Möglichkeiten der Unterstützung von Lernen und Entwicklung in inklusiven Klassen am Beispiel von Schülerinnen und Schülern mit umfassenden Beeinträchtigungen [1]
Abstract: Mit diesem Beitrag zur inklusiven Bildung sollen verschiedene Konzepte und Instrumentarien inklusiver Praxis vorgestellt werden, die sich bewährt haben und geeignet sind, Schülerinnen und Schülern mit umfassenden Beeinträchtigungen ein gutes Bildungsangebot zu sichern. Neben einer Übersicht sollen Praxisbeispiele zu Handlungskompetenzen verhelfen bei Herausforderungen, die sich vielen Lehrer/innen dann stellen, wenn sich ihre Schulen den Vorstellungen inklusiver Bildung öffnen.
Die unterschiedlichen Vorgehensweisen bei Diagnostik, Planung und Unterstützung von Lernen werden entlang der Prinzipien von Barrierefreiheit und Teilhabe diskutiert, also daraufhin überprüft, welche Barrieren sie für inklusive Lebensweisen darstellen oder welche Möglichkeiten der Teilhabe sich aus einer Vorgehensweise ableiten lassen.
Stichworte: Prinzipien inklusiver Lern- und Entwicklungsplanung, Diagnostik im Kontext von Dialog und Umweltbeziehungen, Planung, Barrierefreiheit, Teilhabe, Peers, inklusive Schulentwicklung
Inhaltsverzeichnis
Die Umsetzung inklusiver Lebens- und Bildungskonzepte wird begleitet von Entwicklungen für eine geeignete Praxis, die den Anliegen dieser Reformbewegung gerecht werden sollen. Oft handelt es sich dabei, ähnlich wie bei den Unterrichtsangeboten für einen integrativen Unterricht in den 90er Jahren, nicht um „didaktische Neukonzeptionen“ sondern eher um „erprobte offene Unterrichtsformen und reformpädagogische Ansätze“, die inzwischen als Standard für guten Unterricht gelten, obwohl sie einige Anliegen inklusiver Bildungskonzepte nicht erfüllen können (vgl. Seitz 2006).
Auch mit diesem Beitrag zur inklusiven Bildung wird keine wirklich neue Praxis vorgestellt. Es werden vielmehr Konzepte und Instrumentarien gezeigt, die sich ganz allgemein für inklusive Lebensweisen bewährt haben und die zugleich ständig weiter entwickelt werden. Viele dieser Angebote stammen ursprünglich aus dem angloamerikanischen Raum. Das erklärt möglicherweise deren optimistischen und pragmatischen Tenor, der Selbstbestimmungsrechte in den Vordergrund stellt, Peers einbezieht, auf Netzwerkeffekte setzt, dialogisch orientiert ist und sich bestens dazu eignet, allen Beteiligten an diesen Prozessen Mut zu machen. Zugleich befördern alle Angebote inklusive Entwicklungen, auch weil sie sich recht gut in bereits bestehende Bildungs- und Unterstützungssysteme implementieren lassen.
Im Folgenden sollen verschiedene Möglichkeiten einer inklusiven Praxis vorgestellt werden, die geeignet sind, Schülerinnen und Schülern mit umfassenden Beeinträchtigungen ein gutes Bildungsangebot zu sichern und Lehrerinnen und Lehrern an inklusiven Schulen geeignete Handlungskonzepte anzubieten. Zugrunde gelegt wird hier der Behinderungsbegriff der ICF[2], der Behinderung als „negative Wechselwirkung zwischen einer Person und ihren Kontextfaktoren in Bezug auf ihre Funktionsfähigkeit oder auf ihre Teilhabe an einem Lebensbereich“ definiert. Die folgenden Praxisangebote werden daher in Zusammenhängen von Barrierefreiheit und Teilhabe diskutiert (vgl. Schunterman 2002).
