Abstract: Schweden gilt zu Recht als ein Land, indem integrative Lebensbedingungen in der Gemeinde und integrative Lernbedingungen im Bildungsbereich deutlich stärker verwirklicht wurden als dies bisher in Deutschland der Fall ist. Wie sich die Lernbedingungen für Schüler mit besonderen Unterstützungsbedürfnissen, hier im Bereich der in Deutschland als körperlich-motorischer Förderbedarf benannt wird, darstellen, wurde von Frau Dr. Paulsson (ehem. Universität Stockholm) mit Hilfe quantitativer Methoden und Herrn Nygren (Universität Uppsala) im Rahmen einer ethnologischen Feldstudie zwischen 2005 und 2008 differenziert erfasst und analysiert. Ihre zum Teil ernüchternden Untersuchungsergebnisse geben Hinweise auf einige wesentliche Aspekte, die auch nach über dreißig Jahren schulischer Integration gerade für kleinere Schülergruppen mit spezifischen Unterstützungsbedürfnissen relevant sind und die die aktuelle Diskussion in Deutschland anregen können.
Stichworte: Historische Aspekte der schwedischen Schulentwicklung, Lehrerbildung, Elternwahlrecht, Barrierefreiheit, Assistenz, außerunterrichtliche Schulaktivitäten, qualitative Aspekte schulischer Integration
Ausgabe: 4/2011
Inhaltsverzeichnis
Wer Schweden besucht, um sich dort über Möglichkeiten inklusiven Unterrichts zu informieren, wird überrascht sein, in welch ungewöhnlich hohem Maße binnendifferenzierende Unterrichtsformen, unterstützende Mitarbeitergruppen, vielfältige Unterrichtsmaterialien und vieles mehr verwirklicht sind, von dem in Deutschland immer noch in eher kühnen Visionen geträumt werden muss. Noch überraschender sind die kleinen Beobachtungen im Alltag, die zeigen, dass Barrierefreiheit in weiten Teilen des Alltags umgesetzt worden ist, wozu nicht nur die in fast jedem Lokal (auch den älteren) zu findende Toilette für bewegungsbeeinträchtigte Menschen zu zählen ist. Schweden gilt zu Recht als ein europäischer Staat, der die schulische Integration seit vielen Jahren engagiert umgesetzt hat. Im Rahmen eines Forschungsprojekts des Landschaftsverbandes Rheinland zu Gelingensbedingungen schulischer Inklusion für körper- und mehrfachbehinderte Schüler entstand im Sommer 2010 ein Kontakt zu Frau Dr. Karin Paulsson, die als engagierte Psychologin und Erziehungswissenschaftlerin die integrative Schulentwicklung in Schweden seit Anfang der siebziger Jahre begleiten konnte. Gemeinsam mit Göran Nygren hatte sie die Gelegenheit die gegenwärtige schulische Situation für Schüler mit körperlichen und mehrfachen Beeinträchtigungen oder, wie es in Deutschland heißt, dem Förderbedarf körperliche und motorische Entwicklung, in den Jahren 2005 - 2008 erneut zu untersuchen. Die Untersuchungsergebnisse der beiden Wissenschaftler benennen bei aller positiven Einschätzung der gesellschaftlichen Gesamtentwicklung in Bezug auf die Inklusion von Menschen mit Behinderung einige wesentliche kritische Aspekte, die auch die aktuelle Diskussion in Deutschland anregen können. Der Artikel gliedert sich in einführende Hinweise zur Geschichte der schulischen Integration körperbehinderter Schüler, den zusammenfassenden Darstellungen der beiden schwedischen Autoren und abschließenden Hinweisen. Unser Artikel entstand arbeitsteilig in deutscher und schwedischer Sprache. Die gegenseitige Übersetzung erfolgte durch Dr. Karin Paulsson und Jelena Lübbeke.
Sowohl im schwedischen Schulgesetz als auch im Lehrplan (LPO 1994) wird ausdrücklich festgehalten, dass der Unterricht an die Voraussetzungen und den Bedarf eines jeden Schülers angepasst werden muss. Zudem muss Rücksicht auf die Schüler genommen werden, die es aus unterschiedlichen Gründen schwerer haben, das Klassenziel zu erreichen.
