Karin Paulsson, Göran Nygren, Jelena Lübbeke und Reinhard Lelgemann : Zur aktuellen Situation körperbehinderter Schülerinnen und Schüler in Schweden

Abstract: Schweden gilt zu Recht als ein Land, indem integrative Lebensbedingungen in der Gemeinde und integrative Lernbedingungen im Bildungsbereich deutlich stärker verwirklicht wurden als dies bisher in Deutschland der Fall ist. Wie sich die Lernbedingungen für Schüler mit besonderen Unterstützungsbedürfnissen, hier im Bereich der in Deutschland als körperlich-motorischer Förderbedarf benannt wird, darstellen, wurde von Frau Dr. Paulsson (ehem. Universität Stockholm) mit Hilfe quantitativer Methoden und Herrn Nygren (Universität Uppsala) im Rahmen einer ethnologischen Feldstudie zwischen 2005 und 2008 differenziert erfasst und analysiert. Ihre zum Teil ernüchternden Untersuchungsergebnisse geben Hinweise auf einige wesentliche Aspekte, die auch nach über dreißig Jahren schulischer Integration gerade für kleinere Schülergruppen mit spezifischen Unterstützungsbedürfnissen relevant sind und die die aktuelle Diskussion in Deutschland anregen können.

Stichworte: Historische Aspekte der schwedischen Schulentwicklung, Lehrerbildung, Elternwahlrecht, Barrierefreiheit, Assistenz, außerunterrichtliche Schulaktivitäten, qualitative Aspekte schulischer Integration

Ausgabe: 4/2011

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung
  2. Hinweise zur Entwicklung integrativer und inklusiver Lernangebote in Schweden
  3. Die Ausbildung der Förderschullehrerinnen und Sonderpädagoginnen
  4. „Besonders, getrennt oder ausgegrenzt?“ Schüler mit Körperbehinderung in der schwedischen Schule
  5. „Warum kam es zu diesen Situationen?“ – Vermutungen und Hypothesen
  6. Schulalltag mit Körperbehinderung – Ergebnisse einer ethnologischen Studie
  7. Schweden – Anregungen für die deutsche Entwicklung
  8. Literatur

1. Einleitung

Wer Schweden besucht, um sich dort über Möglichkeiten inklusiven Unterrichts zu informieren, wird überrascht sein, in welch ungewöhnlich hohem Maße binnendifferenzierende Unterrichtsformen, unterstützende Mitarbeitergruppen, vielfältige Unterrichtsmaterialien und vieles mehr verwirklicht sind, von dem in Deutschland immer noch in eher kühnen Visionen geträumt werden muss. Noch überraschender sind die kleinen Beobachtungen im Alltag, die zeigen, dass Barrierefreiheit in weiten Teilen des Alltags umgesetzt worden ist, wozu nicht nur die in fast jedem Lokal (auch den älteren) zu findende Toilette für bewegungsbeeinträchtigte Menschen zu zählen ist. Schweden gilt zu Recht als ein europäischer Staat, der die schulische Integration seit vielen Jahren engagiert umgesetzt hat. Im Rahmen eines Forschungsprojekts des Landschaftsverbandes Rheinland zu Gelingensbedingungen schulischer Inklusion für körper- und mehrfachbehinderte Schüler entstand im Sommer 2010 ein Kontakt zu Frau Dr. Karin Paulsson, die als engagierte Psychologin und Erziehungswissenschaftlerin die integrative Schulentwicklung in Schweden seit Anfang der siebziger Jahre begleiten konnte. Gemeinsam mit Göran Nygren hatte sie die Gelegenheit die gegenwärtige schulische Situation für Schüler mit körperlichen und mehrfachen Beeinträchtigungen oder, wie es in Deutschland heißt, dem Förderbedarf körperliche und motorische Entwicklung, in den Jahren 2005 - 2008 erneut zu untersuchen. Die Untersuchungsergebnisse der beiden Wissenschaftler benennen bei aller positiven Einschätzung der gesellschaftlichen Gesamtentwicklung in Bezug auf die Inklusion von Menschen mit Behinderung einige wesentliche kritische Aspekte, die auch die aktuelle Diskussion in Deutschland anregen können. Der Artikel gliedert sich in einführende Hinweise zur Geschichte der schulischen Integration körperbehinderter Schüler, den zusammenfassenden Darstellungen der beiden schwedischen Autoren und abschließenden Hinweisen. Unser Artikel entstand arbeitsteilig in deutscher und schwedischer Sprache. Die gegenseitige Übersetzung erfolgte durch Dr. Karin Paulsson und Jelena Lübbeke.

2. Hinweise zur Entwicklung integrativer und inklusiver Lernangebote in Schweden

Wer sich mit dem schwedischen Schulsystem beschäftigt, möchte lernen und erfahren, wie es gelingen konnte, ein integratives, ja vielleicht sogar inklusives Schulsystem zu entwickeln. Schließlich reicht die Inklusion von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf und spezifischer dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung (FS kmE) bis weit in die 1970er Jahre zurück. Um die derzeitige Situation besser verstehen zu können, ist es wichtig, die historische Entwicklung ein wenig kennenzulernen.
Mit der Einführung einer allgemeinen vierjährigen Volksschule (folkskola), 1842, war der Unterricht nun nicht mehr nur Kindern aus der Ober- und Mittelschicht vorbehalten. Die allgemeine Schulpflicht für Kinder und Jugendliche zwischen dem siebten und vierzehnten Lebensjahr kam 1882, 40 Jahre später. Noch Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Schulpflicht auf blinde und taube Kinder erweitert sowie erste Einrichtungen speziell für Kinder mit einer körperlichen Behinderung geschaffen. Sie besuchten getrennte Heime oder Institutionen, die oft weit von ihrem zu Hause entfernt lagen. Es waren aber nicht nur behinderte Kinder, die ausgesondert wurden, auch Kinder mit anderen (Lern)-Schwierigkeiten und Krankheiten wurden in speziellen Schulen oder Hilfsklassen unterrichtet. Dieses separierende System wurde bis weit ins 20. Jahrhundert hinein beibehalten. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde 1962 im Zuge einer großen Reform des Bildungssystems die bisherige Volksschule zur einheitlichen Gesamtschule umbenannt. In dieser Zeit, 120 Jahre nach der Einführung der allgemeinen Schulpflicht, bekamen Schüler mit einer körperlichen Beeinträchtigung ebenfalls die Pflicht und das Recht auf Schulbildung.
Bis 1972 wurde das Gesamtschulwesen flächendeckend eingeführt. Im Zuge dieser Reformen und einer in den 1960er und 1970er Jahren immer lauter werdenden Kritik an den separierenden Institutionen wurde Kindern mit Behinderung, die zuvor in abgesonderten Institutionen beschult wurden, nun eine Schule vor Ort angeboten und die Integration aller Schüler in eine Schule gefordert und gefördert. Diese Entwicklung bezog sich nicht nur auf die schulische Integration, vielmehr war das Ziel der nationalen Behindertenpolitik die Gleichstellung und Normalisierung aller in der Gesellschaft (vgl. Skolverket 2005).
In den 1990er Jahren wurde im Zuge der Dezentralisierung und Kommunalisierung im Sinne einer Antidiskriminierungs- und Gleichbehandlungsinitiative sowohl im Zentralamt für Schule und Erwachsenenbildung (dem sog. Skolverket) als auch im Sonderpädagogischen Institut (später SPSM, Schulbehörde für Sonderpädagogik) beschlossen, die spezialisierten Fachleute und -abteilungen für einzelne Schülergruppen abzuschaffen. Das Thema Behinderung wurde unter eine „allgemeine Perspektive“ (vgl. Paulsson & Stenberg 2009, 46) gestellt, um der Diskriminierung und Aussonderung von Menschen mit Behinderung vorzubeugen. Dies führte u.a. dazu, dass es keine allgemeine Registrierung von Kindern mit dem FS kmE mehr gibt. Lediglich die Therapiezentren (vgl. unten), haben noch einen ungefähren Überblick über Schüler und Schülerinnen mit diesem Förderbedarf (vgl. Paulsson & Stenberg 2009, 11).
Schweden hat neben zahlreichen weiteren Vertragsstaaten die UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderung (BRK) bereits am 30. März 2007 unterzeichnet und sich u.a. verpflichtet, ein inklusives Bildungssystem für alle Kinder zu schaffen. Der Völkervertrag trat am 14. Januar 2009 in Kraft (vgl. Socialdepartement, Regeringskansliet 2009, 2).

