Nicole Freke:Zeit und Raum für Beziehungen? Der „Offene Anfang“ in der Grundschule

Abstract: Nicole Freke diskutiert am Beispiel der Primarstufe der Laborschule Bielefeld, wie sowohl die räumlichen als auch die zeitlichen Strukturen des "Offenen Anfangs" – also der pädagogisch gestalteten, für die Kinder freiwillig zu besuchenden Zeit zwischen dem morgendlichen Ankommen in der Schule und dem eigentlichen Unterrichtsbeginn – u.a. dazu beitragen, die Beziehungen zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen zu gestalten. Auf Grundlage einer von ihr durchgeführten ethnografischen Studien leitet sie vier Faktoren ab, die zu einer wertschätzenden, entwicklungsförderlichen Beziehungsgestaltung beitragen können: (1) Eine zeitliche Strukturierung, die (auch) Freiräume für Gespräche und spontane gemeinsame Tätigkeiten lässt, (2) einen Raum, der flexibel ist und verschiedene Möglichkeiten bietet, (3) eine Beständigkeit der pädagogischen Beziehungen sowie (4) das Wahrnehmen von und das Eingehen auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder.

Stichworte: Ganztagsschule, Rhythmisierung, Beziehungen, Wertschätzung

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung
  2. Der Ganztag der Laborschule Bielefeld
  3. Der „offene Anfang“ – Einblick in den Forschungsstand
  4. Erste Ergebnisse einer ethnographischen Studie zum „Offenen Anfang“ an der Laborschule
  5. Diskussion und Fazit: Als ganze Person im Tag, in der Schule, in der Gemeinschaft ankommen
  6. Literatur

1. Einleitung

Die Grundschule, als ein Ort, an dem Kinder, Jugendliche und Erwachsene gemeinsam lernen und arbeiten, ist auch immer ein Ort der persönlichen Beziehungen – und dies zunächst unabhängig davon, wie diese konkret aussehen und ausgestaltet werden. Wer über die Grundschule als Institution nachdenkt, muss insofern immer auch Fragen der pädagogischen Beziehungsarbeit mit all ihren Ambivalenzen, Herausforderungen und Chancen mitdenken. Dabei kommt der Frage, wie diese pädagogischen Beziehungen im konkreten schulischen Alltag tatsächlich gelingen können, eine ungemein hohe Bedeutung zu. Denn, wie Annedore Prengel (2013) es formuliert:
„Genügend gute pädagogische Beziehungen, die sich aus einer Folge responsiver einzelner Interaktionen formieren, können zum Wohlbefinden im Hier und Jetzt der Lebensphasen Kindheit und Jugend ebenso maßgeblich beitragen wie zum Lernerfolg und zum Gelingen langfristiger biografischer Entwicklungen. Verletzende Beziehungen, die sich aus einer Folge destruktiver einzelner Interaktionen formieren, können Kinder und Jugendliche unglücklich machen, Lernen und Leistung behindern und ihren Bildungswegen bis ins Erwachsenenalter hinein schaden.“ (Prengel, 2013, S. 10)
Dass diese hohe Bedeutsamkeit pädagogischer Beziehungserfahrungen auch in besonderem Maße für inklusiv arbeitende Schulen gilt, hebt unter anderem Kersten Reich (2014) hervor, wenn er mit Blick speziell auf das Verhältnis von „inklusiver Didaktik“ und „Beziehungskultur“ konstatiert, „[g]ute Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden sowie den Lernenden und Lehrenden untereinander“ seien eine „entscheidende, nach vielfältigen Erfahrungen in inklusiven Schulen auch wesentliche Voraussetzung für eine gelingende positive Lernumgebung“ (Reich, 2014, S. 67). Und er ergänzt:
„Emotional und sozial positive wechselseitige Beziehungen sind im Lernen ausschlaggebend, weil die Lernenden nie nur für sich oder den Stoff lernen, sondern immer auch in einer Situation stehen, in der sie einer Lehrperson und ihren Mitlernenden wie auch den weiteren Beteiligten im Umfeld verbunden sind. Solches Beziehungslernen geht dann umso leichter, wenn die Schule ein Zuhause, einen Ort der emotionalen Geborgenheit und Vertrautheit bildet, in dem man nicht autoritär-instrumentell, sondern menschlich, verständlich und verständnisvoll, gerecht und fördernd, Grenzen erkennend und Grenzen wahrend umgeht.“ (Reich, 2014, S. 67)
In Anbetracht dieses immensen Stellenwerts pädagogischer „Beziehungskultur“ (ebenda) stellt sich allerdings unweigerlich die Frage, wie, wo und vor allem wann diese „gute[n] pädagogische Beziehungen“ (Prengel, 2013, S. 10) im konkreten Schulalltag tatsächlich aufgebaut und gestärkt werden können. Zwar sind es laut Prengel gerade die klassischen beruflichen Aufgaben von Pädagoginnen und Pädagogen wie „erziehen, betreuen, unterrichten, beraten, diagnostizieren [oder] fördern“ (Prengel, 2013, S. 9), die in diesem Zusammenhang an Bedeutung gewinnen, in Anbetracht der vielfältigen Aufgaben jedoch, denen sich die Grundschule aktuell gegenübergestellt sieht, drohen Zeit und Raum für eine solche „Beziehungsarbeit“ immer knapper zu werden: sollen die Kinder doch nicht nur Lesen, Schreiben und Rechnen lernen, sondern auch Sachwissen erwerben, künstlerische und sportliche Erfahrungen machen, soziale Kompetenzen ausbilden usw.
Die aktuelle Ganztagsschulentwicklung birgt vor diesem Hintergrund sowohl ein gewisses Risiko der Überfrachtung mit Aufgaben als auch eine große Chance: Zwar nehmen einerseits mit der ganztägigen Beschulung der Kinder auch die Aufgaben der Schule noch weiter zu (so ist sie etwa mehr und mehr auch für die Nachmittagsgestaltung und die ‚Freizeit‘ der Kinder zuständig), andererseits aber entstehen zugleich freie, im klassischen Rhythmus der Schule bisher nicht vorgesehene (und dementsprechend auch noch nicht ‚besetzte‘) Zeiten und Räume, die gerade auch für den Aufbau und die Pflege pädagogischer Beziehungen genutzt werden könnten.
Von all diesen „neuen“ Zeiten und Räumen der Ganztagsschule[1] wie etwa den verlängerten Pausen, dem gemeinsamen Mittagessen, dem begleiteten Nachmittag oder der Hausaufgabenbetreuung – kommt dabei insbesondere dem sogenannten „Offenen Anfang“ eine herausragende Rolle zu: Als pädagogisch gestaltete, für die Kinder freiwillig zu besuchende Zeit zwischen dem morgendlichen Ankommen in der Schule und dem eigentlichen Unterrichtsbeginn dient sie nicht nur als Phase des Übergangs zwischen Zuhause und Schule, sondern auch zwischen der Rolle des ‚Kindseins‘ und derjenigen des ‚Schülerseins‘. In diesem Sinne könnte man den „Offenen Anfang“ des Schultages – angelehnt an Friederike Heinzel (2016) – auch als „grundschulpädagogisch strukturierten Kindheitsraum“ (Heinzel, 2016, S. 8) bezeichnen, in dem informelle Kommunikation zwischen Erwachsenen und Kindern, aber auch zwischen den Kindern möglich ist. Der Offene Anfang bildet insofern ein komplexes schulisches System von kommunikativen Praktiken und Interaktionen, das gerade aufgrund seines Übergangs-Charakters wie prädestiniert erscheint zum Aufbau sowie zur Pflege pädagogischer Beziehungen.
In Anbetracht dieser Sonderrolle des Offenen Anfangs im schulischen Ganztag erscheint es daher umso bedauerlicher, dass – wie im Folgenden noch genauer zu zeigen sein wird – bisher kaum elaborierte Konzepte oder belastbare empirische Ergebnisse zu eben dieser Phase des Tages vorliegen, und dies bei gleichzeitiger Zunahme der Anzahl an Schulen, die einen solchen Offenen Anfang für ihre Schüler*innen anbieten. Dieser Umstand soll im Folgenden daher zum Anlass genommen werden, um am Beispiel der Laborschule Bielefeld (die einen solchen Offenen Anfang bereits seit ihrer Gründung im Jahr 1974 als Teil ihres pädagogischen Konzepts realisiert) einen ersten empirischen Blick auf jenes Phänomen des Offenen Anfangs zu werfen – und zwar mit einem besonderen Fokus auf der Frage, inwiefern diese spezielle Phase des Tages von Schüler*innen und Lehrer*innen für die Gestaltung und Pflege speziell von pädagogischen Beziehungen genutzt wird. Bevor dies jedoch geschieht, soll zunächst ein kurzer Überblick über das grundlegende Ganztagskonzept der Laborschule Bielefeld gegeben und anschließend der Forschungsstand zum Thema „Offener Anfang“ dargelegt werden, um auf diese Weise die im weiteren Verlauf präsentierten Beobachtungen und Ergebnisse besser einordnen und diskutieren zu können.