Es gibt in Schweden nur wenige Förderschulen. Laut Schulgesetz haben alle Schüler und Schülerinnen das Recht auf eine gleichwertige Schulausbildung (vgl. Sverige. Regeringen 2010). Die bestehenden Förderklassen sind häufig an Regelgesamtschulen angegliedert. Für Schüler mit dem FS kmE gibt es die Möglichkeit eine sogenannte RH-Klassen (rh = rörelsehinder = Körperbehinderung) zu besuchen. Dieses ist eine spezielle für Kinder mit Körperbehinderung eingerichtete Klasse, in der die Schüler die Möglichkeit haben, in einer kleinen Gruppe mit einem individualisierten Lehrplan gefördert zu werden. Diese gehören zu den Regelgesamtschulen. Schüler und Schülerinnen, die aufgrund einer größeren Entwicklungsverzögerung nicht das Ziel der Regelschule erreichen, können von der sogenannten Särskola (= Sonderschule) aufgenommen werden. Dies ist eine Förderschule für Schüler mit leichteren Entwicklungsstörungen, Autismus oder ähnlichen Beeinträchtigungen sowie für Schüler und Schülerinnen mit Folgen cerebraler Dysfunktionen oder körperlichen Beeinträchtigungen. Kinder und Jugendliche mit schwereren und mehrfachen Behinderungen besuchen die sogenannte Trainingsschule, eine Förderschulform, die sich speziell um Kinder und Jugendliche mit schweren geistigen und häufig auch körperlichen Behinderungen kümmert. All diese Förderklassen sind für gewöhnlich an eine Regelgesamtschule angegliedert, teilen sich ein Gebäude und ermöglichen somit ihren Schülern und Schülerinnen für bestimmte Stunden eine andere Klasse der Regelschule bzw. die Förderklasse zu besuchen oder gar einen vollständigen Wechsel der Schulform innerhalb einer Schule.
In Schweden hat jeder Schüler bzw. jede Schülerin der Regel- und Förderschule mindestens einmal pro Schulhalbjahr ein sogenanntes Entwicklungsgespräch (utvecklingssamtal), an dem sowohl der Schüler oder die Schülerin selbst, seine oder ihre Erziehungsberechtigten sowie die Lehrkraft beteiligt sind. Es wird über die schulische und soziale Entwicklung des Schülers/der Schülerin gesprochen. Zusätzlich gibt es für jedes Fach eine schriftliche Beurteilung (individueller Entwicklungsplan), in der es um das individuelle Wissen in den verschiedenen Fächern geht. Gemeinsam geht es darum, einen neuen Plan zu entwickeln, in welche Richtung der Schüler/ die Schülerin weiterarbeiten will und durch welche Methoden diese Ziele erreicht werden können. Im Anschluss werden die Zuständigkeiten für das Erreichen der vereinbarten Ziele verteilt. Der aufgestellte Plan nimmt eine ganzheitliche Perspektive ein, sodass im Idealfall nicht nur die schulische Situation besprochen wird, sondern auch außerschulische Ziele benannt werden. Diese Zuständigkeiten sind sowohl auf das Lehrpersonal, als auch auf die Eltern und den Schüler oder die Schülerin selbst, verteilt, sodass alle Beteiligten einbezogen sind (vgl. Skolverket; Paulsson et al. 2010, 30 f.). Für Schüler und Schülerinnen, die zusätzliche Unterstützung benötigen, wird ein Förderplan erstellt. Damit gibt es Kinder, die neben dem individuellen Entwicklungsplan noch einen Förderplan erhalten. In dem Förderplan werden die kurz- und langfristigen Ziele festgehalten, Fördermaßnahmen sowie die hierzu benötigten verschiedenartigen Hilfsmittel und die Ausstattung eines individuell angepassten Arbeitsplatzes (vgl. Paulsson et al. 2010, 31 f.). Wenn es von der Schulleitung oder den Eltern für erforderlich gehalten wird, ist es für bestimmte Schüler und Schülerinnen möglich, einen Nachteilsausgleich im Sinne eines sogenannten individuellen Lehrplans zu bekommen; d.h. einen an ihre Bedürfnisse, Voraussetzungen und Möglichkeiten angepassten Lehrplan. Dies kann durch das Weglassen eines oder mehrerer Fächer zur Stundenminderung führen oder das Ersetzen von Schulstunden durch ein Praktikum an einem Arbeitsplatz außerhalb der Schule für Schüler der Sekundarstufe I (7. - 9. Jahrgangsstufe) beinhalten; letztgenanntes dient dazu, einen bevorstehenden Berufseinstieg zu erleichtern (vgl. Paulsson et al. 2010, 34 f.). Schüler- und persönliche Assistenz bietet allen Schülern mit erhöhtem Pflege- und Förderbedarf die Möglichkeit ihren Schulalltag zu meistern.
