Raphael Koßmann: Didaktik in der qualitativ-empirischen Unterrichtsforschung: eine Forschungsskizze für inklusiven Unterricht

Abstract: Im vorliegenden Beitrag wird eine Perspektive für qualitative Unterrichtsforschung skizziert, welche Unterricht als Zusammenhang von Lehre und Subjektivierungsprozessen vor dem Hintergrund der Klassenöffentlichkeit wahrnimmt: Mit welchen Unterstellungen werden die Schüler*innen didaktisch-fachlich adressiert? ‚Antworten‘ sie durchweg den Adressierungen adäquat oder lassen sich regelmäßige Diskrepanzen nachzeichnen? Welche Adaptionen und Binnendifferenzierungen erfolgen und welche Bedeutungen transportieren diese öffentlich? Letztlich geht es um das Fernziel, besser einschätzen zu können, welchen Beitrag schulischer Unterricht zur Persönlichkeitsentwicklung leistet, und die diesbezüglichen Mechanismen zu erkennen. Für konkrete Untersuchungen bietet sich dafür besonders der Blick auf inklusiven Fachunterricht an, welcher mit der hier skizzierten Perspektive auch die in der Theorie prominent gehaltene Trennung von Sonder- bzw. Inklusionspädagogik auf der einen und der ‚normalen‘ Didaktik auf der anderen Seite empirisch zu prüfen gestattet.

Stichworte: Unterrichtsforschung, Didaktik, Inklusion, zieldifferenter Unterricht

Inhaltsverzeichnis

  1. Individualisierung oder Downgrading für alle?
  2. Im Handlungsvollzug nahezu uneinholbar komplexe Syntheseleistung: didaktisches Handeln
  3. Didaktik als fortlaufende Bewährungsprobe von Hypothesen über die fachlich und sozial adäquate Adressierung von Individuen vor einem konkreten Klassenkontext
  4. Literatur

 