2. Der Ganztag der Laborschule Bielefeld

Bei der Laborschule Bielefeld handelt es sich um eine Schule, die nicht nur seit über 40 Jahren den Offenen Anfangin der Eingangsstufe praktiziert (vgl. bspw. Rathert, 2005), sondern darüber hinaus in ihrer Funktion als staatliche Versuchsschule den expliziten Auftrag hat, „neue Formen des Lehrens, Lernens und Miteinander-Lebens in der Schule zu entwickeln, zu erproben und zu evaluieren“ (Groeben, Geist & Thurn, 2011, S. 261). Die Laborschule Bielefeld vereint zu diesem Zweck zwei Institutionen, die eng miteinander verbunden sind: Sie ist zum einen staatliche Versuchsschule des Landes Nordrhein-Westfalen und zum anderen Wissenschaftliche Einrichtung der Fakultät für Erziehungswissenschaft an der Universität Bielefeld (siehe hierzu genauer Terhart & Tillmann, 2007; Zenke, Dorniak, Gold, Textor & Zentarra, 2018).
Die Schule umfasst die Jahrgänge 0 (Vorschuljahr) bis 10 und entspricht insofern einer Gesamtschule mit integrierter Primarstufe. In jedem Jahrgang sind bis zu 65 Schülerinnen und Schüler, so dass insgesamt etwa 700 Kinder und Jugendliche die Schule besuchen. Die Laborschule wählt ihre Schüler nach einem bestimmten Aufnahmeschlüssel aus, der gewährleisten soll, dass die „Schülerpopulation“ der Laborschule der „gesellschaftlichen Schichtung“ entspricht (Groeben et al., 2011, S. 260), und versteht sich dementsprechend als „inklusive Schule“ für alle Kinder – ohne jegliche Selektion nach Leistung (zum Inklusionskonzept der Laborschule siehe genauer Begalke, Clever, Demmer-Dieckmann & Siepmann, 2011 sowie Biermann, Geist, Kullmann & Textor, 2019). Die Schülerinnen und Schüler werden nach einem individuellen Beurteilungssystem bewertet, erst ab Jahrgang 9 kommen Ziffernnoten hinzu. Die Schule vergibt die im Land NRW üblichen Abschlüsse und ist unterteilt in vier sogenannte „Stufen“: In Stufe I lernen Schülerinnen und Schüler der Jahrgänge 0 bis 2 (in jahrgangsgemischten Gruppen); in Stufe II Schülerinnen und Schüler der Jahrgänge 3 bis 5 (ebenfalls jahrgangsgemischt); in Stufe III Schülerinnen und Schüler der Jahrgänge 6 und 7 (in jahrgangsgleichen Gruppen) und in Stufe IV Schülerinnen und Schüler der Jahrgänge 8 bis 10 (ebenfalls in jahrgangsgleichen Gruppen). Diese Stufung entspricht dabei auch der „Gliederung des Lernfeldes“:
„Die kleinen Kinder lernen ganzheitlich-ungefächert ‚am Tag entlang‘. Mit zunehmender Differenzierung des Lernens und der verschiedenen Zugänge zu seinen Gegenständen ergeben sich Erfahrungsbereiche, aus denen sich nach und nach gemäß der zunehmenden Spezialisierung der Lerntätigkeiten und -formen die herkömmlichen Fächer herausbilden.“ (Groeben et al., 2011, S. 262)
Die Schulzeit selbst beginnt für ein jedes Laborschulkind dementsprechend bereits ein Jahr früher als an einer Regelgrundschule: Es kommt mit 5 Jahren als sogenanntes „Nuller-Kind“ in das integrierte Vorschuljahr, das ihm „einen ‚sanften‘ Übergang vom Leben in der Familie zum Leben und Lernen in der Schule“ ermöglichen soll (vgl. Groeben et al., 2011, S. 262). Auch das grundlegende Prinzip der Laborschule, ein „Lebens- und Erfahrungsraum“ (Groeben, 2005) für die Kinder sein zu wollen, findet seinen Anfang bereits in der Stufe I der Laborschule: Die Kinder leben und lernen hier in kleinen jahrgangsgemischten Gruppen (bis zu 16 Kinder der Jahrgänge 0 bis 2) den ganzen Tag über zusammen. Die Gruppen sind sehr heterogen zusammengesetzt. Die Kinder sollen von Anfang an im Sinne des Inklusionsgedankens Verschiedenheit als Bereicherung erfahren. Selbständigkeit und Mitbestimmung sind ebenfalls grundlegende pädagogische Werte, die für die Kinder erlebbar werden sollen (vgl. Bosse et al., 2016).
Die Kinder der Eingangsstufe haben keinen festgelegten Stundenplan, sondern lernen am Tag entlang. Die Organisationsform der Eingangsstufe ist der vollgebundene Ganztag. An drei Tagen der Woche bleiben die Kinder in ihren Lerngruppen den Ganz-Tag über zusammen. Es wird daher von einem „ver-bundenen“ Ganztag gesprochen (Bosse et al., 2016). Gemeint ist hierbei eine dreifache „Ver-bindung“ – zunächst eine zeitliche:
„Alle Kinder der Eingangsstufe der Laborschule bleiben an drei Tagen der Woche verbindlich in der Schule. Ihr Tag startet mit einem offenen Anfang ab 8 Uhr und endet um 15:30 Uhr. In einer sogenannten ‚Randstundenbetreuung‘ können die Kinder bis 16.30 Uhr in der Schule verbleiben.“ (Bosse et al., 2016, S. 46)
Der zweite Bereich betrifft die personelle Verbindung:
„Jede Gruppe wird von einer Betreuungslehrerin oder einem Betreuungslehrer gemeinsam mit einer pädagogischen Mitarbeiterin oder einem pädagogischen Mitarbeiter im Tandem über den ganzen Tag verteilt betreut. Ein Drittel des Tages sind die Lehrerin bzw. der Lehrer und die sozialpädagogische Mitarbeiterin bzw. der sozialpädagogische Mitarbeiter gemeinsam in der Gruppe. Die Betreuungslehrerinnen bzw. -lehrer wechseln in der Regel während der drei Jahre, die ein Kind in der Eingangsstufe verbringt, nicht. Die Pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter rotieren ca. alle drei Monate in eine von drei Gruppen, so dass sie ein Drittel des Jahres jeweils fest einer Gruppe zugeordnet sind. Lediglich auf einer Unterrichtsfläche der Stufe I wechseln die Pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Gruppe nicht, sondern verbleiben dort.“ (Bosse et al., 2016, S. 46 f.)
Und drittens geht es um eine inhaltliche Verbindung:
„Es gibt drei große Lernzeiten über den Tag verteilt, die mit unterschiedlichsten Inhalten gefüllt werden. Je eine der drei Lernzeiten wird von der Lehrerin oder dem Lehrer bzw. den Pädagogischen Mitarbeiterinnen/Mitarbeitern allein gestaltet, während die dritte Lernzeit von beiden Professionen gemeinsam durchgeführt wird. Konzeptionell verknüpfen sich die Inhalte der Lernzeiten zudem über den einzelnen Tag hinweg.“ (Bosse et al., 2016, S. 47)
Die Eingangsstufe der Schule ist darüber hinaus in einem eigenen Gebäudeteil, dem sogenannten „Haus 1“, untergebracht. Hierbei handelt sich um eine „Offene Lernlandschaft“, die im Inneren in verschiedene Ebenen (siehe Abb. 1) unterteilt ist:
„[…] das Haus 1 [wurde] an einen Hang oberhalb des Haus 2 gesetzt und mit einem gegenläufig ansteigenden Schrägdach versehen, so dass das Gebäude zum Hang hin einstöckig, zur abfallenden Seite dreistöckig ist. Während dabei die untere Ebene als Eingangsbereich dient und Funktionsräume wie Küchen und Toiletten beherbergt, füllt die mittlere Ebene mit ihren vier gleichgroßen, lediglich durch halbhohe Galerien voneinander getrennten Feldern den größten Teil des Gebäudes aus. Ein jedes dieser Felder verfügt über einen eigenen Gartenausgang zur Hangseite des Gebäudes und bietet Platz für zwei Stammgruppen mit je eigener ‚Stammfläche‘, wobei die beiden zusammengehörigen Gruppen jeweils gemeinsam mit einer weiteren, auf einer angrenzenden Galerie beheimateten Gruppe noch einmal eine größere Einheit bilden.“ (Zenke, 2017)
Die Abbildung zeigt eine räumliche Schnittzeichnung des Haus 1 der Laborschule Bielefeld. Sichtbar wird auf dieser Zeichnung insbesondere die Großraumstruktur des Gebäudes mit seinen verschiedenen, durch Treppen miteinander verbundenen Halbgeschossen sowie die Anbindung des Gebäudes an die umliegenden Außenbereiche.
Abbildung 1: Räumliche Schnittzeichnung des Haus 1. Grafik: Klaus Lamberty (Quelle: Heidenreich, 1977, S. 40 ff.)
Diese Form der Großraumarchitektur dient dabei, wie Christian Timo Zenke (2017) jüngst in Anlehnung an Kullmann, Lütje-Klose & Textor (2014) gezeigt hat, nicht allein dazu, die „Verwirklichung eines adaptiven und binnendifferenzierten Unterrichts“ zu unterstützen, sie zielt darüber hinaus explizit darauf ab, Möglichkeiten gerade auch der informellen Begegnung zwischen sämtlichen „Bewohnern“ des Gebäudes zu ermöglichen (vgl. Zenke, 2017).

