Matthias Trautmann:(Inklusiv) Unterrichten als Gerechtigkeitsproblem. Zur Verteilung von Lehrkraftressourcen unter den Schülerinnen und Schülern einer Lerngruppe

Abstract: Angesichts der Norm der individuellen Förderung sind Lehrpersonen in ihrem (inklusiven) Unterricht gehalten, alle Schülerinnen und Schüler bestmöglich zu unterstützen. Im vorliegenden Beitrag wird dieser Anspruch mit Blick auf begrenzte Ressourcen in seiner Realisierung problematisiert. Der Text fokussiert auf die Perspektive von (Regelschul-) Lehrpersonen im Unterricht und erörtert zum einen theoretische Fragen der Distribution begrenzter unterrichtlicher Ressourcen, zum anderen empirische Befunde zu Gerechtigkeitsüberzeugungen und Allokationspraktiken von Lehrkräften.

Stichworte: Unterricht, Ressourcenallokation, Regelschullehrpersonen

Inhaltsverzeichnis

  1. Begrenzte Ressourcen im Unterricht als Voraussetzung für Fragen distributiver Gerechtigkeit
  2. Ressourcenallokation in der Lerngruppe – theoretisch betrachtet
  3. Ressourcenallokation durch Lehrpersonen – empirisch betrachtet
  4. Schluss: Unterrichten als gerechtigkeitsbezogene Tätigkeit
  5. Literatur

Von der Schule wird allgemein verlangt, dass dort – in der Rechtsnorm des Schulgesetzes NRW (§1 Abs. 1) – „jeder junge Mensch (...) ohne Rücksicht auf seine wirtschaftliche Lage und Herkunft und sein Geschlecht ein Recht auf schulische Bildung, Erziehung und individuelle Förderung“ hat bzw. (im Sinne einer sog. Muss-Vorschrift) haben soll (vgl. MSW NRW 2005). So oder ähnlich steht es in vielen Schulgesetzen der Bundesländer. Die UN-Behindertenrechtskonvention kann als Akzentuierung einer anspruchsberechtigten Gruppe gelesen werden, indem sie fordert, dass „Menschen mit Behinderungen innerhalb des allgemeinen Bildungssystems die notwendige Unterstützung geleistet wird, um ihre erfolgreiche Bildung zu erleichtern“ (United Nations 2006, Art. 24, Abs. 2d). Mit anderen Worten und ungeachtet einer engen oder weiten Auslegung des Inklusionsbegriffs: Alle Schülerinnen und Schüler haben unabhängig von ihren persönlichen oder sozialen Voraussetzungen einen Anspruch auf Förderung bzw. – enger gefasst – auf einen Unterricht, der sie individuell bestmöglich unterstützt.
Im vorliegenden Beitrag wird dieser Anspruch mit Blick auf begrenzte Ressourcen in seiner Realisierung problematisiert. Der Text fokussiert auf die Perspektive von (Regelschul-) Lehrpersonen im Unterricht als Bereich, in dem diese trotz und angesichts zahlreicher organisatorischer Regelungen und institutioneller Vorgaben Entscheidungen im Blick auf ihre Schülerinnen und Schüler treffen und verantworten müssen. Dieser Spielraum für eigene Entscheidungen berührt grundsätzlich auch gerechtigkeitstheoretische Fragen und ist in der Diskussion um Bildungsgerechtigkeit und Inklusion, welche sich auf die Meso- und Makroebene von Schule konzentriert (vgl. z. B. Manitius et al. 2015, Eckert/Gniewosz 2017), bisher randständig geblieben.
Der Gang der Argumentation verläuft wie folgt: Aus der Begrenzung der unterrichtsbezogenen Ressourcen (Abschnitt 1) erwachsen im Zusammenhang mit der Tatsache, dass Schülerinnen und Schüler in der Regel in Lerngruppen unterrichtet werden, zwei Fragen: Zum einen stellt sich ein – theoretisch zu klärendes – Verteilungsproblem: Wer soll von diesen begrenzten Ressourcen wieviel erhalten? Ist es gerecht, dass bestimmte – und welche? – Gruppen oder Einzelne mehr unterrichtsbezogene Ressourcen erhalten, und gibt es in diesem Fall eine Grenze der Ungleichverteilung dieser Ressourcen? (Abschnitt 2). Zum anderen stellt sich die – empirisch zu untersuchende – Frage nach Gerechtigkeitsüberzeugungen und Allokationspraktiken von Lehrkräften: Was sehen diese als eine gerechte Verteilung von Ressourcen an und wie praktizieren sie diese in ihrem Unterricht? (Abschnitt 3). Es geht in diesem Beitrag damit um Verteilungsgerechtigkeit als Handlungsproblem von Lehrpersonen.