Die Formulierung ‚Schülerinnen und Schüler mit umfassenden Beeinträchtigungen’ wird hier für ein komplexes Phänomen verwendet, bei dem Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit mehreren unterschiedlichen, angeborenen oder erworbenen Schädigungen und Funktionsbeeinträchtigungen leben. Als Ursache dafür sind hirnorganische Verletzungen oder Veränderungen anzunehmen, die z.B. durch biologische Unreife, Sauerstoffmangel, genetische Zufälle, Vergiftungen, Erkrankungen oder durch äußere Gewalt zustande kommen können. Schwere hirnorganische Schädigungen können vor, während oder nach der Geburt, aber auch jenseits der frühen Kindheit, in jedem Lebensalter, erworben werden. Dadurch können die Sinnes- oder Umweltwahrnehmungen, die Motorik, die Sprache und Kommunikation oder die Lernfähigkeiten umfassend beeinträchtigt werden. Die Folgen solcher hirnorganischen Läsionen können sehr unterschiedlich in ihren Ausprägungen sein und sind jeweils schwer einzuschätzen.
Wie sehr Kinder, Jugendliche oder Erwachsene durch solche Lebensbedingungen tatsächlich behindert werden, ist vor ihrem gesamten Lebenshintergrund zu sehen. Umweltfaktoren oder auch personenbezogene Faktoren können eine wesentliche Rolle bei den Folgen oder beim Erscheinungsbild einer schweren Schädigung oder Funktionsbeeinträchtigung spielen. Gemeint sind Faktoren der „materiellen, sozialen und verhaltensbezogenen Umwelt oder Eigenschaften und Attribute einer Person, z.B. Alter, Geschlecht, Ausbildung, Lebensstil, Motivation und genetische Disposition“ (vgl. Schunterman 2002).
Die Bezeichnung „Umfassende Beeinträchtigungen“ stammt aus Italien. Sie ist etwas weniger düster und schwer mehrfach belastet als andere, ähnliche Bezeichnungen, aber im Grundsatz genau so wenig aussagekräftig und - im Zusammenhang inklusiver Bildungsanliegen - ebenso nutzlos. „Inklusion verzichtet auf Etikettierungen der Schüler“ schreibt Hinz, „wobei die Unterschiede nicht ignoriert, sondern als normal wahrgenommen werden sollen. Dabei geht es um ein "Miteinander unterschiedlichster Mehr- und Minderheiten" (vgl. Hinz 2002). Hier dient diese Bezeichnung als Verständigung zu einer Minderheit, deren Individuen einerseits höchst unterschiedlich sind, besonders auch in ihren Bildungsinteressen, die aber auch einige gravierende Schädigungen oder Funktionsbeeinträchtigungen teilt, die sich als Barrieren auswirken können. Lehrerinnen und Lehrer sollten geeignete Unterstützungsangebote zur Teilhabe unter diesen Bedingungen kennen oder entwickeln können.
Im Gegensatz zu einer Orientierung an Vorannahmen zu den Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten bei bestimmten ‚Behinderungsbildern’, die eine unbefangene Einstellung blockieren könnten, ist der konsequente und ausschließliche Blick auf hemmende oder förderliche Faktoren besonders erfolgreich bei der Lernplanung. In Italien verwenden die Schulen dazu einfache Raster, die mit wenigen Fragestellungen den Stand der Dinge so, oder ähnlich, immer wieder erfragen:
Wie lassen sich die Wünsche, Bedürfnisse und Bildungsinteressen der Schülerinnen und Schüler entdecken?
Was können die Schülerinnen und Schüler bereits?
Was könnte ihre/seine weitere Entwicklung behindern?
Was könnte auf diesem Hintergrund die Phase der nächsten Entwicklung sein?
Wie sind ihre/seine sozialen Kontakte einzuschätzen?
Wie lässt sich ihre/seine Teilhabe in allen Lebens- und Lernbereichen unterstützen?
Welche Bedingungen sind dazu nötig? usw.