3. Der „offene Anfang“ – Einblick in den Forschungsstand

Jedes Schulkind verlässt in der Regel an fünf Tagen pro Woche sein Zuhause, um zur Schule zu gehen. Es legt einen Schulweg zurück, zu Fuß, mit der Bahn, dem Bus, dem Auto, dem Fahrrad, und dann – kommt es in der Schule an. Für 28,6% der Grundschulkinder dauert der Schultag dabei an mindestens drei Tagen pro Woche mindestens sieben Stunden (vgl. Holtappels, 2014, S. 18). So wurde seit 2001 – als Antwort unter anderem auf den „PISA-Schock“ – der Schultag für viele Kinder nicht nur verlängert, sondern auch umstrukturiert, wobei unter dem Begriff der „Rhythmisierung“ zahlreiche Ideen und Konzepte einer solchen Umstrukturierung zusammengefasst werden (vgl. bspw. Ramseger, 2009, S. 123). In diesem Zusammenhang ist auch der so genannte „Offene Anfang“ an vielen Ganztagsschulen ein fester Bestandteil des Schulkonzeptes geworden – auch unter anderen Begriffen wie z.B. „Gleitender Anfang“, „Morgenzeit“ oder „Gleitender Morgenbeginn“. So heißt es bereits 2007 in der Studie zur Entwicklung in Ganztagsschulen (StEG), dass knapp die Hälfte der vollgebundenen Ganztagsschulen (40%) einen Offenen Anfang realisiert, während es an den offenen und teilgebundenen Schulen immerhin noch etwa 15% sind. Insgesamt geben 22% der befragten Schulleitungen an, einen Offenen Anfang eingerichtet zu haben (vgl. Holtappels, Klieme, Rauschenbach & Stecher, 2007, S. 171). 2018 schließlich realisieren sogar bereits 56,2% aller Ganztagsgrundschulen einen Offenen Anfang, (Ganztagsschule 2017/2018. Deskriptive Befunde einer bundesweiten Befragung. Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen, StEG, 2019, S. 78), wobei sich ein solcher besonders häufig an Schulen findet, „an denen die Teilnahme am Ganztag für einen Teil der Schülerschaft verbindlich ist“ (S. 79), sowie an Schulen, „die eine lange Erfahrung mit dem Ganztag haben (vor 2004 gegründet/umgewandelt)“ (S. 80). Grundsätzlich gilt darüber hinaus – vergleicht man die einzelnen Schulstufen miteinander –, dass „[f]lexible Elemente zur Zeitstrukturierung“ sich zwar insgesamt „nur zum Teil durchgesetzt“ haben, Primarschulen aber insgesamt „deutlich mehr auf einen offenen Anfang“ setzen als weiterführende Schulen (S. 87).
In Anbetracht dieser in der Gesamtschau doch recht hohen Verbreitung des Offenen Anfangs im Grundschulbereich fällt umso deutlicher auf, dass diese in den meisten anderen Veröffentlichungen zur Rhythmisierung des Tageslaufs an Ganztagsschulen kaum thematisiert wird. Der Fokus liegt anstelle dessen vor allem auf dem Nachmittagsbereich und der Stundenrhythmisierung mit den entsprechenden Pausenzeiten. Ganz in diesem Sinne bemerkt Otto Herz (2005) denn auch im ABC der Ganztagsschule neben einigen allgemeinen Hinweisen und Ideen zum Thema „Offener Anfang“:
„Obwohl vorwiegend von Nachmittag gesprochen wird, wenn es um die Ganztagsschule geht, sei hier – durchaus programmatisch gemeint – festgestellt: Die Ganztagsschule fängt morgens an. Und darum muss sich die Ganztagsschule ein präzises Wissen darüber verschaffen, was die Bedingungen des Ankommens der Kinder und Jugendlichen in all ihrer Unterschiedlichkeit am Morgen der Schultage sind.“ (Herz, 2005, S. 142, Hervorhebung im Original)
Obwohl der Offene Anfang also inzwischen ganz offensichtlich zum Standardrepertoire der Ganztagsschulkonzeption gehört, gibt es bislang wenig gesicherte Erkenntnisse und kaum elaborierte Konzepte zu diesem Thema. Lediglich in konzeptionell geprägten Texten gibt es Hinweise auf einen pädagogisch gestalteten Schulbeginn – wie zum Beispiel beim Autorenteam Bochum:
„Morgens beginnen unsere Schulen entsprechend der Nachfrage der vorgesehenen Förderung zwischen 7.15 und 8.15 Uhr. Es gibt den Offenen Unterrichtsbeginn und die Freie Arbeit, aber auch Kleingruppenförderung (LRS- oder Rechentraining) ist ebenfalls frühmorgens möglich. Einige Schulen haben eine Betreuung vor dem Unterricht eingerichtet. Ein gemeinsames Frühstück kann in der Betreuung eingenommen werden, wenn Eltern nicht vorher mit ihren Kindern frühstücken.“ (Autorenteam Bochum, 2006, S. 35)
Ähnliche Hinweise finden sich auch in den Jahrbüchern Ganztagsschule, wie zum Beispiel im Beitrag von Jörg Ramseger zum Thema „Rhythmisierung“, wenn es dort heißt:
„Es geht darum, in der Schule – wie in einer Symphonie – ein Zeitraster zu finden, das Bewegung und Bedächtigkeit, Anspannung und Entspannung, Belastungs- und Ruhezeiten in eine angenehme Wechselfolge bringt: Wir beginnen den Tag mit einer geruhsamen offenen Ankunftszeit (Lento) [...]“. (Ramseger, 2009, S. 123)
Die empirischen Studien der letzten Jahre, die sich mit der Ganztagsschule beschäftigen, haben hingegen ihren Fokus – neben der Verbesserung des Unterrichts – vor allem auf die Qualität und den Lernnutzen der weiteren eingerichteten pädagogischen Angebote, teilweise auch der Freizeitangebote gelegt:
„Die zumeist empirisch-quantitativ angelegte Ganztagsschulforschung untersucht diese veränderten Rahmenbedingungen, die damit verbundene konzeptionelle Entwicklungsarbeit der Kollegien und die Wirkungen und Qualitäten des Ganztagsbetriebes meist unter Rückgriff auf Modelle der Schul- und Unterrichtsqualitätsforschung.“ (Reh, Fritzsche, Idel & Rabenstein, 2015, S. 14)