1. Begrenzte Ressourcen im Unterricht als Voraussetzung für Fragen distributiver Gerechtigkeit

Eine Voraussetzung für das Aufkommen von Gerechtigkeitsfragen – hier im Sinne der fairen Verteilung von Gütern (und Lasten) – ist deren grundsätzliche Knappheit. Was unbegrenzt vorhanden ist, wirft keine grundsätzlichen Verteilungsprobleme auf. Es erscheint naheliegend, dass im Unterricht eine derartige prinzipielle Knappheit an Ressourcen vorzufinden ist, die auf Seiten von Lehrpersonen eine „reflexive Auseinandersetzung“ (Helsper 2014, S. 235) bzw. „Güterabwägungen“ (Cortina 2020, S. 73) notwendig macht oder zumindest machen könnte: Der Unterricht, der für die Erfüllung der o.g. Förderansprüche zentral ist, ist ein Unterricht in Lerngruppen, d. h. mit vielen/zahlreichen prinzipiell anspruchsberechtigten Personen, denen in der Regeln nur eine Lehrperson gegenübersteht. Die zur Verfügung stehende Unterrichtszeit ist zudem im Allgemeinen begrenzt: über die endliche Arbeitszeit von (nicht beliebig vermehrbaren) Lehrpersonen, über Stundenkontingente der Institution (etwa je Fach, Schultag oder -jahr) oder auch über die zur Verfügung stehende Lern- und Lebenszeit der Schülerinnen und Schüler. Zwar können Schulen bei entsprechender Ausstattung zusätzliche Ressourcen vorsehen oder verteilen, etwa über additive Fördermaßnahmen, zusätzliches Personal, eine verbesserte Ausstattung mit Material und Medien für den Unterricht, aber diese Entscheidungen liegen eher auf der Ebene der Einzelschule oder der Bildungsadministration/-politik, die hier nicht im Fokus stehen, und sie lösen zudem das Verteilungsproblem nicht, weil damit ‚nur‘ mehr verteilt wird, aber offen bleibt, wie die Verteilung ablaufen und im Resultat aussehen soll.
Was genau ist es, das Lehrpersonen im Unterricht und bezogen auf ihre Schülerinnen und Schüler verteilen können? Es scheint vor allem um die individuellen Ressourcen der Lehrkräfte für das Unterrichten zu gehen:
•   Zum einen können Lehrpersonen ihre begrenzten zeitlichen Ressourcen bezüglich der Vor- und Nachbereitung von Unterricht verteilen. Begrenzt sind diese Ressourcen, weil die zur Verfügung stehende Arbeits- und Lebenszeit der Lehrkräfte endlich ist. Dennoch könnten für bestimmte Schüler(gruppen) größere Zeitkontingente, bzw. für andere in der Folge kleinere Zeitkontingente, aufgewendet werden. Beispielsweise erscheint es denkbar, dass Personen(gruppen) mit sonderpädagogischem Förderbedarf, mit Sprachproblemen oder Hochbegabte eine höhere Aufmerksamkeit beim Planen erfahren, oder dass einzelne Schülerinnen und Schüler gesondert in den Blick genommen werden, indem für diese zusätzliche Aufgaben, Materialien, Lernhilfen, Bewertungsinstrumente, mehr Feedback zu Aufgaben o. ä. erstellt werden.
•   Zum anderen verfügen Lehrpersonen bei der Durchführung von Unterricht über begrenzte, aber durchaus vorhandene Möglichkeiten der Verteilung von Aufmerksamkeit und Unterstützung (Förderung). Begrenzt sind diese Ressourcen, da viele Prozesse im Unterricht simultan ablaufen, mehrere Ziele gleichzeitig im Blick zu behalten sind (z. B. Motivation, Verstehen, zeitlicher Ablauf) und dies nicht nur bezogen auf einzelne Schülerinnen und Schüler, sondern auf Teilgruppen oder die gesamte Lerngruppe (vgl. Doyle 2006). Lehrpersonen können z. B. einzelne Schülerinnen und Schüler unterschiedlich stark in Diskussionen einbeziehen, mit Material versorgen, in Gruppen- und Einzelphasen mehr oder weniger Feedback und Hilfestellungen geben (womit nicht impliziert ist, dass bspw. ein erhöhter Ressourceneinsatz für einen Schüler oder eine Schülerin tatsächlich förderlich sein muss).
Zeit, Aufmerksamkeit und Unterstützung (bei Bloch 2014, S. 162: Zeit, Energie, Aufmerksamkeit; bei Falkenberg 2020, S. 38: Aufmerksamkeit, Zeit und Unterstützungsleistungen) wären demnach die knappen Güter oder Ressourcen, die Lehrkräfte in eigener Verantwortung verteilen können (und müssen). Selbst wenn es Bemühungen gibt, derartige Lehrkraft-Ressourcen im Umgang mit Schüler*innen im Unterricht zu erweitern, etwa über eine ‚Doppelsteckung‘ oder über integrative Formen nachholender Förderung (z. B. Mastery Learning), und auch wenn die Frage der Knappheit letztlich eine empirische ist[1] , so kann doch allgemein angenommen werden, dass die Standardsituation in Schulklassen nach wie vor darin besteht, dass eine Lehrperson einer Gruppe von 20-30 Schülerinnen und Schülern gegenübersteht. Als mögliche, daraus resultierende praktische Fragen benennt Bloch (2014, S. 27) folgende:
„Wie viel Aufwand darf für ein bestimmtes – sei es ein privilegiertes oder ein benachteiligtes – Kind im Verhältnis zu einem anderen Kind  und der ganzen Gruppe betrieben werden? Wie sind Förderansprüche von Lernschwachen gegenüber jenen von Normal- oder Hochbegabten zu gewichten? Handeln Lehrpersonen gerecht, wenn sie Förder- oder Bildungsressourcen gleich verteilen? Oder haben sie dazu beizutragen, dass Förder- oder Bildungsresultate gleich verteilt sind?“
Wie steht es um Respekt oder Anerkennung, häufig verwendete Begriffe in der neueren Diskussion um Bildungsgerechtigkeit, als mögliche Lehrkraft-Ressource für Verteilungsfragen? Eine umfassende Diskussion kann hier nicht geleistet werden; aus meiner Sicht kommen sie als Verteilungsgüter aber eher nicht in Frage, da man Aspekte wie soziale Anerkennung oder Respekt nicht mehr oder weniger verteilen kann: „Man kann nicht jemanden moralisch achten, ihn dabei aber ungleich achten“ (Schramme 2004, S. 130, i. O. kursiv). Zwar ist es selbstverständlich auch eine Frage der Gerechtigkeit, alle Schülerinnen und Schüler zu respektieren, und man kann die Nichteinhaltung dieser Maxime empirisch fassen und kritisieren (vgl. Prengel 2013), aber technisch ausgedrückt, geht es bei diesen Ausdrücken um formale[2] , nicht um – wie hier thematisiert – distributive Gerechtigkeit (anders: Kiel/Kahlert 2017, S. 21, die Anerkennung ebenfalls als knappes Verteilungsgut ansehen, die aber, wie mir scheint, einen anderen Anerkennungsbegriff zugrunde legen).
Die Standardsituation des Unterrichtens, könnte man also sagen, erzeugt eine prinzipielle Knappheit an Gütern und damit zumindest (gerechtigkeits-)theoretisch ein Verteilungsproblem für die Lehrperson, die ja alle Schülerinnen und Schüler individuell bestmöglich fördern soll – aber dafür nur begrenzte Mittel zur Verfügung hat. Das Problem verschärft sich durch die prinzipielle Grenzenlosigkeit der pädagogischen Tätigkeit: Man kann immer noch mehr Persönlichkeitsentwicklung betreiben, noch etwas Neues lehren und lernen, die Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit weiter zu raffinieren suchen: Kompetenzerwerb bzw. auf Bildung zielende Unterstützungsprozesse sind in diesem weiten Sinne für jeden Schüler und jede Schülerin unabschließbar. Selbst wenn man im Schulbereich lediglich die Erreichung von Mindest- oder Regelstandards als engeres Ziel zugrunde legt, wie sie durch die verschiedenen Schulabschlüsse eher vage ausgewiesen werden, bleibt im Prinzip in vielen, wenn nicht den meisten Lerngruppen immer noch ein Bedarf an zusätzlicher Unterstützung, der nicht zureichend gedeckt werden kann (=weniger Ressourcen als Bedarf) und der – darauf kommt es im Folgenden an – auf die verschiedenen Köpfe verteilt werden muss (Verteilungsproblem).

