Abstract: In der Unterrichtspraxis stellt sich der Zusammenhang zwischen Inklusion und Exklusion als komplex und widersprüchlich dar. So können bspw. Bemühungen von Teilhabe bestimmter Schüler*innen ihr Gegenteil bewirken, wenn diese Bemühungen in der Logik einer übergeordneten Exklusions-Struktur des Unterrichtsmilieus umgesetzt werden. Am Beispiel eines Rollenspiels im ‚inklusiven‘ Politikunterricht eines 9. Jahrgangs, in dem zwei Schülerinnen mit zugeschriebenem sonderpädagogischen Förderbedarf im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung (negativ) exponiert werden, will dieser Beitrag einen solchen Widerspruch explizieren. Das Fallbeispiel wird mit der Dokumentarischen Methode analysiert.
Stichworte: Inklusion, Machtstruktur, Unterrichtsmilieu, Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung, Rollenspiel, inklusive politische Bildung
Inhaltsverzeichnis
Die Verabschiedung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung (UN-BRK) im Jahr 2006 (Ratifizierung Deutschland 2009) gilt als zentraler Bezugspunkt der Inklusions-Debatte. Spätestens seitdem wird die Forderung an das deutsche Schulsystem virulenter, mehr gemeinsamen Unterricht zu ermöglichen und die Teilhabe von Schüler*innen mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen und unter dem Leitbild „einer grundsätzlich heterogenen Lerngruppe“ (vgl. Hinz, 2000, S. 126) pädagogisch und didaktisch zu gestalten (vgl. Hackbarth und Martens, 2018, S. 191). Die damit einhergehenden Herausforderungen betreffen nicht nur das (strukturell auf Exklusion angelegte) selektive Schulsystem (vgl. Sturm, 2015), sondern auch die Gestaltung von Fachunterricht: Inklusion ist damit auch eine Frage der Fachdidaktiken (vgl. die Stellungnahme der GFD, 2015). Als ein zentrales Ziel von Inklusion lässt sich das Sicherstellen von „Partizipation an Lernprozessen, die Reduktion von Exklusionsprozessen und damit Lernerfolg und schulischer Erfolg insgesamt“ (ebd., S. 1) betonen.
Diskussion und Forschung zu inklusionsbezogenen Herausforderungen für das fachbezogene schulische Lernen sind in den verschiedenen Fachdidaktiken unterschiedlich weit fortgeschritten (vgl. die Beiträge in Langner, 2018). Für die Politikdidaktik lässt sich konstatieren, dass trotz vereinzelter erwähnenswerter Ausnahmen (vgl. z.B. Fischer, 2020) und konzeptioneller Impulse (vgl. Dönges et al., 2015) die Erforschung inklusiven Unterrichts weiterhin ein Desiderat darstellt (vgl. Grammes, 2017, S. 44; Jahr & Hölzel, 2019, S. 5). Daher ist es erforderlich, sich gerade auch solchen Politikunterricht anzusehen, der sich als „inklusiv“ versteht. Der vorliegende Beitrag widmet sich einer Rollenspiel-Szene aus einem Politikunterricht einer Gesamtschulklasse (9. Jahrgang), der am Anspruch der Inklusion ausgerichtet ist. Unter einer praxeologisch-wissenssoziologischen Perspektive soll exemplarisch aufgezeigt werden, wie widersprüchlich sich in der Unterrichtspraxis Einschluss und Ausschluss strukturbedingt darstellen.
Wenn ich im Folgenden auf den gemeinsamen Politikunterricht von Schüler*innen mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf schaue, dann folge ich zwar im ersten Schritt einem nur „engen, behinderungsbezogenen Adressatenverständnis“ (Lindmeier & Lütje-Klose, 2015, S. 7) von Inklusion. Indem es mir aber um eine handlungspraktische Logik von Unterricht geht, der Beitrag also zeigen soll, wie im Unterricht strukturell Exklusion erzeugt und stabilisiert wird, schließe ich mich weiterführend an eine „sozialwissenschaftliche Thematisierungsfigur“ (Budde et al., 2016) von Inklusion an. Die hier im Mittelpunkt der Analyse stehenden Schüler*innen mit diagnostizierten sonderpädagogischem Förderbedarf (hier im Förderschwerpunkt ‚Geistige Entwicklung‘) stehen als Beispiel einer vulnerablen Gruppe für eine exkludierende Strukturlogik des Unterrichts, die prinzipiell auch andere von Ausschluss bedrohten Gruppen und Individuen treffen kann.
Anschließend an andere praxeologisch-wissenssoziologisch fundierte Studien, die das Verhältnis von Inklusion und Exklusion in der Unterrichtspraxis thematisierten (vgl. u.a. Wagner-Willi & Sturm, 2012; Wagner-Willi, 2018) differenziere ich zwischen einer kommunikativen Ebene und einer konjunktiven Ebene von Inklusion. Zur kommunikativen Ebene von Inklusion gehören theoretische Wissensbestände wie die pädagogische Programmatik der Schule, an der sich die hier im Mittelpunkt stehende Unterrichtsszene abspielt. Die Schule dieser Klasse markiert sich als inklusive Gesamtschule und ist Trägerin einer Inklusions-Auszeichnung. Diese Inklusion ist auf kommunikativ-expliziter Ebene, da sie Teil der „Corporate Identity“ der Schule als Organisation ist (vgl. Bohnsack, 2017, S. 123). Sie verrät uns zwar einiges über den pädagogischen Anspruch der Schule, nichts jedoch über die handlungspraktische Realität von Inklusion, bspw. in der Unterrichtspraxis. Gleichzeitig stellt diese organisationale Selbstbezeichnung einen ersten Anlass dar, sich unter einer inklusionsbezogenen Fragestellung einem hier realisierten Unterricht genauer anzusehen. Ein praxeologisch-wissenssoziologischer Blick auf Unterricht kann die dort stattfindenden Ausgrenzungs- und Teilhabeprozesse in ihrer Komplexität aufschließen (vgl. Wagner-Willi & Sturm, 2012), hier also die Praxis eines Politikunterrichts, der am Anspruch der Inklusion ausgerichtet ist.