Sowohl im schwedischen Schulgesetz als auch im Lehrplan (LPO 1994) wird ausdrücklich festgehalten, dass der Unterricht an die Voraussetzungen und den Bedarf eines jeden Schülers angepasst werden muss. Zudem muss Rücksicht auf die Schüler genommen werden, die es aus unterschiedlichen Gründen schwerer haben, das Klassenziel zu erreichen.
Es gibt in Schweden nur wenige Förderschulen. Laut Schulgesetz haben alle Schüler und Schülerinnen das Recht auf eine gleichwertige Schulausbildung (vgl. Sverige. Regeringen 2010). Die bestehenden Förderklassen sind häufig an Regelgesamtschulen angegliedert. Für Schüler mit dem FS kmE gibt es die Möglichkeit eine sogenannte RH-Klassen (rh = rörelsehinder = Körperbehinderung) zu besuchen. Dieses ist eine spezielle für Kinder mit Körperbehinderung eingerichtete Klasse, in der die Schüler die Möglichkeit haben, in einer kleinen Gruppe mit einem individualisierten Lehrplan gefördert zu werden. Diese gehören zu den Regelgesamtschulen. Schüler und Schülerinnen, die aufgrund einer größeren Entwicklungsverzögerung nicht das Ziel der Regelschule erreichen, können von der sogenannten Särskola (= Sonderschule) aufgenommen werden. Dies ist eine Förderschule für Schüler mit leichteren Entwicklungsstörungen, Autismus oder ähnlichen Beeinträchtigungen sowie für Schüler und Schülerinnen mit Folgen cerebraler Dysfunktionen oder körperlichen Beeinträchtigungen. Kinder und Jugendliche mit schwereren und mehrfachen Behinderungen besuchen die sogenannte Trainingsschule, eine Förderschulform, die sich speziell um Kinder und Jugendliche mit schweren geistigen und häufig auch körperlichen Behinderungen kümmert. All diese Förderklassen sind für gewöhnlich an eine Regelgesamtschule angegliedert, teilen sich ein Gebäude und ermöglichen somit ihren Schülern und Schülerinnen für bestimmte Stunden eine andere Klasse der Regelschule bzw. die Förderklasse zu besuchen oder gar einen vollständigen Wechsel der Schulform innerhalb einer Schule.

In Schweden hat jeder Schüler bzw. jede Schülerin der Regel- und Förderschule mindestens einmal pro Schulhalbjahr ein sogenanntes Entwicklungsgespräch (utvecklingssamtal), an dem sowohl der Schüler oder die Schülerin selbst, seine oder ihre Erziehungsberechtigten sowie die Lehrkraft beteiligt sind. Es wird über die schulische und soziale Entwicklung des Schülers/der Schülerin gesprochen. Zusätzlich gibt es für jedes Fach eine schriftliche Beurteilung (individueller Entwicklungsplan), in der es um das individuelle Wissen in den verschiedenen Fächern geht. Gemeinsam geht es darum, einen neuen Plan zu entwickeln, in welche Richtung der Schüler/ die Schülerin weiterarbeiten will und durch welche Methoden diese Ziele erreicht werden können. Im Anschluss werden die Zuständigkeiten für das Erreichen der vereinbarten Ziele verteilt. Der aufgestellte Plan nimmt eine ganzheitliche Perspektive ein, sodass im Idealfall nicht nur die schulische Situation besprochen wird, sondern auch außerschulische Ziele benannt werden. Diese Zuständigkeiten sind sowohl auf das Lehrpersonal, als auch auf die Eltern und den Schüler oder die Schülerin selbst, verteilt, sodass alle Beteiligten einbezogen sind (vgl. Skolverket; Paulsson et al. 2010, 30 f.). Für Schüler und Schülerinnen, die zusätzliche Unterstützung benötigen, wird ein Förderplan erstellt. Damit gibt es Kinder, die neben dem individuellen Entwicklungsplan noch einen Förderplan erhalten. In dem Förderplan werden die kurz- und langfristigen Ziele festgehalten, Fördermaßnahmen sowie die hierzu benötigten verschiedenartigen Hilfsmittel und die Ausstattung eines individuell angepassten Arbeitsplatzes (vgl. Paulsson et al. 2010, 31 f.). Wenn es von der Schulleitung oder den Eltern für erforderlich gehalten wird, ist es für bestimmte Schüler und Schülerinnen möglich, einen Nachteilsausgleich im Sinne eines sogenannten individuellen Lehrplans zu bekommen; d.h. einen an ihre Bedürfnisse, Voraussetzungen und Möglichkeiten angepassten Lehrplan. Dies kann durch das Weglassen eines oder mehrerer Fächer zur Stundenminderung führen oder das Ersetzen von Schulstunden durch ein Praktikum an einem Arbeitsplatz außerhalb der Schule für Schüler der Sekundarstufe I (7. - 9. Jahrgangsstufe) beinhalten; letztgenanntes dient dazu, einen bevorstehenden Berufseinstieg zu erleichtern (vgl. Paulsson et al. 2010, 34 f.). Schüler- und persönliche Assistenz bietet allen Schülern mit erhöhtem Pflege- und Förderbedarf die Möglichkeit ihren Schulalltag zu meistern.