Solche und ähnliche Fragestellungen müssen nicht auf Schülerinnen und Schüler mit Beeinträchtigungen beschränkt bleiben. Sie lassen sich auf die unterschiedlichsten Lern- und Entwicklungssituationen anwenden und auf höchstem Niveau entwickeln.
Schülerinnen und Schüler mit umfassenden Beeinträchtigungen sind als Expertinnen und Experten der eigenen Situation anzusehen, auch dann, wenn sie sich lautsprachlich nicht mitteilen können oder wenn ihre Lebensäußerungen schwer zu entschlüsseln sind. Vieles zu Interessen, Lernstand und Entwicklung lässt sich bei gemeinsamen Aktivitäten erfahren, z.B. im Spiel, bei der Beobachtung der Kontakte der Mitschülerinnen und Mitschüler untereinander, aber auch bei Pflege und Versorgung. Besonders hilfreich sind dabei in aller Regel auch die Erfahrungen und Kenntnisse der Angehörigen oder die der Lehrpersonen und Therapeutinnen und Therapeuten vorangegangener Bildungseinrichtungen, die die Schülerin oder den Schüler gut kennen. Um Schülerinnen und Schüler, die mit derart schwierigen Lern- und Entwicklungsausgangslagen zu kämpfen haben, gut zu unterstützen, sind aber auch spezielle Fachkennt-nisse nötig. Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen, Beratungsstellen und allgemeine Pädagoginnen und Pädagogen müssen hier intensiv zusammenarbeiten, um die unterschiedlichen Möglichkeiten der Unterstützung im Unterrichtsalltag zu implementieren.
Um eine Vorstellung zu den besonderen Kenntnissen, die gemeint sein könnten, zu entwickeln, hier ein kurzer Einblick in ein sonderpädagogisches Fachgebiet, das Menschen mit schweren Sprech- und Kommunikationsbeeinträchtigungen und ihrem Umfeld Verständigungsmöglichkeiten aufzeigt. Das sich die Teilhabe am allgemeinen Leben durch verbesserte Kommunikationsmöglichkeiten signifikant steigern lässt ist naheliegend, aber auch sorgfältig erforscht. (vgl. Downing 1998; Light et al. 1998)
„Unterstützte Kommunikation“ ist als pädagogisches und didaktisches Konzept anzusehen, das Methoden, Strategien und externe Hilfsmittel anbietet, wenn die Verständigung so erheblich beeinträchtigt ist, dass Lernen, Entwicklung, Selbstdarstellung und Autonomie darunter leiden. Die Prinzipien Unterstützter Kommunikation lassen sich ausgesprochen gut mit den Prinzipien von Inklusion in Übereinstimmung bringen, weil in den Sprech- oder Kommunikationsbeeinträchtigungen dieser Minderheit allenfalls eine Barriere, aber kein unveränderliches Merkmal einer Behinderung gesehen wird. Verständigung wird grundsätzlich als gemeinsames Anliegen aller Gesprächsteilnehmerinnen und Gesprächsteilnehmer betrachtet. Das drückt sich z.B. im Prinzip der Kokonstruktion aus, bei der natürlich sprechende und unterstützt sprechende[3] Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner Verständigung gemeinsam entwickeln. Inklusive Settings bilden eine ideale Umgebung zur Förderung von Sprache und Entwicklung, wenn die Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner wissen, wie sich Kommunikation organisieren lässt. Schülerinnen und Schüler, die sich unterstützt verständigen, können sich in einem natürlich sprechenden, üblichen Umfeld als Teil einer Kinder- und Jugendkultur erleben, das sich besonders typisch in der Sprache ausdrückt. (vgl. Hömberg, 2003). Seit Kommunikationsmedien, wie Laptops, iPhones oder iPads Teil der allgemeinen Kommunikationskultur geworden sind, lassen sich alternative Verständigungsstrategien in schulischen Zusammenhängen besonders gut integrieren.