1. Individualisierung oder Downgrading für alle?

Zur Gestaltung eines zeitgemäßen, inklusiven Unterrichts ist es notwendig, dass Lehrkräfte und andere pädagogische Akteur*innen für bestimmte Dimensionen von Heterogenität sensibel sind, insb. in Bezug auf sozio-ökonomische, geschlechtsspezifische und migrationsbedingte Aspekte sowie bestimmte Beeinträchtigungen (Sturm, 2013). Zugleich darf in wissenschaftlicher Hinsicht als nicht ausreichend geklärt gelten, wie die pädagogischen Akteur*innen derartige Wissensbestände für den Unterricht sozialintegrativ nutzbar machen können. Besonders deutlich wird das an der Frage, ob und wie Heterogenitätsaspekte im Unterricht thematisiert werden können, ohne hierbei auch das Risiko nachteiliger Effekte für bestimmte Schüler*innen in Kauf zu nehmen (Eberz, 2013; Akbaba, Bräu & Furhmann, 2018; Koßmann, 2019b, S. 234-244). Ohne anzuzweifeln, dass im Unterricht sozialer Austausch gelingen kann, ist es für Inklusion auf sozialer Ebene im Unterricht notwendig, sich über dessen Strukturlogik bewusst zu sein. „Mit Parsons kann der strukturelle Kern der schulischen Sozialisation in der Erzeugung eines universell-unpersönlichen, leistungsorientierten Handlungsrahmens gesehen werden“ (Wernet, 2008, S. 239). Dies mag sich zunächst düster bzw. so gar nicht nach Inklusion anhören. Paradoxerweise darf aber angenommen werden, dass gerade darin auch Chancen zur „konsequente[n] Umsetzung des Prinzips der Nicht-Diskriminierung“ und damit zur „Inklusiven Bildung“ liegen (Biermann & Pfahl, 2016, S. 203). Denn im Unterricht hat jeder das Recht und damit die Chance, etwas fachlich Adäquates, Bildsames angeboten zu bekommen – und zwar, ohne zuvor private Aspekte über sich preisgegeben haben zu müssen oder gar selbst dadurch zum Medium des Unterrichts geworden zu sein, etwas über sich erzählen zu sollen. Die Spezifität der Schüler*innen-Rolle hat daher auch eine schützende Wirkung (Koßmann, 2019b, S. 73-74). In diesem Sinn bieten die fachlichen Vermittlungsprozesse im Unterricht besonders großes ‚Inklusionspotenzial‘, können aber ebenso durch plakative Leistungsdifferenzierung zu unübersehbaren Abwertungen führen (Akbaba & Bräu, 2019). Vielleicht führt der „Inklusive Anspruch“ vor dem Hintergrund der o. g. Strukturlogik von Unterricht zwangsläufig zu einem Spektrum mehr oder minder wünschenswerter Formen „interne[r] Exklusion“ (Bender & Dietrich, 2019, S. 46-47). Die Prozesse der Wissensvermittlung spielen hierbei eine Schlüsselrolle: nicht nur rein quantitativ, weil sie dem eigenen Anspruch nach das ‚Kerngeschäft‘ von Unterricht sind, sondern aufgrund ihrer zwischen Subjekt und Gesellschaft vermittelnden Qualität. Wie sich dies in empirischen Studien von Prozessen inklusiven Unterrichtens systematisch in den Blick nehmen lässt, wird im Folgenden skizziert.   
Tagtäglich steht die Lehre, die eine Lehrkraft – oder auch ein multiprofessionelles Team – zu gestalten hat, vor der Aufgabe, möglichst alle Schüler*innen der konkreten Klasse ‚im Boot‘ zu behalten. Hierzu geben quantitativ-empirische Unterrichtsstudien einen Eindruck von der fachleistungsbezogenen Heterogenität, die in den einzelnen Jahrgängen und bereits auf Ebene der konkreten Klassen vorliegt (s. u.; insb. Scharenberg, 2012, S. 164-166; aber auch: Gröhlich, Scharenberg & Bos, 2009; Vennemann, 2019; Koßmann, 2020). Auch zahlreiche qualitativ-empirische Befunde zeigen, dass der Unterricht vor die Aufgabe gestellt ist, eine insb. bzgl. ihrer Leistungsfähigkeit und Vorwissensstände sehr heterogene Schülerschaft gemeinsam in einem Fach zu unterrichten, und: dass diese Aufgabe oft dadurch bewerkstelligt wird, indem die Leistungsansprüche an einem auf die jeweilige Lerngruppe bezogen eher geringen Niveau ausgerichtet werden.