In den Therapiezentren (Habilitering), die nicht dem Schulsystem angehören, erhalten Menschen jeden Alters mit körperlicher oder mehrfachen Beeinträchtigung(en) sowie deren Angehörige Unterstützung und Beratung von Physio- und Ergotherapeutinnen, Logopädinnen, Krankenschwestern/-pflegern, Psychologinnen und Ärztinnen. Die Arbeit der Therapiezentren richtet sich an alle Personen, die mit einer Behinderung geboren werden oder bis zu ihrem 16. Lebensjahr eine Behinderung entwickeln. Bei Schulkindern kann die Hilfe während oder nach der Unterrichtszeit stattfinden. Den betroffenen Personen soll ein möglichst selbstbestimmtes Leben ermöglicht und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben durch Therapien und Bereitstellung sowie Anpassung von Hilfsmitteln erleichtert werden.
Es ist nur einige Jahrzehnte her, dass auch in Schweden Kinder mit Körperbehinderung in große Institutionen untergebracht waren, um dort zur Schule zu gehen. Diese waren häufig sehr weit von ihrem zu Hause entfernt. Für junge Menschen mit Körperbehinderung gilt erst seit 1962 die Schulpflicht. Sie waren damit die letzte Gruppe, die dieses Recht erhielt. Einige Kinder hatten bis dahin überhaupt keine Schule besucht. In den 1960er Jahren änderte sich die Situation. Die Behindertenbewegung, sowohl in Schweden als auch international wurde stärker und setzte das Recht auf Teilhabe in der Gesellschaft für Menschen mit Behinderung durch. Es wurde nun davon ausgegangen, dass vor allem allgemeine Umgebungseinflüsse und die Umwelt dazu führten, dass eine Beeinträchtigung zu einer Behinderung/einem Handikap würde. Kinder und Erwachsene mit Beeinträchtigung sollten nicht mehr als Pflegeobjekte sondern als Mitbürger mit gleichen Rechten und Pflichten gesehen werden.
Seit vielen Jahren gibt es deshalb in Schweden eine Gesetzgebung, die allen Kindern eine physisch, pädagogisch und psychosozial barrierefreie Schule garantieren soll. Aber wie sieht es in der Wirklichkeit aus? Gibt es bereits eine Schule, an der alle Kinder teilnehmen können und gleichgestellt sind? Um dies differenziert zu untersuchen wurde die Studie „Besonders, getrennt oder ausgegrenzt? - Über die Schulsituation von Schülern mit Körperbehinderung" durchgeführt. Dazu wurden in den Jahren 2005 - 2008 470 Schüler verschiedenen Alters, ihre Eltern und etwa hundert Lehrer und Schulleiter mit Hilfe standardisierter Fragebögen über die Situation körperbehinderter Kinder und Jugendlicher an schwedischen Schulen in ganz Schweden befragt. Im Folgenden wird eine Auswahl der Ergebnisse vorgestellt.
Das Recht, die Schule zu wählen
Was im Gesetz steht:
Laut Schulgesetz haben alle Schüler das Recht, jede beliebige Schule innerhalb ihrer Gemeinde zu besuchen, wobei es einige Einschränkungen gibt. Die Gemeinde muss dem Wunsch der Erziehungsberechtigten nachkommen, „solange dies möglich ist, ohne dass andere berechtigte Anforderungen von Schülern in ihrer wohnortnächsten Schule vernachlässigt werden oder bedeutende organisatorische Schwierigkeiten für die Gemeinde anfallen" (SL 4 kap 6§ resp SL 6 kap 6§).