In diesem Zusammenhang verwundert es jedoch, dass sich selbst Studien, die sich explizit mit der Umstrukturierung des Tages und einer neuen Form der Rhythmisierung beschäftigen, den Offenen Anfang kaum thematisieren. Falls dieser Erwähnung findet, dann häufig nur als „Element der Zeitstrukturierung“ (vgl. Börner, Eberitzsch, Grothues & Wilk, 2011, S. 11 f.). So zum Beispiel im Bildungsbericht Ganztagsschule NRW von 2012, in dem die Schulleitungen und Ganztagskoordinatoren darum gebeten wurden, die Öffnungszeiten ihrer Offenen Ganztagsschule (OGS) zu beschreiben:
„Fast die Hälfte der Befragten gab an, dass ihre OGS in dem Zeitraum zwischen 7:00 Uhr und 8:00 Uhr morgens startet [...]. Dabei kann mit Blick auf die vorliegenden Daten nicht gesagt werden, ob die Schule in diesem Zeitraum mit Unterricht oder einem Betreuungsangebot beginnt. [...] Bemerkenswert ist weiterhin ein kleiner Anteil an Ganztagsschulen (8%), bei dem die Schüler/-innen bereits weit vor dem Unterrichtsbeginn (zwischen 6:00 Uhr und 7:00 Uhr) in die Ganztagsschule kommen können. Hier kann davon ausgegangen werden, dass die Schule auch vor dem Unterricht eine Betreuung für die Kinder anbietet.“ (Börner, Steinhauer, Stötzel & Tabel, 2012, S. 13)
Zwar wird in vielen Bundesländern der Ausbau der Ganztagsschulen wissenschaftlich begleitet und evaluiert, bemerkenswerterweise spielt jedoch auch im Rahmen der damit verbundenen Publikationen die Zeit vor dem eigentlichen Unterrichtsbeginn kaum eine Rolle (vgl. bspw. Barz, 2006; Beher et al., 2007; Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2012). Eine Ausnahme hiervon bildet die von Gängler, Bloße und Lehmann (2013) publizierte Wissenschaftliche Begleitung und Evaluation der „Richtlinie des sächsischen Staatsministeriums für Kultus zur Förderung des Ausbaus von Ganztagsangeboten“, in der sich nicht nur der Hinweis findet, dass „[e]in idealer Schultag […] mit offenen Strukturen bspw. in Form eines gleitenden Unterrichtsbeginns“ (Gängler et al., 2013, S. 216) beginne, sondern darüber hinaus auch das folgende Evaluationsergebnis:
„Ganztagsangebote sind schwerpunktmäßig Nachmittagsangebote. Eine Integration in den Vormittag findet noch am ehesten an den Grundschulen und den jüngeren Jahrgängen der weiterführenden Schulen statt. […] Die Verbreitung vieler Gestaltungselemente (Früh- und Spätbetreuung, gleitender Unterrichtsbeginn, Gesprächs- und Morgenkreis und gemeinsame Frühstückspause) ließ sich signifikant häufiger an den Grund- und Förderschulen vorfinden.“ (Gängler et al., 2013, S. 259)
Alles in allem lässt sich allerdings konstatieren, dass der Offene Anfang – trotz seiner mittlerweile überaus weiten Verbreitung in der pädagogischen Praxis – zumindest in einschlägigen empirischen Veröffentlichungen zur Ganztagsschulentwicklung (wie etwa Klemm, 2012; Klemm, 2013; Klemm, 2014 oder Reh et al., 2015) kaum thematisiert wird. Zahlen zum Thema finden sich in der GO!-Studie von 2009, in der die damalige Ganztagsschulorganisation im Grundschulbereich der Länder Berlin, Brandenburg und NRW evaluiert wurde. Dort heißt es unter dem Stichwort „Gleitender Beginn“:
„Einen gleitenden Beginn gibt es in 77 Klassen, lediglich in neun Klassen im offenen Ganztag wird dies nicht realisiert. Zeitlich differiert dieser Bestandteil in der Tagesstruktur erheblich. 27 Prozent der Klassen im offenen und 30 Prozent der Klassen im gebundenen Ganztag nutzen 15 Minuten oder weniger pro Tag dafür. Die Mehrzahl der Klassen geben für den gleitenden Beginn bis zu 60 Minuten pro Tag an. Das Maximum sind 2.5 Stunden pro Tag. Dass hier vor allem die Betreuung von der Öffnung der Schule bis zum eigentlichen Unterrichtsbeginn eine große Rolle spielt, wird bei der Analyse der vorrangigen Tätigkeiten in diesem Zeitraum deutlich. Im Verhältnis zur Förderung und Unterrichtsvorbereitung nimmt dies den größten Raum ein. In 42.5 Prozent der Klassen erfolgt hier vorrangig eine Betreuung, lediglich 15 Prozent der Klassen nutzen diese Zeit zur Förderung und zehn Prozent zur Unterrichtsvorbereitung. […] Entsprechend dieser Ausrichtung ist auch der Personaleinsatz organisiert. Während Förderung und Unterrichtsvorbereitung von Lehrkräften allein bzw. in einigen Fällen unter Hinzuziehung von Pädagogischem Personal erfolgt, wird Betreuung zu fast gleichen Anteilen von Lehrkräften und Pädagogischem Personal allein verantwortet“ (Merkens, Bellin & Tamke, 2009, S. 157)
Die oben präsentierten Ergebnisse zeigen dabei noch einmal in aller Deutlichkeit das bestehende Forschungsdesiderat in Sachen „Offener Anfang“: Obwohl sich dieser seit der Jahrtausendwende insbesondere im Grundschulbereich mehr und mehr verbreitet zu haben scheint, gibt es kaum belastbares empirisches Wissen oder elaborierte pädagogische Konzepte zum Thema – zum Bereich speziell der pädagogischen Beziehungen im „Offenen Anfang“ gibt es sogar keinerlei Studie oder Konzeptbeschreibung.
Der Offene Anfang, definiert als die pädagogisch gestaltete Zeit zwischen dem morgendlichen Ankommen der Kinder in der Schule und dem eigentlichen Unterrichtsbeginn, bildet insofern einen bemerkenswert weißen „Fleck“ in der aktuellen Ganztagschulentwicklung – einen „Fleck“, der im Folgenden zumindest ein wenig mit „Farbe“ gefüllt werden soll, indem erste Ergebnisse einer ethnographischen Studie zum Offenen Anfang an der Laborschule vorgestellt werden. Dabei wird es im Detail um folgende Forschungsfragen gehen:

4. Erste Ergebnisse einer ethnographischen Studie zum „Offenen Anfang“ an der Laborschule

Wenn im weiteren Verlauf nun erste empirische Ergebnisse zum Offenen Anfang der Laborschule präsentiert werden, so geschieht dies vor dem Hintergrund der Annahme, dass Fragen der Beziehungsarbeit mitsamt ihrer dabei an Relevanz gewinnenden „Praktiken, Routinen und Verhaltensweisen“ des schulischen Alltags sich „nicht, oder nur sehr begrenzt, mit dem Mittel der Befragung des Interviews untersuchen lassen“, da sie „zu tief in der selbstverständlichen Gegebenheit des Alltagswissens“ ruhen, „als dass sie der Reflexion der Beteiligten zugänglich wären“ (Breidenstein, 2006, S. 19). Zur Bearbeitung der soeben formulierten Fragestellungen werden im weiteren Verlauf dieses Kapitels daher Ergebnisse präsentiert, die im Rahmen einer von der Autorin durchgeführten ethnographischen Studie an der Laborschule gewonnen wurden. Ziel dieser Studie war es, durch Teilnehmende Beobachtung das pädagogische Geschehen sowie die konkreten Praktiken von Schüler*innen und Lehrer*innen während des laborschuleigenen, von den Schüler*innen freiwillig zu besuchenden Offenen Anfangs (täglich zwischen 8 Uhr und 8:45 Uhr) gezielt zu analysieren, um so aus „praxistheoretischer Perspektive“ einen neuen „Blick auf den schulischen [...] Alltag“ zu gewinnen (ebenda, S. 18). Von den durchgeführten Beobachtungen wurden zu diesem Zweck „Dichte Beschreibungen“ (Geertz, 1995) angefertigt, die – ergänzt durch Fotoaufnahmen von ausgewählten Praxissituationen – schließlich mit der Grounded Theory (Glaser & Strauss, 2010) ausgewertet wurden.
Die ethnographische Untersuchung selbst erstreckte sich auf einen Zeitraum von 1,5 Jahren (2014–2016). Teilnehmend beobachtet wurden insgesamt alle 12 Gruppen der Eingangsstufe der Laborschule (Jahrgänge 0–2). Bei der Auswertung wurden die Gütekriterien der qualitativ-interpretativen Forschung zur Absicherung von Daten und Interpretationen beachtet (vgl. Flick, 2007). So wurden die Daten zum Beispiel einer kommunikativen Validierung mit einer multiprofessionell zusammengesetzten Forschungsgruppe unterzogen. Präsentiert werden im Folgenden nun ausgewählte Ergebnisse zu den oben formulierten Fragestellungen.

4.1 Konzeption, Personal und Atmosphäre

Um 7:50 Uhr schließt eine Lehrerin die vier Eingangstüren der Reihe nach auf. Das Mädchen rennt zur letzten Tür, begrüßt sie und geht hinein, obwohl der Eingang, vor dem sie gewartet hat, ein anderer ist. Die Lehrerin begrüßt sie freundlich und sagt, sie sei aber früh heute.[2]
Der Offene Anfang an der Laborschule beginnt gegen 8 Uhr, eine Dreiviertelstunde vor dem eigentlichen Unterrichtsbeginn (um 8:45 Uhr) im Haus 1. Das Haus 1 ist das kleinere der zwei Laborschulgebäude, in dem die Kinder der Jahrgänge 0–2 auf vier Flächen mit jeweils drei Gruppen in jahrgangsgemischten Gruppen gemeinsam lernen.
Die Lehrerin hat lediglich eine Tür aufgeschlossen, aber durch die Großraumstruktur ist nun das komplette Haus zugänglich. Drinnen zeigt das Mädchen mir ihr Fach auf dem kleinen Flur vor ihrer Fläche. Dort steht ein Regal mit vielen Fächern und großen Aufklebern darauf, auf denen die Namen der Kinder stehen. Sie zeigt auf ihr Fach und sagt: „So heiße ich. Ich bin Nullerin. Mein Fach ist unten bei den Nullerfächern.“ Sie erklärt mir, dass darüber die Einerfächer und darüber die Zweierfächer sind.
Die Kinder sind ihren festen Stammgruppen und Flächen zugeordnet. Dort beginnen sie ihren Tag, d.h., sie gehen an keinen „Frühbetreuungsort“, sondern auf die ihnen vertraute Fläche mit den entsprechenden Materialien.
Unten in der Küche wäscht die Jahrespraktikantin Geschirr ab. Ein Junge kommt, hat seine Schultasche auf dem Rücken und plaudert mit ihr.
Auf der jeweiligen Fläche erwartet die Kinder eine ihnen bekannte und vertraute Person aus dem Flächenteam, das aus drei Lehrer*innen, drei Erzieher*innen und einer Jahrespraktikantin bzw. einem Jahrespraktikanten besteht. Eine dieser Personen hat den Frühdienst und beginnt den Offenen Anfang mit den Kindern, häufig sind jedoch schon mehrere Personen einer Fläche anwesend.
