Yvonne Eiseler, Reimer Kornmann, Daniel Luthringhausen und Christian Wiegel:Planung inklusiv orientierten Unterrichts vor dem Hintergrund der Ansprüche einzelner Kinder – zwei Beispiele aus dem Sportunterricht mit motorisch beeinträchtigten Schülerinnen und Schülern[1]

Ausgabe: 1-2/2012

Vorbemerkung

Die vorliegende Studie entstand im Rahmen der schulpraktischen Ausbildung für das Lehramt an Sonderschulen der Pädagogischen Hochschule Heidelberg während des Wintersemesters 2010/11. Yvonne Eiseler fungierte als Ausbildungslehrerin der Stephen-Hawking-Schule Neckargemünd, Reimer Kornmann als betreuender Hochschuldozent, und die Studenten Daniel Luthringhausen und Christian Wiegel führten die gemeinsam geplanten Unterrichtsstunden durch.

Problemaufriss

Bei der Wahl von Themen, Inhalten und Methoden zur Gestaltung inklusiv orientierten Unterrichts lassen sich zwei verschiedene konzeptionelle Zugänge unterscheiden:

Beide Zugänge schließen sich gegenseitig nicht aus, sondern lassen sich oft miteinander verbinden. In diesem Beitrag werden zwei Beispiele dargestellt, die an den individuellen Lernvoraussetzungen ansetzen, die also den zweiten der beiden konzeptionellen Zugänge repräsentieren.

Terminologische und methodologische Vorbemerkungen

Angesichts des inflationär anmutenden und sehr verwirrenden Gebrauchs des Begriffs Inklusion (siehe z. B. Giese, 2011) erscheinen uns zwei terminologische und zugleich methodologische Vorbemerkungen angebracht.

(1)   Begriffliche Klarheit wird man in den humanwissenschaftlichen Disziplinen dadurch erreichen, dass man die verwendeten Kategorien anhand konkreter Beispiele und anhand  klarer Bestimmungen dessen, was diese Beispiele zeigen sollen, verdeutlicht. Nach Darstellung zweier praktischer Beispiele gehen wir erneut auf diesen methodischen Zugang ein.

(2)   Die beiden Beispiele wurden in einer Förderschule gewonnen, also innerhalb eines schulorganisatorischen Rahmens, der den Kriterien institutionalisierter Inklusion keineswegs entspricht. Wir meinen aber, dass man bei der Verwendung des Begriffs von Inklusion zwischen organisatorischen Rahmenbedingungen und pädagogischer Praxis, insbesondere der Unterrichtsgestaltung, unbedingt unterscheiden sollte. So sind die günstigsten organisatorischen Rahmenbedingungen für die Unterstützung der Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern in heterogen zusammengesetzten Lerngruppen solange wertlos, wie den Lehrpersonen Konzepte fehlen, mit denen sie die pädagogische Idee der Inklusion in ihrem Unterrichtsalltag verwirklichen können.

 

Zwei Beispiele aus der Unterrichtspraxis

Zu planen waren Sportstunden für eine Lerngruppe von 15 Kindern im Alter von etwa acht bis neun Jahren, von denen einige mehr oder weniger stark in ihren Bewegungsmöglichkeiten eingeschränkt waren, während andere motorisch weitgehend unauffällig erschienen. Zwei Jungen waren für ihre Fortbewegung auf einen Rollstuhl angewiesen. Ihnen sollten unsere besonderen Überlegungen bei der Planung der Unterrichtseinheiten gelten. 

Wir bezogen uns bei den Planungen auf das integrative Konzept von Feuser (1995). Nach diesem Konzept werden die unterrichtlichen Anforderungen bevorzugt aus der Perspektive solcher Kinder ausgewählt und gestaltet, welche die stärksten Einschränkungen bezüglich der jeweils geforderten Tätigkeiten aufweisen. Die Einnahme einer solchen Perspektive zielt darauf ab, gerade den Kindern mit den jeweils ungünstigsten Voraussetzungen einen entwicklungsförderlichen Zugang zu den jeweiligen Themen, Inhalten und Gegenständen zu eröffnen, damit sie sich diese in Kooperation mit den anderen Kindern ihrer Lerngruppe umfassend erschließen können. Dabei sollten zugleich auch die Bedürfnisse und Ansprüche der übrigen Kinder angemessen berücksichtigt werden.

Diese didaktische Forderung kann durch zwei methodische Ansätze erfüllt werden:

a)      Es werden Unterrichtseinheiten konzipiert, die zwar alle Kinder ansprechen, aber in besonderer Weise dazu geeignet sind, die lebensgeschichtlich erklärbaren individuellen Einschränkungen von Erfahrungsmöglichkeiten einzelner Kinder zu verringern.

b)      Unterrichtseinheiten, die bereits (etwa in Lehrplänen oder didaktischen Entwürfen) vorliegen, werden so variiert, dass alle Kinder in das lern- und entwicklungsförderliche Geschehen einbezogen sind.