Was die Untersuchung ergab:
Ein Fünftel der Eltern in unserer Untersuchung antworteten, dass sie für ihr Kind nicht die Schule frei auswählen konnten. Wenn es um die Förderschule ging (Särskola), war es ein Drittel, die nicht wählen konnten. Paulsson und ihre Mitarbeiter konnten auch feststellen, dass fast die Hälfte der Schüler nicht in die nächstgelegene Schule gehen, in der es die entsprechende Jahrgangsstufe gibt und die die Freunde aus der Nachbarschaft besuchen. In den Großstädten besuchte nur ein Drittel der Schüler die nächstgelegene Schule, wobei viele eine etwas weiter weg gelegene Form von Förderklasse/ -gruppe besuchten. Ein Elternteil stellte fest: „Wir wollten, dass er in eine Schule bei uns in der Nähe geht, aber das durfte er nicht, da sie keine Ressourcen haben, um einen spastisch Behinderten aufzunehmen".
Das Recht auf barrierefreie Schulgebäude
Was im Gesetz steht:
Laut Schulgesetz und Schulverordnung haben alle Schüler das Recht auf eine Schule mit „geeigneten Räumlichkeiten und mit einer solchen Ausstattung, die es für eine zeitgemäße Ausbildung braucht“ (SL 2a kap 3§, GrF1 kap 4§, SärF 1 kap 4§). Laut Arbeitsschutzgesetz (das auch für die Schule gilt) soll „das Arbeitsumfeld zufriedenstellend mit Rücksicht auf die Arbeitsnatur und die soziale und technische Entwicklung in der Gemeinde sein“ (AML 2 kap 1§). In den Vorschriften steht weiter, dass die Arbeitsplätze, in denen die Schüler unterrichtet werden, barrierefrei sein sollen und benutzbar für Arbeitnehmer/ Schüler mit Körperbehinderung, Seh- oder Hörbeeinträchtigung“ (AFS 2000:42, 8§). Es ist überraschend, dass das Arbeitsschutzgesetz nur für Schüler gilt, die bereits eine bestimme Schule besuchen und nicht für Schüler, die erst an einer Schule angenommen werden sollen. Im Planungs- und Baugesetz gibt es keine Forderungen für bereits bestehende Schulen, weil der Hauptteil der Schulgebäude nicht öffentlich ist, d.h., sie nicht für die Allgemeinheit zugänglich sein müssen. Beim Um- oder Neubau von Schulen gilt jedoch das aktuelle Gesetz, in dem unter anderem steht, dass „Neubauten mit Rücksicht auf die besonderen Bedürfnisse von Personen mit körperlichen oder Orientierungsbeeinträchtigungen gestaltet werden sollen. Ein eingeschränktes Orientierungsvermögen beinhaltet beeinträchtigte Seh-, Hör- und/ oder kognitive Fähigkeiten, bzw. Entwicklungsverzögerungen, Autismus etc“ (PBL 2 kap 4§).
Was die Untersuchung ergab:
Die meisten Schüler der Studie (85 %) benötigten in der Schule individuell angepasste Räumlichkeiten, aber nur die Hälfte von ihnen besuchte eine für sie vollkommen barrierefreie Schule. Die Lehrer bestätigten diese Darstellung. Laut ihrer Beurteilung gab es nicht eine einzige Schulaktivität, in der prinzipiell immer alle Schüler mit Körperbehinderung teilnehmen konnten. Dies galt sowohl für den Unterricht im Klassenraum als auch, in noch höherem Maß, für die Möglichkeit, sich im Speisesaal, Aufenthaltsraum etc. fortzubewegen.
Das Recht auf Unterstützung im Unterricht
Was im Gesetz steht:
Laut Schulgesetz sollen alle Kinder von der Gesamtschule aufgenommen werden und dort ihre Schulpflicht erfüllen (SL 3 kap 3§). Das Grundprinzip ist, dass ein Schüler, so lange es möglich ist, in seiner Klasse unterrichtet werden soll. Sowohl im Schulgesetz als auch im Lehrplan (Lpo 1994) wird deutlich, dass sich der Unterricht an die Voraussetzungen und den Bedarf eines jeden Schülers anpassen muss. Hier gibt es eine verpflichtende Regel, die besagt, dass „Schülern, die Schwierigkeiten in der Bewältigung des Unterrichtsstoffes haben, besondere Unterstützung gegeben werden soll“ (SL 4 kap 1§). Der Schulträger (meistens die Gemeinde) ist verpflichtet, jedem einzelnen Schüler diese Unterstützung sowie die benötigten Hilfsmittel zu gewährleisten. Es gibt keine Ausnahmen in den Verfassungsartikeln, die besagen, dass sich die Schulaufsicht auf nicht ausreichende Ressourcen berufen darf. Die Schulträger sind verpflichtet, die Mittel und die Hilfe bereitzustellen, welche gebraucht werden, damit die Verantwortlichen in der Schule den Kindern und Jugendlichen das Beste bieten können.