3. Die Ausbildung der Förderschullehrerinnen und Sonderpädagoginnen

In Schweden gibt es sowohl die Ausbildung zum Sonderpädagogen als auch zum Förderschullehrer. Beide Studiengänge erfolgen aufbauend auf ein bereits abgeschlossenes Lehramtsstudium und erfordern eine dreijährige Berufserfahrung. Sonderpädagoginnen haben in Schweden eine anleitende und beratende Funktion für ihre Lehrerkolleginnen, die Schüler und Schülerinnen mit Behinderung in ihrer Klasse haben sowie für die Schüler und Schülerinnen und ihre Eltern selbst; sie unterrichten in der Regel nicht. Förderschullehrer sind fertige Schwedisch- und Mathematiklehrkräfte, die in drei Semestern das Aufbaustudium absolviert haben und speziell für die Zusammenarbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen sowohl im Kindergarten, der Vorschule, der Schule und in der Erwachsenenbildung ausgebildet werden (vgl. Von Ahlefeld Nisser 2008, 4). Beide Berufsgruppen ergänzen sich gut, wie Professor Rosenqvist von der Hochschule Kristianstad (Högskola Kristianstad) feststellt. Förderschullehrkräfte arbeiten sehr individuell mit einzelnen Schülern oder kleinen Gruppen, während Sonderpädagoginnen darauf spezialisiert sind als Ratgeber und Mentoren in den Schulen zur Verfügung zu stehen (vgl. 2009, 13).

In den Therapiezentren (Habilitering), die nicht dem Schulsystem angehören, erhalten Menschen jeden Alters mit körperlicher oder mehrfachen Beeinträchtigung(en) sowie deren Angehörige Unterstützung und Beratung von Physio- und Ergotherapeutinnen, Logopädinnen, Krankenschwestern/-pflegern, Psychologinnen und Ärztinnen. Die Arbeit der Therapiezentren richtet sich an alle Personen, die mit einer Behinderung geboren werden oder bis zu ihrem 16. Lebensjahr eine Behinderung entwickeln. Bei Schulkindern kann die Hilfe während oder nach der Unterrichtszeit stattfinden. Den betroffenen Personen soll ein möglichst selbstbestimmtes Leben ermöglicht und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben durch Therapien und Bereitstellung sowie Anpassung von Hilfsmitteln erleichtert werden.

4. „Besonders, getrennt oder ausgegrenzt?“ Schüler mit Körperbehinderung in der schwedischen Schule

Es ist nur einige Jahrzehnte her, dass auch in Schweden Kinder mit Körperbehinderung in große Institutionen untergebracht waren, um dort zur Schule zu gehen. Diese waren häufig sehr weit von ihrem zu Hause entfernt. Für junge Menschen mit Körperbehinderung gilt erst seit 1962 die Schulpflicht. Sie waren damit die letzte Gruppe, die dieses Recht erhielt. Einige Kinder hatten bis dahin überhaupt keine Schule besucht. In den 1960er Jahren änderte sich die Situation. Die Behindertenbewegung, sowohl in Schweden als auch international wurde stärker und setzte das Recht auf Teilhabe in der Gesellschaft für Menschen mit Behinderung durch. Es wurde nun davon ausgegangen, dass vor allem allgemeine Umgebungseinflüsse und die Umwelt dazu führten, dass eine Beeinträchtigung zu einer Behinderung/einem Handikap würde. Kinder und Erwachsene mit Beeinträchtigung sollten nicht mehr als Pflegeobjekte sondern als Mitbürger mit gleichen Rechten und Pflichten gesehen werden.

Seit vielen Jahren gibt es deshalb in Schweden eine Gesetzgebung, die allen Kindern eine physisch, pädagogisch und psychosozial barrierefreie Schule garantieren soll. Aber wie sieht es in der Wirklichkeit aus? Gibt es bereits eine Schule, an der alle Kinder teilnehmen können und gleichgestellt sind? Um dies differenziert zu untersuchen wurde die Studie „Besonders, getrennt oder ausgegrenzt? - Über die Schulsituation von Schülern mit Körperbehinderung" durchgeführt. Dazu wurden in den Jahren 2005 - 2008 470 Schüler verschiedenen Alters, ihre Eltern und etwa hundert Lehrer und Schulleiter mit Hilfe standardisierter Fragebögen über die Situation körperbehinderter Kinder und Jugendlicher an schwedischen Schulen in ganz Schweden befragt. Im Folgenden wird eine Auswahl der Ergebnisse vorgestellt.

Das Recht, die Schule zu wählen
Was im Gesetz steht:
Laut Schulgesetz haben alle Schüler das Recht, jede beliebige Schule innerhalb ihrer Gemeinde zu besuchen, wobei es einige Einschränkungen gibt. Die Gemeinde muss dem Wunsch der Erziehungsberechtigten nachkommen, „solange dies möglich ist, ohne dass andere berechtigte Anforderungen von Schülern in ihrer wohnortnächsten Schule vernachlässigt werden oder bedeutende organisatorische Schwierigkeiten für die Gemeinde anfallen" (SL 4 kap 6§ resp SL 6 kap 6§).

Was die Untersuchung ergab:
Ein Fünftel der Eltern in unserer Untersuchung antworteten, dass sie für ihr Kind nicht die Schule frei auswählen konnten. Wenn es um die Förderschule ging (Särskola), war es ein Drittel, die nicht wählen konnten. Paulsson und ihre Mitarbeiter konnten auch feststellen, dass fast die Hälfte der Schüler nicht in die nächstgelegene Schule gehen, in der es die entsprechende Jahrgangsstufe gibt und die die Freunde aus der Nachbarschaft besuchen. In den Großstädten besuchte nur ein Drittel der Schüler die nächstgelegene Schule, wobei viele eine etwas weiter weg gelegene Form von Förderklasse/ -gruppe besuchten. Ein Elternteil stellte fest: „Wir wollten, dass er in eine Schule bei uns in der Nähe geht, aber das durfte er nicht, da sie keine Ressourcen haben, um einen spastisch Behinderten aufzunehmen".

Das Recht auf barrierefreie Schulgebäude
Was im Gesetz steht:
Laut Schulgesetz und Schulverordnung haben alle Schüler das Recht auf eine Schule mit „geeigneten Räumlichkeiten und mit einer solchen Ausstattung, die es für eine zeitgemäße Ausbildung braucht“ (SL 2a kap 3§, GrF1 kap 4§, SärF 1 kap 4§). Laut Arbeitsschutzgesetz (das auch für die Schule gilt) soll „das Arbeitsumfeld zufriedenstellend mit Rücksicht auf die Arbeitsnatur und die soziale und technische Entwicklung in der Gemeinde sein“ (AML 2 kap 1§). In den Vorschriften steht weiter, dass die Arbeitsplätze, in denen die Schüler unterrichtet werden, barrierefrei sein sollen und benutzbar für Arbeitnehmer/ Schüler mit Körperbehinderung, Seh- oder Hörbeeinträchtigung“ (AFS 2000:42, 8§). Es ist überraschend, dass das Arbeitsschutzgesetz nur für Schüler gilt, die bereits eine bestimme Schule besuchen und nicht für Schüler, die erst an einer Schule angenommen werden sollen. Im Planungs- und Baugesetz gibt es keine Forderungen für bereits bestehende Schulen, weil der Hauptteil der Schulgebäude nicht öffentlich ist, d.h., sie nicht für die Allgemeinheit zugänglich sein müssen. Beim Um- oder Neubau von Schulen gilt jedoch das aktuelle Gesetz, in dem unter anderem steht, dass „Neubauten mit Rücksicht auf die besonderen Bedürfnisse von Personen mit körperlichen oder Orientierungsbeeinträchtigungen gestaltet werden sollen. Ein eingeschränktes Orientierungsvermögen beinhaltet beeinträchtigte Seh-, Hör- und/ oder kognitive Fähigkeiten, bzw. Entwicklungsverzögerungen, Autismus etc“ (PBL 2 kap 4§).