Ich sehe drei Gruppentische, zwei eckige aus mehreren kleinen Tischen, einen runden Tisch, kleine Stühle; eine Versammlungsecke mit einem großen Teppich; eine kleine Tafel, eine kleine Stellwand, offene Regale mit Arbeitsfächern, Arbeitsmaterialien, Kisten der Kinder, Spiele, Freiarbeitsmaterial, einen erhöhten Tisch mit einer Platte und Legosteinen, gemalte Kinderbilder an den Wänden; eine Hängematte an der Decke mit Kissen drauf; ein Terrarium mit einer Echse drin; Pflanzen auf der Fläche verteilt; mehrere Webrahmen; verschiedene kleine Schränke; eine Ebene tiefer eine kleine Küche mit einem Tisch für etwa 20 Kinder, eine niedrige Spüle; eine Ebene höher: ein Erwachsenen-Schreibtisch mit Stuhl; ein großer Korb mit Bauklötzen; eine große Kisten mit Lego; eine Gartenbank.
Die Gruppenflächen der Kinder wirken morgens sehr aufgeräumt, die Sachen liegen an festen Plätzen, sind aber weitestgehend für die Kinder zugänglich. Die Fläche wirkt funktional, vorbereitet und einladend – ganz im Sinne des Prinzips der „Vorbereiteten Umgebung“ (vgl. hierzu genauer Meyer, 2010, S. 120 ff.)
Der „Offene Anfang“ findet mit den gleichen Materialien, in den gleichen Möbeln etc. statt wie auch der restliche Tag. Es befinden sich Lernspiele und Lernmaterialien genau wie Spielsachen und Spielmaterialien auf der Fläche. Die Fläche entspricht dem Konzept der Laborschule, ein „Lebens- und Erfahrungsraum“ sein zu wollen, indem die Kinder verschiedenen Tätigkeiten gleichzeitig nachgehen können (siehe hierzu genauer Zenke, 2017 sowie den folgenden Unterpunkt).
Schräg unter mir befindet sich, durch eine Brüstung getrennt, die Küche. Ein junger Mann kommt und setzt eine Kanne Kaffee auf. Der Kaffee beginnt zu blubbern und zu duften.
Als ich auf die Fläche komme, nimmt eine Lehrerin gerade die Wäsche vom Wäscheständer ab.
Eine Lehrerin geht runter in die kleine Küche, die zu jeder Fläche gehört. Sie wäscht Geschirr ab. Ein Junge und ein Mädchen gesellen sich zu ihr und plaudern nebenbei mit ihr. Die Tür nach draußen ist weit geöffnet, kühle, frische Luft strömt herein.
Ich sitze auf der Gartenbank auf der 4. Fläche. Es ist noch niemand, außer der Lehrerin, da. Sie singt lauthals den Popsong „Angels“ und wäscht dabei Kirschen, die sie mitgebracht hat, in der Küche ab und arrangiert diese in einer großen Schale. Ein Junge kommt und wünscht ihr einen guten Morgen.
Zwei Kinder stehen auf einem erhöhten Zwischengeschoss und ein Junge ruft: „D., wir haben vorhin die ganze Zeit zugehört, wie du gesungen hast! Und du hast es gar nicht gemerkt!“, freuen sie sich sichtlich über ihre List. Sie antwortet: „Ja, stimmt, das habe ich gar nicht bemerkt, ihr seid ja Agenten!“ Anschließend malt sie ein großes Happy Birthday an die Tafel. Die Schale mit den Kirschen steht in der Mitte der Versammlung.
Der Start des Tages im Haus 1 beginnt für die Erwachsenen häufig mit hauswirtschaftlichen Tätigkeiten. In den kleinen Küchen, die zu jeder Fläche gehören, verrichten sie Tätigkeiten wie Kaffee kochen, Obst waschen oder Geschirr spülen. Häufig trocknet auf den Flächen Wäsche, die auf einem großen Wäscheständer hängt. All diese Tätigkeiten vermitteln eine ruhige, wohlige Atmosphäre. Es herrscht keine Hektik, sondern ruhiges Tun. Diese Tätigkeiten wirken bedeutsam, so als wären sie für den Tagesablauf wichtig. Die Kinder nutzen diese Zeit häufig, um den Erwachsenen bei ihren jeweiligen Tätigkeiten zu helfen oder aber um „ganz nebenbei“ über bestimmte Dinge mit ihnen zu reden: Sie sind einfach da, haben augenscheinlich Zeit und Ruhe für die Kinder. Die Lehrerinnen und Lehrer agieren hier als „Person“: nicht belehrend, sondern eher selbstverständlich, freundlich zugewandt. Ihre Tätigkeiten lassen sich in diesem Sinne denn auch nicht primär in Unterricht oder Betreuung einordnen – es handelt sich eher um Alltagsleben, an dem die Kinder selbstverständlich teilnehmen, um gemeinsam den Tag vorzubereiten.
D. nimmt Wäsche von dem großen Wäscheständer ab und legt sie in einen Korb. Ein Junge kommt hinzu und hilft ihr dabei. Sie tragen den Korb zu einem runden Tisch und falten gemeinsam die Handtücher, Lappen und Matschsachen der Kinder zusammen. Nebenbei unterhalten sie sich über Haustiere und den Wunsch des Jungen, ein eigenes Tier haben zu wollen.
Durch die Offenheit der Räume sehen die Kinder, welche Erwachsene da sind und was diese gerade tun. Sie können sich in die Arbeit einklinken, wenn sie möchten. Die Küche ist nicht versteckt in einem Extraraum untergebracht, sondern zugänglich und sichtbar von allen Seiten. Auch diese Offenheit der Räume scheint insofern dazu beizutragen, dass der Start in den Schultag eher mit Alltagsdingen beginnt.