Was die Untersuchung ergab:
Fast ein Drittel der befragten Schüler fanden, dass sie nicht genügend Unterstützung bekamen, um dem Unterricht zu folgen. Weniger als die Hälfte schätzten das Fachwissen ihrer Lehrkräfte über ihre Beeinträchtigung hoch genug ein. Nicht einmal die Lehrer waren zufrieden mit der Situation. Gut die Hälfte von ihnen antwortete, dass sie nicht genügend Zeit hatten, um den Schülern im Unterricht zu helfen. Die Ergebnisse von Paulsson und ihren Mitarbeitern belegen auch, dass viele Schüler während ihrer Schulzeit von einer Regelschulklasse in irgendeine Form von Förderklasse/ -gruppe wechselten. In der 9. Klasse ist der Anteil körperbehinderter Schüler in den Regelschulklassen von 73 % auf 57 % gesunken. Mehr als die Hälfte der Schüler in speziellen Klassen für Schüler mit dem FS kmE, Förderschulklasse mit einem FS im Bereich leichte geistige Beeinträchtigung (grundsärskolklass) oder besonderen Unterrichtsgruppen (50 - 60 %) hatten ihre Klasse ein oder mehrere Male gewechselt. Nur gut die Hälfte der Eltern war vollkommen zufrieden mit den Schulwechseln ihrer Kinder. Jene Eltern, die am unzufriedensten waren, sind Eltern von Kindern, welche aufgrund eines nicht ausreichenden Angebots an Unterstützung die Schule wechseln mussten.
Das Recht, in den Pausen, auf Ausflügen, an Wandertagen, Klassenfahrten etc. dabei sein zu können
Was im Gesetz steht:
In der Schulverfassung wird an mehreren Stellen betont, dass ein wichtiger Teil der schulischen Grundwerte das Recht aller auf Gleichbehandlung, Teilhabe und Gemeinschaft ist. Alle Schüler haben das Recht an sämtlichen Aktivitäten teilzunehmen, die den obligatorischen Schulalltag betreffen. Das bedeutet, dass sich die Schule verpflichtet, selbstverständlich auch Schüler mit Behinderung in den Pausen, bei Ausflügen, Wandertagen, Klassenfahrten etc. einzubeziehen. Laut Schulgesetz, der Schulverordnung und dem Arbeitsschutzgesetz gelten die Schulhöfe als Teil der Schullokalitäten und müssen daher barrierefrei gebaut sein (SL 2a kap 3§, GrF 1kap 4§). Im Gesetzestext steht, dass das Arbeitsumfeld sowohl im Gebäude als auch im Außengelände „zufriedenstellend sein muss – mit Rücksicht auf die Arbeitsnatur und die soziale und technische Entwicklung in der Gesellschaft“ (AML 2 kap 1§).
Was die Untersuchung ergab:
Drei Viertel aller befragten Schüler gingen immer oder meistens gerne in die Schule. Aber nur die Hälfte ging gerne in die Pause. Dies waren beträchtlich weniger im Vergleich zu den übrigen Gesamtschülern (knapp 90 %), wie vom Zentralamt für Schule und Erwachsenenbildung (Skolverket) 2006 ebenfalls ermittelt wurde. Nicht barrierefreie Schulhöfe und ein Mangel an geeigneten Spiel- und Freizeitgeräten waren Teile des Problems. Gefühle des Ausgeschlossenseins und der Einsamkeit wurden aber ebenfalls als Gründe genannt, warum sich die Schüler in den Pausen nicht wohl fühlten.
Auf die Frage nach den Möglichkeiten, an Ausflügen, Besichtigungen, Wandertagen, Klassenfahrten oder ähnlichen Unterrichtsaktivitäten teilnehmen zu können, antworteten fast die Hälfte der körperbehinderten Schüler, die die Regelschule besuchen, dass sie manchmal oder oft nicht dabei sein konnten oder durften. Sogar die Lehrkräfte schätzten die Möglichkeiten der Schüler dabei zu sein als keine Selbstverständlichkeit ein. Nur ein Drittel von ihnen gab an, dass Schüler mit Behinderung immer dabei sein konnten.