Einen zweiten Anlass zur Analyse dieses Fallbeispiels vor dem Hintergrund einer inklusionspädagogischen Fragestellung stellt das konkrete didaktisch-methodische Setting dar, das von den Beteiligten aufgeführt wird. Es handelt sich um ein Rollenspiel zum fachlichen Thema Liberalismus. Rollenspiele gehören zu den Simulationen und zeichnen sich dadurch aus, dass die Schüler*innen nicht sich selbst spielen (wie in sozialen Experimenten) und auch keine funktionale gesellschaftliche Rolle übernehmen (wie in Planspielen), sondern eine Alltagssituation nachstellen und dabei eine „interpersonale, soziale Rolle“ (Petrik, 2017, S. 42) übernehmen: „Im Mittelpunkte stehen die Interaktionen von Menschen mit ihren Bedürfnissen, Werten, Interessen und (latenten) politischen Grundorientierungen in überschaubaren Situationen“ (Petrik, 2011, S. 116). Rollenspiele lassen sich, inkl. ihre Vorbereitungsphase, die in der Regel als Schüler*innengruppenarbeit realisiert wird, zu den kooperativen Aneignungsformen zählen, da auch bei Rollenspielen der didaktische Anspruch besteht, Schüler*innen von Schüler*innen lernen zu lassen (vgl. Mattes, 2011, S. 162). Kooperativen Aneignungsformen wird zumindest auf der programmatischen Ebene für inklusiven Unterricht eine hohe Bedeutung beigemessen (vgl. Hackbarth & Martens 2018, S. 199f.).
Die vorliegende Szene ist auch daher interessant, weil der den Unterricht leitende Fachlehrer (Herr Hartenberger) im nachträglichen Interview [Kontextwissen aus dem Forschungsprojekt] erläutert hat, dass er das Rollenspiel zum Anlass nahm, die drei im videografierten Unterricht sonst wenig präsenten Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf (im Transkript Sandra, Meike und Klaus) hier teilhaben zu lassen. Dieses besondere Engagement des Lehrers zeigt sich auch in der Handlungspraxis, geht aber, so der zentrale Befund, nicht über eine Inszenierung von Teilhabe hinaus, da sie in der (macht-)strukturierten Logik des Unterrichtsmilieus verbleibt und die Degradierung der betroffenen Schüler*innen sogar stabilisiert.
Der Beitrag hat nicht das Ziel, die Unterrichtsmethode Rollenspiel inklusionsdidaktisch zu beurteilen. Stattdessen verfolge ich ein deskriptives Interesse und möchte aufzeigen, wie Ausgrenzungspraktiken im Unterrichtsmilieu habitualisiert sind, also Teil der gemeinsamen entwickelten Struktur sind, und daher auch nicht so einfach durch eventuell gut gemeinte Teilhabeinszenierungen im Kontext eines Rollenspiels überwunden werden können. Hierfür gehe ich folgendermaßen vor: Zuerst lege ich (Kapitel 2) die zentralen praxeologisch-wissenssoziologischen Kategorien dar, die die grundlagentheoretische Einordnung der Szene dienen. Anschließend (Kapitel 3) stelle ich am Beispiel zweier Sequenzauszüge aus einem Rollenspiel zum Liberalismus eine zusammenfassende dokumentarische Interpretation mit Blick auf die degradierende Machtstruktur im Unterrichtsmilieu vor. Abschließend (Kapitel 4) formuliere ich einige Schlussfolgerungen bezüglich der inklusionspädagogischen und fachlichen Ausgestaltung dieses Unterrichts.
Im Anschluss an die Praxeologische Wissenssoziologie (vgl. v.a. Bohnsack, 2017), der Met-Theorie der Dokumentarischen Methode (vgl. Bohnsack, 2014) verstehe ich Unterricht als „Unterrichtsmilieu“ (Wagner-Willi & Sturm, 2012. Gemeint ist damit ein organisationaler konjunktiver Erfahrungsraum im Sinne Karl Mannheims (1980, S. 229), der sich auf Grundlage einer gemeinsamen Interaktionspraxis der Beteiligten, im Unterricht also der Lehrpersonen und Schüler*innen, konstituiert. In diesem gemeinsamen Erlebnisprozess entsteht ein Orientierungsrahmen, „welcher für die Reproduktion der Praxis orientierend ist“ (Bohnsack, 2017, S. 104). Bohnsack (2020, S. 48) betont, dass für solche reflexiven Erfahrungsräume wie dem Unterrichtsmilieu nicht (im Gegensatz zu „Gruppen“) gemeinsame Orientierungsrahmen (also Rahmenkongruenz) der Beteiligten Voraussetzung sind, sondern sich solche Milieus auch unter der Bedingung von Rahmeninkongruenz konstituieren. Lehrpersonen und Schüler*innen wissen aufgrund ihrer gemeinsamen Praxis um die Unterschiede in den Orientierungen und haben die Relationierung dieser zueinander in meist langjähriger gemeinsamer Praxis habitualisiert.