Für beide Ansätze planten wir jeweils eine Unterrichtseinheit. Beide Unterrichtseinheiten ließen sich problemlos umsetzen. Beide Beispiele repräsentieren also unterschiedliche Gesichtspunkte bei der Wahl von Inhalten für eine inklusive Unterrichtsgestaltung. Gemeinsam ist ihnen jedoch der Anspruch,  Lernangebote aus dem gleichen Themenspektrum für alle Kinder so differenziert zu gestalten, dass jedes von ihnen Impulse erhält, die seinem individuellen Tätigkeitsniveau angemessen und seiner Entwicklung förderlich sind.

 

Beispiel 1: Eine am individuellen Lern- und Entwicklungsbedarf orientierte Konzeption

Zunächst überlegten wir uns, bezüglich welcher Erfahrungsbereiche Kinder, die sich nur im Rollstuhl fortbewegen können, am stärksten oder am deutlichsten eingeschränkt sind. Dabei  kamen wir schnell und übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass diesen Kindern Erfahrungen mit der Bewegungsrichtung „nach oben“, also mit der dritten räumlichen Dimension, kaum möglich sind und ihnen Wahrnehmungen aus der „Vogelperspektive“ wohl weitgehend fehlen. Dagegen können sich Kinder ohne solche Bewegungseinschränkungen leichter einen höheren Aussichtspunkt erobern, indem sie beispielsweise einen Baum oder die Sprossenwand erklettern oder sich mit Hilfe gestapelter Kisten oder einer Leiter vom Boden „nach oben“ fortbewegen. Würde man diese Anforderungen in den Mittelpunkt des Sportunterrichts stellen, wären die beiden Jungen, die auf den Rollstuhl angewiesen sind, ausgeschlossen. Ein inklusiver Unterricht würde hingegen darauf abzielen, sie gemeinsam mit den übrigen Kindern an dem Erleben der „dritten Dimension“ teilhaben zu lassen.

Bei der Überlegung, wie eine entsprechende Unterrichtseinheit gestaltet werden könnte, kamen uns die vorhandenen technischen Möglichkeiten entgegen. In der Turnhalle befand sich ein Seilzug, mit dem sich die Ringe einige Meter hoch in Richtung Decke ziehen ließen. An den Ringen ließ sich wiederum ein Brett an vier Punkten befestigen, das mit dem Seilzug in waagrechter Position vom Hallenboden langsam nach oben gezogen werden konnte. Beim Ziehen am Seilzug sollten sich alle Kinder gemeinsam beteiligen, während jeweils ein Kind auf dem Brett sitzend oder liegend nach oben gezogen wurde.  Die unterrichtende Lehrperson sollte das Seil in der vordersten Position fest in der Hand halten, die Länge der jeweiligen Züge (jeweils etwa 30 cm) dosieren und dabei die Kommandos („... und hoch ... und hoch ..“ bzw. „... und ab ... und ab ...“ ) geben, während sich die übrigen Kinder am schrittweisen Hochziehen oder Herunterlassen gemeinsam beteiligten. Allen Kindern sollte es freigestellt sein, sich nach oben ziehen zu lassen oder sich das Geschehen nur von unten anzusehen, aber alle sollten sich am Ziehen beteiligen. Weiter war vorgesehen, dass jedes Kind selbst die Höhe bestimmen sollte, auf die es gebracht werden wollte.   

Von allen Kindern wurde das Lernangebot freudig angenommen. Alle – einschließlich die beiden Rollstuhlfahrer - konnten sich in dem erfolgreichen gemeinsamen und sehr konzentrierten Tun des Hochziehens und Herunterlassens als eine kooperative Gemeinschaft erleben, und fast alle ließen sich gern nach oben ziehen – meistens bis zum Anschlag – und äußerten hinterher Gefallen an der Aktion. Dies galt insbesondere für die beiden Jungen, deren Bewegungserfahrungen ansonsten nur an den Rollstuhl gebunden waren.

Beispiel 2: Berücksichtigung der individuellen Voraussetzungen durch Variation der Anforderungen

Aus einer Zusammenstellung möglicher Ballspiele für Kinder mit eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten in heterogenen Gruppen (Schoo, 1999) griffen wir das recht bekannte Spiel „Haltet das Feld frei“ auf:  Auf einem Spielfeld, das ähnlich wie ein Tennisplatz in der Mitte deutlich durch eine Barriere in zwei Hälften unterteilt ist, befinden sich jeweils gleich viele Spieler in jeder Hälfte. Vor Spielbeginn befinden sich in jede Spielhälfte gleich viele Bälle – mindestens genau so viele wie teilnehmende Spieler. Die Spieler haben die Aufgabe, die in ihrem Feld liegenden Bälle schnell in das gegenüberliegende Feld zu werfen. Dabei kommt es darauf an, weniger Bälle im eigenen Feld zu haben als die gegnerische Gruppe. Das Spiel ist beendet, wenn sich in einem der beiden Felder kein Ball mehr befindet, was nur selten vorkommt, oder wenn das Spiel von der Spielleitung als beendet erklärt wird. Gesiegt hat dann die Gruppe, in deren Feld weniger Bälle liegen.