So hat etwa Wenzl (2012) gezeigt, dass bestimmte schülerseitige Fragen, die inhaltsbezogen und zugleich in besonderem Maß inhaltserschließend sind, problemlos mit verschiedenen Strategien aus dem unterrichtlichen Diskurs bzw. Verlauf lehrerseitig ausgeschlossen werden. Und von den zahlreichen Unterrichtstranskripten (280), welche im Rahmen des großangelegten Projekts PAERDU – Pädagogische Rekonstruktionen des Unterrichtens – untersucht wurden (Gruschka, 2013, S. 9), ist es lediglich eine Unterrichtsstunde, in welcher in didaktischer Hinsicht der für ein Fach dargebotene Inhalt nicht bereits im Vorfeld durch die Aufgabenstellung zugeschnitten, überformt oder gänzlich verstellt, sondern gemeinsam eine „Arbeit an der Erkenntnis“ betrieben wurde (ebd., S. 201-206 u. 223-224). Auch Pollmanns (2018) spricht davon, dass die einem Fach zugrundeliegende Methodik der Erkenntnisgewinnung keinesfalls im entsprechenden Fachunterricht transparent gemacht werden muss, sondern als Stellvertreter hierfür i. d. R. „Merken“ bzw. Auswendiglernen ausreicht (Pollmanns, 2018, S. 263-267). Insbesondere dann, wenn eher prekäre soziale Hintergründe in einer Klasse vorliegen (oder auch nur vermutet werden), kann es schnell zu einem „Downgrading“ des Inhaltsniveaus kommen, wie Kabel (2019) es in Fallstudien nachgezeichnet hat. Es geht dann schlicht darum, lieber ein – lose über ein Thema verbundenes – sozialintegratives Miteinander zu veranstalten, als jemanden ‚abzuhängen’. Dieselbe Tendenz, m. E. nochmal gesteigert, lässt sich im Unterricht an der Förderschule Lernen beobachten; d. h. in Klassen, in denen ausschließlich Schüler*innen unterrichtet werden, welchen ein sonderpädagogischer Förderbedarf im Lernen zugeschrieben worden ist: Auch dort scheint es i. d. R. eine Ausrichtung an einem selbst für diese Gruppen basalen Niveau zu geben und zugleich wird lehrerseitig i. d. R. nicht an die klassenöffentlich von Schüler*innen gezeigten Bildungsimpulse angeschlossen (Koßmann, 2019b, S. 256-274; Koßmann, 2019a). Die Befunde scheinen sich also über die Schulformen und Leistungsniveaus nicht prinzipiell zu unterscheiden. Es erscheint dies auch nicht weiter verwunderlich: Denn es macht aus ganz praktischen Gründen wenig Sinn, mit einer Gruppe unterschiedlich ‚schneller Läufer*innen‘ tagtäglich ein Training zu veranstalten, bei dem z. B. 80% der Gruppe abgehängt würden.
Alle ‚im Boot’ zu behalten, scheint also wenigstens für das pädagogische Alltagsgeschäft im Vordergrund zu stehen. Zugleich darf die Veranstaltung nicht offen als indifferent gegenüber den zu lehrenden Inhalten wahrgenommen werden. Gleichwohl hat sich gerade im Zuge der Reform zur inklusiven Schule durch die gemeinsame Unterrichtung von Schüler*innen mit und ohne sonderpädagogische Förderbedarfe, zumindest nominell, die Heterogenität in den Klassen nochmal erhöht. Durch die Reform zur inklusiven Schule werden nun vielerorts auch Schüler*innen mit den sonderpädagogischen Förderbedarfen Lernen und geistige Entwicklung mit in den regulären Klassen – zieldifferent – beschult. Der Begriff der Zieldifferenz ist nur vage umrissen; positiv als Recht für die Schüler*innen mit diesen beiden Förderbedarfsarten auf individuell angepasste Lehre und Prüfungen, teils mit Bezug auf eigene Curricula. Oft bedeutet er aber schlicht eine irgendwie geartete Erleichterung im Vergleich zur Mehrheit (der zielgleich Unterrichteten) in der konkreten Klasse. Eröffnet wird mit dieser rechtlichen Grundlage bzgl. der Lehre jedenfalls ein zusätzlicher, riesiger Spielraum (Koßmann, 2019b, S. 34-40).
Bei alle dem – nicht nur, aber vermutlich zugespitzt erkennbar in Bezug auf die als „zieldifferent“ adressierten Schüler*innen – stellt sich damit ‚einfach‘ die Frage danach, wie Lehrkräfte(-teams) tagtäglich die Aufgabe der Differenzierung bewältigen. Hierbei wird der hohe Anforderungsgrad ausdrücklich anerkannt, den das Unterrichten von größeren und insb. stark heterogenen Lerngruppen mit sich bringt, und werden die damit einhergehenden sozialintegrativen Anstrengungen der pädagogischen Akteure in Rechnung gestellt. Indes gilt es nüchtern zu prüfen, ob und inwiefern die sozialintegrativen Tendenzen – gerade im Hinblick auf Praktiken im individualisierten bzw. binnendifferenzierten Unterrichten – mit fachlicher Vermittlung zusammenhängen, ihr vielleicht sogar zuwiderlaufen, welche Adressierungen diesbezüglich öffentlich erfolgen und komplementär dazu wenigstens ansatzweise einzuschätzen, wie das Geschehen von Schüler*innenseite aufgefasst wird.