2. Ressourcenallokation in der Lerngruppe – theoretisch betrachtet

Welche Hilfe bietet die weitläufige Diskussion um Gerechtigkeit bzw. Bildungsgerechtigkeit angesichts dieser hier zur Diskussion gestellten Beschreibung der typischen Arbeitsplatz-Situation von (Regelschul-)Lehrpersonen (s.o.)? Prinzipiell sehe ich lediglich zwei Möglichkeiten, mit denen Lehrpersonen auf das Problem der Verteilung angesichts von Ressourcenknappheit unter einem Gerechtigkeitsanspruch reagieren können, im Anschluss an die Formen der partikularen Gerechtigkeit bei Aristoteles (vgl. Flitner 1985, S. 2f.):
•   Sie können zum ersten eine Gleichverteilung dieser knappen Ressourcen für ihre Schülerinnen und Schüler anstreben oder praktizieren: Jeder und jede sollte demzufolge ungefähr dasselbe Ausmaß an Zeit, Aufmerksamkeit und Unterstützung bekommen, da – so könnte eine Begründung lauten – der Anspruch auf individuelle Förderung auch für jeden Einzelnen und jede Einzelne gleichermaßen besteht. Gleiches (hier etwa: Schülerinnen und Schüler als Personen mit dem gleichen Anspruch und in derselben sozialen Rolle), könnte man sagen, muss fairerweise auch gleich behandelt werden.
•   Sie können zum zweiten eine Ungleichverteilung der knappen Ressourcen anstreben oder praktizieren; Bestimmte Schüler(gruppen) können dann einen größeren Anteil der Ressource Lehrkraft für sich in Anspruch nehmen bzw. erhalten (oder, von der anderen Seite gesehen, müssen mit einem kleineren Teil vorliebnehmen), da sie beispielweise aus ganz verschiedenen Gründen einen höheren (oder niedrigeren) Förderbedarf aufweisen können. Hier greift das ebenfalls einleuchtende Prinzip „Ungleiches ungleich behandeln“, d. h. die Schülerinnen und Schüler einer Lerngruppe werden nicht als gleiche, sondern als ungleiche Personen in den Blick genommen – etwa in Bezug auf individuelle Lernvoraussetzungen, gruppenspezifische Vor- und Nachteile o. dgl. Aus dieser Überlegung folgen weitere zu klärende Fragen: Welchen Individuen oder Gruppen sind Gegenstand dieser Ungleichbehandlung (mehr/weniger Förderung)? In welchen Ausmaß (Höhe, Zeitraum, Bereich) steht ihnen dieses Mehr zu bzw. müssen sie mit einem Weniger auskommen? Wie und von wem wird darüber entschieden?
Dabei ist zu bedenken, dass Entscheidungen für Gleich- oder Ungleichverteilung auf Basis unterschiedlicher Prinzipien – typischerweise nach Bedürftigkeit/Bedarf, nach Gleichheit oder nach Leistung – vorgenommen werden können und nicht unbedingt nur ein einzelnes Verteilungsprinzip das Denken und Handeln von Lehrpersonen bestimmen muss. Zudem dürften Verteilungsentscheidungen auch von den unterrichtlichen Zielen abhängig sein: Will die Lehrperson z. B. die Leistungsunterschiede in einer Lerngruppe ausgleichen (egalisieren) oder strebt sie unabhängig von der Verteilung der Fähigkeiten und Lernstände stärker oder ausschließlich einen Kompetenzzuwachs bei allen (jeder und jedem) Schülerinnen und Schülern an (vgl. etwa die Diskussion um die Optimalklassen, z. B. Helmke 1988; Schwippert 2001)? Und schließlich könnten diese Prinzipien auch auf verschiedenen Stufen des Schulsystems unterschiedlich zur Anwendung kommen, etwa wenn „anfangs Chancenausgleich im Vordergrund [steht], während gegen Ende Differenzierung und Auslese in den Vordergrund treten“ (vgl. Heckhausen 1974, S. 133), dabei aber immer beide Aufgaben bewältigt werden müssen, ohne dass sich eine genaue Gewichtung zwischen beiden Aspekten angeben lässt (vgl. Cortina 2020, S. 73). Angesichts dieser Differenzierungen wird bereits deutlich, dass hier weder gerechtigkeitstheoretisch noch -praktisch einheitliche oder spannungsfreie Lösungen und Orientierungen zu erwarten sind. Mit Drerup (2015, S. 123) ist deshalb davon auszugehen, dass sich „auf Basis allgemeiner gerechtigkeitstheoretischer Doktrinen nicht eins zu eins ableiten [lässt], wer, wann, wem, was, aus welchem Grund schuldet und wie, ausgehend von entsprechenden allgemeinen normativen Vorgaben und Prinzipien bildungspolitische Regelungen, pädagogische Arrangements und Interaktionsordnungen konkret gestaltet werden sollen“.
Zwei zusätzliche Bemerkungen erscheinen an dieser Stelle notwendig. Ich teile erstens nicht die Auffassung, wonach formale Gleichheit (etwa: Respekt für jeden und jede Person) eine Gleichverteilung der Ressourcen nach sich ziehen muss. Anders gesagt: Eine ungleiche Verteilung von Gütern ist nicht notwendigerweise ein Zeichen für Missachtung oder Ungerechtigkeit (vgl. in diesem Sinne auch: Schramme 1999). Man könnte also durchaus beispielsweise mehr Zeit für die Planung des Unterrichts für – näher zu bestimmende – Schülerinnen und Schüler verwenden (=Ungleichverteilung der Lehrkraft-Ressourcen), aber im Unterricht alle Schülerinnen und Schüler möglichst gleichmäßig zu fördern versuchen (=Gleichverteilung) – oder umgekehrt. Formen der (Un-)Gleichverteilung müssen nicht per se (können aber) ungerecht sein.
Es ließe sich zweitens einwenden, dass die Idee einer Ressourcenallokation durch die Lehrperson zu stark vom Bild des lehrerzentrierten Unterrichts geprägt ist. Auch eine ‚Individualisierung von unten‘, die vielfach nicht nur im Inklusionsdiskurs für die Unterrichtung heterogener Lerngruppen empfohlen wird, macht das Problem der Ressourcenverteilung jedoch nicht obsolet, da auch in einem derartigen Unterricht, bei der jeder Schüler und jede Schülerin auf seinem/ihren Niveau, an individuellen Aufgaben und unter Nutzung individueller Bezugsnormen arbeitet, Unterstützungsleistungen der Lehrperson notwendig werden (Feedback, Erklärhilfen, Motivation, Denkanstöße u.a.), die erneut zumindest theoretisch das Verteilungsproblem auslösen können. Man kann sogar die Ansicht vertreten, dass ein solcher Unterricht, der vom Muster ‚Ein Angebot für alle‘ abweicht, das Problem verschärft, denn: „Die Lehrkraft muss ihre knappen Beratungs-, Unterstützungs-, Kontroll- und Disziplinierungsressourcen nachvollziehbar und gerecht verteilen, weil sie ihre Expertise weder zentral für alle anbieten noch überall gleichzeitig sein kann“ (Bohl/Wacker 2021, S. 45, Hervorhebung MT). Entscheidungen können zwar an die Schülerinnen und Schüler abgegeben werden (z. B. Unterstützung erhalten jene, die sich melden oder sichtbar nicht weiterkommen, die Peers helfen sich gegenseitig), was aber die Reflexion nicht zum Stillstand bringt (Vielleicht traut sich jemand nicht, sich zu melden? Muss ich mich nicht besonders um die kümmern, die die Aufgaben leichterdings erledigen? Erhalten diejenigen Förderung, die am lautesten danach verlangen/sich gut durchsetzen können vs. diejenigen, die sie eigentlich benötigen oder verdienen? usw.).