Bei dieser Spielregelung sind Kinder, die im Rollstuhl sitzen, weitgehend von einer vollwertigen Teilnahme ausgeschlossen, weil sie die Bälle nicht vom Boden aufsammeln können und daher nur selten in Ballbesitz kommen – etwa, wenn ihnen ein Ball einmal mehr oder weniger zufällig in die Arme fällt. Daher variierten wir die Spielregeln so, dass sich die Rollstuhlfahrer als gleichwertige Mitspieler erleben konnten: In jeder Mannschaft sollten drei „Werfer“ bestimmt werden, während die übrigen als „Sammler“ fungierten. Die Sammler hatten die Aufgabe, die Bälle zunächst aufzuheben, um sie dann den Werfern zu geben. Nur die Werfer durften die Bälle über die Markierung werfen. Indem die Rollstuhlfahrer immer bei den Werfern waren, waren sie voll in das Spielgeschehen integriert und immer auch mit den Sammlern in eine kooperative Tätigkeit eingebunden. Das so geplante Spielgeschehen verlief problemlos und ließ die gute Einbindung der Rollstuhlfahrer deutlich erkennen.

 

Zum Erkenntniswert praktischer Beispiele

Noch immer dürfte die Einschätzung von Buck (1967) gelten, wonach der Erkenntniswert von Beispielen für die Weiterentwicklung pädagogischen Denkens bei weitem nicht ausgeschöpft ist und im erkenntnistheoretischen Diskurs aufgrund der Vorherrschaft naturwissenschaftlicher Denkansätze auch kaum beachtet wird. Zwar finden sich im pädagogischen Schrifttum durchaus Versuche, ausgehend von Beispielen die Gültigkeit verallgemeinerbarer wissenschaftlicher Aussagen zu belegen. Aber: „Fälle sind so nie wahrhaft >besondere<, sondern gleichgültige, beliebig austauschbare Fälle desselben Sachverhalts. Für ihre Konstitution ist die Eliminierung alles Besonderen, alles Situativen entscheidend“ (Buck 1981, S. 98). Demgegenüber ist das Wesentliche der Erkenntnis pädagogischer Praxis darin zu sehen, das Verständnis pädagogischen Handelns zu erweitern und sich unterschiedlicher Handlungsmöglichkeiten bewusst zu werden. Diesen erkenntnistheoretischen Ansatz hat Christiane Lutz (2003) in ihrer Dissertation aufgegriffen und vertieft: „Für die Erkenntnis der Praxis kann das Beispiel insofern einen wichtigen Stellenwert einnehmen, als es über sich selbst hinaus auf etwas Allgemeineres verweist, indem es einen >auf etwas bringt< “ (Lutz 2003, S. 114). Genau in diesem Sinne sollen die hier dargestellten Beispiele zu weiteren Ideen für die Gestaltung inklusiver Unterrichtspraxis anregen und ermutigen und somit den Möglichkeitsraum pädagogischen Handelns erweitern helfen. Für Vertiefungen des hier thematisierten sportpädagogischen Bereichs unter der Perspektive der Inklusion sei vor allem auf  Fediuk (2008) verwiesen.

Literatur

Buck, G. (1967). Lernen und Erfahrung. Zum Begriff der didaktischen Instruktion. Stuttgart: Kohlhammer.

Buck, G. (1981). Hermeneutik und Bildung. Elemente einer verstehenden Bildungslehre. München: Fink.

Fediuk, F. (2008). Inklusion als bewegungspädagogische Aufgabe: Menschen mit und ohne Behinderungen gemeinsam im Sport. Hohengehren: Schneider.

Feuser, G. (1995). Behinderte Kinder und Jugendliche zwischen Integration und Aussonderung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Giese, H. (2011). Der Inklusionsdiskurs in der Heil- und Sonderpädagogik. Ein anthropologisches Niemandsland. Zeitschrift für Heilpädagogik 62, 6, 218-221.

Lutz, Chr. (2003). Eine Zusammenführung von Praxis und Theorie in der Pädagogik – konkretisiert anhand einer Fallstudie zur Förderung des Schriftsprachgebrauchs eines hörgeschädigten Mädchens unter besonderer Berücksichtigung allgemeiner Erziehungs- und Bildungsaufgaben. Dissertation. Heidelberg: Pädagogische Hochschule.

Schoo, M. (1999). Sport- und Bewegungsspiele für körperbehinderte Kinder und Jugendliche. München: Reinhardt.

 



[1] Wir widmen diesen Text Herrn Prof. Dr. Wolfgang Lamers anlässlich der Annahme seines Rufes an die Humboldt-Universität Berlin in dankbarer Anerkennung seiner langjährigen engagierten Tätigkeit als Beauftragter für die schulpraktischen Studien an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.