 

2. Im Handlungsvollzug nahezu uneinholbar komplexe Syntheseleistung: didaktisches Handeln

Für die meisten sozialen Handlungen dürfte gelten, dass sie nicht ‚voll aufgeklärt‘ stattfinden (Wernet, 2009, S. 18). Grob gesagt sind unsere Kommunikations- und Umgangsweisen zu vielschichtig, komplex und voraussetzungsreich; zumindest um sie während des Handlungsvollzugs durchgehend und in Gänze erfassen zu können. Nicht selten dürften uns nicht einmal unsere eigenen Intentionen voll transparent sein (ebd.). Dennoch findet das ‚echte Leben‘ statt: und zwar unter der Gleichzeitigkeit von „Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung“ (Oevermann, 2002, S. 11; Oevermann, 1993). Klassenöffentlichen, zumal verpflichtenden, Unterricht zu veranstalten, darf mit Sicherheit zu einer der sozialen Situationen gezählt werden, in denen das Handlungstempo überdurchschnittlich hoch ist und die Situationen, auf die reagiert werden muss, sehr unterschiedlich sein können. Zugleich sind aber besondere Ansprüche an die Legitimität des eigenen Handelns gerichtet. Die klassische, didaktisch-präskriptive Denkform und ihre mittels Lehr-Lernforschung aktualisierten Nachfolger kommen hier ihrer Funktion nach (Koßmann, eingereicht): Wissen und damit Routinen bereitzustellen, von denen angenommen werden kann, dass sie für ‚das Lernen‘ jedes Einzelnen positiv sind, ohne je immer erst die gesamte Situation und ihre Erfordernisse erschlossen haben zu müssen. Dies bedingt, dass dem präskriptiv-didaktischen Denken insb. in seiner für die Unterrichtsplanung gängigen Form (etwa Meyer, 2010) eine massiv komplexitätsreduzierende Funktion zukommt, um es gerade Lehramtseinsteiger*innen zu erleichtern, die Komplexität der sozialen Situation Unterricht spezifisch ignorieren zu können.
In der Folge hiervon sind die Begriffe, Werkzeuge und Ideen der präskriptiv ausgerichteten didaktischen Denkform – verglichen mit gängigen sozialwissenschaftlichen Ansätzen (Idel & Meseth, 2018) – i. d. R. unscharf. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die didaktische Denkform, mit wenigen Ausnahmen, gerade in der qualitativen Forschung gemieden wird. So sparen die äußerst lehrreichen Studien, etwa nach dem Muster von Rabenstein & Reh (2013), aber auch Merl (2019), didaktische Fragen zumeist aus und an anderer Stelle werden z. B. nicht lehrerseitige fachliche Bearbeitungsprozesse, sondern diesbezügliche Peer-Interaktionen ins Auge gefasst (z. B. Bennewitz, Breidenstein, Kramer, Kruse, Ritter & Tyagunove, 2018). Einer der wenigen Ansätze, in dem explizit die „Nebenwirkungen jenseits didaktischer Absichten“, am Beispiel der didaktischen Maxime des Lebensweltbezugs, an Unterrichtsprotokollen nachgezeichnet werden, ist der von Akbaba, Bräu und Fuhrmann (2018). Aber nicht erst dort, wo ein ganz bestimmtes didaktisches Leitbild verfolgt wird, können sich systematisch Nebenwirkungen entfalten. Die Tendenz hierzu scheint vielmehr wesentlich für das gesamte schulunterrichtliche Setting zu sein. Um dies zu verdeutlichen, sei ein näherer, aber sehr pointierter Blick auf die Kernoperation von ‚Didaktik‘ geworfen und dargelegt, warum sich gerade durch die gleich aufgezeigten Implikationen insb. für den inklusiven bzw. gemeinsamen Unterricht damit ein für qualitativ-empirische Unterrichtsforschung interessantes Feld eröffnet.
Andreas Gruschka bringt das Kernproblem folgendermaßen auf den Punkt:
„Das, was jeder Didaktiker in seiner Präsentation der Inhalte zu leisten hat, ist […] äußert anspruchsvoll. Die Sache muss im didaktischen Prozess die Sache bleiben und sie darf doch nicht einfach nur die Sache sein, weil sie auf diese Weise nicht als vermittelbar erscheint: Es geht also darum, die Gegenstände der objektiven Welt so zu transformieren, dass sie rasch, angenehm und gründlich gelernt werden können, ohne dass deswegen die Gegenstände sich in Schulwissen verflüchtigen würden.“ (Gruschka, 2002, S. 110)
Es geht hier um den Sachverhalt, der im Studium und spätestens im Vorbereitungsdienst jeder werdenden Lehrkraft unter den Termini „Didaktische Reduktion“, „Didaktische Transformation“ und teils auch „Didaktische Analyse“ begegnet (z. B. Gonschorek & Schneider, 2010, S. 157); in einem Satz:
„Somit fragt die didaktische Analyse nach dem Bildungsgehalt eines Stoffes im Hinblick auf die Lerngruppe und strebt an, dass der in einer Sachanalyse fachwissenschaftlich erarbeitete Inhalt entsprechend reduziert bzw. transformiert wird, ohne dass der Inhalt durch diesen Prozess verfälscht wird.“ (Saalfrank, 2017a, S. 60)
Irgendwie ist es jedem klar, dass das, was in der Schule gelehrt wird, sich am aktuellen Stand wissenschaftlich gewonnener Erkenntnis zu orientieren hat. Zugleich erscheint es wenig Erfolg versprechend, jeder Lerngruppe deshalb alle möglichen, aktuellen ‚paper‘ aus einschlägigen Fachzeitschriften vorzulegen. Von daher ist es eine wesentliche Arbeitserleichterung im Sinne der Komplexitätsreduktion für Lehrkräfte (ohne welche diese wohl kaum alle die geforderten didaktischen Fragen für so viele Schüler*innen und Wochenstunden Fachunterricht zu bearbeiten in der Lage wären), dass es in jedem Bundesland eigene Lehrpläne für jede Schulform, jedes Fach und fast jede Klassenstufe gibt sowie eine daran anschließende, hochgradig ausdifferenzierte Lehrmittelindustrie. Die Kluft zwischen der schieren Menge an Präpariertem und der vergleichsweise minimalen Vorbereitungszeit, die jeder Lehrkraft bleibt, könnte mit ein Grund dafür sein, dass die Nichtidentität von Unterrichtsgegenstand und ‚dem Gegenstand der objektiven Welt‘ sowohl in der Praxis als auch der Unterrichtsforschung vergleichsweise wenig beachtet wird (für Ausnahmen sie Martens et al., 2018 und insb. die Studien im Kontext von PAERDU).  
Trotz des o. g. Wissens um den Sachverhalt der „didaktischen Transformation“ und des Umstands, dass diese Transformation mitsamt einer Begründung ihrer Sinnhaftigkeit viele Male von werdenden Lehrkräften geübt worden sein muss, wird noch immer gängigerweise im didaktischen Dreieck von ‚Lehrer, Schüler Gegenstand‘ gesprochen (z. B. Reusser, 2008, S. 225; Gonschorek & Schneider, 2010, S. 203; Huwediek, 2019, S, 34; Stebler & Reusser, 2017, S. 256) – als wäre der Gegenstand ‚einfach so da‘.
Mit letzterem Sachverhalt hat sich Gruschka ausführlich auseinandergesetzt (ders., 2002, insb. Kapitel 3) und folgendes, alternative Schema entworfen:


Abbildung 1: Nachbildung von Gruschkas „Schema Pyramide“ aus: ders. 2002, S. 121

Das Schaubild ist in vielerlei Hinsicht erhellend, insb. dann, wann man die Idee eines Bildungsprozesses im Sinne von Humboldts „freiester Wechselwirkung“ zwischen Subjekt und Objekt mit der Idee von Wissensvermittlung kontrastiert, wie sie mit dem didaktischen Dreieck ungleich mehr verdunkelt als veranschaulicht wird (siehe hierzu ausführlich ebd.). Jedenfalls arbeitet Gruschka in diesem Kapitel und mit dem darin abschließenden Schaubild vor allem der Freilegung des o. g. Sachverhalts zu:
„Das Schema sondert Objekt und Unterrichtsgegenstand. Es lokalisiert […] das Objekt jenseits der Didaktik. Damit wird zunächst bewusst im Unklaren gelassen, nach welchen Transformationsregeln aus dem Objekt ein Unterrichtsgegenstand geworden ist. Denn im Nachvollzug der empirischen Voraussetzungen real existierender Didaktik wird diese Transformation, so notwendig sie unausgesetzt realisiert wird, unaufgeklärt und weitgehend implizit vollzogen.“ (ebd., S. 121)
Was folgt hieraus konkret für empirische Unterrichtsforschung? In prinzipieller Hinsicht unabhängig von den gerade im Referendariat m. E. oft überstrapazierten Abgrenzungsversuchen von Fachdidaktik, Didaktik und Methodik sowie darüber hinaus den (Zu-)Ordnungsversuchen von Wissen zu bestimmten Schülergruppen durch Lehrpläne, der unglaublichen Menge an verfügbaren, vorgefertigten Lehrmitteln oder eben der Möglichkeit, alles selbst anzufertigen, ‚passiert‘ beim Unterrichten ‚einfach‘ Folgendes: Der Gegenstand wird letztlich erst im Prozess des Unterrichts hervorgebracht und hierbei möglichst passend zu den angenommenen sowie gezeigten Fertigkeiten der Schüler*innen gelehrt.
D. h. auch dann, wenn eine Lehrkraft –  statt das gesamte Material selbst erstellt zu haben – ‚einfach‘ eine Seite ‚im Buch‘ auswählt, vorlesen lässt, kurz mit den Schüler*innen bespricht und anschließend das entsprechende, vorgefertigte Arbeitsblatt aus dem von den Schüler*innen anzuschaffenden Arbeitsbuch (zum entsprechenden fach-, schulform-, und jahrgangsspezifische Lehrwerkt) bearbeiten lässt, vollzieht sich dennoch ein Prozess mit potenziell endlos vielen Entscheidungsstellen, insb.:
- Welches Thema ‚passt‘ zur Gruppe? Passt es darin zu jedem?
- Welche Darstellungsweise ist passend? Wie rasch oder langsam, wie anschaulich oder abstrakt kann die innere Logik einer Sache vorgeführt werden? Oder soll gar bewusst ‚nur‘ etwas z. B. zugeordnet und dann auswendig gelernt werden? Welche Aufgabenstellungen bzw. Umgangsweisen mit dem Inhalt werden eingefordert oder auch ermöglicht?
- Wie, wann und in welchem Umfang wird auf ‚Fehleinschätzungen‘ reagiert? – etwa, wenn das Thema einer Einheit, einer Stunde oder auch nur eine bestimmte Methode oder ein Material sich im Prozess als uninteressant, fehlerhaft, ‚zu leicht‘, ‚zu schwer‘, ergänzungsbedürftig usf. herausstellt
Gestaltet man beispielsweise ein Graffiti-Projekt für eine Hauptschulklasse (vielleicht sogar für eine, die den Ruf hat, eine ‚schwache Klasse‘ zu sein), dann läuft es in solchen Projekten rasch darauf hinaus, die Schüler*innen eine Schablone mit ihrem Namen oder demjenigen einer*s Lieblingskünstler*in ‚basteln‘ und diese unter strengster Aufsicht ‚sprühen‘ zu lassen. Ein Graffitiprojekt für eine Gymnasialklasse im Kunst-Leistungskurs könnte hingegen schnell bedeuten, dass diesen Schüler*innen es gestattet bzw. abverlangt wird, z. B. bestimmte ‚klassische‘ Epochen, die diese bereits kennengelernt haben, mittels Graffititechnik zu erproben, damit eine Überprüfung der Kenntnis des Gelehrten vorzunehmen und eine kreative Synthesis zu evozieren; oder deren Scheitern.
„Fachlichkeit ist mithin kein Substanzbegriff, sondern ein sowohl epistemologischer wie auch (fach-)didaktischer. Mit Fachlichkeit sind Fragen der Erkennbarkeit der Welt anhängig in unauflöslicher Verbindung mit der Frage, wie Heranwachsende sich die Welt – und das meint immer: die vorläufig gültig erkannte Welt – erschließen können und diese für sie erschlossen werden kann […].
Insofern verweisen alle Inhalte des Unterrichts auf Fächer, da diese beanspruchen, fachwissenschaftliche Methoden des Erkennens dieser sachlichen Struktur(en) bereitzustellen.“ (Pollmanns, 2018, S. 272-273)
Nicht nur das ausgewählte ‚was‘ – das Thema – beinhaltet Annahmen über den sozialen Hintergrund, die Bildungsfähigkeit, die Motivation und auch die vermutete Zukunft u. v. m. der Schüler*innen, sondern insbesondere die Methode bzw. der Arbeitsmodus, mit welchem man es den Schüler*innen zumutet, mit dem Gegenstand zu operieren.
Beeindruckend gezeigt haben dies insb. die Studien von Gruschka (2009b). So kann man etwa im Deutschunterricht einen Text wie „Kleider machen Leute“ durchweg mit solchen Aufgaben von den Schüler*innen bearbeiten lassen, die zum Großteil derart oberflächlich sind, dass sie nicht dazu taugen, den literarischen Gehalt des Textes freizulegen, sondern sich vielmehr an der Oberfläche der Textstruktur aufhalten und somit hauptsächlich als „Kontrollfragen“ dahingehend fungieren, ob die Schüler*innen den Text überhaupt gelesen haben (Gruschka, 2009b, S. 72-75; ders., 2013, S. 139-141 & S. 248). Im Raum steht damit nicht weniger, als dass man die Schüler*innen im Kern für desinteressiert am Material, faul oder nicht fähig zu ‚mehr‘ erachtet. Ganz anders hingegen erscheint es, wenn eine Lehrkraft die didaktische Rahmung, die um ein Gedicht in einem Schulbuch hinzugefügt worden ist, bewusst mit einer entsprechenden Fotokopie entfernt. Denn damit, d. h. ohne diese didaktischen Hilfestellungen, mutet sie den Schüler*innen mit dem mehrfachen stillen Lesen vor der Besprechung des Gedichts eine Konfrontation mit der ästhetischen Erfahrung zu, welche die Struktur eines Gedichts hervorrufen kann (Gruschka, 2013, S. 201-205). In diesem Fall werden Schüler*innen für ‚fähig‘ erachtet, eine Operation auszuführen oder auch zunächst eine Erfahrung auszuhalten, die zu fachlich weit tieferen Einsichten führen kann, vergleicht man dies mit der Memorierung von eher peripheren Fakten bzgl. irgendeines Gegenstandes. Dieselben Muster sind analog vorzufinden in der Ausrichtung von naturwissenschaftlichem Unterricht – etwa, ob dieser aus der Methode des Experiments eine schlichte Vorführung macht oder noch etwas vom genuinen Vorgehen zumutet (Gruschka, 2013, S. 244) – und auch beobachtbar in Mathematikunterricht, der u. a. ein Spektrum in der Hinsicht aufweist, ob er eher nachvollziehendes Schemalernen oder Problemlösen und Modellieren fordert. Kurz gesagt: Mit der Auswahl des Themas und vor allem mit den von den Schüler*innen eingeforderten Bearbeitungsweisen werden den Schüler*innen implizit Eigenschaften zugeschrieben. Das ist wie gesagt auch dann der Fall, wenn eine Lehrkraft spontan ‚bloß‘ eine Seite und Aufgabe im vorliegenden Lehrwerk für ‚eine Stunde‘ ausgewählt hat und damit die Hypothesen über die Interessen, Fähigkeiten usf. der Schüler*innen mehrheitlich nicht selbst gebildet hat.