Die von Rawls (1975) kommende Theorietradition befasst sich mit gesellschaftlichen Verteilungsfragen als „Art, wie die wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen Grundrechte und -pflichten und die Früchte der gesellschaftlichen Zusammenarbeit verteilen“ (S. 23) – und soll hier ausschnitthaft zur Grundlage einiger weiterer Überlegungen für Verteilungsfragen im Klassenzimmer herangezogen werden. Rawls diskutiert in seiner „Theory of Justice“ soziale Gerechtigkeit als Verteilung von Rechten und Pflichten sowie von Grundgütern (Rechte, Einkommen, Vermögen und Lebenschancen). Als allgemeine Gerechtigkeitsvorstellung formuliert er:
„Alle sozialen Werte – Freiheit, Chancen, Einkommen, Vermögen und die sozialen Grundlagen der Selbstachtung – sind gleichmäßig zu verteilen, soweit nicht eine ungleiche Verteilung jedermann zum Vorteil gereicht.“ (Rawls 1975, S. 83)
Für Verteilungsüberlegungen im Klassenzimmer kann diese Vorstellung so ausgelegt werden, dass eine prinzipielle Gleichverteilung aller Förderressourcen anzustreben ist. Der darauffolgende, einschränkende Nebensatz legitimiert jedoch auch eine ungleiche Verteilung, nämlich genau dann, wenn diese „jedermann zum Vorteil gereicht“. Leitend bleiben dabei die Aussichten der „am wenigsten Bevorzugten“ (vgl. ebd., S. 122), aber: Falls diese Aussichten über eine Förderung der ‚Begabteren‘[3] verbessert werden können, hält Rawls dies für gerecht! Letztere Position,die große Diskussionen ausgelöste, leuchtet in den Grenzen schulischer Klassenzimmer allerdings nicht recht ein – Inwiefern sollten die ‚weniger Bevorzugten‘ durch die Förderung ‚besonders Begabter‘ in ihrer Lerngruppe ihre Aussichten verbessern können? –, sondern ergibt allenfalls Sinn im Zusammenhang mit gesamtgesellschaftlichen Argumenten, etwa derart, dass die Förderung dieser Gruppe im Effekt dazu führe, dass eine Gesellschaft durch ihre Stellung im ökonomischen Wettbewerb mehr Ressourcen für die Absicherung und Unterstützung der Schwächeren zur Verfügung habe und stelle, als dies der Fall wäre, wenn die besondere Investition in die ‚Begabteren‘ nicht erfolgt wäre.
Rawls kennt daneben auch noch ein Ausgleichsprinzip („principle of redress“), nach dem “unverdiente Ungleichheiten ausgeglichen werden sollten. Da nun Ungleichheiten der Geburt und der natürlichen Gaben unverdient sind, müssen sie irgendwie ausgeglichen werden“ (1975, S. 121) – und setzt hinzu „Nach diesem Prinzip würde man vielleicht mehr für die Bildung der weniger Begabten als der Begabten aufwenden, jedenfalls in einem bestimmten Lebensabschnitt, etwa den ersten Schuljahren.“ (vgl. ebd.) Dieses Prinzip könnte – für die Lehrerperspektive auf Unterricht – bedeuten, dass Schülerinnen und Schüler mit sozial, aber auch natürlich bedingten Ungleichheiten (Nachteilen) der Lernvoraussetzungen mindestens bis zu einer bestimmten Schwelle, vermutlich aber eher dauerhaft, bevorzugt zu fördern wären. Schwierigkeiten liegen u. a. darin, zu bestimmen, wer und wer nicht zu dieser besonders förderbedürftigen Gruppe gehört (z. B. Vielzahl auch konkurrierender Nachteile; Bestimmung der Schwelle, Maß der Bevorzugung oder Benachteiligung) sowie das Problem zu vermeiden, nach dem in bestimmten Fällen die Förderung dieser Schülerinnen und Schülern als „Fass ohne Boden“ (Giesinger 2007, S. 378) zu einer unverhältnismäßig großen Vernachlässigung der Bedürfnisse der anderen Schülerinnen und Schüler führen würde.
Mit diesen nur skizzenhaften Bemerkungen lässt sich argumentieren, dass theoretisch drei unterschiedliche Verteilungsprinzipien denkbar sind (die hier analytisch getrennt werden, aber empirisch gemischt auftreten können; vgl. zu den Problemen der Prinzipien im Detail Bloch 2014, S. 211-214; Schwippert 2001, S. 28-30):
•   Entsprechend einer egalitaristischen Vorstellung werden alle Ressourcen unter den Schülerinnen und Schülern annähernd gleich verteilt.
•   Eine ungleiche Verteilung erfolgt zugunsten derjenigen, die den größten Bedarf haben, etwa mit dem Argument, dass hier ein zeitweiliger oder permanenter Chancenausgleich vonnöten ist oder die Leistungen innerhalb der Lerngruppe egalisiert werden sollen.
•   Eine ungleiche Verteilung erfolgt zugunsten derjenigen, die es am ehesten verdienen (z. B. aufgrund von besonderen Anstrengungen oder Leistungen) oder bei denen diese Investition den vergleichsweise größeren individuellen oder gesellschaftlichen Nutzen verspricht.
Damit lässt sich als Ergebnis dieses Abschnittes festhalten: Lehrkräfte können unterschiedliche Prinzipien nutzen, um Gleich- oder Ungleichverteilung ihrer Ressourcen zu legitimieren; alle diese Prinzipien haben Argumente für und gegen sich. Auch oder gerade in ‚modernen‘, individualisierenden Unterrichtsformen, die stärker auf Selbständigkeit und Verantwortung der Schülerinnen und Schüler setzen, bleiben Verteilungsfragen theoretisch relevant. Mit Rawls lässt sich der Blick auf die Aussichten der ‚weniger Begünstigten‘ rechtfertigen, wobei allerdings offenbleiben muss – hier müsste die weitere theoretische Arbeit ansetzen –, wie diese Gruppe genauer zu bestimmen ist und in welchem Ausmaß eine Umverteilung zulasten der ‚Begünstigten‘ zulässig ist, ohne als ungerecht zu gelten.