4.2 Tätigkeiten der Kinder

Ein Mädchen kommt auf die Fläche und geht zu einem anderen Mädchen. Sie nehmen sich Geobretter aus einer Kiste und stellen sich an einen runden Tisch. Sie spannen Formen auf den Brettern mit Gummibändern und zeigen sie sich gegenseitig. Zwei Mädchen spielen am Tisch ein Lernspiel („Klappe auf“).
Durch die vorbereitete und gestaltete Fläche ist den Kindern der Zugang zu Unterrichtsmaterialien oder Freiarbeitsmaterialien möglich. Die Kinder können selbständig an zuvor erarbeiteten Dingen, wie hier den Geobrettern, arbeiten oder auch Lernspiele etc. auswählen.
Drei Mädchen sitzen in der Kuschelecke und spielen mit ihren Kuscheltieren ein Rollenspiel.
Auch freies Spiel ist auf der Fläche möglich, die Kuschelecke mit Decken und Kissen bietet hier zum Beispiel den entsprechenden Raum, durch ein halbhohes Regal sind die Kinder etwas versteckt und können ihr Rollenspiel spielen, ohne dass die anderen Kinder davon Notiz nehmen.
Die Tür nach draußen ist weit geöffnet, kühle, frische Luft strömt herein. Draußen spielen drei Jungen Fußball.
Direkt vor der Fläche, durch eine Glastür getrennt, erstreckt sich das zum Haus 1 zugehörige Außengelände. Es ist von drinnen direkt einsehbar, so als wäre es der „Garten“ der jeweiligen Fläche. Dadurch ist es möglich, dass einzelne Kinder morgens schon draußen spielen. Die Erwachsenen haben die Kinder auch von drinnen im Blick.
Eine Lehrerin sitzt auf ihrer Fläche an einem Tisch. Es ist erst ein Kind da. Es sitzt auf einem Tisch und baumelt mit den Beinen. Sie unterhalten sich über Haustiere. Das Flächentelefon klingelt. Das Kind geht ran und meldet sich mit: „Laborschule Bielefeld, 3. Fläche.“ Es hört aufmerksam zu und ruft dann die Lehrerin ans Telefon.
Auch Aufgaben, die zum Tagesgeschehen gehören, wie ans Telefon gehen oder – wie oben bereits ausgeführt – das Erledigen von Haushaltstätigkeiten gehören zu den häufig ausgeführten Tätigkeiten der Kinder.
Der Junge, der zu Beginn des Offenen Anfangs begonnen hatte, an seinem Arbeitsheft zu arbeiten, arbeitet noch immer daran. Ein weiterer Junge hat sich dazugesellt. Auch er arbeitet konzentriert an seinem Arbeitsheft. Ich gehe zu den beiden Jungen und führe ein Spontaninterview:
Ethnographin (E): „Hallo, darf ich euch kurz stören?“
Junge 1: „Ja.“ Sieht mich fragend an.
E: „Was macht ihr gerade?“
Junge 2 schaut ebenfalls auf und antwortet: „Rechtschreiben!“
E: „Hmm, interessant. Warum macht ihr das gerade?“
Junge 1 schaut mich verwundert an und sagt: „Weil uns das Spaß macht.“ Junge 2 nickt zustimmend.
E: „Ihr könntet ja auch Fußball spielen oder Lego oder ...“.
Beide gucken verständnislos und Junge 1 sagt: „Ja klar, aber wir haben jetzt Lust auf Rechtschreiben.“
Die Kinder können auch schon mit einer sogenannten „Lernzeit“ beginnen und an ihren individuellen Lernmaterialien arbeiten. Dies geschieht jedoch freiwillig. Es gibt keinerlei Verpflichtung von Seiten der Erwachsenen, dies zu tun. So war die Ethnographin auch verwundert, dass die Kinder freiwillig an ihren Sachen arbeiten, obwohl sie auch spielen könnten. Die beiden befragten Jungen bewerten dies jedoch ganz anders, die Arbeit an ihren Lernsachen scheint für sie in diesem Moment attraktiver zu sein als zu spielen.
Ein Junge kommt auf die Fläche und geht sofort zur Lehrerin mit den Worten: „Kannst du mir bei meiner Geschichte helfen?“ Die Lehrerin bejaht und sie setzen sich gemeinsam an einen kleinen Tisch.
Falls ein Kind beim Lernen Hilfe braucht, kann es auch schon während des Offenen Anfangs bei den Erwachsenen anfragen, ob sie ihm helfen.
Ein Junge hockt vor einem kleinen Terrarium. Er beobachtet ganz in Ruhe eine Echse.
Trotz des Großraums gibt es auf den Flächen mehrere Rückzugsräume, wie hier in einer Ecke das Terrarium mit der Echse „Eurydike“, der Junge beobachtet einfach in Ruhe das Tier, ohne mit anderen Kindern oder Erwachsenen in Interaktion zu treten.
Ein Mädchen kommt mit einem großen Rucksack an den Garderoben an. Es wirkt sehr müde. Die Jahrpraktikantin (JP) spült gerade in der Küche Becher ab. Das Mädchen legt seinen Rucksack in sein Fach, zieht sich Puschen an und setzt sich an den langen Holztisch in der Küche. JP: „Guten Morgen, Lotta!“. Lotta antwortet leise: „Guten Morgen.“ JP: „Alles okay bei dir?“ Lotta antwortet kaum hörbar: „Ja.“ JP spült den letzten Becher und setzt sich dann zu Lotta. Sie fragt: „Was brauchst du grad? Hast du vielleicht Hunger?“ Lotta nickt. JP: „Was möchtest du denn? Ein Schälchen Müsli oder eine Reiswaffel?“ Lotta: „Müsli!“ JP: „Na dann komm.“ Zusammen bereiten sie ein Müsli mit Milch und Apfel zu. Lotta isst zufrieden ihr Schälchen leer. Später frage ich die JP nach der Situation. Sie sagt, dass einige Kinder morgens kraftlos und ohne Frühstück in der Schule ankommen und sie für den Fall immer etwas zum Frühstück da hätten.
An dieser Situation wird deutlich, dass es beim Start in den Tag auch erst einmal um Versorgung mit zum Beispiel Essen und Zuspruch gehen kann. Das Kind kommt hungrig und müde zur Schule.
Die aufgeführten Beispiele zeigen die Vielfalt der Tätigkeiten der Kinder am Morgen: Sie reichen von drinnen spielen, draußen spielen, mit Erwachsenen Alltagsdinge erledigen, selbständig an individuellem Lernmaterial arbeiten, Lernspiele und Freiarbeitsmaterial nutzen über Telefondienst, Ausruhen, mit Erwachsenen unterhalten, Arbeiten oder Frühstücken.
Auch hier lassen sich die Tätigkeiten keinem einzelnen klassischen Bereich des Offenen Anfangs wie Betreuung, Förderung oder Unterrichtsvorbereitung zuordnen. Vielmehr handelt es sich um ein individuelles Ankommen der Kinder (und Erwachsenen) im Tag. Durch die Vielfalt der „erlaubten“ Tätigkeiten entsteht der Eindruck, dass jedes Kind die Möglichkeit bekommt, etwas zu tun, das es gerade für seinen Start in den Tag braucht oder ihm zumindest gerade Spaß macht.
Gerade dieser sehr individuelle Umgang mit den Bedürfnissen der Kinder kann in gewissem Sinne als besonders „kindgerechter“ Start in den Tag interpretiert werden: Jedes Kind kommt am Morgen mit anderen Erfahrungen und Erlebnissen in der Schule an; einige Kinder hatten vielleicht schon ein Familienfrühstück und brauchen daher etwas Bewegung und können somit nach draußen auf den Spielplatz gehen; einige sind vielleicht schon lange wach, haben zu Hause gespielt und nutzen die erste ruhige Zeit im Haus, um zu arbeiten; wieder andere hatten vielleicht viel Hektik und, so wie Lotta, noch kein Frühstück. Es entsteht insofern der Eindruck, dass versucht wird, möglichst viele Bedürfnisse der Kinder zu befriedigen, damit sie gut im Tag ankommen.
Die Sozialpädagogin der Gruppe kommt, sie hat augenscheinlich ihre Arbeitszeit mit der Lehrerin getauscht. Vier Kinder kommen auf sie zu und wünschen ihr einen guten Morgen. Zwei Kinder umarmen sie hintereinander. Sie hat eine große Tasse mit Milchkaffee in der Hand. Sie setzt sich an einen großen runden Tisch und beginnt den Tagesplan ins Gruppenbuch zu schreiben. Ein Kind setzt sich direkt dazu und schaut zu. Es kommen immer mehr Kinder dazu, bis etwa sieben Kinder um sie sitzen und stehen. Sie unterhält sich mit ihnen. Sie und die Kinder gehen gemeinsam rüber in die Versammlungsecke und setzen sich auf den Teppich, sie plaudern weiter. Nach und nach kommen auch die anderen Kinder dazu, bis die gesamte Gruppe im Kreis auf dem Boden sitzt.
Die Lehrerin setzt sich an den Tisch, an dem die Mädchen malen, und schreibt etwas in das Gruppenbuch. Um 8:45 fordert sie die Kinder auf aufzuräumen. Alle treffen sich in der Versammlung.
Bemerkenswert am Beginn des eigentlichen „Unterrichts“ ist, dass es kein äußeres Signal wie einer Klingel bedarf. Der Impuls zum Beginnen scheint „von innen“ zu kommen. Nach der sehr individuellen Phase des Offenen Anfangs beginnt der Unterrichtstag in der Gemeinschaft mit einem Morgenkreis, in der Laborschule „Versammlung“ genannt. Der Beginn der Morgenversammlung entsteht insofern gewissermaßen „organisch“ aus der Situation heraus: Es wirkt wie ein ritualisiertes, gemeinsames Tun von Kindern und Erwachsenen.