 

3. Didaktik als fortlaufende Bewährungsprobe von Hypothesen über die fachlich und sozial adäquate Adressierung von Individuen vor einem konkreten Klassenkontext

Besonders spannend erscheint überdies die Frage zu sein, wie damit umgangen wird, wenn sich z. B. in einer Erarbeitungsphase bereits zeigt, dass vielleicht mehrere Schüler*innen das zum Ende der Stunde anvisierte Wissen bereits mitbringen. Erfolgen dann Erweiterungen oder fährt der ‚didaktische Zug‘ eher stur weiter auf dem Gleis, das mit der Planung bzw. dem ausgewählten Unterrichtsmaterial zuvor ‚eingeloggt‘ wurde? Für letzteres sprechen deutlich die Fallstudien von Wenzl (2012) sowie diejenigen von Koßmann (2019a; 2019b). Gesprochen werden kann dann davon, dass Unterricht nicht in dem Maß adaptiv ist, in dem er es vielleicht sogar leicht sein könnte (Gruschka, 2013, S. 280). Aus Sicht der ‚didaktischen Theorie‘ sind solche Befunden allemal erklärungsbedürftig. Denn die Grundidee von Didaktik besteht doch letztlich darin, zu einem bestimmten, angenommener Weise noch ‚zu hohen‘ Ziel zu führen: und zwar dadurch, dass man auf die Rezipienten angepasst darbietet, wovon man als Lehrkraft ausgeht, dass sie es ohne ebendiese Hilfe noch nicht aufzunehmen in der Lage sind.
Dieser Anspruch – als existierte er zuvor für Unterricht nicht – wird wiederum verstärkt durch Ansätze, die ‚adaptives Unterrichten‘ befördern wollen. Es ist dies einerseits herausfordernd, weil es implizit die Adaptivität von Unterricht jenseits dieses besonderen Ansatzes anzweifelt, andererseits – auf manifester Ebene – reagieren derartige Ansätze, wie der von Stebler & Reusser (2017), auf die gestiegene Heterogenität der Schülerschaft im Kontext der Reform zur inklusiven Schule. Wiederum irritierend ist, dass damit ganz offenbar an sich gar nichts Neues für schulischen Unterricht anvisiert wird; so heißt es einleitend dort u. a.:
„Die Lehrpersonen haben die anspruchsvolle Aufgabe, durch eine gute Abstimmung des curricular bestimmten Lernangebots auf die individuellen Nutzungsvoraussetzungen jedem Kind einen persönlichen Zugang zum Lernen zu ermöglichen. Im vorliegenden Beitrag werden unter Berücksichtigung empirisch gesicherter Qualitätsmerkmale sowie der Tiefenstruktur von Unterricht zentrale Facetten adaptiver Instruktion erörtert.“ (Stebler & Reusser, 2017, S. 252)
Die dazu angeratenen Strategien sind sodann ebenso jene Altbekannten – „innere Differenzierung“, „Individualisierung“ und „Öffnung des Unterrichts“ (ebd., S. 254-255) – wie diejenigen Kompetenzen, welche Lehrkräfte zu deren effektiver Umsetzung brauchen, auch die für „guten Unterricht“ altbekannten Kompetenzen sind, nämlich insb. „diagnostische“ sowie „didaktische Kompetenzen“ und solche bzgl. „Klassenführung“ und „Sachkompetenz“ (ebd., S. 256; kursiv im Original). So wird folgerichtig auch festgehalten, dass die allgemeinen „lernpsychologischen Gütekriterien […] auch für Unterricht in heterogenen Gruppen [gelten], der hinsichtlich seiner Oberflächenstruktur stark von klassischen Mustern abweichen kann“ (ebd., S. 257).
In letzterem steckt m. E. eine spannende Fragestellung. Wenn bewusst differenziert wird bzgl. der angenommenen Eingangsvoraussetzungen und Fertigkeiten der Schüler*innen: mit welchen didaktischen Mitteln erfolgt dies ‚unterhalb‘ der methodischen Oberflächenstruktur (etwa von Lernthekenarbeit etc.)? Kurz: Werden als unterschiedlich erachtete Schüler*innen auch mit anderen Vermittlungslogiken (Gruschka, 2009b, S. 488-493; ders., 2013, S. 183-206) angesprochen? Und wie nehmen sie die ihnen ggf. zuteil gewordenen Differenzierung war?
Eine hohe Heterogenität liegt gleichwohl in einer Klasse nicht erst dann vor, wenn Schüler*innen mit den sonderpädagogischen Förderbedarfen Lernen (Koßmann, 2020) oder geistige Entwicklung darin mit beschult werden. Neben Fragen der Diversität, bzgl. sozialer Milieus und von Migrationshintergründen u. v. m., gibt es einige Hinweise darauf, dass die leistungsbezogene Heterogenität der Schülerschaft an Gymnasien, gerade zu Beginn der Sekundarstufe I, vergleichbar ist mit der an anderen Schulformen und in Bezug auf mathematische Kompetenzen sogar darüber liegt (Gröhlich, Scharenberg & Bos, 2009, S. 95 & S. 100-101). Anhand ihrer eigenen Untersuchungsergebnisse von Leistungsdaten aus Hamburger Schulklassen, geschätzt über die im Rahmen einer TIMMS-Studie beobachteten durchschnittlichen Lernzuwächse für ein Schuljahr, beträgt nach Scharenberg, „die mittlere Leistungsstreuung innerhalb der Schulklassen [Hervorhebung R. K.] zu Beginn der Jahrgangsstufe 5 in beiden Kompetenzdomänen [Lesen u. Mathematik; R. K.] etwa zwei bis zweieinhalb Schuljahre“ (Scharenberg, 2012, S. 164-165). Für den Jahrgang 7 zeigen sich schulformübergreifend vergleichbare Werte (ebd., S. 166). Die letztgenannten beiden Studien verweisen jenseits sonderpädagogischer Fragen auf eine hohe leistungsbezogene Heterogenität. Besonders plastisch führen diesen Sachverhalt die Studien von Pollmanns mit Mitteln qualitativer Unterrichtsforschung insb. durch die zusätzliche Nutzung von Interviews zu den Aneignungsprozessen der Schüler*innen vor Augen (Pollmanns, 2018, S. 266).
