Abstract: Eine inklusive Schule versteht sich als eine Schule für alle, in der kein Kind ausgeschlossen und jedes Kind angemessen gefordert und unterstützt wird. Dies widerspricht der jahrhundertelangen Tradition mitteleuropäischer Bildungspolitik, die auf die Diversität der SchülerInnen stets mit Homogenisierung geantwortet und die PädagogInnen damit von innerer Differenzierung und Individualisierung entbunden hat. Soll die Forderung der UN-Konvention nach einer inklusiven Schule Wirklichkeit werden, stehen mitteleuropäische Schulen und LehrerInnen vor der großen Aufgabe, in internen Qualitätsentwicklungsprozessen ihre Unterrichtsgestaltung weiterzuentwickeln. Der vorliegende Beitrag will dafür Qualitätskriterien aufzeigen.
Stichworte: Inklusion, inklusive Pädagogik, inklusive Didaktik, Heterogenität, heterogene Lerngruppen, Qualitätsentwicklung
Inhaltsverzeichnis
Inklusion meint, dass jedes Kind, insbesondere auch sozial benachteiligte SchülerInnen, besondere Fähigkeiten hat. Aufgabe der Schule ist es, diese besonderen Fähigkeiten und die daraus resultierenden pädagogischen Bedarfe angemessen zu berücksichtigen, damit sich alle Kinder möglichst optimal zu autonomen, selbstsicheren und mündigen Personen entwickeln können, die ihre Fähigkeiten und Kompetenzen zu ihrem Wohle und dem Wohle der Gemeinschaft entsprechend einbringen.
Leider schreiben die stark hierarchisch gegliederten Schulsysteme im deutschsprachigen Raum trotz zwanzigjähriger Integrationspraxis noch immer eine weitgehend schichtenspezifische Wahrung von Bildungsprivilegien fort. PISA und Folgestudien (z.B.: Bacher 2007; Specht 2008, 9) zeigen klar auf, dass in gegliederten Schulsystemen die Bildungschancen maßgeblich von der sozialen Herkunft abhängen, die individuelle Förderung weniger gut gelingt und die Anzahl der RisikoschülerInnen höher ist als in Gesamtschulsystemen. Damit werden persönliche Lebenschancen vertan und Potentiale vergeudet. Teile der Bevölkerung werden durch Bildungsarmut von Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen. Gleichzeitig wird allen Kindern die Vielfalt der Gesellschaft in der Schule vorenthalten. Sie können so nicht lernen, respektvoll und konstruktiv mit den anderen umzugehen. Unsere Schulsysteme müssen daher als leistungsfeindlich und sozial ungerecht eingestuft werden. „Solange Lehrerinnen und Lehrer gezwungen sind, Kinder auf allen Stufen des Bildungssystems zu sortieren, solange die Klassen so groß sind wie sie sind, solange Schulen wenig selbständig arbeiten dürfen, solange wird bei vielen Lehrkräften ein Aussonderungsblick vorherrschen vor dem Willen, für jedes Kind Verantwortung zu übernehmen und kein Kind zurückzulassen“ (Deppe‐Wolfinger 2008, o.S.). Wer dies ändern will, muss Schule von Grund auf neu, nämlich wirklich inklusiv, denken und strukturell neu ordnen. Mit bloßem Etikettenwechsel ist es jedenfalls nicht getan.