Der Abbau von Barrieren über passende didaktische Konzepte ermöglicht daher auch Schülerinnen und Schülern mit umfassenden Beeinträchtigungen erfolgreiche Teilhabe an allgemeinen Bildungsprozessen entlang ihrer besonderen Interessen und Bedürfnisse. Zu diesen besonderen Bedürfnissen gehört auch die Beachtung des körperlichen und seelischen Wohlbefindens – wie übrigens für alle Schülerinnen und Schüler. Bei Kindern und Jugendlichen mit körperlichen Beeinträchtigungen kann sich das z.B. auf Ernährung und Körperpflege oder eine geeignete Positionierung beziehen. Angebote zum barrierefreien Lernen und zur Teilhabe, unter den besonderen Bedingungen umfassender Beeinträchtigungen, bereit zu stellen, ist die Aufgabe aller Lehrpersonen - nicht ausschließlich die der Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen.
Trotz einiger spezieller Angebote, die eine inklusive Schule zuweilen für die Bedürfnisse einer Minderheit bereitstellen muss – grundsätzlich gelten das Anwenden üblicher Kriterien guter Schule auch für die Bedürfnisse von Schülerinnen und Schülern mit Beeinträchtigungen. Solche Kriterien sind z.B.: „Klare Strukturierung des Unterrichts, hoher Anteil echter Lernzeit, lernförderliches Klima, inhaltliche Klarheit, sinnstiftendes Kommunizieren, Methodenvielfalt, individuelles Fördern, intelligentes Üben, transparente Leistungserwartungen, vorbereitete Umgebung“ (vgl. Meyer, 2004).
Im Zusammenhang mit den Prinzipien einer inklusiven Lern- und Entwicklungsplanung sind bereits einige Voraussetzungen und Bedingungen für eine qualitätsvolle inklusive Praxis genannt worden. Dazu gehört eine gute Diagnostik, die den Kriterien inklusiver Sichtweisen Rechnung tragen muss. Das erfordert oft neue Konzepte in einem Bereich, der sich häufig an medizinischen Vorgehensweisen orientiert und noch häufiger ungeniert der Selektion oder der Ressourcenbeschaffung dient.
Simone Seitz zeigt Wege inklusiver Diagnostik auf, indem sie die Verflechtungen der Bedingungen, die Dynamik und die Ziele einer Diagnostik beschreibt, die fließender Anteil des Unterrichts sind: „Die (lernprozess-) diagnostischen Anteile werden damit zu einem integralen Teil des Unterrichts, denn die vielfältigen Lernausgangslagen verändern ihre Gestalt im Prozess der Auseinandersetzung mit einer 'Sache' (vgl. Koch-Priewe 1995). Es ist daher nicht das Ziel, über eine möglichst punktgenaue Diagnostik vorab zu bestimmen, welcher Zugang der Elementare und welcher für einzelne Kinder der individuell 'passende' sein könnte, sondern die diagnostischen Anteile direkt in einen offen strukturierten Unterricht zu implementieren.“ (vgl. Seitz 2006).
Ines Boban und Andreas Hinz haben bereits in den 90er Jahren mit dem „Diagnostischen Mosaik“ ein Modell vorstellt, das Problematiken oder Planungen im Kreis von engagierten Teilnehmerinnen und Teilnehmern im Sinne eines runden Tisches verhandelt und ebenfalls prozessbegleitend angelegt ist. Insgesamt erinnert das Modell an eine soziale Netzwerkanalyse, deren Zielperspektiven: Entwicklungsbegleitung, Partizipation, Empowerment und Lebensqualität sind. Es handelt sich dabei um eine Zusammenstellung von „unterschiedlichen Verfahren, die (selbst-) reflexive Prozesse anregen und Planungen für Perspektiven entwickeln“ Bei den Vorgehensweisen werden folgende Prinzipien genannt: „Betrachtet wird immer die gesamte Situation einschließlich der in ihr Handelnden – ohne Verengung auf das Problem einer einzelnen Person. (…) Subjektive Sichtweisen, Ängste, Wünsche, Hoffnungen und Ziele sind ausdrücklich zugelassen.(…) Diagnostik bedeutet hier nicht etwas Wahres und Vollständiges objektiv festzuhalten – sondern sich mit den Konstruktionen momentan bedeutsamer Realität auseinanderzusetzen.“ (vgl. Boban/ Hinz 1998). Anders als bei traditionellen Diagnostiken, werden hier die Erfolge gerade aus der Unterschiedlichkeit und der Offenheit der Ergebnisse abgeleitet.