Mit der praxeologisch-wissenssoziologischen Perspektive geht die Abkehr eines rationalistischen Handlungsmodells einher (vgl. Bohnsack, 2017, S. 31ff.). Die sich in der Interaktion zeigenden Strukturen und Prozesse werden nicht den Motiven und Intentionen der einzelnen Akteur*innen zugeschrieben, sondern als Komponente eines in gemeinsamer Praxis strukturierten Erfahrungsraums verstanden. Für Unterricht bedeutet dies, dass sich weder Ausgrenzungs- noch Teilhabeprozesse als Intention z.B. des Lehrers verstehen lassen, sondern diese eine habitualisierte (oder auch aktionistisch hergestellte) Eigenschaft der unterrichtlichen Struktur darstellen.
Ein Grundmodus organisationaler Handlungspraxis, dessen Funktion es u.a. ist, Unterricht trotz Rahmeninkongruenzen zu verstetigen, oder anders ausgedrückt, Unterricht trotz gegenteiliger Orientierungsrahmen der Beteiligten zu ermöglichen, ist der machtstrukturierte Modus. Diese Machtstruktur, praxeologisch-wissenssoziologisch verstanden als Eigenschaft des Interaktionssystems und nicht als Eigenschaft oder Fähigkeit eines Beteiligten (Bohnsack, 2017, S. 246), basiert nach Bohnsack (ebd.) auf drei Bedingungen: 1. auf einer konstituierenden Rahmung, die Bohnsack auch „Erst-Codierung“ nennt; 2. auf Prozesse der (De-)Gradierung nach Garfinkel (1977) die Bohnsack auch als „Zweit-Codierung“ bezeichnet und 3. auf einer umfassenden Invisibilisierung. Da sich alle drei Bedingungen im folgenden Fallbeispiel zeigen, skizziere ich knapp deren Inhalte (umfassend in Bohnsack, 2017, S. 244ff.; Bohnsack, 2020, S. 72ff.).
Die konstituierende Rahmung ist eine Art Fremdrahmung der Organisation, hier also der Schule. Als „organisationale strukturelle Vorbedingung“ (Bohnsack, 2017, S. 252) sorgt sie dafür, dass die Handlungsbeiträge der Schüler*innen als Entscheidungen (im Sinne Luhmanns) gelten und dadurch für die Organisation bearbeitbar bzw. anschlussfähig werden. Sie erfahren eine codespezifische Transformation. Zu den zentralen Aspekten der unterrichtlichen konstituierenden Rahmung gehören Leistungsmessungen, Disziplinierungen (vgl. Wagener, 2020), Bewertungen, sofern sie im „Rahmen eines Programms der Bewältigung gemeinsamer Aufgaben“ (Bohnsack, 2020, S. 83) stattfinden, und Orientierungen an der Sache des Unterrichts (vgl. Jahr, 2021). Die konstituierende Rahmung wird von allen Beteiligten in der gemeinsamen Interaktionspraxis hervorgebracht. Obwohl also Lehrpersonen für Unterricht durchaus eine besondere Verantwortung tragen, da sie es sind, die die konstituierende Rahmung letztendlich im Unterricht an die Schüler*innen vermitteln und in gemeinsamer Interaktion aufrechterhalten, können sie letztendlich nicht kontrollieren, inwiefern und ob die Schüler*innen sich in ihren Handlungsbeiträgen im Unterricht an der konstituierenden Rahmung orientieren (vgl. Bohnsack, 2020, S. 11). Verschwindet in den Beiträgen der Beteiligten der Bezug zur konstituierenden Rahmung, bspw. weil durch beständige Provokationen oder moralisierende Degradierungen der Bezug zum gemeinsamen Sachprogramm verunklart wird (vgl. Bohnsack, 2020, S. 82ff.), kann sich kein konjunktiver Erfahrungsraum, kein Unterrichtsmilieu, konstituieren. Solche Fälle bezeichnet Bohnsack in Abgrenzung zu Macht als Willkür.
Die zweite Komponente dieser organisationalen Machtstruktur ist die Degradierung im Sinne Garfinkels (1977), was sie reziprok auch als Gradierung verstehen lässt. Damit ist eine Fremdrahmung gemeint, die nicht beim Bezug auf die konstituierende Rahmung stehenbleibt, sondern sich auf die gesamte Person verlängert und damit „totale Identitäten“ konstruiert (Bohnsack, 2017, S. 309). Bspw. werden Schüler*innen auf Grundlage einer schulischen Leistungsbewertung als ‚totale Personen‘ konstruiert, indem singuläre und von der Organisation diagnostizierte Leistungsaspekte auf die Gesamt-Biografie der Schüler*innen übertragen werden. Solch „individuelle und auch kollektive Biografie- und Identitätskonstruktion“ konstruieren so verstandene totale Identitäten auf der Grundlage von „Moralisierungen, Pathologisierungen oder Zuschreibungen totaler (In-)Kompetenz“ (Bohnsack, 2017, S. 136).
Macht ist, und das ist die dritte Komponente, als funktionierende Strukturlogik auf Reibungslosigkeit angewiesen. Das ist mit Invisibilisierung (ebd., S. 248) gemeint. Die Logik der Konstruktion totaler Identitäten durch (De-)Gradierungen darf nicht der Meta-Kommunikation zugeführt werden. Dies bedeutet nicht, dass nicht ab und an die Resultate der Machtstruktur thematisiert werden, also die durch sie konstruierten Personen. Unsichtbar, weil nicht-thematisch, bleibt allerdings die dahinterstehende Logik sowie das Ausmaß dieser Konstruktion. Auf propositionaler Ebene äußert sich Invisibilisierung v.a. durch die Eliminierung von Metakommunikation: weder Erst-Codierung noch Zweit-Codierung werden kommunikativ reflektiert. Auf performativer Ebene äußert sie sich in der Interaktionsorganisation (ebd., S. 249), im Besonderen durch die Eliminierung von Distanzierung: Den Subordinierten wird es unmöglich gemacht, Rollendistanz auszudrücken. Zum Beispiel genießen in Schule oft als leistungsstark markierte Schüler*innen mehr Autonomiezugeständnisse als solche Schüler*innen, die schulisch als leistungsschwach gelten (vgl. Wagener, 2020, S. 106).