Nur wenn sich die allgemeinen Schulen der Vielfalt aller SchülerInnen öffnen und sich didaktisch-methodisch verändern, kann individualisiertes Lernen in der Gemeinschaft mit allen ermöglicht werden. Meijer (vgl. 2005, 5f) fand in seinen Untersuchungen sieben Faktoren, die er als entscheidend für die Effektivität integrativen/inklusiven Unterrichts bezeichnet:
Geiling, Liebers & Prengel (2011, 12ff) formulieren in ihrem sehr empfehlenswerten Handbuch zur individuellen Lern-Entwicklungs-Analyse im Übergang sechs handlungsleitende Prinzipien:
Damit sich Schulen nachhaltig in diese Richtung verändern und zu inklusiven Schulen entwickeln, müssen auf allen Ebenen entsprechende Transformationshandlungen gesetzt werden:
Politik und Gesellschaft sind gefragt, ein klares Bekenntnis zur Inklusion zu setzen. „Die Regierungen sollten eine nachdrückliche Politik der Förderung von Integration/Inklusion zum Ausdruck bringen und im Hinblick auf deren Umsetzung allen am Bildungssystem Beteiligten klar und deutlich vermitteln, welche Ziele sie mit dieser Bildungspolitik verfolgt“ (European Agency 2003, 6).
Die Schulbehörden und -erhalter haben die für eine qualitätsvolle Umsetzung notwendigen Rahmenbedingungen bzgl. der materiellen und personellen Ressourcen Sorge zu tragen.
Die Eltern, aber auch die SchülerInnen, sind als wichtige Partner mitverantwortlich für eine Kultur des Miteinanders.
Die Schule selbst hat zu gewährleisten, dass sich alle Kinder optimal innerhalb der Gemeinschaft entwickeln und bilden können. Neben positiven Einstellungen ist bei den Lehrkräften die Entwicklung eines Zugehörigkeitsgefühls, ausreichend Zeit zur Reflexion und die Erwerbung angemessener pädagogischer Kompetenzen dafür Voraussetzung (vgl. Meijer 2005, 30f). Auch die entsprechende didaktische Gestaltung des Unterrichts liegt in der Verantwortung der LehrerInnen.
Inklusiver Unterricht kann nur dann erfolgreich sein, wenn versucht wird, der Heterogenität aller SchülerInnen durch umfassende didaktisch-methodische Maßnahmen gerecht zu werden. Ein qualitativ guter inklusiver Unterricht muss ein offener und schülerzentrierter Unterricht sein, was auch ein neues Verständnis der LehrerInnenrolle bedingt. So sind inklusive LehrerInnen nicht hauptsächlich WissensvermittlerInnen, sondern vor allem UnterstützerInnen, Coach der SchülerInnen bei deren persönlichen und individuellen Entwicklung innerhalb der sozialen Gemeinschaft. Ihre Aufgabe besteht nicht hauptsächlich darin, den Kindern vorgefertigte Antworten auf nicht gestellte Fragen zu servieren. Vielmehr geht es darum, Freiräume zu schaffen, in denen die Kinder Antworten auf eigene Fragen durch kritische Auseinandersetzung mit der Welt finden können. Probleme wie unterschiedliche Aufmerksamkeit, unterschiedliches Arbeitstempo, Bewegungs- und Kommunikationsbedürfnis der Kinder sollten nicht als störende Faktoren zu eliminieren versucht, sondern als individuelle Lernbedingungen betrachtet und so in die Unterrichtsarbeit miteinbezogen werden, dass alle SchülerInnen sich erfolgreich auf ihrem Niveau weiterentwickeln können.
Die wichtigsten Qualitätsprinzipien inklusiven Unterrichts schlagwortartig zusammengefasst lauten:
Ein qualitativ guter inklusiver Unterricht baut also im Wesentlichen auf der Idee der Heterogenität auf und steht so im Gegensatz zur Idee der Homogenisierung, welche die Bildungssysteme im deutschsprachigen Raum prägte und in der Praxis noch immer prägt. Mit der Anerkennung der Heterogenität einhergehen muss die Anerkennung der SchülerInnen als bio-psycho-soziale Entitäten, die sich vor allem durch aktives und kooperatives Lernen die Welt auf der Basis ihrer jeweiligen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsstruktur aneignen. Äußere Differenzierungsmaßnahmen reduzieren dabei die potentiellen Möglichkeiten und sind somit eher hinderlich als förderlich. Dementsprechend ist auch einem didaktischen Reduktionismus entgegenzuwirken, der sich unter anderem in schulformenspezifischen Lehrplänen und Klassenwiederholungen ausdrückt. Vielmehr geht es darum, den gemeinsamen Lerngegenstand in Bezug auf die den jeweiligen individuellen Entwicklungen entsprechenden Lernziele und Lernwege (= Methoden, Medien, Zeiten, Hilfestellungen) zu individualisieren. Dazu bedarf es einer pädagogischen Diagnostik und alternativer Formen der Leistungsrückmeldungen wie z.B. mündliche Beurteilung, Pensenbuch, Direkte Leistungsvorlage oder Entwicklungsbericht.