Was die Untersuchung ergab:
Die meisten Schüler der Studie (85 %) benötigten in der Schule individuell angepasste Räumlichkeiten, aber nur die Hälfte von ihnen besuchte eine für sie vollkommen barrierefreie Schule. Die Lehrer bestätigten diese Darstellung. Laut ihrer Beurteilung gab es nicht eine einzige Schulaktivität, in der prinzipiell immer alle Schüler mit Körperbehinderung teilnehmen konnten. Dies galt sowohl für den Unterricht im Klassenraum als auch, in noch höherem Maß, für die Möglichkeit, sich im Speisesaal, Aufenthaltsraum etc. fortzubewegen.

Das Recht auf Unterstützung im Unterricht
Was im Gesetz steht:
Laut Schulgesetz sollen alle Kinder von der Gesamtschule aufgenommen werden und dort ihre Schulpflicht erfüllen (SL 3 kap 3§). Das Grundprinzip ist, dass ein Schüler, so lange es möglich ist, in seiner Klasse unterrichtet werden soll. Sowohl im Schulgesetz als auch im Lehrplan (Lpo 1994) wird deutlich, dass sich der Unterricht an die Voraussetzungen und den Bedarf eines jeden Schülers anpassen muss. Hier gibt es eine verpflichtende Regel, die besagt, dass „Schülern, die Schwierigkeiten in der Bewältigung des Unterrichtsstoffes haben, besondere Unterstützung gegeben werden soll“ (SL 4 kap 1§). Der Schulträger (meistens die Gemeinde) ist verpflichtet, jedem einzelnen Schüler diese Unterstützung sowie die benötigten Hilfsmittel zu gewährleisten. Es gibt keine Ausnahmen in den Verfassungsartikeln, die besagen, dass sich die Schulaufsicht auf nicht ausreichende Ressourcen berufen darf. Die Schulträger sind verpflichtet, die Mittel und die Hilfe bereitzustellen, welche gebraucht werden, damit die Verantwortlichen in der Schule den Kindern und Jugendlichen das Beste bieten können.

Was die Untersuchung ergab:
Fast ein Drittel der befragten Schüler fanden, dass sie nicht genügend Unterstützung bekamen, um dem Unterricht zu folgen. Weniger als die Hälfte schätzten das Fachwissen ihrer Lehrkräfte über ihre Beeinträchtigung hoch genug ein. Nicht einmal die Lehrer waren zufrieden mit der Situation. Gut die Hälfte von ihnen antwortete, dass sie nicht genügend Zeit hatten, um den Schülern im Unterricht zu helfen. Die Ergebnisse von Paulsson und ihren Mitarbeitern belegen auch, dass viele Schüler während ihrer Schulzeit von einer Regelschulklasse in irgendeine Form von Förderklasse/ -gruppe wechselten. In der 9. Klasse ist der Anteil körperbehinderter Schüler in den Regelschulklassen von 73 % auf 57 % gesunken. Mehr als die Hälfte der Schüler in speziellen Klassen für Schüler mit dem FS kmE, Förderschulklasse mit einem FS im Bereich leichte geistige Beeinträchtigung (grundsärskolklass) oder besonderen Unterrichtsgruppen (50 - 60 %) hatten ihre Klasse ein oder mehrere Male gewechselt. Nur gut die Hälfte der Eltern war vollkommen zufrieden mit den Schulwechseln ihrer Kinder. Jene Eltern, die am unzufriedensten waren, sind Eltern von Kindern, welche aufgrund eines nicht ausreichenden Angebots an Unterstützung die Schule wechseln mussten.

Das Recht, in den Pausen, auf Ausflügen, an Wandertagen, Klassenfahrten etc. dabei sein zu können
Was im Gesetz steht:
In der Schulverfassung wird an mehreren Stellen betont, dass ein wichtiger Teil der schulischen Grundwerte das Recht aller auf Gleichbehandlung, Teilhabe und Gemeinschaft ist. Alle Schüler haben das Recht an sämtlichen Aktivitäten teilzunehmen, die den obligatorischen Schulalltag betreffen. Das bedeutet, dass sich die Schule verpflichtet, selbstverständlich auch Schüler mit Behinderung in den Pausen, bei Ausflügen, Wandertagen, Klassenfahrten etc. einzubeziehen. Laut Schulgesetz, der Schulverordnung und dem Arbeitsschutzgesetz gelten die Schulhöfe als Teil der Schullokalitäten und müssen daher barrierefrei gebaut sein (SL 2a kap 3§, GrF 1kap 4§). Im Gesetzestext steht, dass das Arbeitsumfeld sowohl im Gebäude als auch im Außengelände „zufriedenstellend sein muss – mit Rücksicht auf die Arbeitsnatur und die soziale und technische Entwicklung in der Gesellschaft“ (AML 2 kap 1§).

Was die Untersuchung ergab:
Drei Viertel aller befragten Schüler gingen immer oder meistens gerne in die Schule. Aber nur die Hälfte ging gerne in die Pause. Dies waren beträchtlich weniger im Vergleich zu den übrigen Gesamtschülern (knapp 90 %), wie vom Zentralamt für Schule und Erwachsenenbildung (Skolverket) 2006 ebenfalls ermittelt wurde. Nicht barrierefreie Schulhöfe und ein Mangel an geeigneten Spiel- und Freizeitgeräten waren Teile des Problems. Gefühle des Ausgeschlossenseins und der Einsamkeit wurden aber ebenfalls als Gründe genannt, warum sich die Schüler in den Pausen nicht wohl fühlten.
Auf die Frage nach den Möglichkeiten, an Ausflügen, Besichtigungen, Wandertagen, Klassenfahrten oder ähnlichen Unterrichtsaktivitäten teilnehmen zu können, antworteten fast die Hälfte der körperbehinderten Schüler, die die Regelschule besuchen, dass sie manchmal oder oft nicht dabei sein konnten oder durften. Sogar die Lehrkräfte schätzten die Möglichkeiten der Schüler dabei zu sein als keine Selbstverständlichkeit ein. Nur ein Drittel von ihnen gab an, dass Schüler mit Behinderung immer dabei sein konnten.