In der Praxis eines inklusiven Unterrichts bei Schülerinnen und Schülern mit umfassenden Beeinträchtigungen haben sich auch Angebote zur Partizipationsplanung und zum Peertraining bewährt. Diese Modelle sind in ihren Anliegen und auch in der Praxis dem Diagnostischen Mosaik ähnlich – allerdings sind die Vorgehensweisen pragmatischer und weniger offen. Hier sollen klar definierte Ziele erreicht werden. Anliegen der beiden Konzepte sind die Implementierung Unterstützter Kommunikation und die Förderung guter Kontakte der Schülerinnen und Schüler untereinander.
Das Partizipationsmodell ist im angloamerikanischen Raum entwickelt worden und bietet gut strukturierte Strategien und Methoden zu Verständigung und Teilhabe an. Es ist ein systematisches Modell für die Planung, Durchführung und Evaluation von Angeboten im Bereich Unterstützter Kommunikation (vgl. Beukelmann/Mirenda 1998; Antener 2001; Braun/Kristen 2001).
Als Ziele sind zu nennen: Mehr Partizipation im Alltag und die Optimierung der kommunikativen Kontakte. Die Vorgehensweisen bestehen - sehr vereinfacht dargestellt - in der Identifizierung von Partizipationsmustern, dem Aufspüren von Kommunikationsbarrieren, der Entwicklung eines Interventionsplans und einer sorgfältigen Evaluation der Maßnahmen.
Dabei werden oft sehr ehrgeizige Ziele verfolgt, wie z.B.: Die Lehrpersonen verpflichten sich fünf (unterstützte und langsam formulierte) Redebeiträge in jeder Stunde zu berücksichtigen. Oder: Der Schüler erzählt gemeinsam mit einem Freund in jeder Hofpause einen Witz und nutzt dabei seine elektronische Sprechhilfe. Oder auch: Das Symbolsystem, das der Verständigung dient, ist allen bekannt usw. Derartige Planungen sind gut geeignet, um die Rederechte der unterstützt kommunizierenden Schülerinnen und Schüler zu sichern und ihnen Mut zu machen sich einzubringen. Zugleich soll das Umfeld lernen, die Rechte einer Minderheit zu respektieren. Die Vorgehensweisen lassen sich auch auf andere Partizipationsproblematiken anwenden.
Ein Peer-Training soll die Qualität und die Quantität der kommunikativen und interaktiven Kontakte unter den Schülerinnen und Schülern steigern. Verständigungs- und Kontaktschwierigkeiten sind nicht untypisch - besonders während der Pubertät. Es ist hilfreich diese schwierige Situation nicht als Problematik von Schülerinnen und Schülern mit Beeinträchtigungen oder als unsoziales Verhalten der Mitschülerinnen und Mitschüler zu beklagen, sondern als eine Aufgabe, deren Lösung oder Bearbeitung für alle Beteiligten interessant ist. Im Rahmen eines solchen Peer-Trainings können alle Kinder/Jugendlichen einer Gruppe oder Klasse lernen, sich in die Situation der je anderen einzufühlen. Ein Peer-Training muss dem jeweiligen Lebensalter der Kinder und Jugendlichen und ihren besonderen Interessen entsprechen. Die Pädagoginnen und Pädagogen in inklusiven Gruppen oder Klassen legen daher solche Übungen meist nicht instruktiv als „Training“ oder als Lehrgang an, sondern öffnen ein Lernfeld, das den unterschiedlichen Forschungsinteressen der Kinder und Jugendlichen zum Thema Verständigung Rechnung trägt. Inhalte solcher Angebote zum besseren Verständnis der je anderen Lebenssituation können z.B. sein: Wie ist es türkischer, deutscher, vietnamesischer Herkunft zu sein? Wie wohnt man dann? Was isst man dann? Welche Regeln gibt es? Oder eben auch: Wie geht es mir, wenn ich den ganzen Tag im Rollstuhl geschoben werde, wenn ich getragen, an-/ausgezogen werde oder intensive Hilfe beim Essen brauche? Rollenspiele oder andere praktische Übungen dazu können sehr vergnüglich sein und dennoch den gewünschten Empathieeffekt haben.