Letztendlich geht es damit um eine Öffnung des Unterrichts in inhaltlicher, methodischer, zeitlicher, räumlicher, sozialer und personaler Hinsicht. Da weder in Österreich noch in der Schweiz oder Deutschland inklusive Schulsysteme vorhanden sind, sondern äußere Rahmenbedingungen des selektionsorientierten Schulsystems wie schularten- und jahrgangsbezogene Lehrpläne, Klassenarbeiten, Fachunterricht als formales Organisationskriterium, Ziffernnoten, etc. berücksichtigt werden müssen, erscheint ein pragmatischer Weg sinnvoll, der auf folgende Fragen Antworten sucht und den Unterricht danach ordnet (vgl. Feyerer/Prammer 2003, Kapitel 4):
Wie schafft man es, den SchülerInnen individuelle Angebote zu machen und dabei allen gerecht zu werden, den hoch begabten genau so wie jenen, die noch viel Hilfe und Unterstützung brauchen?
Methodisch betrachtet liegt die Antwort darauf auf der Hand: Wochenplanaufgaben und Freiarbeit.
Wie bringen LehrerInnen, die ja auch gerne mal etwas erklären und „Stoff“ vortragen wollen, es zu Stande, diesen Anspruch zu verwirklichen? Wie sichert man die Erfüllung der Lehrplananforderungen in den einzelnen Fächern?
Gebundene Stunden ist die Antwort darauf. Gebunden in dem Sinne, dass man sich an einem bestimmten Inhalt orientiert und diesen gemeinsam mit den SchülerInnen erarbeitet. Das ist bei weitem kein Frontalunterricht, der ja manchmal so abschätzig behandelt wird. Es ist ein Unterricht, der die Konzentration aller auf eine Person und einen Inhalt legt. Das kann jetzt eine Schülerin/ein Schüler sein, die/der die Klasse beim Musizieren dirigiert und die Einsätze gibt, das kann aber auch eine Lehrerin/ein Lehrer sein, die/der eine Versuchsanordnung zum eigenständigen Nachmachen, einen kognitiven Inhalt oder diverse Sachzusammenhänge und Arbeitsabläufe erklärt.
In diesen drei Formen des Unterrichts findet zwar Begegnung statt, sind Möglichkeiten zum gemeinsamen Tun und zum sozialen Austausch gegeben, aber:
Wie wird das gemeinsame Lernen am gemeinsamen Gegenstand, das ja das Fundamentum der inklusiven Pädagogik darstellt, realisiert?
Zur Beantwortung dieser Frage muss man sich auf den Projektunterricht konzentrieren. Dieser sollte von Anfang an nicht ein einmaliges oder zweimaliges Ereignis während eines Schuljahres sein, sondern eine alltägliche Arbeitsform des schulischen Lernens. Wichtig dabei ist, gemeinsam mit den SchülerInnen Inhalte zu finden und gemeinsam die Lernschritte zu planen und reflektieren, damit der Unterricht in Projekten wirklich als gemeinsames, kooperatives Lernen verstanden werden kann.
Wie können einzelne SchülerInneninteressen, die im gemeinsamen Projektunterricht nicht Platz finden, berücksichtigt werden?
Um den SchülerInnen die Auseinandersetzung mit persönlichen Spezialthemen zu ermöglichen, aber auch um ihnen die notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten zum selbstständigen Erstellen eines längeren Sachtextes zu vermitteln, ist die individuelle Fachbereichsarbeit - zumindest ab der Sekundarstufe 1 - sehr gut geeignet.