Das Recht, Einfluss in der Schule auszuüben bzw. mitzubestimmen
Was im Gesetz steht:
Im Schulgesetz und der Gesamtschulverordnung wird an mehreren Stellen betont, dass sich die Schule zusammen mit den Erziehungsberechtigten der Schüler zusammensetzen soll, um über verschiedene Fragen, betreffend die persönliche Entwicklung, des Förderplans, der Schullaufbahn und eines angepassten Lehrplans des Schülers gemeinsam zu beratschlagen. Sogar das Recht der Schüler sich einzubringen ist schriftlich in den Richtlinien festgelegt. Im Schulgesetz steht, „der Umfang und die Ausprägung des Einflusses der Schüler soll an ihr Alter und ihre Reife angepasst werden“ (SL 4 kap 2§, 6 kap 2§ och 7 kap 2§). Der Lehrplan (Lpo 1994) gibt vor, dass „alle Schüler das Recht haben mit zu gestalten, Verantwortung zu übernehmen und in der Klasse mit einbezogen zu werden“ (Abschnitt 2.3).

Was die Untersuchung ergab:
Nur ein Viertel der Eltern war vollkommen zufrieden und fand, dass sie große Einflussmöglichkeiten auf Beschlüsse hatten, bei denen es um die schulische Situation ihres Kindes ging. Gleich viele von ihnen antworteten, dass sie sehr wenig bis überhaupt keinen Einfluss hatten. Die Hälfte der Eltern fand, sie haben relativ großen Einfluss, aber viele von ihnen verwiesen in ihren Kommentaren darauf, dass sie sich nur durchsetzen konnten, nachdem sie massiven Druck auf die Schule oder Gemeinde ausgeübt hatten: „Erst nachdem man wie ein Schneeflug nach vorne geprescht ist, hat alles funktioniert“, sagte ein Elternteil. Ein weiteres Elternteil drückte es wie folgt aus: „Lässt man über sich verfahren, dann wird man überfahren. Mit Händen und Füßen wehren!“
Die Schülersicht bezüglich ihres Einflusses in der Schule fiel ebenfalls nicht positiver aus. Auch wenn sich die Mehrzahl in der Schule und im Umgang mit Lehrern und Mitschülern wohl fühlte, waren sie weniger zufrieden, wenn es um ihre Einflussmöglichkeiten bzw. Mitspracherechte ging. Nur gut die Hälfte von ihnen hatte den Eindruck, dass sie sowohl bei den Erwachsenen der Schule als auch bei ihren Klassenkameraden immer oder oft Gehör fanden.

5. „Warum kam es zu diesen Situationen?“ – Vermutungen und Hypothesen

Die Ergebnisse der Studie von Paulsson und ihren Mitarbeitern sind ernüchternd. Ihre Hoffnung, dass in den letzten 30 Jahren viel passiert sei, hat sich, gemessen an der Wirklichkeit, nicht erfüllt. Leider haben entsprechende Untersuchungen der Riksrevisionen 2006, Skolverket 2008 und Skolinspektionen 2009 und 2010 dieses Bild der schwedischen Schullandschaft bestätigt. Sie alle stellten fest, dass Schweden noch weit von einer Schule für alle entfernt ist, in der ein jeder Schüler den gleichen Wert und gleiche Möglichkeiten hat. Obwohl es neben einem 25 Jahre alten Schulgesetz sowie einem seit gut 30 Jahren bestehenden Arbeitsschutzgesetz nationale Handlungspläne (handlingsplaner) für die Behindertenpolitik gibt, ist die physische Barrierefreiheit in den Schulen fast die gleiche, wie Ende der 1970er Jahre. Zu dieser Zeit hatte Paulsson mit einigen Mitarbeitern eine große Studie, das sogenannte PRESS-3-Projekt, durchgeführt.

Schweden hat die UN-Kinderrechtskonvention 1990 und die UN-Standardregeln über die Teilhabe und Gleichberechtigung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Behinderungen 1993 unterzeichnet. Dies hatte ebenfalls keinen Einfluss auf entscheidende Veränderungen – hin zu einer für Schüler mit Körperbehinderung barrierefreien Schule. Möglicherweise ist eine der Ursachen, dass es in Schweden seit langem eine weitgehende Dezentralisierung der Schulpolitik gibt. Die Schule wechselte 1990 in die Verantwortung der Kommune und diese übernahmen die Verantwortung, den Gesetzen und UN-Konventionen, die in Schweden gelten, zu folgen. Natürlich schaffen Gesetze Voraussetzungen und bahnen Wege, aber es sind die Lokalpolitiker, die die Verantwortung tragen, dass diese durchgesetzt werden und ihnen gefolgt wird. Das Recht der Gemeinden über die Selbstverwaltung ihrer Steuereinnahmen wird von vielen Seiten höher eingeschätzt als die Rechte jedes einzelnen Kindes, die das Gesetz verspricht. Solange die Sanktionen gegen diejenigen, die gegen das Gesetz verstoßen, niedrig und bedeutungslos sind, bleiben viele Gesetze wirkungslos. In Schweden gibt es eine Anzahl staatlicher Behörden und lokaler Instanzen, die auf verschiedene Weise eine Mitverantwortung für die schulische Situation der Kinder tragen. Leider haben viele Behörden untereinander unklare Kompetenzen. Alle haben Mittel für ihre eigene spezielle Tätigkeit. Daher besteht das Risiko, dass keiner eine übergreifende Gemeindeverantwortung für eine längerfristige Entwicklung der Kinder vom frühen Kindesalter an bis zum Erwachsenenleben übernimmt. Karin Paulssons Hoffnung ist, dass alle Beteiligten diese Kosten für Kinder als Investition sehen und nicht nur als Ausgabe. Zudem muss auch die Gesetzgebung, die die Schule betrifft, umfassender beachtet werden. Im Sommer 2010 ist ein neues Schulgesetz in Kraft getreten. Es stellt deutlichere Anforderungen bzgl. der Ausgestaltung der Barrierefreiheit in jeder Schule an die Gemeinden (Skolverket 2008, Rapport Nr. 317).

Trotz der hier dargestellten kritischen Untersuchungsergebnisse betont Paulsson, dass sich die Sichtweise und Behandlung von Kindern mit Behinderung in der Gesellschaft durchaus verbessert hat. Dies ist nicht nur für das einzelne Kind wichtig, sondern beeinflusst auch die Meinung von Politikern und Schulträgern, praktische Veränderungen in der Schule durchzuführen. Auch wenn ihre Untersuchung viele Mängel in den Schulen aufdeckte, dürfen nicht all die positiven Anstrengungen vergessen werden, die jeden Tag von engagierten Lehrern, Schulleitern, Schülerassistenten, Sachbearbeitern der Gemeinden, Schulbusfahrern, Therapiezentrumspersonal und vielen anderen Personen in der Welt der Kinder ausgehen.