Als ‚Persönliche Zukunftsplanung’ bezeichnet Stefan Doose den methodischen Ansatz, „mit Menschen mit und ohne Behinderungen gemeinsam über ihre Zukunft nachzudenken, sich Ziele zu setzen und diese gemeinsam mit anderen konkret abzuarbeiten.“ (vgl. Doose 2007) Damit werden die Basis (inklusiv), die Vorgehensweise (gemeinsam) und die Zielrichtung (ergebnisorientiert) des Konzepts umrissen und von anderen Planungsstrategien, wie z.B. vom Konzept der Institutionellen Hilfeplanung, abgegrenzt.
Zukunftsplanungen richten sich oft auf die Bereiche: Beruf, Freizeit und Wohnen und alle Aspekte, die damit verbunden sein können, z.B.: Selbständig sein, Partnerin/Partner finden, Assistentinnen/Assistenten finanzieren, reisen können, angemessen entlohnt werden, usw. Bei Kindern geht es oft eher um eine Planung für die Angehörigen, selbst dann, wenn es um die Zukunft des Kindes geht. Zukunftsplanungen sind aber nicht notwendig auf diese Themen und auch nicht unbedingt auf Menschen mit Beeinträchtigungen ausgerichtet, sondern haben sich in allen wichtigen oder schwierigen Übergangssituationen des Lebens und bei allen Menschen bewährt.
Die knappe Beschreibung des Konzepts verrät nichts über die Attraktivität der Methoden, die Zukunftsplanungen so erfolgreich machen und über das besondere Gemeinschaftsgefühl, das so eine Planung in aller Regel zum Fest werden lässt. Zu diesen Methoden gibt es zahlreiche Veröffentlichungen und praktische Anleitungen mit umfangreichen Materialsammlungen.
Die folgende Darstellung kann nur einen Überblick dazu bieten: Voraussetzung für das Gelingen einer Zukunftsplanung ist die Übereinkunft, dass die Person, um deren Zukunft es geht, im Zentrum des Geschehens steht und alle Entscheidungen und Vorgehensweisen beeinflusst. Dieses Prinzip gilt auch bei Kindern oder bei Menschen mit schwersten Beeinträchtigungen. Grundlage jeder Planung sind ausschließlich die Fähigkeiten und Stärken einer Person.
Geplant wird im Rahmen eines Freundes- oder Unterstützerkreises, der sich zum Lösen von Problemen und zur Entwicklung von Perspektiven trifft. In diesem Kreis gilt die Meinung der beruflichen Expertinnen/Experten nicht mehr, als die der anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Die Vielfalt unterschiedlicher Sichtweisen und Kompetenzen wird außerordentlich geschätzt und als produktiv angesehen (vgl. Hömberg 2008).