Bei der Klasse, die das Rollenspiel umsetzt, handelt es sich um eine neunte Gesamtschulklasse in einer Großstadt in Sachsen-Anhalt. Die Klasse besteht aus 25 Schüler*innen. Am Tag der Aufzeichnung fehlen drei Schüler*innen, so dass hier 22 Schüler*innen anwesend sind. Von diesen haben wir oben erwähnt drei Schüler*innen (Klaus, Sandra und Meike) einen diagnostizierten sonderpädagogischen Förderbedarf im Förderbereich ‚Geistige Entwicklung‘. Der Sozialkundeunterricht wird von einem Fachlehrer (Herr Hartenberger) geleitet. Ebenfalls ist eine Schulbegleiterin (Frau Müller) anwesend. Die hier von den Beteiligten durchgeführte Unterrichtsmethode Rollenspiel ist Teil der Dorfgründungssimulation (vgl. Petrik, 2013): Eine Unterrichtsreihe, in deren Kontext die Klasse gemeinsam und unter Anleitung der Lehrperson die Ausreise in ein verlassenes Bergdorf simuliert und dort als Klasse eine Dorfgemeinschaft gestalten soll. In jeder Dorfgründung werden unterschiedliche Phasen („Dorfgründungsszenen“) durchgespielt, wozu u.a. das Rollenspiel gehört. Das didaktische Ziel des Rollenspiels ist im Gesamtablauf der Dorfgründung eingewoben: Die Schüler*innen „erspielen […] Denkfiguren der vier Grundorientierungen Liberalismus, Konservatismus, Sozialismus und Anarchismus. Sie übertragen arbeitsteilig Quellenauszüge von Smith, Burke, Marx und Proudhon auf das Dorfleben. In einer Problemszene stellen sie die Gesellschaftsdiagnose eines Theoretikers dar“ (Petrik, 2011, S. 117). Nach der szenischen Darstellung folgt eine Phase, in der die anderen Mitschüler*innen formulieren, welche Erkenntnisse sie durch das Rollenspiel kennengelernt haben.
Im Zuge des „Demokratietransferprojekts“ (Petrik et al., 2018) wurde im Zeitraum Herbst 2012 bis Herbst 2014 mit insgesamt acht Schulklassen an sechs verschiedenen Schulen in Sachsen-Anhalt eine solche Dorfgründung durchgeführt und mit zwei Kameras videografiert. Die Gesamtschulklasse ist Teil meiner mit diesen Daten arbeitenden Sekundäranalyse und wird dort unter der Maskierung „Erle“ geführt. Die vorliegende Rollenspiel-Sequenz habe ich intensiv mit dem Vorgehen der „Dokumentarischen Videoanalyse von Unterrichtsreihen“ ausgewertet, das sich eng an der Dokumentarischen Videoanalyse orientiert (vgl. Fritzsche & Wagner-Willi, 2015, Wagener & Wagner-Willi, 2017).
Vor der folgenden Sequenz hat der Lehrer die Schüler*innen in das Rollenspiel eingeführt und die Klasse in vier Gruppen eingeteilt. Die Schüler*innen haben in Arbeitsgruppen und materialbasiert das Rollenspiel vorbereitet. Herr Hartenberger wiederholt nach Abschluss dieser Gruppenarbeitsphase kurz die Aufgabenstellung und ruft die Schüler*innenarbeitsgruppe Liberalismus und ihre einzelnen Mitglieder „Tom“, „Jacek“, „Alex“, „Meike“, „Sandra“ und „Klaus“ laut auf. In diesem Moment sind die meisten Stühle in einem zur Tafel hin geöffneten Sitzkreis aufgestellt. Der Bereich vor der Tafel wird vom Lehrer explizit als „Bühne“ markiert (siehe Unterrichtsskizze Abb. 1). Die gesamte Szene ‚Rollenspiel Liberalismus‘, also von Aufgabenübermittlung durch den Lehrer bis sich alle Schüler*innen der Arbeitsgruppe Liberalismus wieder in den Stuhlkreis setzen, hat eine Länge von ca. 25 Minuten (Timecode: 3:34–28:38). Sie lässt sich in folgende sechs Sequenzen unterteilen.