6. Schulalltag mit Körperbehinderung – Ergebnisse einer ethnologischen Studie

In den Jahren 2007 und 2008 wurde die folgende Studie als ein Teil des Projektes „Särskild, särskiljd eller avskiljd? Om situationen för elever med rörelsehinder”. („Besonders, getrennt oder ausgegrenzt?“ Über die schulische Situation von Schüler mit Körperbehinderung“.) durchgeführt. Im Rahmen einer ethnologischen Feldstudie sollte die schulische Situation von sechs Gesamtschülern mit einer Körperbehinderung dargestellt und analysiert werden. Übergreifende Fragen waren hierbei: Wie sieht der Alltag dieser Schüler aus und was erfahren und erleben sie im Schulalltag?
Die hier vorgestellten Ergebnisse und Empfehlungen beruhen auf Beobachtungen, Gesprächen und Interviews mit sechs Schülern aus sieben unterschiedlichen Gesamtschulen der Jahrgangsstufen eins bis neun. (Ein Schüler wechselte während der Untersuchungszeit die Schule.) Fünf Schüler gingen in eine Klasse mit normaler Klassengröße (25-30 Schüler). Der Sechste ging in eine sogenannte Rh-Klasse, eine spezielle Klasse für Schüler mit Körperbehinderung. Fünf Schüler hatten einen Unterrichtsassistenten. Ebenfalls fünf Schüler hatten eine Cerebralparese, der sechste eine Spina bifida. Es wurden Gemeinschaftssituationen beobachtet oder Gespräche mit den Schülern selbst, ihren Klassen- und Schulkameraden sowie dem Schulpersonal und den Eltern geführt und dokumentiert. Die Studie wurde mit Gesprächen und Gruppeninterviews von weiteren 20 Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit körperlicher Beeinträchtigung ergänzt. Im Folgenden wird über drei zentrale Bereiche berichtet, die wesentlich für den Schulalltag der Schüler waren. Anschließend werden Aspekte und Ergebnisse dargestellt, die in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse sind.
Das soziale Leben
Der erste Bereich von zentraler Bedeutung war das soziale Leben der Schüler, ihre Erfahrungen und Erlebnisse. Ihre sozialen Positionen und Wechselwirkungen variierten zwischen einer inkludierten Position und lebendiger Interaktion mit Schulkameraden bis zu einer mehr exkludierten Position und nicht vorhandener Interaktion. Es gab eine bemerkenswerte Ähnlichkeit zwischen den einzelnen Interaktionsmustern der einzelnen Schüler sowohl während als auch außerhalb des Unterrichts. Offensichtlich beeinträchtigte die Körperbehinderung an sich das soziale Leben nicht primär, bedeutsamer waren organisatorische Faktoren des Unterrichts und anderer sozialer Situationen wie z.B. die Pausen- oder Mittagessenszeiten.
Ein entscheidender Faktor für die soziale Situation der Schüler war das Schul- und Klassenklima, das in der jeweiligen Schule vorherrschte. Es waren die Vorstellungen und das Verhalten der Erwachsenen oder der Mitschüler untereinander bzw. gegenüber den körperbehinderten Schülern, die die bestehende Situation und das Schulklima im Allgemeinen für die Schüler prägten. Sie konnten sich oftmals im Verlaufe eines Schultages als inkludierend oder exkludierend erweisen. Die Schulen zeigten sich als wahre Arenen für die Gestaltung sozialer Prozesse, in denen sowohl das Schulpersonal als auch die Schüler in unterschiedlichem Ausmaß beteiligt waren. Für einen der beteiligten Schüler und seine Schule erwiesen sich die sozialen Positionen als relativ ausgehandelt, während dies für die anderen untersuchten Schüler in hohem Maße Gegenstand für alltägliche Auseinandersetzungen über inkludierende Prozesse war. Es wurde zudem deutlich, wie wichtig sowohl die Lehrkräfte und Assistenten, als auch die Mitschüler für die tägliche Bewältigung des Alltags und eine inkludierende Lebenssituation sind. Die aktiv inkludierenden Personen waren nicht nur für die Schüler mit Körperbehinderung bedeutsam, sondern beeinflussten insgesamt das vorherrschende Schulklima in Richtung auf mehr Toleranz, Großzügigkeit und inkludierendes Verhalten.
Wissen und Unterricht
Zu Beginn der Untersuchung wurden Fragen der physischen Barrierefreiheit in der Schule thematisiert. Es wurde aber rasch deutlich, dass die pädagogischen Fragen des Lernens der körperbehinderten Schüler bedeutsamer waren. Die meisten der untersuchten Schüler waren sehr motiviert und ehrgeizig und sie maßen der Schule und dem Lernen eine zentrale Bedeutung für ihr Leben zu. Sehr positiv fiel auf, dass das Gesamtbild des Schulpersonals, sowohl der Lehrer als auch der Assistenten, durch Engagement, Kompetenz und Erfahrung gekennzeichnet war. Viele hatten bereits vorher Schüler mit Körper- oder anderen Behinderungen unterrichtet oder unterstützt. Einige der Assistenten hatten zudem eine pädagogische Ausbildung abgeschlossen. Das Forscherteam gewann den Eindruck, dass die Schulleitungen versuchten, möglichst erfahrene Mitarbeiter um den körperbehinderten Schüler herum einzusetzen. Diese erfahrenen Pädagogen erlebten die Körperbehinderung der Schüler weniger als Herausforderung, sondern eher die möglichen Konsequenzen für den Lernprozess, die aus der Behinderung resultierten. Einige Mitarbeiter, aber auch Eltern berichteten davon, dass sie nach einer Weiterentwicklung und geregelten pädagogischen Hilfe durch kommunale oder staatliche Schulträger und Organisationen, zum Teil in Form von Wissens- und Kompetenzentwicklung, teils in Form von Treffpunkten für Erfahrungsaustausch lange gesucht hätten. In diesem Prozess wurde deutlich, dass die pädagogischen Fragen der Schulmitarbeiter, der Schüler und Eltern paradoxerweise kaum zur Kenntnis genommen wurden und Räume bzw. Zeiträume zur Besprechung dieser Anliegen erst mühsam erstritten werden mussten. Es kamen weitere Gründe hinzu. Auch nach dreißig Jahren aktiver Integrationsbemühungen fehlten Formen kollegialer Beratung und Weiterbildung und es mangelte an Professionellen, die interessierte Mitarbeiter fortbilden oder beraten konnten. Umgekehrt zeigte sich leider auch, dass Eltern ein Risiko eingingen, wenn sie die Schule auf mögliche Lernprobleme ihrer Kinder hinwiesen. In diesem Fall liefen sie Gefahr, dass diese Information dazu führen konnten, dass ihr Kind die Schulform, also von der Regelschulklasse in die Förderschule (särskola), wechseln musste. Es gab folglich eine Tendenz, dass das, was die Schüler/-innen, die oftmals eine komplexe Behinderung hatten, für ihr Lernen brauchten, nicht benannt wurde.
Haltung zu Inklusion und Exklusion und Engagement
Im Rahmen der Feldforschung wurde immer deutlicher, dass es einen dritten Aspekt gab, der sich natürlich auf die ersten beiden (soziales Leben und Lernen) bezog, insgesamt aber eher als Haltung bezeichnet werden konnte: Welchen „Platz“ hält das Schulpersonal für den körperbehinderten Schüler/-innen für angemessen. Ist der Schüler hier in unserer Schule und in unserer Klasse „zu Hause“ oder sollte er oder sie „eigentlich“ woanders hingehen, wie beispielsweise in eine kleinere Lerngruppe in der gleichen oder einer anderen Schule oder in eine Klasse mit Schülern mit ähnlichen Voraussetzungen und Bedürfnissen? Erfreulicherweise wurde dies mit Rücksicht auf die soziale Situation und Entwicklung eines Schülers nur ein einziges Mal empfohlen. Der Gesamteindruck war eher ein starker Rückhalt für das Inklusionsprinzip, bei gleichzeitiger großer Unsicherheit, vor allem beim Schulpersonal, wie sie die Schüler in den pädagogischen Alltag einbeziehen könnten.