3. Ressourcenallokation durch Lehrpersonen – empirisch betrachtet

Fragen der Gerechtigkeit im Zusammenhang mit dem Handeln von Lehrpersonen wurden in der Literatur traditionell insbesondere im Kontext einer gerechten Leistungsbeurteilung untersucht und erörtert (z. B. Oser 1998; Falkenberg 2020). Daneben hat sich in den letzten Jahren eine Diskussion zu Anerkennungs- und Teilhabegerechtigkeit entwickelt (z. B. Prengel 2013). Mit Bloch (2014, S. 173) lässt sich jedoch konstatieren, dass sich „die entsprechende empirisch-erziehungswissenschaftliche Forschung kaum explizit mit Fragen von Distributionsgerechtigkeit des Lehrerhandelns befasst hat“. Die Frage der Allokation begrenzter Förderressourcen im Unterricht bzw. bei der Unterrichtsvorbereitung ist, so die bisherige Argumentation, ebenfalls eine Frage der Gerechtigkeit, und sie muss und kann ebenso als empirische Frage gestellt werden: Welche Gerechtigkeitsvorstellungen zeigen sich bei Lehrkräften angesichts der notwendigen Distribution ihrer Förderressourcen?
Es wäre bei der Suche nach Antworten auf diese Frage allerdings naiv, anzunehmen, dass Lehrpersonen für oder im Unterricht jedesmal eine komplexe Gerechtigkeitsarithmetik vornehmen, um ihre Förderressourcen angemessen aufzuteilen. Bereits Bromme (1992/2014) konnte vor Jahren auf Basis US-amerikanischer Studien zeigen, dass für Lehrpersonen „die ganze Klasse und der Unterrichtsfluß im Mittelpunkt der Wahrnehmungen im Unterricht (...) stand“ (S. 84) und sie demzufolge nicht individuelle Schüler, sondern eine „abstrakte, aber psychologisch reale Einheit, die ich als ‚Kollektiver Schüler‘ (collective student) bezeichne“ (S. 85), erinnerten und im Unterricht wahrnahmen. Bromme unterschied deshalb scharf zwischen der Förderung individueller Lernprozesse, etwas, das er im Unterricht für kaum möglich hielt, und der Unterrichtsgestaltung als eigentlichem Kern der Lehrerarbeit: Bei letzterer stehen die „fachbezogenen Aktivitätsszenarien, die die Gestalt des Unterrichtsflusses bilden“ (ebd.), im Zentrum der Lehreraufmerksamkeit. Wie bereits angesprochen, stellt der individualisierte Unterricht mit ausgeprägten Gruppen- oder Einzelarbeitsphasen hier möglicherweise eine etwas andere Ausgangssituation dar, zumal in neueren pädagogisch-didaktischen Diskussionen die Heterogenität der Schülerinnen und Schüler – und damit die Notwendigkeit gruppen- oder individuumsbezogener Denk- und Handlungsweisen von Lehrpersonen – nochmals besonders betont wird. Aber auch in einem ‚heterogenitätssensiblen Unterricht‘ sprechen die Zeitknappheit nicht nur bei der Unterrichtsvorbereitung, die hohe interaktive Dichte von Unterricht, die Unvorhersehbarkeit der Kommunikationsanschlüsse sowie die Tatsache, dass auch andere als Gerechtigkeitskriterien eine Rolle spielen (müssen), zumindest gegen komplexe Gerechtigkeitserwägungen beim Unterrichten selbst: Der Stoff muss entwickelt, die Ordnung des Klassenzimmers muss gewahrt bleiben; eine Störung verlangt Aufmerksamkeit; die Zeit ist fast um, usw. Das bedeutet: Pragmatismus, Spontaneität, Zufälle spielen in Entscheidungen, wer Lehrkraftressourcen erhält und wer nicht, vermutlich in hohem Maße hinein: „Ständige Adaptionen sind die Regel“ (Thiel 2016, S. 7).
Von derartigen Ad-Hoc-Entscheidungen unter Druck, die vermutlich nur teilweise, wenn überhaupt, von gerechtigkeitstheoretischen Überlegungen beeinflusst sind, lassen sich übersituative Überzeugungen (subjektive Theorien, normative Präferenzen, Erwartungen und Ziele, o. ä.) darüber unterscheiden, ob und ggf. welchen Schülerinnen und Schülern mehr Förderung zusteht (und welchen nicht). Zudem lassen sich reale Verteilungspraktiken von idealen Verteilungsvorstellungen unterscheiden. Was ist aus der Literatur über derartige schülerbezogene Förderpräferenzen oder -praktiken von Lehrpersonen bekannt?
Die Forschung im Bereich der Unterrichtsplanung hat sich bisher eher mit allgemeinen Fragen, z. B. zu Elementen und Komponenten der Planung befasst (vgl. als Übersicht z. B. Knorr 2015, S. 79 f.). Eine Verteilung von Ressourcen auf verschiedene Schüler(gruppen) stand dort bisher nicht im Fokus von Untersuchungen. Verschiedene Studien zeigen aber: Wenn überhaupt auf Schüler(voraussetzungen) bei der Planung eingegangen wurde, betrafen die „verbalisierten Äußerungen die Schüler als Gesamtheit, als Klasse, einige wenige Male eine kleinere Gruppe und nur zweimal Einzelschüler“ (vgl. Haas 1998, S. 143). Auch Weingarten (2019, S. 100) kommt in seiner Untersuchung zum Ergebnis, dass die Planung „grundsätzlich nicht mit Blick auf einzelne Schülerinnen und Schülern (Sic) [erfolgte], sondern die Klasse als Ganzes war der Bezugspunkt für didaktisch-methodische Entscheidungen“. Anders in der Untersuchung von Bloch (2014, S. 280), der allerdings auf Basis einer Befragung berichtet, dass Lehrpersonen angaben, für die Unterrichtsvorbereitung das schwächere Drittel der Schülerinnen und Schüler etwas mehr zu berücksichtigen (40%; mittleres und stärkstes Leistungsdrittel je 30%).