Hauptsequenz (Timecode) |
Oberthema |
Interaktionsbeschreibung |
„Wir fangen an mit Liberalismus“ (3:34–5:07) |
Wer ist beteiligt? |
Zahlreiche parallele Interaktionen. Das Rollenspiel wird räumlich hergestellt. Außer Herrn Hartenberger, Tom, Jacek, Alex, Meike, Sandra und Klaus sitzen die Beteiligten im Klassenzimmer. |
„Die Reichensteuer ist ungerecht“ (5:08–7:50) |
Liberalismus-Rollenspiel |
Dominante verbale Interaktionsanteile zuerst zwischen Jacek und Alex und daraufhin zwischen Alex, Tom und Jacek. |
„Was habt ihr wahrgenommen?“ (7:51–9:42) |
Rollenspiel-Auswertung |
Das ‚Publikum‘ formuliert Deutungen zum gesehenen Rollenspiel. Herr Hartenberger moderiert zu Beginn die Interaktion. Ab 8:45 moderiert Alex. |
„Jetzt versucht das mal, dieses Schmusen, liberal zu denken“ (9:43–11:58) |
Rollenspiel-Auswertung |
Herr Hartenberger lenkt die Aufmerksamkeit des Publikums auf Meike und Sandra. Das ‚Publikum‘ formuliert unter Leitung des Lehrers, was die Beiden darstellen. Meike und Sandra beginnen eine spontane Interaktion und umarmen sich länger. |
„Lies mal vor“ (11:59–13:22) |
Sandras Gedicht |
Sandra beginnt spontan eine Geschichte vorzulesen. Herr Hartenberger bittet Sandra und Meike zurück auf ihren Sitzplatz zu gehen. |
„einfach Schritt für Schritt durch“ (13:23–28:38) |
Rollenspiel-Auswertung |
Tom und Alex erklären die Punkte an der Tafel. Die meisten Schüler*innen füllen ein Arbeitsblatt aus. |
Mit Blick auf die Fragestellung, wie in diesem Unterrichtsmilieu bestimmten Schüler*innen Kompetenz und Autonomie abgesprochen werden, diese Schüler*innen gleichzeitig im Kontext eines Rollenspiel exponiert werden und wie sich diese Exposition deuten lässt, habe ich zwei Untersequenzen ausgewählt: einmal aus der Sequenz „Wir fangen an mit Liberalismus“ (3:34–5:07), in der das Rollenspiel räumlich-körperlich hergestellt wird, und einmal aus der Sequenz „Jetzt versucht das mal, dieses Schmusen, liberal zu denken“ (9:43–11:58), in der Meike und Sandra im Mittelpunkt der offiziellen Unterrichtsinteraktion stehen. Die folgenden Transkripte realisieren eine integrierte Darstellung der verbalen und non-verbalen Interaktionsanteile und richten sich nach dem TiQ (vgl. Bohnsack, 2014, S. 253). Die non-verbalen Interaktionsanteile sind in eckigen Klammern und in einer anderen Schriftart abgedruckt. Interaktionsanteile, die nur aus Kamera B (siehe Skizze, Abb. 1) erkennbar sind, sind kursiv abgedruckt (vgl. Wagener & Wagner-Willi, 2018).
Abb. 1: Skizze Klassenzimmer (Timecode: 4:20)
Während zahlreicher Interaktionen im Raum, von denen hier im Transkript zwei Interaktionsräume abgebildet werden (Lena und Caren, Frau Müller mit Meike und Klaus) ruft der Lehrer Herr Hartenberger laut „Meike“ aus. Frau Müller reagiert und sagt zu ihm, dass Meike jetzt „geht“. Herr Hartenberger kommt den beiden entgegen, nimmt Meike an die Hand und sagt ihr, „vor“ zu kommen. Er führt Meike an die bereits vor der Tafel stehende Sandra heran. Beide lehnen sich aneinander, woraufhin der Lehrer sagt, dass dies schon „gut zu Liberalismus“ „passt“. Während Jasmin ihn fragt, ob das „jetzt dazu“ gehört, ruft Herr Hartenberger Klaus auf und fragt laut, ob er auch „möchte“. Klaus bleibt sitzen, woraufhin Herr Hartenberger sagt, dass Klaus dazukommen kann, wenn er „im Laufe des Spiels“ „Lust“ hat. Jasmin wiederholt ihre Frage an den Lehrer und dieser bejaht, dass „das“ dazu gehört. Caren fragt, ob das zum Rollenspiel gehört. Herr Hartenberger spricht laut Jacek und Alex an, während er in Richtung Fenster geht. Der Lehrer sagt zu Titus, dass dieser „beobachten“ soll.
Der Ausschnitt stellt die kollektive Herstellung der ersten Rollenspielszene dar. Deutlich wird eine besondere Zuwendung der beide Pädagog*innen an die beiden Schüler*innen Klaus und Meike, während Beiträge anderer Schüler*innen (Jasmin, Caren) vom Lehrer auch mal ignoriert werden. Im Vergleich von Herrn Hartenberger und Frau Müller zeigen sich deutlich unterschiedliche Zuständigkeitsbereiche beider Pädagog*innen. Während Herr Hartenberger hier mit deutlich mehr Schüler*innen interagiert, interagiert Frau Müller ausschließlich mit Meike und Klaus. Die unterschiedlichen Zuständigkeitsbereiche werden auch in der Raumregie der beiden deutlich: Während Herr Hartenberger sich in einem Großteil des Raums bewegt, agiert Frau Müller nur im engeren Bereich zwischen Meike und Klaus. Frau Müller verlässt ihren Bereich auch nicht: Sie ‚übergibt‘ Meike förmlich aus ihren Armen in die Hände Herr Hartenbergers. Hierin dokumentiert sich die übergreifende Zuständigkeit von Herr Hartenberger als Lehrer für den gesamten offiziellen Unterricht, im Gegensatz zur Frau Müllers Zuständigkeit für nur einige Schüler*innen und nur, wenn diese nicht mit dem Fachlehrer interagieren.
Herr Hartenberger zeigt in dieser Sequenz eine Orientierung an der räumlich-körperlichen In-Szene-Setzung von Meike und Sandra. Deutlich wird, wie Frau Müller diese Orientierung mitträgt und gemeinsam mit ihm interagiert. Ihr Verhältnis ist komplementär. Die drei hier in szenegesetzten Jugendlichen Sandra, Meike und Klaus zeigen differente Orientierungen, am Rollenspiel mitzuwirken. Während Sandra allein (bzw. nicht sichtbar für die Kameras) zu Beginn der Sequenz vor die Tafel geht und dort wartet, wird Meike länger von Frau Müller verbal und nonverbal angesprochen und vom Lehrer förmlich nach vorn geführt. Klaus verdeutlicht durch sein Sitzenbleiben und Wegschauen, diese Orientierung hier nicht zu enaktieren und sich den Anforderungen zu entziehen.