Die erlebte Grundhaltung zeigte sich sowohl im Engagement von Seiten des Schulpersonals als auch auf Seiten der Klassenkameraden. So wurde davon berichtet, dass sich alle Schüler und Pädagogen darauf verständigten, dass sich alle Beteiligten in einer Klasse und der Schule „zu Hause“ fühlen können sollten. Dieses hohe moralische Anliegen sollte durchgehend im Schulalltag, in spontanen Gesprächen und Interaktionssituationen ebenso wie in strukturierten Unterrichtssituationen, im Klassenrat und in der alltäglichen Schularbeit kommuniziert und praktiziert werden.
Gleichfalls wurde in der hier vorgestellten Studie aber auch deutlich, wie inkludierende als auch exkludierende Situationen und Prozesse im Schulalltag aussehen können. Besonders bedeutsam ist hierbei, dass viele exkludierende Situationen unbewusst von Seiten der Schulmitarbeiter geschehen, sogar von erfahrenen und fähigen Pädagogen. So konnte beobachtet werden, dass, sobald die Anforderungen des Lehrplans an die Wissensentwicklung des Schülers stiegen, der Schüler mit einer Körperbehinderung an eine kleinere Unterrichtsgruppe abgegeben wurde. Auch konnten Situationen dokumentiert werden, in denen das Schulpersonal widersprüchliche Botschaften an den körperbehinderten Schüler sandte. Dies wurde besonders bei einem Schüler deutlich, bei dem sich die Klassenlehrerin für Inklusion aussprach, er aber von einer anderen Lehrkraft in Verbindung mit einer Vergleichsarbeit in Mathematik indirekt hören musste, dass er „eigentlich“ nicht hierher gehöre. Dieses Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, eine gemeinsame Haltung der Schule als Gesamtkollegium zu entwickeln und zu leben. In diesem Zusammenhang hat die Schulleitung die wichtige Aufgabe, der gesamten Schulorganisation eine einheitliche Wertehaltung in der Inklusionsfrage zu vermitteln.
Mehrere Teilnehmer der Untersuchung unterstrichen genau dieses Engagement der Schule als Ganzes, damit sie sich in einer Schule, unter den Schülern und damit in einer Gemeinschaft inkludiert und wohl fühlen könnten. Exklusion ist offensichtlich für den, der ihr ausgesetzt ist. Wenn dies wiederholt und systematisch geschieht, ist sie auch strukturell bedingt, auch wenn dies zunächst als individuell bedingt erscheint. Der Wandertag ist eine solch typische Situation, die für den exkludierten Schüler eine hohe Bedeutung hat, sprich eine symbolgeladene Situation die entweder die Inklusion oder eben die Ausgrenzung aus der sozialen Gemeinschaft verdeutlicht. Diese inkludierenden und exkludierenden Prozesse beeinflussen die Vorstellung aller Menschen über Normalität und Abweichung sowie ihr Selbstbild und ihr Selbstwertgefühl.
Die hier vorgestellte, ethnologisch angelegte Studie zeigte, dass Inklusion und Exklusion gleichzeitig im Schulalltag vorhanden und für den einzelnen Schüler erlebbar sein konnten. Gerade auch die Mitschüler haben eine große Bedeutung dafür, wie Inklusion und Exklusion in sozialen, ebenso wie in strukturierten Unterrichtssituationen erlebt wurden. Es wurde deutlich, dass soziale Situationen der Schüler ebenso wie ihre Lernprozesse und das Zusammenspiel der Schüler miteinander von zentraler Bedeutung für ihr Lernen und ihre Leistungsentwicklung sind. Die Schüler, die von einer inkludierenden Umgebung ihrer Klassenkameraden empfangen wurden, erlebten eine Klassensituation, die sowohl von einem wohlwollenden Sozialklima als auch einer anregenden und positiven Umgebung für ihr Lernen sowie das Erleben von Gleichheit mit den anderen Klassenkameraden geprägt war. Das inkludierende oder exkludierende Verhalten der Schüler gegenüber einem behinderten Schüler spiegelte das vorherrschende Klassen- und manchmal auch Schulklima als Ganzes wider. Ebenso aber zeigte sich, dass die Haltung der Erwachsenen im Schulsystem, der Lehrer und Schulleiter, der Mitglieder der Schulverwaltung, ja der Bildungspolitiker eine große Bedeutung für die Lebens- und Lernbedingungen der Schüler und ihre Vorstellungen über sich und andere hat.
Komplexität als Chance der Inklusion
Die Schulsituation körperbehinderter Schüler stellt sich als komplexer dar, als die der meisten anderen Schüler einer Schule. Der Grund hierfür ist das gleichzeitige Zusammentreffen verschiedener Faktoren. Dies können die häufig komplexen Behinderungen der Schüler, die schulische oder unterrichtliche Organisation genauso wie das vorherrschende Schul-, Klassen- und Schülerklima sein. Diese Komplexität kann als problematisch und schwer zu bewältigen aufgefasst werden, sie kann aber auch als Zugang und notwendige Perspektive, in dem Prozess, eine inkludierende Schule für alle zu schaffen, gesehen werden. Eines der Ergebnisse, das in der vorliegenden Studie deutlich wurde, ist, dass die häufig komplexen Behinderungen der Schüler hohe Anforderungen an die Schule stellen, deren Beantwortung in einem hohen Maß an Individualisierung sowie der Fähigkeit flexibel zu handeln, bestehen muss, wenn eine wirkliche Inklusion erreicht werden soll. Ein weiteres wichtiges Ergebnis ist, dass der Bedarf, inkludierende Strategien und Praktiken zu entwickeln sowie eine Selbstreflexion auf allen Ebenen der Schule, angefangen bei den einzelnen Individuen bis hin zur gesamten Schulorganisation, als Herausforderung begriffen und angenommen werden muss. Werden diese Herausforderungen nicht aktiv und kontinuierlich angegangen, ist davon auszugehen, dass in der Folge Exklusion, häufig unbewusst, geschieht und begünstigt wird durch das Fehlen gemeinsamer Einstellungen bei den Mitarbeitern und in der Schule insgesamt und in der Folge widersprüchliche Botschaften an alle Beteiligten gesandt und gelebt werden. Auch wenn dies für die Mitarbeiter unsichtbar oder unbewusst bleibt, so ist festzuhalten, dass dies für den körperbehinderten Schüler und seine Klassenkameraden in keinem Fall gilt. Ein weiteres großes Problem ist die Tendenz, dass unter diesen Umständen Herausforderungen, die die Schulsituation des körperbehinderten Schülers betreffen, fast ausschließlich auf dem individuellen Niveau ausgetragen werden, d.h. als Problem des einzelnen Schülers, seiner Eltern oder der einzelnen Lehrkraft. Deutlich wurde aber, dass Fragen über schulische Inklusion nicht allein den einzelnen Schüler mit Behinderung und die am nächsten Beteiligten betreffen, sondern das Verständnis der Schule als Gesamtsystem. Inklusion bezieht sich auf alle Erwachsenen und Kinder in der Schule, sie setzt eine Organisationsentwicklungsperspektive voraus, und damit wird schulische Inklusion zu einer zentralen Leitperspektive.
Während der konkreten Forschungsarbeit in der Schule wurde zumeist großes Engagement und Ehrgeiz von Seiten des Schulpersonals, der Schüler und der Eltern deutlich. Wenn Schulen dieser Komplexität begegnen wollen, ist es notwendig, dass auch die Schulämter auf kommunaler und staatlicher Ebene ihre Hilfen und Zusammenarbeitsformen weiterentwickeln. In diese Zusammenarbeit sollten selbstverständlich immer die Schüler mit Behinderung und ihre Eltern einbezogen werden.