Mit dem hier dargestellten Blick auf Unterricht soll keinesfalls eine schlichte Einebnung von allgemeiner und sonderpädagogischer bzw. inklusiver Schulpädagogik kolportiert werden. Stattdessen sollen zwei komplementäre Sachverhalte ernst genommen werden: Einerseits existiert in den Schulklassen bereits ohne Beachtung von zieldifferent unterrichteten Schüler*innen eine enorme Unterschiedlichkeit bzgl. der Vorwissensstände und Fertigkeiten, auf die alltäglich reagiert wird. Und andererseits ist es überaus fraglich, ob und inwiefern Inklusions- und Sonderpädagogik über eigene fachliche Vermittlungsstrategien verfügen (Davis & Florian, 2004; Lewis & Norwich, 2005; Koßmann, 2019b). Vor diesem Hintergrund erscheint es schlichtweg dringlich, empirisch zu erkunden, wie Unterricht mit den Leistungsdifferenzen zwischen den Adressat*innen im Zuge der Lehre umgeht. Die didaktische Adressierung erscheint hierzu als das zentrale ‚Werkzeug‘ in der Praxis, dessen Handhabung es zu beobachten gilt.
Mit Mehan (1979) kann auf die einfache, aber geniale Formel gebracht werden, dass Unterricht im Kern eine vielfache Wiederholung des Dreischritts von „Initiation“, „Reply“ und „Evaluation“ ist. Wobei in der „Initiation“ eine Aufgabenstellung dargeboten wird, die Schüler*innen darauf mit einer Lösung antworten und die Lehrkraft sich mit dieser in der Evaluation entweder zufriedengibt – und diesen IRE-Zyklus daher mit einer Zustimmung schließt – oder weiter erklärt und nachbohrt, bis ihr die Schließung angemessen erscheint (ebd.; siehe auch Koßmann, 2019b, S. 203). Mehan hält pointiert in seinem Aufsatz den Unterschied fest, dass das Fragen der Lehrkraft ein spezielles ist (als ‚Lehrerfrage‘ vom ‚normalen‘ Fragegebrauch verschieden), und auch, dass die Inszenierung durch ihre Öffentlichkeit die Gestalt von Wissen und Können (welche Fertigkeiten erwünscht sind und wer diese vorzuweisen in der Lage ist) grundsätzlich beeinflusst:
„[T]he teacher is testing the students’ knowledge, not seeking information from them. […] Instead of seeing children’s knowledge as private and internal states, as a personal possession, an interactional view of teaching and learning recommends seeing knowledge as public property, social constructions, assembled jointly by teachers and students that become visible in social contexts.” (Mehan, 1979, S. 294)
Diese Zuspitzung von Mehan wirft zugleich die Folgefragen danach auf, inwiefern die Lehrkraft ihre ‚Testungen‘ über den Prozess des Unterrichtens an die Reaktionen der Schüler*innen anpasst, damit gewissermaßen die Passung ihrer ‚Initiations‘ selbst evaluiert, oder dies eben nicht tut; sodann: welche Bedeutungen, und auch evtl. Diskrepanzen zwischen Adressierung und ‚Reply‘, in den öffentlichen Raum der Schulklasse gestellt werden und wie die Schüler*innen das Geschehen und sich darin wahrnehmen.
Um dies empirisch explorativ zu erkunden, bietet sich das rekonstruktionslogische Vorgehen an, wie es insb. in Gruschkas Unterrichtsstudien vorgeführt wurde (siehe zusammenfassend ders., 2013). Mittels der auf den Gegenstand ‚Unterrichten‘ ausgerichteten Methode der Objektiven Hermeneutik kann zunächst ein als forschungsthematisch relevanter ‚Miniabschnitt‘ von Lehre (z. B. eben im Hinblick auf didaktisches Handeln) aus einem Unterrichtsgeschehen identifiziert und überlegt werden, in welchem gedankenexperimentell generierten, alternativen Unterrichtkontext dieser wortwörtlich und doch ‚wohlgeformt’ geäußert werden könnte. Aus diesen gedankenexperimentell generierten „Geschichten“ können dann Ableitungen bzgl. der ihnen eingeschriebenen Merkmale vorgenommen und zu „Lesarten“ systematisiert werden (Wernet, 2009, S. 39-52). Mit Blick auf den Untersuchungsgegenstand ‚didaktisch-methodisches Handeln‘ interessieren dann insb. Merkmale bezüglich des Fachs, des Themas, des Jahrgangs, der Schulform, des angenommenen Vorwissens sowie des kognitiven Niveaus, aber auch der unterstellten Motivationslage der Schüler*innen. Erschlossen werden können also ebenjene Präsuppositionen, die einer Adressierung implizit sind und faktisch auch öffentlich transportiert werden. Sodann geht es darum, darauf aufbauend und unter Nutzung der bereichsspezifischen, für die zu untersuchende Praxis relevanten ‚Ideen‘ Hypothesen darüber zu generieren, wie es im protokollierten Unterrichtsverlauf weitergehen könnte – und schließlich durch den wiederholten Abgleich von Strukturhypothesen und empirisch vorgefundenem Verlauf die Fallstruktur des protokollierten Geschehens herauszuarbeiten (zur Methodik siehe grundlegend Gruschka, 2013; Wernet, 2009; exemplarisch Koßmann, 2019a). Ebenso wie jede soziale Praxis wird auch Unterrichten damit verstanden als ein Geschehen, in welchem unausgesetzt Entscheidungen getroffen werden. Deren oft nicht unmittelbar verstehbaren Begründungsmuster und öffentlich transportierten Bedeutungen können mit der genannten Methode effektiv ergründet werden; und zwar über den Verlauf des Geschehens, was auch das Verhältnis zu den Reaktionen der Schüler*innen mit einschließt. Ins Auge zu fassen lohnt es sich hierfür vermutlich besonders inklusiven Unterricht, da in diesem – im Fall der Anwesenheit von Schüler*innen mit den sonderpädagogischen Förderbedarfen Lernen und geistige Entwicklung – der Adaptivitäs- bzw. Differenzierungsanspruch besonders hoch ist.
Im nachfolgenden Schaubild wird nun keinesfalls beansprucht, modellhaft ‚die Wirklichkeit‘ abzubilden. Vielmehr werden in diesem vor dem hier und an anderer Stelle (Koßmann, 2019b, S. 134-171; ders., eingereicht) entfalteten Hintergrund einige, vermutlich besonders markante Entscheidungsstellen grafisch dargestellt, die sowohl für die praktische Unterrichtsgestaltung ‚Knackpunkte‘ sind als auch empirisch-rekonstruktionslogisch betrachtet erkenntnisreich zu sein versprechen.  