Das Recht, Einfluss in der Schule auszuüben bzw. mitzubestimmen
Was im Gesetz steht:
Im Schulgesetz und der Gesamtschulverordnung wird an mehreren Stellen betont, dass sich die Schule zusammen mit den Erziehungsberechtigten der Schüler zusammensetzen soll, um über verschiedene Fragen, betreffend die persönliche Entwicklung, des Förderplans, der Schullaufbahn und eines angepassten Lehrplans des Schülers gemeinsam zu beratschlagen. Sogar das Recht der Schüler sich einzubringen ist schriftlich in den Richtlinien festgelegt. Im Schulgesetz steht, „der Umfang und die Ausprägung des Einflusses der Schüler soll an ihr Alter und ihre Reife angepasst werden“ (SL 4 kap 2§, 6 kap 2§ och 7 kap 2§). Der Lehrplan (Lpo 1994) gibt vor, dass „alle Schüler das Recht haben mit zu gestalten, Verantwortung zu übernehmen und in der Klasse mit einbezogen zu werden“ (Abschnitt 2.3).
Was die Untersuchung ergab:
Nur ein Viertel der Eltern war vollkommen zufrieden und fand, dass sie große Einflussmöglichkeiten auf Beschlüsse hatten, bei denen es um die schulische Situation ihres Kindes ging. Gleich viele von ihnen antworteten, dass sie sehr wenig bis überhaupt keinen Einfluss hatten. Die Hälfte der Eltern fand, sie haben relativ großen Einfluss, aber viele von ihnen verwiesen in ihren Kommentaren darauf, dass sie sich nur durchsetzen konnten, nachdem sie massiven Druck auf die Schule oder Gemeinde ausgeübt hatten: „Erst nachdem man wie ein Schneeflug nach vorne geprescht ist, hat alles funktioniert“, sagte ein Elternteil. Ein weiteres Elternteil drückte es wie folgt aus: „Lässt man über sich verfahren, dann wird man überfahren. Mit Händen und Füßen wehren!“
Die Schülersicht bezüglich ihres Einflusses in der Schule fiel ebenfalls nicht positiver aus. Auch wenn sich die Mehrzahl in der Schule und im Umgang mit Lehrern und Mitschülern wohl fühlte, waren sie weniger zufrieden, wenn es um ihre Einflussmöglichkeiten bzw. Mitspracherechte ging. Nur gut die Hälfte von ihnen hatte den Eindruck, dass sie sowohl bei den Erwachsenen der Schule als auch bei ihren Klassenkameraden immer oder oft Gehör fanden.
Die Ergebnisse der Studie von Paulsson und ihren Mitarbeitern sind ernüchternd. Ihre Hoffnung, dass in den letzten 30 Jahren viel passiert sei, hat sich, gemessen an der Wirklichkeit, nicht erfüllt. Leider haben entsprechende Untersuchungen der Riksrevisionen 2006, Skolverket 2008 und Skolinspektionen 2009 und 2010 dieses Bild der schwedischen Schullandschaft bestätigt. Sie alle stellten fest, dass Schweden noch weit von einer Schule für alle entfernt ist, in der ein jeder Schüler den gleichen Wert und gleiche Möglichkeiten hat. Obwohl es neben einem 25 Jahre alten Schulgesetz sowie einem seit gut 30 Jahren bestehenden Arbeitsschutzgesetz nationale Handlungspläne (handlingsplaner) für die Behindertenpolitik gibt, ist die physische Barrierefreiheit in den Schulen fast die gleiche, wie Ende der 1970er Jahre. Zu dieser Zeit hatte Paulsson mit einigen Mitarbeitern eine große Studie, das sogenannte PRESS-3-Projekt, durchgeführt.