7. Schweden – Anregungen für die deutsche Entwicklung

Sicherlich sind die positiven Eindrücke, die viele Schwedenreisende aus den Bildungseinrichtungen dieses Landes mitnehmen, richtig. Schweden ist, wie bereits in der Einleitung festgehalten wurde, der deutschen Entwicklung sicherlich um viele Jahre voraus. Schweden hatte aber auch eine andere historische Entwicklung. Eine Entwicklung, die es möglich machte, formale Beschlüsse auf vielfältige Weise so umsetzen zu können, dass viele Schülerinnen und Schüler mit Beeinträchtigungen erfolgreich integriert, sicherlich auch oftmals inkludiert werden konnten und können. Schweden hat eine Entwicklung genommen, in der Menschen mit Beeinträchtigungen auf unterschiedliche Weise am vielfältigen Leben der Gesellschaft teilnehmen können. Der wissenschaftliche Blick, den Paulsson und Nygren auf die Entwicklung werfen konnten, macht aber auch auf Aspekte aufmerksam, die bereits für die aktuelle Diskussion in Deutschland von Bedeutung sind. Auch Brodin und Lindstrand, zwei weitere schwedische Erziehungswissenschaftler, weisen auf einen separierenden Trend von Schülern mit Behinderung hin (2007, 11). Aus unserer Sicht ist der zentrale Hinweis der hier vorgestellten Untersuchungen der, dass formale Rechte nicht gleichbedeutend sind, mit ihrer praktischen Verwirklichung, dass deshalb auch immer wieder genau geschaut werden muss, was denn im konkreten Unterricht, im sozialen Leben der Schule, im Dialog zwischen Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern geschieht. Dieses Spannungsfeld auszuhalten, zu beschreiben und deutlich zu benennen, wird eine bleibende Herausforderung sein, die auch in einem inklusiveren Schulsystem offensichtlich bestehen bleibt.
Anregend für die deutsche Diskussion erscheinen uns zudem folgende Fragen und Aspekte der hier dargestellten Untersuchung:

Der differenzierte Blick auf das schwedische Schulsystem aus schwedischer und deutscher Sicht auf eine besonders kleine Gruppe innerhalb der Schülerschaft hilft möglicherweise der Diskussion auch in der Bundesrepublik Deutschland. Er zeigt, dass viel mehr Integration und Inklusion möglich sind als wir es derzeit erleben. Er macht aber auch aufmerksam auf strukturelle Probleme, die auch dauerhaft erfordern, dass Menschen sich engagieren, einbringen und ihre Rechte deutlich einfordern. Auch die schwedische Gesellschaft hat ihre Wirtschaftskrise erlebt, kennt soziale und kulturelle Probleme und hat es dennoch geschafft, mehr Integration zu leben, als gegenwärtig in Deutschland verwirklicht ist. Eine inklusive Gemeinschaft ist Schweden deshalb noch lange nicht und wird es als hochkomplexe Industrienation wohl auch niemals sein. Deshalb gibt es auch in Schweden weiterhin Vertrauenspersonen für Menschen mit Behinderung und zahlreiche Selbsthilfegruppen, die sich für eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen einsetzen. Die Forschungen von Paulsson und Nygren machen zudem deutlich, dass Erziehungswissenschaftler bei allem Engagement eine kritische Distanz wahren müssen, damit sie einen Beitrag zur Weiterentwicklung des Schulsystems leisten können. Ihre Arbeit macht das schwedische Modell aus Sicht der deutschen Autoren noch sympathischer.

8. Literatur

Brodin, J. & Lindstrand, P. (2007): Datorn som penna för elever med rörelsehinder. In: Specialpedagogisk tidskrift Att undervisa (2007) Heft 2. 11-14.

Lpo (1994): Läroplan för det obligatoriska skolväsendet, förskoleklassen och fritidshemmet Lpo 94. In: Skolverket (2006). Stockholm.

Paulsson, Karin (2010): Särskild, särskiljd eller avskiljd? Hur ser situationen ut för elever med rörelsehinder i grundskolan?. In: Specialpedagogisk tidskrift – att undervisa (2010) Heft 2, 6 – 8.

Paulsson, K. & Stenberg L. (2009): Särskild, särskiljd eller avskiljd? Om skolsituationen för elever med rörelsehinder. Växjö.

Rosenqvist, Jerry (2009): Partipolitik bakom ny speciallärarutbildning. In: Specialpedagogik (2009) Heft 1, 12 – 13.

Skolverket (2005): Handikapp i skolan - Det offentliga skolväsendets möte med funktionshinder från folkskolan till nutid. Rapport 270

Skolverket (2008): Tillgänglighet till skolors lokaler och valfrihet för elever med funktionsnedsättningar. Rapport Nr. 317. Online veröffentlicht unter: http://www.skolverket.se/sb/d/193/url/0068007400740070003a002f002f0077007700770034002e0073006b006f006c007600650072006b00650074002e00730065003a0038003000380030002f00770074007000750062002f00770073002f0073006b006f006c0062006f006b002f0077007000750062006500780074002f0074007200790063006b00730061006b002f005200650063006f00720064003f006b003d0032003000360033/target/Record%3Fk%3D2063. Abgerufen am 20. 11. 2010 um 16:33.

Socialdepartementet, Regeringskansliet (2009): Konvention om rättigheter för personer med funktionsnedsättning och fakultativt protokoll till konventionen om rättigheter för personer med funktionsnedsättning. Stockholm.

Sverige. Regeringen (2010): Den nya skollagen – för kunskap, valfrihet och trygghet, Del 1 och 2. Stockholm. Online veröffentlicht unter: http://www.regeringen.se/content/1/c6/12/82/90/3bfbe7fb.pdf. Abgerufen am 30.10. 2011 um 20 Uhr.

von Ahlefeld Nisser, Désirée (2008): Specialpedagog och Speciallärare – två närliggandemenolikayrkesroller. In: Specialpedagogisktidskrift – att undervisa (2008) Heft 5, 4.