Der Index für Inklusion kann ein erfolgreiches Instrument für die Erforschung der inklusiven Prozesse an der eigenen Schule sein. Das Instrumentarium wurde von Tony Booth und Mel Ainscow im Jahr 2000 am Centre for Studies on Inclusive Education (UK) entwickelt und ist von Ines Boban und Andreas Hinz zunächst an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg für den deutschen Sprachraum adaptiert worden. Inzwischen gibt es zahlreiche Versionen dazu, z.B. auch für den Bereich früher Bildung oder für die Förderung inklusiver kommunaler Entwicklungen. Es handelt sich dabei um eine Sammlung von Materialien, die z.B. Schulen im Prozess einer inklusiven Schulentwicklung unterstützen sollen, z.B. konkrete Vorschläge zur Gestaltung des Indexprozesses oder Beispiele für Fragebögen, die zur Unterstützung dieses qualitativ orientierten Entwicklungsprozesses herangezogen werden können. Dabei wird nur der strukturelle Rahmen vorgegeben. Inhalte, Schwerpunkte und Prioritäten werden von den Beteiligten bestimmt. Das Prinzip des Index für Inklusion besteht im Wechsel von der Ebene des einzelnen Kindes auf die Ebene einer ganzen Schule mit unterschiedlichen Anliegen, z.B. Ermutigung der Kolleginnen und Kollegen, Austausch und Nutzung vorhandenen Wissens über aktuelle Problemfelder des Lernens und der Partizipation, Unterstützung der Beteiligten bei der systematischen Prüfung aller Möglichkeiten Lernen und Partizipation zu verbessern, Entwicklung förderlicher inklusiver Praktiken und zur Anregung von Weiterentwicklung. Ziele sind z.B. die Schaffung förderlicher Schulgemeinschaften und die Verbesserung pädagogischer Angebote für alle durch inklusive Praxis. Damit trägt der Index für Inklusion zur Schaffung einer Kultur der Selbstevaluation und der Weiterentwicklung bei. (vgl. Boban /Hinz 2003).
Die Darstellung der Konzepte und Instrumentarien am Beispiel von Schülerinnen und Schülern mit umfassenden Beeinträchtigungen könnte möglicherweise zu der Annahme führen, dass hier doch wieder Förderprogramme für Schülerinnen und Schüler mit umfassenden Beeinträchtigungen gemeint seien. Tatsächlich lassen sich die beschrieben Vorgehensweisen für die Belange aller Mitglieder einer Schulgemeinschaft nutzen. So wäre z.B. ein „Peer-Training“ auch als Empathietraining z.B. bei Mobbing einsetzbar. Vorgehensweisen nach dem „Diagnostischen Mosaik“ könnten Schülerinnen und Schüler mit besonderen Begabungen ein angemessenes Unterrichtsangebot sichern und die Praktiken Unterstützter Kommunikation befördern grundsätzlich Verständigungsprozesse, z.B. bei Schülerinnen und Schülern anderer Herkunftssprachen. Ebenso können Partizipationsmodelle, Zukunftsplanungen oder der „Index für Inklusion“ inklusive Bildungskonzepte unterstützen.
Die vorgestellten Konzepte und Instrumentarien sollen zu Handlungskompetenzen verhelfen bei Herausforderungen, die sich vielen Lehrerinnen und Lehrern erstmals stellen, wenn sich ihre Schulen den Vorstellungen inklusiver Bildung öffnen. Zu allen Angeboten findet sich passende, auch deutschsprachige Literatur, oft auch im Internet. Diskussionsforen dazu bieten Fachtagungen, Studientage, Fort- und Weiterbildungen an.
Antener, Gabriele (2001): Das Partizipationsmodell in der Unterstützten Kommunikation. In: Boenisch, Jens & Bünk, Christof (Hrsg.), Forschung und Praxis der UK. Karlsruhe: von Loeper Literaturverlag, S. 263, 257 ff.