Schweden hat die UN-Kinderrechtskonvention 1990 und die UN-Standardregeln über die Teilhabe und Gleichberechtigung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Behinderungen 1993 unterzeichnet. Dies hatte ebenfalls keinen Einfluss auf entscheidende Veränderungen – hin zu einer für Schüler mit Körperbehinderung barrierefreien Schule. Möglicherweise ist eine der Ursachen, dass es in Schweden seit langem eine weitgehende Dezentralisierung der Schulpolitik gibt. Die Schule wechselte 1990 in die Verantwortung der Kommune und diese übernahmen die Verantwortung, den Gesetzen und UN-Konventionen, die in Schweden gelten, zu folgen. Natürlich schaffen Gesetze Voraussetzungen und bahnen Wege, aber es sind die Lokalpolitiker, die die Verantwortung tragen, dass diese durchgesetzt werden und ihnen gefolgt wird. Das Recht der Gemeinden über die Selbstverwaltung ihrer Steuereinnahmen wird von vielen Seiten höher eingeschätzt als die Rechte jedes einzelnen Kindes, die das Gesetz verspricht. Solange die Sanktionen gegen diejenigen, die gegen das Gesetz verstoßen, niedrig und bedeutungslos sind, bleiben viele Gesetze wirkungslos. In Schweden gibt es eine Anzahl staatlicher Behörden und lokaler Instanzen, die auf verschiedene Weise eine Mitverantwortung für die schulische Situation der Kinder tragen. Leider haben viele Behörden untereinander unklare Kompetenzen. Alle haben Mittel für ihre eigene spezielle Tätigkeit. Daher besteht das Risiko, dass keiner eine übergreifende Gemeindeverantwortung für eine längerfristige Entwicklung der Kinder vom frühen Kindesalter an bis zum Erwachsenenleben übernimmt. Karin Paulssons Hoffnung ist, dass alle Beteiligten diese Kosten für Kinder als Investition sehen und nicht nur als Ausgabe. Zudem muss auch die Gesetzgebung, die die Schule betrifft, umfassender beachtet werden. Im Sommer 2010 ist ein neues Schulgesetz in Kraft getreten. Es stellt deutlichere Anforderungen bzgl. der Ausgestaltung der Barrierefreiheit in jeder Schule an die Gemeinden (Skolverket 2008, Rapport Nr. 317).
Trotz der hier dargestellten kritischen Untersuchungsergebnisse betont Paulsson, dass sich die Sichtweise und Behandlung von Kindern mit Behinderung in der Gesellschaft durchaus verbessert hat. Dies ist nicht nur für das einzelne Kind wichtig, sondern beeinflusst auch die Meinung von Politikern und Schulträgern, praktische Veränderungen in der Schule durchzuführen. Auch wenn ihre Untersuchung viele Mängel in den Schulen aufdeckte, dürfen nicht all die positiven Anstrengungen vergessen werden, die jeden Tag von engagierten Lehrern, Schulleitern, Schülerassistenten, Sachbearbeitern der Gemeinden, Schulbusfahrern, Therapiezentrumspersonal und vielen anderen Personen in der Welt der Kinder ausgehen.
Der differenzierte Blick auf das schwedische Schulsystem aus schwedischer und deutscher Sicht auf eine besonders kleine Gruppe innerhalb der Schülerschaft hilft möglicherweise der Diskussion auch in der Bundesrepublik Deutschland. Er zeigt, dass viel mehr Integration und Inklusion möglich sind als wir es derzeit erleben. Er macht aber auch aufmerksam auf strukturelle Probleme, die auch dauerhaft erfordern, dass Menschen sich engagieren, einbringen und ihre Rechte deutlich einfordern. Auch die schwedische Gesellschaft hat ihre Wirtschaftskrise erlebt, kennt soziale und kulturelle Probleme und hat es dennoch geschafft, mehr Integration zu leben, als gegenwärtig in Deutschland verwirklicht ist. Eine inklusive Gemeinschaft ist Schweden deshalb noch lange nicht und wird es als hochkomplexe Industrienation wohl auch niemals sein. Deshalb gibt es auch in Schweden weiterhin Vertrauenspersonen für Menschen mit Behinderung und zahlreiche Selbsthilfegruppen, die sich für eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen einsetzen. Die Forschungen von Paulsson und Nygren machen zudem deutlich, dass Erziehungswissenschaftler bei allem Engagement eine kritische Distanz wahren müssen, damit sie einen Beitrag zur Weiterentwicklung des Schulsystems leisten können. Ihre Arbeit macht das schwedische Modell aus Sicht der deutschen Autoren noch sympathischer.
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