Die sich anschließende, das Unterrichten betreffende Frage, ob und ggf. wie Lehrpersonen Schülerinnen und Schüler einer Lerngruppe klassifizieren und welche Unterstützungsbedarfe sie diesen zuschreiben, ist in der bisherigen Forschung lediglich vereinzelt und nicht im Sinne einer systematischen Beforschung angegangen worden. Hofer (1981) konnte zeigen, dass Lehrkräfte Schüler/innen gedanklich in Gruppen zusammenfassen, und zwar nach Merkmalen, die für sie von subjektiver Bedeutsamkeit sind. Als vorherrschende Klassifikationsmerkmale nennt der Autor „Anstrengung, Aktivität, wahrgenommene Schulleistung, Diszipliniertheit und Begabung“ (vgl. Hofer 1986, S. 151). Mit den gebildeten (vier bis fünf) Typen waren durchaus auch unterschiedliche Lehrerverhalten verbunden. So ergaben Unterrichtsbeobachtungen bei 31 Grund- und Hauptschullehrkräften in den 1970er Jahren, dass extravertierte und „schlechte“ Schüler die meisten Lehrerkontakte hatten und der „Klassenprimus“ am seltensten aufgerufen und in der Stillarbeit nicht überdurchschnittlich bedacht wurde. Eine bedeutende Rolle beim Verhalten der Lehrperson spielten dabei jedoch situationsabhängige Faktoren sowie das Bemühen, „den Unterricht in Fluß zu halten“ (vgl. ebd., S. 165).
Die vielfach zitierte Studie von Streckeisen et al. (2007) beschreibt auf Basis einer qualitativen Stichprobe von Lehrkräften im Berner Schulsystem unterschiedliche Deutungsmuster zum Dilemma von Fördern und Auslesen. Diese beziehen sich nicht direkt auf den eigenen Unterricht der befragten Lehrpersonen, können aber als Hinweise darauf gelesen werden, dass diese den Fokus ihrer pädagogischen Bemühungen auf unterschiedliche Schülergruppen richten, deren unterscheidende Gemeinsamkeit die (fehlende) Leistungsfähigkeit ist. Von Interesse sind insbesondere zwei Typen:
•   Auslese der Besten (Typ 1): Dieser Typ hat vor allem die besonders leistungsstarken Schülerinnen und Schüler im Blick, die besonders unterstützt werden. Die Ungeeigneten scheiterten an den gestellten Aufgaben im Sinne einer natürlichen Selektion; Fördermöglichkeiten sehen diese Lehrpersonen hier nicht oder nur bedingt.
•   Fördern jenseits der Selektion (Typ 5): Dieser Typ versteht sich „primär als ‚Anwälte‘ der leistungsschwächeren, sozial benachteiligten Schülerinnen und Schüler – was mit einer vergleichsweise starken Selbststilisierung als gleichsam ‚heldenhafte‘ Lehrpersonen einhergeht, die stets das Bestmögliche für ihre Klientel tun“ (vgl. ebd., S. 242). In einem Schonraum konzentrieren sich die Lehrkräfte auf die Förderung der Schwächsten.
Berührungspunkte zu der hier verfolgten Fragestellung liegen auch in der Forschung zu Differenzkonstruktionen durch Lehrkräfte vor. Im Zuge dieser Debatte sind eine Reihe von Merkmalen ausgewiesen worden, die den Blick von Lehrkräften auf Schülerinnen und Schüler bestimmen und ihr Handeln maßgeblich beeinflussen. Wesentliche Kategorien stellen die sozialen Differenzdimensionen dar, wie sie beispielsweise von Budde (2018) systematisiert wurden. So wurde etwa gezeigt, dass Geschlecht eine wesentliche Differenzkategorie bilden und sich auf Unterricht auswirken kann – etwa dann, wenn Schüler verstärkt bei der Erschließung neuer Sachverhalte aufgerufen werden, Schülerinnen dagegen eher bei der Sicherung der Ergebnisse zu Wort kommen (vgl. Budde 2018, S. 141). Neben Milieu-Zugehörigkeit ist auch Dis-/Ability eine zentrale Differenzkategorie: Unterscheidungen in  Personen mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf konstituieren den Blick auf Schülerinnen und Schüler in inklusiven Klassen maßgeblich mit. Was fehlt, ist eine vergleichende Untersuchung über einzelne Differenzkategorien hinaus, die allererst die Frage der Allokation begrenzter Ressourcen innerhalb einer Lerngruppe in den Blick rücken würde.
Bloch (2014) untersuchte in diesem Sinne eine Stichprobe von Schweizer Lehrpersonen der Primarschule auf Deutungsmuster bezüglich ihrer eigenen Verteilung von Förderbemühungen. Aufbauend auf einer Fragebogenerhebung in zwei Kantonen wurden 13 Personen im Sinne eines Extremgruppenvergleichs für problemzentrierte Interviews ausgewählt, welche mittels zusammenfassender Inhaltsanalyse ausgewertet wurden. Im Ergebnis zeigte sich zunächst, dass die Lehrpersonen durchaus über unterschiedliche Präferenzen für Gerechtigkeitsorientierungen verfügten und für ihren Unterricht auch ein Gerechtigkeitsproblem wahrnahmen, wenngleich dieses nicht im Vordergrund ihrer unterrichtsbezogenen Überlegungen steht (vgl. ebd., S. 326 f.). Zudem wurde eine ungleiche Verteilung der Förderung bzw. genauer der Förderabsichten sichtbar: Das schwächste Drittel der Schülerinnen und Schüler erhielt (nach Lehrerangaben) fast durchgängig die größten, das stärkste Drittel hingegen die geringsten Ressourcen (vgl. ebd., S. 280, S. 345). Der Autor interpretiert dies als subjektive Präferenz der befragten Primarstufenlehrkräfte für das Ausgleichen von Leistungsunterschieden.
Im Kontext der engeren Inklusionsdebatte (um Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischen Förderbedarfen) ist schließlich ein Befund zu erwähnen, der die Verteilung von Ressourcen in ‚Inklusionsklassen‘ betrifft: So äußerten (einige) Lehrpersonen wiederholt Befürchtungen und Wahrnehmungen, dass die benötigte Zeit und Aufmerksamkeit für die ‚Förderschülerinnen und -schüler’ in den Regelschulklassen (unangemessen) zu Lasten der anderen, insbesondere aber der leistungsstärkeren Schülerinnen und Schüler geht (vgl. z. B. Hoy et al. 2006, S. 723). Auch eigene Untersuchungen im Rahmen von inklusivem Englischunterricht im Sekundarbereich deuten auf wahrgenommene Probleme bezüglich der Förderung leistungsstärkerer Schülerinnen und Schüler hin (vgl. Kötter/Trautmann 2018).
Zusammenfassend lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass auf Unterricht und Lehrerkognitionen fokussierende gerechtigkeitstheoretische Fragestellungen in der bisherigen Unterrichts- und Professionsforschung lediglich vereinzelt behandelt wurden. Es erscheint ertragreich, den damit verbundenen Fragestellungen auch empirisch weiter nachzugehen.