Beukelmann, David R./Mirenda, Pat (1998): Augmentative & Alternative Communication: Supporting Children & Adults With Complex Communication Needs, Baltimore: Paul H. BrookesBoban, Ines/Hinz, Andreas (1998): Diagnostik für Integrative Pädagogik. In: Eberwein, Hans & Knauer, Sabine (Hrsg.), Handbuch Lernprozesse verstehen. Wege einer (sonder-) pädagogischen Diagnostik. Weinheim: Beltz, S. 7-14
Boban, Ines/Hinz, Andreas (2003): Qualitätsentwicklung des Gemeinsamen Unterrichts durch den Index für Inklusion. In: BEHINDERTE, 4/5, S. 2-13
Booth, Tony/Ainscow, Mel/Kingston, Denise (2006): Index für Inklusion, Frankfurt am Main: GEW
Braun, Ursula/Kristen, Ursula (2001): Woran hakt es? Analysehilfe durch das Partizipationsmodell nach Beukelman/Mirenda. In: Unterstützte Kommunikation, 1/2, S. 6-10
Doose, Stefan (2007): I want my dream! – Persönliche Zukunftsplanung. Neue Perspektiven und Methoden einer individuellen Hilfeplanung mit Menschen mit Behinderungen.
http://bidok.uibk.ac.at/library/doose-zukunftsplanung.html#ftn.id3214358 [Eingesehen am: 17.07.2008]
Downing, June E. (1998): Including Students with Severe and Multiple Disabilities in Typical Classrooms, Baltimore/Maryland: Paul H. Brookes, 5-11, S. 129-146
Hinz, Andreas (Hrsg.) (1992): Schwerstbehinderte Kinder in Integrationsklassen. Bericht über eine Fachtagung, Marburg/Lahn: Lebenshilfe-Verlag, S. 109-125
Hinz, Andreas (2002): Von der Integration zur Inklusion - terminologisches Spiel oder konzeptionelle Weiterentwicklung? In: Zeitschrift für Heilpädagogik, 9, S. 354-361
Hömberg, Nina (2003): Wie Kinder sich verständigen lernen. Unterstützte Kommunikation im gemeinsamen Unterricht - ein Lernfeld für alle Kinder. In: Eberwein, Hans & Knauer, Sabine (Hrsg.), Behinderungen und Lernprobleme überwinden. Basiswissen und integrationspädagogische Arbeitshilfen. Stuttgart: Kohlhammer, S. 121-140
Hömberg, Nina (2008): Verständigungen über die Zukunft. Persönliche Zukunftsplanungen und Unterstützte Kommunikation. In: ISAAC-Gesellschaft für Unterstützte Kommunikation e.V. (Hrsg.), Handbuch der Unterstützten Kommunikation, Karlsruhe: von Loeper Literaturverlag, S.50-55
Koch-Priewe, Barbara (1995): Vorerfahrungen von Schülerinnen und Schülern im Unterricht. Skizzen eines Dilemmas am Beispiel des Sachunterrichts. In: Die Deutsche Schule, 1, S. 92-102
Light, Janice et al. (1998): Teaching Nondisabled Peers to Interact with Children Who Use AAC. The Pennsylvania State University 1998. Tagungsbeitrag: 8. ISAAC Conference, Dublin
Meyer, Hilbert (2004): Was ist guter Unterricht?, Berlin: Cornelsen
Schunterman, Michael, F. (2002): Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF), Berlin
http://www.deutsche-rentenversicherung-bund.de/
Seitz, Simone (2006): Inklusive Didaktik: Die Frage nach dem 'Kern der Sache. In: Zeitschrift für Inklusion-online, 1
www.inklusion-online.net/index.php/inklusion/article/view/15/15
[1]Der Text basiert auf einem Vortrag zum Fach Der Text basiert auf einem Vortrag zum Fachtag „Auf dem Weg zur Inklusiven Schule - Gemeinsam Lernen, Angebote zur Inklusion. Landesinstitut für Schule (LIS) Bremen, 23.02.2012
[2]ICF = Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit der WHO (vgl. Schunterman 2002)
[3]Unterstützt sprechend = sich mit Möglichkeiten Unterstützter Kommunikation mitteilen. Natürlich sprechend = sich ohne Unterstützung mitteilen.