In den Fragen von Jasmin und Caren an den Lehrer dokumentiert sich einerseits Verwunderung über die Teilnahme von Sandra und Meike, was zeigt, dass deren Partizipation im Unterrichtsmilieu nicht selbstverständlich ist, und anderseits, indem sie damit den Lehrer adressieren und nicht etwa die in der Nähe stehende Sandra und Meike, eine fehlende Interaktionspraxis zwischen Jasmin und Caren mit Sandra und Meike. Auf Peer-Ebene zeigen sich hier deutliche Differenzen, worin sich andeutet, dass es keinen peerbezogenen konjunktiven Erfahrungsraum zwischen den Schüler*innen gibt. Sandra und Meike werden hier auf reflexiver, kommunikativer Ebene in den Unterricht eingebunden (vgl. Wagner-Willi, 2018, S. 320). Ihre Teilhabe hat keinen Selbstverständlichkeitscharakter.
Auf Seiten des Lehrers dokumentieren sich unterschiedliche Interaktionspraxen mit den drei Jugendlichen. Während Herr Hartenberger stark involviert darin ist, dass Meike nach vorn kommt und sich zu Sandra stellt, räumt er Klaus ein, sitzen bleiben zu können und nur wenn er „Lust“ hat, vorzukommen. Hier dokumentiert sich, dass zumindest Klaus von den unterrichtlichen Anforderungen ausgenommen ist. Im Gegensatz zu den anderen Schüler*innen kann er wählen, ob er beim Rollenspiel mitmacht, was gleichzeitig verdeutlicht, dass Klaus kein notwendiger Bestandteil dieses Rollenspiels ist: Scheinbar können es die anderen auch ohne ihn aufführen. Klaus ist hier ausgenommen von einer gemeinsamen Interaktionspraxis, die an der Sache des Unterrichts orientiert ist.
Während mit Meike und Klaus auffallend körperlich eng interagiert wird, wird den anderen Jugendlichen deutlich mehr Autonomie zugestanden. Jacek und Alex werden zwar ebenfalls laut vom Lehrer aufgerufen, ihnen wird dann aber Zeit eingeräumt, selbstständig auf die Bühne zu gehen. Die disziplinierende Anrufung von Herrn Hartenberger an Titus aktualisiert die unterrichtlichen Handlungsanforderungen während des Rollenspiels für das Publikum, zum dem Titus hier gehört. Die Aufforderung ist nicht eindeutig („vor allem“, „beobachten“) und zeigt, dass der Lehrer hier von Titus selbstverständlich erwartet, dass dieser den Auftrag konkretisiert und in Praxis umsetzt. Auch an dieser Stelle zeigt sich, dass den Jugendlichen Meike und Klaus jene Autonomie und Kompetenz nicht gewährt wird, welche von den anderen Jugendlichen hier erwartet wird.
Anschließend an die Untersequenz „passt schon gut“ beginnen Alex und Jacek, in der Mitte des Stuhlkreises stehend, einen Dialog aufzuführen. Sie initiieren damit das Rollenspiel. Während ihrer Interaktion steht Klaus wortlos auf, läuft zügig an ihnen vorbei, geht rechts neben die Tafel und bleibt dort mit dem Gesicht zur Wand stehen. Nach der Interaktion zwischen Alex und Jacek gehen beide zu Tom, der links vor der Tafel gewartet hat und führen im Gespräch mit ihm das Rollenspiel weiter fort. Während des Gesprächs von Alex, Jacek und Tom stehen Sandra und Meike körperlich eng und sich umarmend abwartend vor der Tafel. Zwischen Alex, Jacek und Tom findet keine Interaktion mit Sandra, Meike und Klaus statt. Nach Abschluss des Gesprächs zwischen Alex, Jacek und Tom fragt Herr Hartenberger die zuschauenden Schüler*innen: „Was habt ihr wahrgenommen“. Er übergibt die Moderation an Alex, der einige Mitschüler*innen aufruft. Nach ein paar Beiträgen formuliert Herr Hartenberger eine neue Frage.
Der Lehrer fragt die Mitschüler*innen danach, was Meike und Sandra „gemacht“ haben. Alex ruft Slavko auf und Jasmin wirft leise ein, dass Meike und Sandra sich „befummelt“ haben. Herr Hartenberger stellt sich hinter Sandra und Meike und wiederholt die Frage, was die beiden Schülerinnen „dargestellt“ haben, welche „Rolle“ sie hatten. Pitt wirft leise ein, dass sie gekuschelt haben und Jasmin etwas lauter, dass beide nichts gesagt haben. Herr Hartenberger verweist darauf, dass beide etwas spielten. Im Vorbeigehen bemerkt Alex, dass sie „geschmust“ haben, was der Lehrer aufgreift und die Schüler*innen auffordert, „dieses Schmusen liberal zu denken“.
Indem Herr Hartenberger fragt, ob nicht mehr „hängengeblieben“ ist, zeigt er an, dass er mehr Antworten von den Schüler*innen erwartet. Er ist daran orientiert, dass die Schüler*innen weitere Anteile des Sachprogramms (hier: Aspekte der politischen Theorie Liberalismus) aussprechen. Gleichzeitig initialisiert er wieder einen lehrerzentrierten Unterrichtsdiskurs: Der Lehrer fragt, die Schüler*innen antworten. Er beginnt diesen Modus ohne Aushandlung mit den anderen Beteiligten, was sich in Alex Äußerung zeigt, der noch davon ausgeht, das Rederecht zu erteilen. In dieser selbstverständlichen Selbstermächtigung für die Leitung der Interaktion des Lehrers dokumentiert sich ein zentraler Aspekt der organisationalen Machtstruktur im Unterricht: Der Lehrer kann jederzeit die Interaktion übernehmen.