Abbildung 2: Hypothetischer Unterrichtsverlauf mit Fokus auf Gelenkstellen didaktisch-methodischer Adressierung in (heterogenen) Lerngruppen
Um zusätzlich etwas besser einschätzen zu können, wie das protokollierte Geschehen von Seiten der Heranwachsenden wahrgenommen wurde, bietet es sich an, nach den Unterrichtsstunden eine auf die hier aufgeworfenen Fragen angepasste Form von Einzelinterviews mit den verschiedenen Schüler*innen zu deren Aneignungsprozessen durchzuführen; nach dem Vorbild von Pollmanns (2018). Ein Projekt mit diesem Vorgehen – gegründet auf videographierten, inklusiven Fachunterricht mit anschließenden, angepassten Aneignungsinterviews – wird aktuell an der Stiftung Universität Hildesheim durchgeführt („iLeb 4.0“, s. Fußnote 1). Fachlich wird zunächst exemplarisch mit Blick auf Geschichts-Unterricht geforscht (Ruhlandt, Schulz, Schmidt, Koßmann & Musenberg, 2020, S. 174-175), weil dies ein (z. B. im Verhältnis zu Mathematik) bzgl. der Leistungsdifferenzierung eher ‚weiches‘ und damit ‚inklusionszuträglicheres‘ Fach sein könnte. Die Untersuchungsergebnisse sind gleichwohl offen und unabhängig davon sind ebenso Rekonstruktionen von inklusiven Unterrichtsstunden bzgl. anderer Schulfächer geplant.[1]

 

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[1] Das angesprochene, laufende Projekt („Inklusive Lehrer_innenbildung 4.0: Effekte der Nutzung von Tablets auf die Lehre in heterogenen Lerngruppen und das Lernverhalten der Schülerinnen und Schüler“, kurz iLeb 4.0) sieht zudem eine Folgeerhebung im Schuljahr 2020/21 vor, in welchem an der Kooperationsschule ‚derselbe Fachunterricht‘ nach Einführung von Tablets für die Schülerschaft aufgezeichnet und analysiert werden soll. Weiterhin finden mit dem Projekt „Förderpläne: empirisch betrachtet“ (Koßmann, Stiftung Universität Hildesheim) ergänzend Untersuchungen zur Planungsebene inklusiven Unterrichts statt.