4.3 Beziehungen im Fokus

Eine Lehrerin kommt mit zwei Kindern aus einer Tür. Sie begrüßt ein ankommendes Kind mit den Worten: „Das ist ja schön, dass du schon da bist!“ und hält ihm die Tür auf.
Eine Lehrerin begrüßt einen Jungen: „Guten Morgen, Geburtstagskind!“
Die Kinder werden persönlich begrüßt. Dass die Lehrerin vom Geburtstag des Kindes weiß und bereits beim ersten Kontakt daran denkt, lässt sich als Zeichen der Wertschätzung deuten.
Ein Junge kommt auf die Fläche und geht sofort zur Lehrerin mit den Worten: „Weißt du, was mir gestern beim Fahrradfahren passiert ist?“ Er erzählt von einem kleinen Unfall und zeigt seine Schrammen. Die Lehrerin geht sehr mitfühlend darauf ein und sieht sich geduldig die Verletzungen an und nimmt Anteil an seiner Geschichte.
Ein Junge hockt vor einem kleinen Terrarium. Er beobachtet ganz in Ruhe einige Weinbergschnecken. Eine Nachbarlehrerin kommt und setzt sich kurz schweigend dazu. Sie beobachten die Tiere gemeinsam. Beide lächeln, als die Schnecken beginnen, einige Blätter anzuknabbern.
Dadurch, dass die Kinder nach und nach im Tag ankommen, gibt es die Gelegenheit, auch einmal allein mit der Lehrerin oder dem Erzieher ins Gespräch zu kommen – und auch die alltäglichen Situationen, die oben beschrieben wurden, wie Wäsche falten oder Geschirr spülen, geben den Kindern die Gelegenheit, „nebenbei“ mit den ihnen vertrauten Personen ins Gespräch zu kommen. Durch die offenen Räume haben sie zudem die Wahl aus verschiedenen Erwachsenen, sie müssen keine große Hürde nehmen und in einen anderen Raum gehen, um mit jemandem ins Gespräch zu kommen. Die Erwachsenen sind einfach sichtbar vor Ort und somit greifbar für die Kinder.
Ein Junge kommt zur Lehrerin und gibt ihr ausgeliehene Bücher zurück. Die Lehrerin sagt: „Oh, Tom ist auch dabei!“ Der Junge lächelt und drückt sein Kuscheltier, ein Pferd, näher an sich. Die Lehrerin sagt später zu mir, dass der Junge seit drei Jahren sein Kuschelpferd mit zur Schule bringt.
Die Lehrerin nimmt den schon groß wirkenden Jungen ernst, macht sich nicht lustig über sein Kuschelpferd in seinem Arm oder verbannt seine Lebenswelt aus der Schule. Ihm scheint dieses Kuschelpferd wichtig zu sein und er darf das auch zeigen.
Die Lehrerin begrüßt ein Kind, das sehr müde und verschlafen aussieht mit den Worten „Guten Morgen, Paula!“ und umarmt sie liebevoll. Sie fragt: „Hast du heute bei Mama oder Papa geschlafen?“ Das Mädchen antwortet: „Bei Mama!“ Ein Junge kommt hinzu und lacht offensichtlich über das sehr verschlafene Gesicht von Paula. Die Lehrerin redet mit ihm und Paula über das Thema „Auslachen“ und wie man sich dabei fühlt. Dabei „klagt“ sie den Jungen nicht an.
Sie nutzt diese Situation, um über Respekt gegenüber anderen zu sprechen. Dies geschieht nicht belehrend, sondern sehr an der Situation ausgerichtet.
Zwei Jungen rennen über die Fläche, jagen sich und schreien laut dabei. Der Erzieher ruft laut „Stopp! Nicht rennen hier“. Einige Kinder schauen auf und beobachten das Geschehen, auch einige Kinder der höher gelegenen Fläche schauen über die Brüstung.
Durch den Großraum wird Verhalten von Kindern und Erwachsenen öffentlich, es gibt fast immer Zuschauer. Unerwünschtes Verhalten der Kinder, aber auch der Erwachsenen wird sichtbar – gleichzeitig wird auch vorbildliches Verhalten von den anderen gesehen.
Während des gesamten ethnographischen Erhebungszeitraums wurden die Kinder wertschätzend angesprochen und behandelt, die Ethnographin hat kein diskriminierendes, respektloses, demütigendes, übergriffiges oder unhöfliches Verhalten der Erwachsenen erlebt. Der sehr freundliche und respektvolle Umgang mit den Kindern erstaunte die Ethnographin zuweilen:
Heute wirkt der Tagesbeginn im Haus unruhiger als sonst, dazu tragen insbesondere drei Jungen bei, die mit Kissen Schwertkampf spielen: zunächst benutzen sie sie als Schwerter, dann beginnen sie sich zu jagen. Eine Lehrerin geht zu ihnen, stoppt sie sanft und sagt in leisem und ruhigen Ton: „Ihr wisst, bitte auf der Fläche nicht rennen! Wenn ihr Bewegung braucht, geht doch nach draußen“. Die Jungen finden das augenscheinlich okay und spielen ruhiger weiter mit den Kissen. Beindruckend, wie schnell und stressfrei die Situation mit Hinweis auf die Bedürfnisse der Kinder gelöst war.
Eine mögliche Erklärung hierfür ist, dass der offene Raum dazu beiträgt, die Kinder respektvoll zu behandeln, denn jedes Meckern, jedes Anschreien der Kinder wird von anderen Kindern und Erwachsenen unweigerlich gehört, gesehen und höchstwahrscheinlich auch kommentiert. Der Großraum reguliert hier also gewissermaßen das Verhalten seiner Bewohnerinnen und Bewohner und macht – wie oben beschrieben – Verhaltensweisen öffentlich. Kinder und Erwachsene können sich schnell andere Personen zur Hilfe holen oder nachfragen, wie sie die Situation wahrgenommen haben. Zudem scheinen die Regeln, was man „darf“ und „nicht darf“, fest im Bewusstsein der Kinder verankert zu sein. Auch dies lässt sich möglicherweise auf den Großraum beziehen, denn auch positive Verhaltensweisen sind für alle sichtbar.
Unter Rückgriff auf die von Annedore Prengel, Friederike Heinzel, Sandra Reitz und Ursula Winklhofer 2017 (in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis Menschenrechtsbildung an der Rochow­Akademie) entwickelten Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen können die beobachteten Beziehungen insofern durchaus als gute – das heißt: „ethisch begründet[e]“ – pädagogische Beziehungen gewertet werden: Hier werden „Kinder und Jugendliche [...] wertschätzend angesprochen und behandelt“, „Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte hören Kindern und Jugendlichen zu“ und „achten auf Interessen, Freuden, Bedürfnisse, Nöte, Schmerzen und Kummer von Kindern und Jugendlichen“ (Prengel, Heinzel, Reitz & Winklhofer, 2017, S. 4).

5. Diskussion und Fazit: Als ganze Person im Tag, in der Schule, in der Gemeinschaft ankommen

Die präsentierten Ergebnisse geben einen ersten Hinweis darauf, dass die beschriebene, an der Laborschule praktizierte Form des Offenen Anfangs tatsächlich geeignet für den Aufbau und die Pflege jener von Prengel als so wichtig eingeschätzten „gute[n] pädagogische[n] Beziehungen“ (Prengel, 2013, S. 10) sein könnte. Hierbei erscheinen insbesondere vier Faktoren gleichermaßen bedeutsam:

Vor dem Hintergrund dieser ersten Ergebnisse wäre weiter zu untersuchen, wie sich der Offene Anfang in den Rhythmus des Tages einfügt und inwieweit entsprechende Zeiten und Räume auch an anderen Schulen realisiert werden könnten. Neben dem beschriebenen Offenen Anfang lassen sich dabei sicherlich noch andere Zeiten und Gelegenheiten finden, um gute pädagogische Beziehungen zu gestalten. So kann möglicherweise eine gelungene Rhythmisierung des Schultages dazu beitragen, eine Vielzahl weiterer Freiräume und Gelegenheiten zu schaffen, in denen Zeit und Raum für „Beziehungsarbeit“ geöffnet werden können. Dies gilt beispielsweise für den Morgenkreis: Hier können Dinge besprochen werden, die den Kindern wichtig sind, und es kann eine Atmosphäre des wohlwollenden Zuhörens geschaffen werden. Gleichzeitig könnte es auch zwischen den einzelnen Unterrichtsphasen, in denen intensiv am Unterrichtsgegenstand gearbeitet wird, immer wieder Phasen geben, in denen das soziale Miteinander der Kinder und auch der Lehrer*innen und Schüler*innen untereinander mehr Zeit hat. Dies könnten Phasen des miteinander Spazierengehens in der Natur sein oder auch Momente wie die gemeinsame Lesezeit in der Bibliothek oder das gemeinsame Essen: Momente also, in denen Gespräche und Begegnungen „nebenbei“ möglich sind. Und auch im Schuljahresverlauf könnte es solche Gelegenheiten geben: Eltern-Kind-Nachmittage oder Klassenfahrten zum Beispiel, der Besuch außerschulischer Lernorte oder Ausflüge in die Umgebung. Mit anderen Worten: Wenn eine Schule sich nicht nur als Ort des Unterrichtens versteht, sondern vielmehr als Lebens- und Erfahrungsraum, dann können zahlreiche Gelegenheiten geschaffen werden, um gute pädagogische Beziehungen aufzubauen – Gelegenheiten, die sich förderlich auf das Lernen und Leben der Kinder auswirken können.

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[1]   Dies gilt für alle Formen der Ganztagsschule wie der Offenen Ganztagsschule, der teilgebundenen Ganztagsschule sowie der gebundenen Ganztagsschule.

[2]   Die hier und im Nachfolgenden kursiv gesetzten Absätze zeigen an, dass es sich um Auszüge des erhobenen Datenmaterials handelt.