Durch die Verlagerung seines Territoriums vom Fenster und damit außerhalb des Sitzkreises auf die ‚Bühne‘ und genau zwischen Meike und Sandra hebt Herr Hartenberger die beiden Schülerinnen intensiv hervor. Die Exposition von Meike und Sandra wird noch verstärkt, indem Herr Hartenberger seine Arme auf ihre Schulter ablegt (siehe Fotogramm 1). Damit sind Meike und Sandra mehrfach exponiert: Sie stehen auf der ‚Bühne‘ im Unterrichtsraum, direkt vor dem Lehrer und werden körperlich von ihm betont. Neben dieser körperlich-räumlichen kommt eine sachbezogene Komponente hinzu. Durch die Lehrerfrage und dessen Verlagerung werden Meike und Sandra nun deutlich zu Trägerinnen des von den Mitschüler*innen zu ermittelnden Sachaspektes: Indem Meike und Sandra zu Objekten der Unterrichtsinszenierung werden, repräsentieren sie die konstituierende Rahmung im Form eines Rätsels, das es zu entschlüsseln gilt. Abermals dokumentiert sich die ausbleibende Autonomiezuschreibung an Sandra und Meike: Im Gegensatz zu Alex wird ihnen nicht zugestanden, die Beiträge der Mitschüler*innen selbst einzuholen.
Bereits kurz nach der Frage des Lehrers beginnen erste Einwürfe einige Schüler*innen, die verdeutlichen, dass diese den schulischen Auftrag in der Form annehmen, dass sich gemeinsam an die Antwort herangetastet wird. Die Beiträge machen explizit, dass die Darstellung von Meike und Sandra keine verbale war, sondern durch die Beschreibungen „fummeln“, „kuscheln“ und „schmusen“ zunehmend als körperlicher Beitrag gerahmt wird. Herr Hartenberger bringt deren nonverbales Schauspiel mit dem Sachprogramm in eine direkte Verbindung: Das Schmusen der beiden soll nun mit der politischen Grundorientierung Liberalismus zusammengebracht werden.
In der Situation verstärkt sich ein Muster: Es wird über die beiden Jugendlichen gesprochen, obwohl sie im Raum sind. Dies stellt eine Degradierung in dem Sinne dar, dass beide Schülerinnen auf eine Identität ihrer vielzähligen Möglichkeiten hier ‚festgezurrt‘ werden: auf die der stillen Objekte im Unterricht. Invisibilisiert wird diese Degradierung im Unterrichtsmilieu durch das Verhindern von Rollendistanz. Sandra und Meike sind so exponiert und förmlich festgehalten, dass sie sich nur schwerlich der Situation entziehen könnten.
Fotogramm 1: Rollenspiel Liberalismus (Timecode: 9:55)
Nach einigen weiteren (aus Sicht des Lehrers erfolglosen) Beiträgen der Schüler*innen, was Meike und Sandra darstellen, führt Herr Hartenberger die Aufgabe immer enger („das sind das n Mann und n Frau oder sind das nicht eher zwei Frauen?“, „Wie ist das zu Rolle des Privatlebens?“). Nach einer spontanen Interaktion zwischen Meike und Sandra im Sinne der zu erratenden Sache (sie interagieren körperlich eng) formuliert schließlich Caren die gewünschte Antwort: „Das Schwule und Lesben erlaubt sind?“. Der Lehrer bejaht. Meike und Sandra repräsentierten im Rollenspiel also einen Aspekt des Liberalismus: Dessen Toleranz gegenüber gleichgeschlechtlichen Partnerschaften.
An dieser Stelle sei noch einmal betont, dass die rekonstruierten Muster, die Degradierungen und der umfassende Autonomie- und Kompetenzentzug, nicht als Intentionen oder Motive des Lehrers oder eines*r anderen Beteiligten gewertet werden können. Sie sind Teil einer kollektiven Struktur, die sich in gemeinsamer Interaktionsgeschichte strukturiert hat und auf Erfahrungen der Beteiligten beruht. Als habitualisierte Praxis aktualisieren sie sich in diesem Moment. Die zugrundeliegende Machtstruktur ist gerade dadurch unsichtbar, weil sie das „Produkt einer sequenziell sich aufschichtenden Selektivität von Interaktionsbewegungen im Sinne selbstreferentieller Systeme ist“ (Bohnsack, 2017, S. 249). Die Machtstruktur und die mit ihr einhergehenden Degradierungen und die Invisibilisierung sind habitualisiert und werden im Modus des Selbstverständlichen praktiziert.
Meike, Sandra und Klaus werden Kompetenz und Autonomie entzogen und nicht zugetraut, die hier ganz selbstverständlich von allen anderen Schüler*innen erwartet werden. Der Autonomieentzug hängt auch mit einer typischen, empirische rekonstruierten sonderpädagogischen Praxis zusammen, Schüler*innen mit sonderpädagogischen Förderbedarf weniger Freiraum einzuräumen als den anderen Schüler*innen (vgl. Wagener & Wagner-Willi, 2017). Auch die Körperlichkeit, die Frau Müller und Herr Hartenberger hier in dieser besonderen Art nur gegenüber Sandra und Meike zeigen, dokumentiert eine differente Praxis in der Interaktion zwischen Erwachsenen und Schüler*innen. Übergreifend zeigt sich auf handlungspraktischer Ebene, dass die drei Jugendlichen weder selbstverständlicher Teil des ‚offiziellen‘ Unterrichts noch der Peer-Struktur sind.