Insgesamt schafft man mit diesen fünf Unterrichtsformen den Spagat zwischen selektionsorientierten Rahmenbedingungen und den Ansprüchen eines gemeinsamen Unterrichts sehr gut und kann damit alle SchülerInnen optimal fördern und auf die weitere Lebens- und Berufslaufbahn vorbereiten. In einer inklusiven Schule wären diese Formen noch leichter umsetzbar und durch klassenübergreifende Aktivitäten zu ergänzen.
Mit Krawitz (1997) sollen hier elf pädagogische Prinzipien als Maßstab für inklusionstaugliche Didaktikmodelle aufgelistet werden, an dem sich jedes inklusionstaugliche Didaktikmodell messen sollte:
Inklusive Pädagogik und Didaktik stellt also das autonome und selbstbestimmte Handeln der Kinder und die Vielfalt verschiedenster Zugänge auf ein gemeinsames Thema oder Anliegen in den Mittelpunkt. Erst durch die Begegnung und Auseinandersetzung mit den vielfältigen Lebenswelten erschließt sich die Welt insgesamt und dabei ist keine Lebensbedingung weniger wert als eine andere. Noch sind Schule und Kindergarten in den deutschsprachigen Ländern sehr lehrerInnenzentriert und defizitorientiert. Es werden nicht die Stärken positiv, sondern die Fehler und Schwächen negativ hervorgehoben. Manchmal wird daher von einer „Beschämungspädagogik“[1] gesprochen. Inklusive Pädagogik versteht sich dazu als schülerInnenzentriertes und kompetenzorientiertes Gegenkonzept, das abschliessend mit folgenden Aussagen kurz und prägnant charakterisiert werden soll:
Wir diskriminieren keine/n!
Wir benachteiligen keine/n!
Wir beschämen keine/n!
Wir brauchen jede/n!
Daher
stärken wir jede/n,
klären wir die Sachen,
gemeinsam und in gegenseitiger Achtung und Würde!
Bacher, Johann (2007): Effekte von Gesamtschulsystemen auf Testleistungen und Chancengleichheit. In: WISO, 2, S. 16-34
Deppe-Wolfinger, Helga (2008): Von der Ausgrenzung zur Inklusion – Wer oder was ist normal im Bildungswesen? http://bidok.uibk.ac.at/library/deppe-wolfinger-ausgrenzung.html [Eingesehen am: 23.07.2012]
European Agency (Hrsg.) (2003): Sonderpädagogische Förderung in Europa. Thematische Publikation, Brüssel: European Agency for Development in Special Needs Education
Feyerer, Ewald/Prammer, Wilfried (2003): Gemeinsamer Unterricht in der Sekundarstufe I. Anregungen für eine integrative Praxis, Weinheim/Basel/Berlin: Beltz
http://bidok.uibk.ac.at/library/feyerer-unterricht.html [Eingesehen am: 22.07.2012]
Geiling, Ute/Liebers, Katrin/Prengel, Annedore (2011): Handbuch ILEA T. Individuelle Lern-Entwicklungs-Analyse im Übergang, Halle: Martin-Luther-Universität
Krawitz, Rudi (1997, 3.Aufl.): Pädagogik statt Therapie, Bad Heilbrunn: Klinkhardt
Meijer, Cor J.W. (2005): Integrative und inklusive Unterrichtspraxis im Sekundarschulbereich. Zusammenfassender Bericht, Brüssel: Europäische Agentur für Entwicklungen in der sonderpädagogischen Förderung
http://www.european-agency.org/publications/ereports/inclusive-education-and-classroom-practice-in-secondary-education/iecp_secondary_de.pdf [Eingesehen am: 21.07.2012]
[1] z.B. Gesine Schwan, http://www.spd-badoeynhausen.de [23. Mai 2010]