4. Schluss: Unterrichten als gerechtigkeitsbezogene Tätigkeit

Mit der Kritik vieler Pädagoginnen und Pädagogen, gerade im Inklusionsdiskurs, an extern differenzierenden Lernarrangements und dem Votum für eine möglichst lange und intensive Teilhabe von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischen Förderbedarfen am Regelunterricht verlagern sich Entscheidungsnotwendigkeiten weg von der Organisation und zunehmend in das individuelle Lehrerurteil hinein. Das Problem wird „auf die Profession verlagert, die richten soll, was erwartet wird“ (Tenorth 2013, S. 38): Unterricht wird damit zur zentralen Nahtstelle, an der gerechtigkeitstheoretische Anforderungen – individuelle Förderung für alle, besondere Förderung für eine ganze Reihe von unterschiedlichen Schülergruppen – mit Limitationen der Praxis zusammentreffen und Friktionen erzeugen, die Priorisierungen, aber auch praktische Kompromisse notwendig machen. Der vorliegende Beitrag hat zu zeigen versucht, dass Unterrichten nicht nur eine technische, sondern auch eine gerechtigkeitsbezogene Tätigkeit ist: Es werden, wie spontan oder überlegt auch immer, zumindest potenziell Entscheidungen bei der Planung und Durchführung von (inklusivem) Unterricht aufgerufen oder getroffen, die unter gerechtigkeitstheoretischen Gesichtspunkten betrachtet keineswegs selbstverständlich sind.