Diese Ausgrenzungslogik der drei Jugendlichen ist habitualisierter Teil der Machtstruktur dieses Unterrichtsmilieus. Durch den Widerspruch zum umfassenden Kompetenzentzug wirkt der hier aufgeführte exponierte Integrationsversuch als eine Inszenierung, die als Strategie (des Interaktionssystems) der Invisibilisierung dient. Die Exposition von Sandra, Meike und in der Tendenz auch von Klaus hebt also die Ausgrenzung nicht auf, sie invisibilisiert diese lediglich. Paradoxerweise stabilisiert diese Szene also die Exklusionssituation von Sandra, Meike und Klaus. Sie bleibt eine Strukturkomponente der gemeinsamen Unterrichtspraxis.
Wie lässt sich die Szene fachlich einordnen? Ausgangspunkt ist, dass sich der Liberalismus, genau wie die anderen hier behandelten „politischen Grundorientierungen“ (Petrik, 2013, S. 137) Konservatismus, Sozialismus und Anarchismus/Libertarismus, sich durch mehrere Aspekte normativ auszeichnet. Der Wert der Selbstbestimmung in der privaten Lebensführung, den Meike und Sandra hier repräsentieren sollen, wird als „Lebensstil-Pluralismus“ (ebd., S. 201) in der Tat auch vom Liberalismus vertreten. Einzuwenden ist aber, dass es sich hier eher um einen Nebenaspekt des Liberalismus handelt, dessen Grundwert die Wirtschaftsfreiheit bzw. der Wettbewerb ist (ebd., S. 199). Selbstbestimmung dagegen ist der zentrale Wert des Anarchismus/Libertarismus. Von daher liegt die Vermutung nah, dass in der Szene nicht die fachliche Logik die Teilhabe von Sandra und Meike orientiert hat. Wichtig wäre gewesen, auf die mit dieser unterrichtlichen Inszenierung einhergehende Gewichtung hinzuweisen, um keine Fehlverständnisse bei den Schüler*innen aufzubauen.
Analysen solcher Unterrichtsszenen können verdeutlichen, dass eine habitualisierte Ausgrenzungs-Struktur im Unterricht gegenüber bestimmten Schüler*innen sich nicht durch singuläre (und im vorliegenden Fall etwas befremdlich anmutende) Teilhabeversuche dieser Schüler*innen dekonstruieren lässt. Im vorliegenden Fall führt diese Teilhabe nicht zu einer strukturellen Änderung, sondern (sicherlich entgegen der Intention des Lehrers) paradoxerweise zur Stabilisierung der Degradierung. In diesem Sinne mag ein so durchgeführtes Rollenspiel eventuell der kommunikativen Ebenen von Inklusion entsprechen, da die betroffenen Schüler*innen formal Teil der Bühne sind, sie genügt aber auf konjunktiver Ebene nicht den Ansprüchen von Inklusion als gleichberechtigte Partizipation an Lernprozessen (siehe Kap. 1).
Anschließend lassen sich mit Bezug auf eine dieser Szene zu Grunde liegende Fachlichkeit mit dem Anspruch an Inklusion kritische Rückfragen stellen. Eine wäre, ob die betroffenen Jugendlichen tatsächlich an dieser Stelle gelernt haben, wie es das didaktische Programm intendiert hat, was den Liberalismus zumindest an dieser Stelle auszeichnet. Die Inszenierung dieser kommunikativen Wissensbestände erscheint eher als Beitrag des Lehrers und eng von ihm angeleitet. Noch schwerer gegenüber den Ansprüchen eines fachlich fundierten inklusiven Unterrichts fällt die hier gezeigt Praxis ins Gewicht, wenn ein an anderer Stelle entworfenes didaktisches Programm (die Dorfgründungssimulation bzw. dieses Rollenspiel), das mit einem primären Blick auf den Lerngegenstand und nicht auf die Besonderheiten der Schüler*innen einer Klasse konzipiert wurde, ohne weitergehende Transformationen übernommen wird. Ein Problem (nicht nur) bei dieser Form von Unterricht im Sinne von Inklusion ist eine fehlende Zieldifferenz auf Grundlage eines mehrperspektivischen Leistungsbegriffs, die inklusiven Unterricht grundsätzlich auszeichnet (oder auszeichnen sollte) (vgl. Prengel, 2012). Vor dem Anspruch inklusiver Unterrichtsgestaltung bedürfte es umfassender Adaptionen des didaktischen Programms mit Blick auf die Schüler*innen dieser Klasse, die im vorliegenden Fall von beiden pädagogischen Fachpersonen zu leisten wäre. So könnte es bspw. hier für die Schüler*innen eher interessant sein, welche Antworten der Liberalismus und auch andere politische Grundorientierung zur Frage der Gleichheit und Teilhabe von Menschen bzw. der gesellschaftlichen Inklusion geben. In der notwendigen Zusammenarbeit zwischen beiden Pädagog*innen könnte dann auch eine Chance liegen, die ausgrenzenden, habitualisierten Strukturen des Unterrichtsmilieus zu irritieren: Die sich in der Sequenz dokumentierende, in der Tendenz hierarchische Zusammenarbeit zwischen Lehrer und Schulbegleiterin könnte überwunden werden und zu einer strukturellen Änderung der Konstruktionslogik des Unterrichtsmilieus beitragen.
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