, Anne & Schnell, Irmtraud (Hrsg.), Integrationspädagogik. Weinheim/München: Juventa , S. 19-36
Feuser, Georg/Meyer, Heike (1987): Integrativer Unterricht in der Grundschule, Solms-Oberbiel: Jarick Oberbiel
Feuser, Georg (2012): Integration ist unteilbar. In: Lanfranchi, Andrea & Steppacher, Josef (Hrsg.), Schulische Integration gelingt. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 31-48
Feyerer, Ewald (2003): Pädagogik und Didaktik integrativer bzw. inklusiver Bildungsprozesse. In: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft, 1, S. 38-52
Friebertshäuser, Barbara/Rieger-Ladich, Markus/Wigger, Lothar (2006): Reflexive Erziehungswissenschaft, Wiesbaden: VS-Verlag
Hierdeis, Helmwart (2009): Selbstreflexion als Element pädagogischer Professionalität. www.uibk.ac.at/iezw/texte/hierdeis/pdf.
Hillenbrand, Clemens (2012): Auf dem Weg zum inklusiven Schulsystem: Vom Programm zur schulischen Wirklichkeit. (Vortrag auf dem Kongress „Lernen vielfältig gestalten“, 10.3.2012. Köln: unveröff. Manuskript)
Klafki, Wolfgang (1996): Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik, Weinheim: Beltz
Manske, Christel (2008): Jenseits von PISA. Lernen als Entdeckungsreise, Hamburg: Manske
Markowetz, Reinhard (2012): Inklusive Didaktik (k)eine Neuschöpfung!? In: Breyer, Cornelius; Fohrer, Günther; Goschler, Walter; Heger, Manuela; Kießling, Christina & Ratz, Christoph (Hrsg.), Sonderpädagogik und Inklusion. Oberhausen: Athena, S. 141-160
Rödler, Peter (2011): Inklusion – Zur Politik und Pädagogik der Umsetzung einer internationalen Übereinkunft. In: Autismus Deutschland e.V. (Hrsg.), Inklusion von Menschen mit Autismus. Karlsruhe: Von Loeper Literaturverlag, S. 38-57
Waquant, Loic J. (1996): Für eine wissenschaftstheoretische Reflexivität. In: Bourdieu, Pierre & Waquant, Loic J. (Hrsg.), Reflexive Anthropologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 62-76
Wocken, Hans (1988): Offener Unterricht. In: Wocken, Hans; Antor, Heinz & Hinz, Andreas (Hrsg.), Integrationsklassen in Hamburg. Hamburg: Curio-Verlag, S. 359-378
Wocken, Hans (1998): Gemeinsame Lernsituationen. In: Hildeschmidt, Anne & Schnell, Irmtraud (Hrsg.), Integrationspädagogik. Weinheim, München: Juventa, S. 37-52
Wygotski, Lew S. (1987): Ausgewählte Schriften. Band I und II, Berlin: Volk und Wissen
Vygotskij, Lew S. (2001): Defekt und Kompensation. In: Jantzen, Wolfgang (Hrsg.), Jeder Mensch kann lernen – Perspektiven einer kultur-historischen (Behinderten-)Pädagogik. Neuwied, Kriftel, Berlin: Luchterhand, S. 88-108
Ziemen, Kerstin (2002): Das bislang ungeklärte Phänomen der Kompetenz – Kompetenzen von Eltern behinderter Kinder, Butzbach-Griedel: AFRA
Ziemen, Kerstin (2002): Pierre Bourdieu oder auf die Unterschiede kommt es an. In: Mitteilungen der Luria-Gesellschaft, 2, S. 53-58
Ziemen, Kerstin (2003): Integrative Pädagogik und Didaktik, Aachen: Shaker
Ziemen, Kerstin (2004): Das integrative Feld im Spiegel der Soziologie Pierre Bourdieus. In: Forster, Rudolf (Hrsg.), Soziologie im Kontext von Behinderung. Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt, S. 264-277
Ziemen, Kerstin (2006): Bilder, Vorstellungen, Konstruktionen um Behinderung. In: Behinderte, 2, S. 3-12
Ziemen, Kerstin (2008): Reflexive Didaktik, Oberhausen: Athena
Ziemen, Kerstin (2008): Entwicklungsorientierung und Differenzierung in didaktischen Prozessen. In: Ziemen, Kerstin (Hrsg.), Reflexive Didaktik. Oberhausen: Athena, S. 161-172
Ziemen, Kerstin/Langner, Anke/Köpfer, Andreas/Erbring, Saskia (2011): Inklusion – Herausforderungen, Chancen und Perspektiven, Hamburg: Kovac