5. Literatur

Bloch, D. (2014). Ist differenzierender Unterricht gerecht? Wie Lehrpersonen die Verteilung ihrer Förderbemühungen rechtfertigen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Bohl, Th. & Wacker, A. (2021). Flexible ‘Individualisierung’. PÄDAGOGIK 2/21, 44–47.
Bromme. R. (1992/2014). Der Lehrer als Experte. Zur Psychologie des professionellen Wissens. Münster: Waxmann.
Budde, J. (2018). Differenzierungspraktiken im Unterricht. In Proske, M. & Rabenstein, K. (Hrsg.), Kompendium Qualitative Unterrichtsforschung (S. 137–152). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Cortina, K. S. (2020). Zur Optimierbarkeit von Lernen und Lehren aus empirischer Sicht. Zeitschrift für Pädagogik, 66(1), 72–77.
Doyle, W. (2006). Ecological Approaches to Classroom Management. In Evertson, C. & Weinstein, C. (Hrsg.). Handbook of Classroom Management (S. 97–125). New York/London: Routledge.
Drerup, J. (2015). Genug ist genug? Zur Kritik non-egalitaristischer Konzeptionen von Bildungsgerechtigkeit. Zeitschrift für praktische Philosophie, 2(1), 89–128.
Eckert, Th., & Gniewosz, B. (Hrsg.) (2017). Bildungsgerechtigkeit. Wiesbaden: Springer VS.
Falkenberg, K. (2020). Gerechtigkeitsüberzeugungen bei der Leistungsbeurteilung. Eine Grounded-Theory-Studie mit Lehrkräften im deutsch-schwedischen Vergleich. Wiesbaden: Springer VS.
Flitner, A. (1985). Gerechtigkeit als Problem der Schule und als Thema der Bildungsreform. Zeitschrift für Pädagogik, 31(1), 1–26.
Giesinger, J. (2007). Was heißt Bildungsgerechtigkeit? Zeitschrift für Pädagogik, 53 (3), 362–381.
Haas, A. (1998). Unterrichtsplanung im Alltag. Eine empirische Untersuchung zum Planungshandeln von Hauptschul-, Realschul- und Gymnasiallehrern. Regensburg: S. Roderer.
Heckhausen, H. (1974). Leistung und Chancengleichheit. Göttingen: Hogrefe.
Helmke, A. (1988). Leistungssteigerung und Ausgleich von Leistungsunterschieden in Schulklassen: unvereinbare Ziele? Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 20(1), 45–76.
Helsper, W. (2014). Lehrerprofessionalität – der strukturtheoretische Professionsansatz zum Lehrberuf. In Terhart, E., Bennewitz, H., & Rothland, M. (Hrsg.), Handbuch der Forschung zum Lehrerberuf (S. 216–240). Münster/New York: Waxmann.
Hofer, M. (1981). Schülergruppierungen im Urteil und Verhalten des Lehrers. In: Hofer, M. (Hrsg.), Informationsverarbeitung und Entscheidungsverhalten von Lehrern. Beiträge zu einer Handlungstheorie des Unterrichtens (S. 192–221). München u.a.: Urban & Schwarzenberg.
Hofer, M. (1986). Sozialpsychologie erzieherischen Handelns. Göttingen: Hogrefe.
Hoy, A., Davis, H., & Pape, S. (2006). Teacher Knowledge and Beliefs. In Alexander, P. A. & Winne, P. H. (Hrsg.), Handbook of Educational Psychology (S. 715–737). Mahwah, NJ: Erlbaum.
Kiel, E. & Kahlert, J. (2017). Ist Inklusion gerecht? In Eckert, Th. & Gniewosz, B. (Hrsg.), Bildungsgerechtigkeit. (S. 17–26). Wiesbaden: Springer VS.
Knorr, P. (2015). Kooperative Unterrichtvorbereitung. Unterrichtsplanungsgespräche in der Ausbildung angehender Englischlehrender. Tübingen: Narr.
Kötter, M., & Trautmann, M. (2018). Welche Erfahrungen machen Englischlehrkräfte mit der Inklusion. Eine Interviewstudie in der Sekundarstufe I. In Eßer, S., Roters, B., & Gerlach, D. (Hrsg.), Inklusiver Englischunterricht (S. 139–158). Münster: Waxmann.
Manitius, V., Hernstein, B., Berkemeyer, N., & Bos, W. (Hrsg.) (2015). Zur Gerechtigkeit von Schule. Theorie, Konzepte, Analysen. Münster, New York: Waxmann.
(MSW NRW) Ministerium für Schule und Weiterbildung (2005): Schulgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen (Schulgesetz NRW – SchulG). Zuletzt geändert durch Artikel 4 des Gesetzes vom 1. September 2020 (GV. NRW. S. 890). Düsseldorf: Ritterbach.
Oser, F. (1998). Ethos – die Vermenschlichung des Erfolgs. Zur Psychologie der Berufsmoral von Lehrpersonen. Opladen: Leske + Budrich.
Prengel, A. (2013). Pädagogische Beziehungen zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz. Opladen: Budrich.
Rawls, J. (1975). Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt: Suhrkamp.
Schramme, Th. (2004). Zur Währungskrise der egalitären Gerechtigkeit (Teil 2). Zeitschrift für philosophische Forschung, 58(1), 129–141.
Schramme, Th. (1999). Verteilungsgerechtigkeit ohne Verteilungsgleichheit. Analyse & Kritik, 21(2), 171–191.
Schwippert, K. (2001). Optimalklassen. Mehrebenenanalytische Untersuchungen. Münster u.a.: Waxmann.
Stojanov, K. (2008). Bildungsgerechtigkeit als Freiheitseinschränkung? Kritische Anmerkungen zum Gebrauch der Gerechtigkeitskategorie in der empirischen Bildungsforschung. Zeitschrift für Pädagogik, 54(4), 516–531.
Streckeisen, U., Hänzi, D., & Hungerbühler, A. (2007). Fördern und Auslesen. Deutungsmuster von Lehrpersonen zu einem beruflichen Dilemma. Wiesbaden: VS.
Tenorth, H.-E. (2013). Inklusion im Spannungsfeld von Universalisierung und Individualisierung – Bemerkungen zu einem pädagogischen Dilemma. In Ackermann, K.-E., Musenberg, O., & Riegert, J. (Hrsg.), Geistigbehindertenpädagogik!? Disziplin-Profession-Inklusion. (S. 17–41). Oberhausen: Athena-Verlag.
Thiel, F. (2016). Interaktion im Unterricht. Opladen/Toronto: Barbara Budrich.
United Nations (2006). United Nations Convention on the Rights of Persons with Disabilities. https://www.behindertenbeauftragte.de/SharedDocs/Publikationen/UN_Konvention_deutsch.pdf?__blob=publicationFile&v=2 [4.6.2021].
Weingarten, J. (2019). Wie planen angehende Lehrkräfte ihren Unterricht? Empirische Analysen zur kompetenzorientierten Gestaltung von Lernangeboten. Münster: Waxmann.


[1] So wurde mir mündlich von einem Fall berichtet, in der 8 Förderlehrpersonen 5 Kindern mit sonderpädagogischen Förderbedarfen im Unterricht (der Förderschule) gegenüberstanden – das sieht zumindest von außen nach einer Fehlallokation von Resssourcen aus.

[2] Das Plädoyer von Stojanov (2008) für einen nicht-distributiven Anerkennungsansatz scheint mir ebenfalls in diese Richtung zu zielen; wie er selbst zugesteht (vgl. S. 529, Fußnote 6), werden verteilungstheoretische und -praktische Fragen damit aber nicht überflüssig.

[3] Dieser Begriff wird in der deutschen Übersetzung verwendet, der ich hier folge; im Original spricht Rawls von „the less intelligent“ und „the more intelligent“, an andere Stelle auch von „the more endowed“ und „the least favored/fortunate“.